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Hegels Philosophie des Rechts

Die Theorie der Rechtsformen und ihre Logik

Herausgegeben von Dieter Henrich

und

•t

Rolf-Peter Horstmann

i

Klett- Cotta

Originalveröffentlichung in: Henrich, Dieter u.a. (Hrsg.): Hegels Philosophie des Rechts, Stuttgart, 1982, S. 393-427

(2)

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek

Hegels Philosophie des Rechts:

d. Theorie d. Rechtsformen u. ihre Logik / hrsg. von Dieter Henrich u. Rolf-Peter H o r s t m a n n . —

1. A u f l . — Stuttgart: Klett-Cotta, 1982.

Veröffentlichungen der Internationalen Hegelvereinigung; Bd. 11) ISBN 3-12-915800-6

N E : Henrich, Dieter [Hrsg.]; International Hegel Association:

Veröffentlichungen der I n t e r n a t i o n a l e n . . .

1. Auflage 1982 Alle Rechte vorbehalten

Fotomechanische Wiedergabe n u r mit G e n e h m i g u n g des Verlages Verlagsgemeinschaft Ernst Klett — J. G. Cotta'sche Buchhandlung

Nachfolger G m b H , Stuttgart

© Ernst Klett, Stuttgart 1982. Printed in G e r m a n y Umschlag: Heinz Edelmann

Satz: Alwin Maisch, Gerlingen

D r u c k : Verlagsdruck, Gerlingen

(3)

Hans Friedrich Fulda

Zum Theorietypus der Hegeischen Rechtsphilosophie

D a s Interesse a n Hegels Rechtsphilosophie galt b i s h e r f a s t ausschließ­

lich i h r e n Inhalten. Selbst w o die Rechtsphilosophie i m Licht der intellek­

tuellen Entwicklung Hegels interpretiert w u r d e , blieben Fragen ihrer Form u n d i n s b e s o n d e r e ihrer A r g u m e n t a t i o n s w e i s e im H i n t e r g r u n d . So­

weit sie ü b e r h a u p t angesprochen w u r d e n , betrachtete m a n sie eher als lästiges Beiwerk d e n n als G e g e n s t a n d einer l o h n e n d e n A u s e i n a n d e r ­ setzung. Selbst ein so vorzüglicher Experte wie K. H . Ilting b e h a u p t e t e noch vor k u r z e m , d a ß das dialektische V o r g e h e n in der politischen Philo­

sophie keine wirklichen Vorteile biete. Z u m Beleg verwies er auf a n g e b ­ liche I n k o n s i s t e n z e n in Hegels dialektischer B e h a n d l u n g der politischen Philosophie \ die J. P l a m e n a t z entdeckt zu h a b e n glaubte. P l a m e n a t z sel­

ber urteilte viel schärfer. Er bezeichnete Hegels dialektische V e r f a h r e n s ­ weise k u r z e r h a n d als P r o k r u s t e s ­ M e t h o d e \

Es ließe sich zeigen, d a ß diese Urteile kein u n v e r z e r r t e s V e r s t ä n d n i s v o n Hegels dialektischer V e r f a h r e n s w e i s e v e r r a t e n u n d auch auf keine ü b e r z e u g e n d e Interpretation ihrer A n w e n d u n g in d e n beurteilten Fällen zurückgehen. Doch der Verdacht, Hegels V e r f a h r e n s w e i s e sei f ü r die Zwecke der Rechtsphilosophie eher ein H i n d e r n i s als ein Hilfsmittel, ist vielleicht auch Hegel zur Last zu legen, — wenigstens teilweise. Die Hegel­

schule des ig. J a h r h u n d e r t s m a g mit a u t o r i t ä r e m Pochen auf die Ü b e r ­ legenheit ihrer M e t h o d e viel zu seiner Befestigung beigetragen h a b e n . A b e r h a t d e m Verdacht nicht auch Hegels D i k t i o n Vorschub geleistet?

Hegels metaphorische K u r z f o r m e l n f ü r die „ M e t h o d e " — wie z. B. „ i m ­ m a n e n t e s Fortschreiten" (§ 3 1 )

3

, „Entwicklung des B e g r i f f s " (§ 32) — sind viel zu u n b e s t i m m t , als d a ß m a n v o n i h n e n aus ein rechtes V e r ­ ständnis des mit i h n e n G e m e i n t e n g e w i n n e n k ö n n t e . Glücklicherweise

1 Die Struktur der Hegeischen Rechtsphilosophie. In: M.Riedel (Hrsg.): M a t e r i a­

lien z u H e g e l s R e c h t s p h i l o s o p h i e , B a n d 2. F r a n k f u r t / M . 1 9 7 5 , S. 77.

2 „ P r o c r u s t e a n m e t h o d " ; v g l . Man and Society. L o n d o n 1 9 6 3 , V o l . II, p. 235.

3 Es w e r d e n zitiert: D i e Rechtsphilosophie u n t e r A n g a b e der P a r a g r a p h e n (Sei­

t e n a n g a b e n nach der A u s g a b e v o n H. Glockner; e b e n s o i m Fall der Encyclopädie ( a b g e k ü r z t : Enc.) u n d der H e i d e l b e r g e r Encyclopädie ( a b g e k ü r z t : H E n c ) .

„Gr." b e d e u t e t die v o n K. H. Ilting b e s o r g t e A u s g a b e der V o r l e s u n g s n a c h s c h r i f t K. G. v. G r i e s h e i m s (mit A n g a b e der S e i t e n z a h l ) ; a n d e r e W e r k e H e g e l s in der G l o c k n e r s c h e n A u s g a b e der W e r k e ( a b g e k ü r z t : W . G.), m i t lateinisch a n g e g e b e ­ ner B a n d z a h l . Kant, M e t a p h y s i k der S i t t e n ( a b g e k ü r z t : M S ) , nach S e i t e n z a h l der A u s g a b e A .

(4)

stellen sie nicht die einzigen Äußerungen zum Verfahren der Rechts­

philosophie dar. Nur sind sie leider die eingängigsten; und andere sind teils so schwer verständlich, teils sind sie damit so schwer in Einklang zu bringen, daß man sich nicht wundern darf, wenn Interpreten im Be­

mühen um Verständnis immer wieder zu einem Rettungsanker greifen, den H. M. Chalybäus während der 30er Jahre des letzten Jahrhunderts für Kantianer in Dresden zurechtgemacht und ausgeworfen hat

4

: die Verfahrensschablone ,Thesis­Antithesis­Synthesis'.

Es kommt hinzu, daß Hegel in der Rechtsphilosophie an entscheiden­

den Stellen seines Gedankengangs, an denen Argumente vorzutragen und in ihrer Struktur durchsichtig zu machen gewesen wären, sich mit allzu pauschalen Hinweisen auf seine „Logik" behilft — als sei diese ein

„Sesam­öffne­dich" für alle Geheimnisse der Dialektik (z. B. § 81, § 141).

Besteht der Verdacht also doch zu Recht, die anspruchsvolle Hegeische Methode sei in Wahrheit ein Bett, in das der hineingepreßte Stoff nicht paßt; und Hegel müsse das Skalpell seiner Logik als Schlachtmesser ver­

wenden?

Solange die Auseinandersetzung mit den Inhalten der Rechtsphilo­

sophie interessant genug zu bleiben verspricht, könnte man diese Frage vielleicht auf sich beruhen lassen, wenn es nicht noch ein anderes Faktum zu berücksichtigen gälte: Hegel hat keinen Zweifel daran gelassen, daß er seine Abhandlung über Naturrecht und Staatswissenschaft vor allem von der Seite des logischen Geistes, auf der ihr Ganzes — wie auch die Ausbildung ihrer Glieder — beruhen soll, „gefaßt und beurteilt" wissen wollte. W e n n man sich nicht nur mit den Ergebnissen des Hegelschen Denkens, sondern auch mit seinen Absichten und Perspektiven befassen möchte — in der Hoffnung, dadurch etwas über mögliche Perspektiven unseres eigenen Denkens auszumachen —, so wird man sich an dieser Seite der Rechtsphilosophie nicht vorbeimogeln dürfen.

Man könnte sich damit befassen, indem man Hegels zahlreiche Äuße­

rungen zur „Methode" und zum Verfahren des philosophischen D e n ­ kens daraufhin untersucht, ob und wie diese Äußerungen die Darstel­

lungsform der Rechtsphilosophie erschließen helfen. Dieser Ansatz hätte jedoch den Nachteil, daß er von den Inhalten der Rechtsphilosophie zu­

nächst abzusehen nötigen würde; er wäre auch dadurch belastet, daß er es fast unvermeidlich machen würde, ganz im Kontext der Hegelschen Theorie zu verbleiben. Er würde Erwartungen, die sich von außerhalb an eine philosophische Theorie des Rechts richten mögen, kaum zu Wort kommen lassen. Deshalb möchte ich hier einen anderen W e g einschla­

gen. Ich versuche, Hegels Rechtsphilosophie als Theorietypus zu charak­

4 V g l . G. E. Mueller: T h e H e g e l Legend of „ T h e s i s , A n t i t h e s i s and S y n t h e s i s " . In:

Journal f o r t h e H i s t o r y of Ideas 19 (1958), p. 413.

(5)

terisieren — und zwar dadurch, daß ich diesen Typus abhebe von ande­

ren Typen grundlegender Untersuchungen zu Systemen normativer Ur­

teile, insbesondere solcher, die im Rahmen der naturrechtlichen Normen­

begründung eine Rolle spielen oder gespielt haben. Über die Formulie­

rung von Gründen, aus denen Hegel Erwartungen enttäuscht, die sich in der Orientierung an solchen alternativen Theorietypen nahelegen, hoffe ich etwas zur positiven Charakterisierung der Hegeischen Verfahrens­

weise beizutragen.

I.

Ohne Hegel ins Spiel zu bringen, kann man vier in wichtigen Hin­

sichten voneinander unterschiedene Typen der Begründung naturrecht­

licher Sätze—oder allgemeiner: normativer Urteile — anführen. Ich meine

— den empiristischen Typus, wie ihn z. B. D. Hume und A. Smith im Auge gehabt haben;

— das deduktive Verfahren des mos geometricus, wie es z. B. für Th. Hobbes Vorbild war;

— einen den Apriorismus des mos geometricus und den Empirismus ab­

schwächenden Typus, der die Prämissen einer normativen Theorie durch Herstellung eines Reflexionsgleichgewichts zwischen exemplari­

schen normativen Alltagsurteilen und Prinzipien gewinnen möchte; — ein Typus, dessen Methodologie J. Rawls

5

entworfen hat;

— den von Kant am Ende für den einzig brauchbar gehaltenen trans­

zendental­analytischen Typus, der nach dem Aufsuchen eines ober­

sten apriorischen Grundsatzes dessen Geltung durch Apologie gegen mögliche Einreden sichern möchte.

(i) Die Typen sind zunächst vor allem durch die Art und Weise unter­

schieden, in der versucht wird, normative Urteile innerhalb einer Theorie des einen oder anderen Typs zu rechtfertigen. Alle haben sie unter diesem Gesichtspunkt auch spezifische Schwächen. Für Theorien des empiristi­

schen Typs gilt, daß ihre Grundsätze nur so viel Validität und Glaubwür­

digkeit für sich beanspruchen können, als die Basisurteile besitzen, aus denen sie induktiv gewonnen sein sollen. Diese Grundsätze leisten daher auch nur etwas zur Rechtfertigung von speziellen oder singulären norma­

tiven Urteilen, über deren Akzeptabilität durch Akzeptieren der Basis­

urteile nicht selbstverständlicherweise schon mitentschieden ist. Es ist die Frage, ob unsere gewöhnliche Überzeugung, daß viele normative Urteile gerechtfertigt sind, sich mit einer so schwächlichen Rechtfertigung zufrie­

den geben kann. Diese Frage legt sich nahe insbesondere im Hinblick auf

5 J. Rawls: A Theory of Justice. Oxford 1971, Ch. 4, 9, 87.

(6)

unsere moralischen Vorstellungen u n d unsere Vorstellungen von dem, was recht und gerecht ist.

Aber den nach dem mos geometricus geschneiderten normativen T h e o ­ rien geht es nicht viel besser. Gegen sie erhebt sich die Frage, ob wir f ü r die allgemeinsten Grundsätze normativer Urteile dieselbe Evidenz b e a n ­ spruchen können wie hinsichtlich der Axiome u n d Postulate u n d hinsicht­

lich der Adäquatheit der Definitionen einer Geometrie, die von sehr ein­

fachen, wohlüberschaubaren Formen u n d Figuren ausgeht. Befinden wir uns mit der Frage nach allgemeinsten normativen G r u n d s ä t z e n nicht in einer ganz ähnlichen Lage wie Augustin mit der Frage nach d e m W e s e n der Zeit sich befand? Schon Kant war der Meinung, daß m a n diese Frage bejahen m u ß

6

.

Vorteilhafter n e h m e n sich der von J. Rawls entwickelte u n d der trans­

zendental­analytische Begründungstypus aus. Für den Rawls'schen T y ­ pus spricht, daß innerhalb seiner normative Grundsätze u n d wohl durchdachte Einzelurteile kompetent Urteilender gleichen Anspruch auf Gültigkeit besitzen. Problematisch ist hingegen, daß es kein Kriterium d a f ü r geben soll, w a n n im Konfliktfall den Einzelurteilen u n d w a n n den Prinzipien der Vorrang g e b ü h r t

7

. Im Fall des Kantischen Apriorismus hingegen wird m a n den Verdacht schwer a u s r ä u m e n können, daß der unbedingte Geltungsanspruch des obersten G r u n d s a t z e s durch eine ad infinitum gehende Verteidigung zu sichern wäre.

(2) Doch dringender als die Frage, wieweit diese Bedenken tragen, ist hier etwas anderes: A m Rawls'schen, insbesondere aber am Kantischen Begründungstyp zeigt sich, daß die Rechtfertigung normativer Urteile im R a h m e n der philosophischen Erkenntnis eines Systems solcher Urteile n u r eine A u f g a b e unter anderen ist. Es k o m m t nicht n u r darauf an, ein System normativer Urteile logisch konsistent zu machen u n d d a f ü r zu sorgen, daß seine Grundsätze einerseits gut gegen Einwände gesichert sind, andererseits möglichst u m f a s s e n d zur Rechtfertigung ableitbarer normativer Urteile taugen. Mindestens ebenso wichtig ist, daß die Be­

griffe, die in solche Urteile eingehen oder zur Charakterisierung der ver­

schiedenen Arten normativer Urteile dienen, geklärt sind u n d f ü r adäquat gehalten werden d ü r f e n

8

.

6 Vgl. Kant: Untersuchung über die Deutlichkeit der G r u n d s ä t z e der natürlichen T h e o l o g i e u n d Moral. 1763. Z w e i t e Betrachtung.

7 Vgl. N. Hoerster: John R a w l s ' K o h ä r e n z t h e o r i e der N o r m e n b e g r ü n d u n g . In:

O.Höffe (Hrsg.): Ü b e r John R a w l s ' T h e o r i e der Gerechtigkeit. F r a n k f u r t / M . 1977« s- 74-

8 G e n a u e r g e s a g t geht e s dabei u m Fragen, die auf drei D i m e n s i o n e n normativer Urteile gerichtet s i n d :

(a) auf d e s k r i p t i v e n Gehalt, d e n die Prädikate n o r m a t i v e r Urteile h a b e n . Es versteht sich, d a ß der d e s k r i p t i v e G e h a l t auch a u s s o g e n a n n t e n „ n o r m a -

(7)

W e n n im R a h m e n der Begründung normativer Urteile Fragen a u f t a u ­ chen, die in eine dieser Richtungen gehen, so tritt neben die A u f g a b e , formallogische Konsistenz der Begründung sicherzustellen, u n d neben die A u f g a b e , den begründeten Urteilen Rechtfertigungsfunktion zu ver­

schaffen, eine A u f g a b e , die gegenüber jenen anderen A u f g a b e n sowohl einen methodologischen Vorrang wie auch einen Bedeutsamkeitsvoirang besitzt. W a s soll eine logisch konsistente, erkenntnistheoretisch u n a n ­ fechtbare Begründung normativer Urteile, w e n n Zweifel bestehen, ob die in ihr V e r w e n d u n g findenden oder vorausgesetzten Begriffe hinreichend geklärt sind, — oder gar Zweifel, ob diese Begriffe adäquat sind? Aber nicht n u r das. W e n n solche Begriffe nicht n u r wegen Unklarheit, sondern auch wegen befürchteter Inadäquatheit Bedenken erregen, so erscheinen sie nicht n u r k o r r e k t u r b e d ü r f t i g f ü r Zwecke der V e r w e n d u n g in einem System von Urteilen, w ä h r e n d ihre Unbestimmtheit f ü r die Zwecke all­

täglicher V e r w e n d u n g durchaus unbedenklich sein m a g ; sondern in die­

sem Fall b e t r i f f t ihre Bedenklichkeit auch unser alltägliches Reden in nor­

mativen Urteilen — insbesondere aber die Weise, wie wir uns in solchen Reden selber erfahren. W a s immer Adäquatheit von Begriffen heißen mag, die in normativen Urteilen enthalten sind, — sie hat jedenfalls zur notwendigen Bedingung, daß diejenigen, f ü r die solche Urteile gelten, in ihnen mit sich eins sein können. Auszumachen, ob die Begriffe wirklich oder n u r vermeintlicherweise inadäquat u n d k o r r e k t u r b e d ü r f t i g sind, wird daher zu einer Frage unseres angemessenen Selbstverständnisses.

Es sei hier dahingestellt, als wie leistungsfähig hinsichtlich der aufge­

w o r f e n e n Fragen sich die vier g e n a n n t e n Begründungstypen im Vergleich zueinander erwiesen h a b e n °. W i e aber verhält sich der Theorietypus, den

tiven" B e g r i f f e n b e s t e h e n k a n n , w e n n m a n als n o r m a t i v B e g r i f f e versteht — w i e z u m Beispiel (Eigentum' —, in deren V e r w e n d u n g s r e g e l n die Gü l t i g k e i t g e w i s s e r , normativer Urteile bereits e i n g e b a u t ist. In g e w i s s e n Fällen m a g m a n d a n n — statt v o m „ d e s k r i p t i v e n G e h a l t " e i n e s n o r m a t i v e n Urteils — auch v o m n o r m a t i v e n G e h a l t e i n e s der Form nach nicht n o r m a t i v e n Urteils sprechen.

(b) auf d e s k r i p t i v e n Gehalt, d e n die referentiellen Bestandteile n o r m a t i v e r Urteile h a b e n , — w o b e i unter „referentielle Bestandteile" U r t e i l s b e s t a n d t e i l e v e r s t a n d e n w e r d e n sollen, die f e s t l e g e n , über w e l c h e n G e g e n s t a n d und/oder in b e z u g auf w e l c h e n G e g e n s t a n d s b e r e i c h geurteilt wird. D e s k r i p t i v e Ele­

m e n t e in solchen U r t e i l s b e s t a n d t e i l e n w e r d e n im f o l g e n d e n Deskriptoren g e n a n n t w e r d e n .

(c) auf die über d e m d e s k r i p t i v e n G e h a l t s t e h e n d e n Operatoren, deren spezi­

fische W i r k s a m k e i t ein n o r m a t i v e s Urteil v o n b e s t i m m t e r Art z u s t a n d e ­ bringt, w i e z. B. ein Verpflichtungsurteil, ein ethisches Werturteil, ein außer­

ethisches Werturteil oder eine S p e z i f i k a t i o n d a v o n .

o Ich unterstelle, d a ß der durch Kant repräsentierte, t r a n s z e n d e n t a l a n a l y t i s c h e T y p u s g e g e n ü b e r d e n a n d e r e n e i n e n V o r z u g verdient.

(8)

die Hegeische Rechtsphilosophie verkörpert, im Vergleich zu den ge­

n a n n t e n Theorietypen? Es wäre sicherlich vermessen, die Rechtsphiloso­

phie so, wie sie — als Grundriß — existiert, hinsichtlich ihrer Fähigkeit, normative Urteile zu rechtfertigen, direkt gegen Theorien der anderen T y p e n auszuspielen. W o h l aber k a n n m a n indirekt argumentieren: W e n n es stimmt, daß die Beantwortung der zuletzt a u f g e w o r f e n e n Fragen — der Klärung u n d Berichtigung von Begriffen — vor der A u f g a b e der Rechtfertigung normativer Urteile einen Vorrang verdient; u n d w e n n das Ernstnehmen solcher Fragen auch der Rechtfertigungsleistung zugute k o m m t , so n i m m t sich der Theorietypus der Hegelschen Rechtsphiloso­

phie gegenüber den anderen Theorietypen eher vorteilhaft aus. Kant hatte Fragen der Klärung und Berichtigung von Begriffen, die in normati­

ven Urteilen v o r k o m m e n oder f ü r ihr Verständnis unerläßlich sind, an den A n f a n g gestellt. Aber er hatte f ü r ihre Beantwortung kein sehr gut ausgebildetes, auf Leistungsfähigkeit hin ü b e r p r ü f b a r e s Verfahren. Be­

reits die Architektonik seiner Hauptschriften zur Ethik legt beredtes Zeugnis davon ab. Hegel ist den W e g Kants in Richtung auf die Ausbil­

dung eines solchen V e r f a h r e n s entschlossen weitergegangen. Vor allem dadurch hebt sich der T y p u s der Rechtsphilosophie von den anderen Theorietypen ab. Für sekundär gegenüber den begrifflichen Fragen hält Hegel Fragen der Ableitung u n d Rechtfertigung normativer Urteile, die im Falle des Gegenstandes der Rechfsphilosophie Urteile über Berechti­

gungen u n d Verpflichtungen sind. Er hält, wie § 148 der Rechtsphiloso­

phie zeigt, ihre Entscheidung auf dem von ihm skizzierten Entscheidungs­

f u n d a m e n t sogar f ü r trivial. Ich weiß nicht, ob m a n ihm darin recht geben darf. Hegel mag einigermaßen recht h a b e n f ü r sittliche N o r m a l b e d i n g u n ­ gen, unter denen normative Urteile zu fällen sind. Z w e i f e l h a f t ist sein D a f ü r h a l t e n hingegen f ü r die von ihm selbst zur Sprache gebrachten Fälle, in denen normative Urteile unter Bedingungen sich auflösender sittlicher Verhältnisse zu fällen u n d zu rechtfertigen sind

I0

.

10 A n h a n d der Frage, w i e v i e l e i n e T h e o r i e v o m T y p der Rechtsphilosophie in dieser Hinsicht u n d i m Verhältnis z u R e p r ä s e n t a n t e n der a n d e r e n T h e o r i e t y p e n z u leisten i m s t a n d e ist, k ö n n t e m a n die H e g e l s c h e R e c h t s p h i l o s o p h i e auf e i n e ihr a n g e m e s s e n e W e i s e p r ü f e n u n d kritisieren. W i e i m m e r die Rechtsphilo­

s o p h i e d i e s e n Test b e s t ü n d e — sicher scheint mir, d a ß m a n H e g e l darin recht g e b e n sollte, e s g e h e in der P h i l o s o p h i e , s o w e i t sie sich mit T h e m e n w i e Recht, Sittlichkeit u n d Staat b e f a ß t , vorrangig darum, eine W a h r h e i t , die alt u n d b e ­ k a n n t ist, auch z u b e g r e i f e n (vgl. die „Vorrede"), — w e n n B e g r e i f e n , w i e e s H e g e l s A u f f a s s u n g ist, nicht nur in der A n w e n d u n g v o r h a n d e n e r B e g r i f f e b e ­ steht, s o n d e r n auch deren E r g ä n z u n g u n d Berichtigung einschließt. — Sicher scheint mir auch, daß m a n es bei H e g e l s Rechtsphilosophie mit d e m Kern einer normativen T h e o r i e z u tun hat. D i e Tatsache, d a ß sie u m ihres v o r r a n g i g e n G e s c h ä f t s w i l l e n w e n i g e explizit n o r m a t i v e Sätze enthält, sollte nicht z u d e m Irrtum führen, es h a n d l e sich bei ihr eigentlich u m e i n e d e s k r i p t i v e D i s z i p l i n .

(9)

II.

Die vier Theorietypen, die e r w ä h n t wurden, geben f ü r sich genommen noch wenig Stoff zur Verständigung über den besonderen Charakter der Hegeischen Rechtsphilosophie. M a n m u ß an ihnen auch Eigentümlich­

keiten berücksichtigen, die sie dadurch angenommen haben, daß sie in der Tradition der neuzeitlichen Naturrechtslehren aufgetreten sind. Ich möchte vier solcher Eigentümlichkeiten nennen. Bei einiger Großzügig­

keit der Charakterisierung k a n n m a n sie allen vier Theorietypen, sofern sie sich in der Tradition der neuzeitlichen Naturrechtslehren ausgebildet haben, gemeinsam zusprechen. Hinsichtlich dieser Eigentümlichkeiten möchte ich die Hegeische Rechtsphilosophie unterscheiden. Z u s a m m e n mit den schon e r w ä h n t e n Charakteren der genannten vier Theorietypen lassen die Eigentümlichkeiten Erwartungen an die Hegeische Theorie entstehen, von denen im nächsten Abschnitt zu zeigen sein wird, w a r u m Hegel sie enttäuscht.

(1) In den neuzeitlichen Naturrechts­ u n d Staatsphilosophien ist ver­

sucht worden, ausgehend von A n n a h m e n über die N a t u r des Menschen zu den Begriffen zu gelangen, von deren Klärungs­ u n d K o r r e k t u r b e d ü r f ­ tigkeit oben die Rede war. Insbesondere sollte die Analyse menschlicher Vermögen u n d G r u n d b e d ü r f n i s s e , Bedingtheiten u n d Grundgewißheiten auf Begriffe f ü h r e n , welche f ü r die allgemeinsten normativen Urteile ge­

braucht werden. Hegel schließt sich diesem P r o g r a m m grundsätzlich an, n i m m t daran jedoch zwei wichtige Modifikationen vor:

(a) Rousseau u n d K a n t folgend macht er z u m begrifflichen Ausgangs­

p u n k t seiner G r u n d l e g u n g den Willen — verstanden als Freiheit u n d diese verstanden nicht als Willkür, sondern als eine im A n d e r e n des Willens u n d nicht durch Flucht vor i h m errungene Unabhängigkeit v o m A n d e r e n (vgl. Rechtsphilosophie § 4, Enc. § 382 Z).

(b) W a s mit diesem Verständnis von Freiheit engstens z u s a m m e n h ä n g t : die A u f k l ä r u n g aller übrigen, f ü r die G r u n d l e g u n g eines Systems normativer Urteile erforderlichen Begriffe soll so erfolgen, daß dabei d e m „Selbstgefühl v o n der lebendigen Einheit des Geistes" (Enc.

§ 379) Rechnung getragen wird " .

E b e n s o w e n i g darf m a n sich z u dieser A u f f a s s u n g verleiten l a s s e n durch ihr P r o g r a m m , d a s Wirkliche d a r z u s t e l l e n als eines, d a s v e r nü n f t i g ist. D e n n d a s Wirkliche stellt m a n als e i n V e r n ü n f t i g e s nicht dar, i n d e m m a n nur beschreibt, w a s (bereits) der Fall ist. M a n m u ß d a z u auch z e i g e n , daß e s d a s j e n i g e ist, w a s v e r n ü n f t i g e r w e i s e s e i n soll. V o m V e r n ü n f t i g e n , d a s noch nicht der Fall ist, m u ß m a n dabei darlegen, d a ß u n d i n w i e f e r n e s so, w i e e s der Fall sein soll, i m W e r d e n b e g r i f f e n ist.

11 W e n n m a n sich klarmacht, d a ß diese Einheit — als l e b e n d i g e — s o w o h l eine d e s G e i s t e s in sich als auch e i n e mit seiner natürlichen V o r a u s s e t z u n g ist, so darf

(10)

(2) In den neuzeitlichen Naturrechts- und Staatsphilosophien — jeden­

falls den bedeutendsten unter ihnen — wurden die grundlegenden norma­

tiven Urteile so formuliert, daß als die fundamentalen Gegenstände der Normierung einzelne menschliche Individuen angesprochen wurden (vgl.

z. B. Hobbes, Leviathan, Ch. 14). Dementsprechend wurden als Bestand­

teile der deskriptiven Gehalte solcher grundlegenden Urteile Begriffe ge­

wählt, die sich als Prädikate von einzelnen Menschen gebrauchen lassen.

Diesem Vorhaben hat sich Hegel angeschlossen; aber er hat es nur in einer Hinsicht getan, die dringend der Hervorhebung bedarf; in einer anderen Hinsicht hingegen hat er sich ihm verschlossen. Er hat sich ihm verschlossen, sofern der Ausdruck „fundamental" auch dienen kann als Ausdruck für den Vorrang der Normen, die in den betreffenden Urteilen in Anspruch genommen werden mögen, gegenüber Normen in denjeni­

gen Urteilen, deren Gegenstände nicht einzelne menschliche Individuen sind. Angeschlossen hat sich Hegel dem erwähnten Vorgehen im Theorie­

aufbau hingegen, sofern „fundamental" soviel bedeutet wie „zuerst zur Sprache kommend" und — was die Begriffe angeht — „zuerst der Einfüh­

rung und Klärung bedürftig". Man darf annehmen, daß Hegel dafür einen ähnlichen methodologischen Grund hatte wie die neuzeitlichen N a ­ turrechtstheoretiker: adäquate Begriffe über solche Gegenstände sind leichter zu finden, und Urteile mit Hilfe dieser Begriffe sind leichter auf­

zustellen als Urteile über zwischenmenschlich begründete Institutionen

u

. Doch damit ist Hegels Vorgehen noch zu unscharf umrissen. Gemäß dem zu Punkt (1) Gesagten kann die Einführung und Klärung der frag­

lichen Begriffe für Hegel nicht im direkten Ausgang von einer Theorie des Menschen und überhaupt nicht ausschließlich im anthropologischen Kontext erfolgen. Vielmehr müssen sich die einzuführenden Begriffe — wie z. B. der Begriff der Person — als unvollkommene Repräsentanten

m a n w o h l s a g e n , daß dieser Z u g des H e g e i s c h e n P r o g r a m m s , w i e i m m e r es sich m i t d e s s e n A u s f ü h r u n g v e r h a l t e n m a g , b e s o n d e r e B e d e u t s a m k e i t besitzt in einer Epoche w i e der u n s e r e n , in der die v e r n ü n f t i g e N a t u r des M e n s c h e n d e n Erdball mit einer Art A u s s a t z zu ü b e r z i e h e n droht.

12 D a ß dies leichter sei, dürfte intuitiv einleuchten. D o c h e s hat auch darin s e i n e n Grund, d a ß m a n für solche f u n d a m e n t a l e n G e g e n s t ä n d e der N o r m i e r u n g e i n e Kollision v o n Rechten zunächst noch nicht ausschließen, Recht i m a l l g e m e i n e n a l s o nicht v o n A n b e g i n n als Instrument erfolgreicher K o n f l i k t b e w ä l t i g u n g e i n ­ f ü h r e n m u ß (vgl. § 8 4 ) . Konkreter gesprochen: m a n k a n n E i g e n t u m zunächst auf B e s i t z n a h m e g r ü n d e n , o h n e sich d a r u m k ü m m e r n z u m ü s s e n , d a ß d a m i t die Sphäre des m ö g l i c h e n Freiheitsgebrauchs anderer v e r e n g t wird. D e r E i n w a n d , d e n Herbart h i e r g e g e n e r h o b e n hat, scheint mir auf V e r k e n n u n g der m e t h o ­ dischen V o r l ä u f i g k e i t d i e s e s Schritts u n d U n k e n n t n i s seiner Korrektur z u b e ­ r u h e n (vgl. HEnc. § 415 A u n d 7­ F. Herbarts R e z e n s i o n der Rechtsphilosophie in der Leipziger Literaturzeitung 1 8 2 2 ; w i e d e r i n : M. Riedel: M a t e r i a l i e n . . . , Band 1, Frankfurt/M. 1975, S. 88).

(11)

von Begriffen wie ,Geist', ,Wille', F r e i h e i t ' denken lassen, die als primä­

ren Anwendungsbereich nicht die Klasse einzelner menschlicher Indivi­

duen haben, sondern jeweils ein einziges abstraktes Individuum, auf das m a n in V e r w e n d u n g kennzeichnender Ausdrücke wie „der Geist", „der Wille", „die Freiheit" Bezug nimmt. Freilich ergibt sich damit als zentrale Ausgangsschwierigkeit des Theorieaufbaus die Frage, wie m a n im Rah­

m e n einer Theorie solcher Globalgegenstände zur E i n f ü h r u n g u n d Klä­

rung der Begriffe k o m m t , die in den f u n d a m e n t a l e n normativen Urteilen gebraucht werden. Die Frage, w a r u m Hegel sich diese Schwierigkeit zuge­

mutet hat, k a n n m a n natürlich mit dem trivialen u n d bei den wenigsten noch dieselbe U b e r z e u g u n g s k r a f t wie f ü r Hegel besitzenden Hinweis be­

antworten, daß Philosophie in allen ihren Teilen Theorie des Absoluten sein müsse. Eine der Frageintention n ä h e r k o m m e n d e u n d weniger leicht mit Achselzucken zu quittierende A n t w o r t liegt — außer in dem obigen Hinweis auf unser G e f ü h l der lebendigen Einheit des Geistes — in Hegels Überzeugung, daß m a n Recht — u n d ü b e r h a u p t vernünftige N o r m e n — in ihrem f u n d a m e n t a l e n Sinne nicht als Einschränkung von Freiheit be­

greifen darf, sondern als deren Verwirklichung begreifen m u ß (vgl.

§ 29 A). M a n könnte nämlich andernfalls nicht u m h i n , Recht letztlich als ein Übel zu erfahren.

(3) Von den bis jetzt an den neuzeitlichen Naturrechtsphilosophien hervorgehobenen Eigentümlichkeiten aus wäre es vielleicht nicht unver­

meidlich gewesen, aber es lag zumindest nahe, die Individuen — als die f u n d a m e n t a l e n Gegenstände der N o r m i e r u n g — N o r m e n u n t e r w o r f e n zu d e n k e n primär hinsichtlich solcher ihrer Eigenschaften, hinsichtlich deren die Individuen nicht eo ipso in Relation zu anderen Individuen stehen;

positiv ausgedrückt: sie N o r m e n u n t e r w o r f e n zu denken primär hinsicht­

lich ihres Verhältnisses zur äußeren N a t u r u n d erst sekundär hinsichtlich ihres Verhaltens zueinander

w

. Auch diesem Vorgehen schließt sich Hegel an u n d zwar mit einer Entschiedenheit, die in mancherlei Hinsicht ver­

w u n d e r n , ja erschrecken k a n n . M a n m u ß aber, u m den A u f b a u seiner Theorie zu verstehen, berücksichtigen, daß er nicht deshalb so verfährt, weil er der A u f f a s s u n g wäre, jeder einzelne sei sich selbst der Nächste, oder einzelne Menschen k ö n n t e n ihre Erfüllung in sich selbst finden, oder sie seien in ihrem v e r n ü n f t i g e n Wollen vorrangig auf sich selbst bezogen;

Hegel v e r f ä h r t vielmehr deshalb so, weil er die direkte Realisierung von Freiheit in äußerer N a t u r f ü r die unmittelbare — u n d d a r u m k o r r e k t u r ­

13 So gelten 2. B. die Normen, unter denen Menschen für ihre Selbsterhaltung zu sorgen haben, innerhalb der Theorie von Hobbes in erster Linie für den Um­

gang des Menschen mit der Natur; und für den Umgang des Menschen mit anderen Menschen nur, sofern diese als nützlich oder hinderlich in den Zusam­

menhang jenes Umgangs eintreten.

(12)

bedürftigste — Weise hält, in der der Geist (in Form der Objektivität) Natur in ihrem Anderssein aufhebt und sich damit manifestiert. Sein Vorgehen bringt also nicht einen normativen Vorrang individuellen Le­

bens vor dem gemeinschaftlichen Leben zum Ausdruck, sondern einen systematischen Vorrang der Einheit des Geistes mit der Natur vor der Einheit des Geistes im Zusammenleben von Individuen. Ich glaube aller­

dings, daß Hegel diesen Gedanken innerhalb der Rechtsphilosophie nicht in seiner Tragweite ausgeschöpft hat. Angesichts der Probleme, die sich die Menschheit heutzutage durch Veränderung ihrer Umwelt schafft, kommt ihm eine Bedeutung zu, von der man zu Beginn des 19. Jahrhun­

derts keine Ahnung haben konnte.

(4) Aus Gründen, die zum Teil mit den bis jetzt erwähnten Punkten zusammenhängen, zum Teil aber auf viel weiterreichende, inhaltliche Zusammenhänge verweisen, lag es für die neuzeitlichen Naturrechts­

philosophen nahe, ihre allgemeinsten normativen Urteile und die An­

wendung der in ihnen enthaltenen Begriffe zunächst auf Bedingungen eines vor­gesellschaftlichen Zustandes einzuschränken und sie erst im Anschluß daran — paradigmatisch vermittelt durch ein Vertragsmodell der Begründung gemeinschaftlicher Obligationen — in ihrer Anwendung bzw. Geltung auszudehnen auf einen Zustand, in dem die in normativen Urteilen beanspruchten Normen einen auf konventionelle Regeln ge­

gründeten Bestand haben. Dieses Vorgehen hatte, methodologisch be­

trachtet, mehrere Vorzüge:

(a) Wegen der Einfachheit der Verhältnisse in einem Naturzustand — sei dieser nun angenommen aufgrund einer für berechtigt gehaltenen historischen Hypothese oder als bloße Fiktion — versprach das Vor­

gehen so etwas wie ein Substitut für ein nicht zur Verfügung stehen­

des überprüfbares Verfahren der Klärung von Grundbegriffen der Theorie.

(b) Aus ähnlichen Gründen versprach das Vorgehen für die allgemein­

sten Prinzipien der Theorie eine besondere Uberzeugungskraft.

(c) Vor allem aber versprach es Entscheidungsgründe für die Aufstellung speziellerer Prinzipien, insbesondere der Prinzipien sozialer Ver­

pflichtung und Machtbefugnis

14

.

Allerdings wirft das Vorgehen hinsichtlich der erwähnten Vorzüge auch Probleme auf:

a. Als Substitut für ein überprüfbares Verfahren der Begriffsklärung leistet es nicht sehr viel. Nur ganz wenige Begriffe einer Theorie nor­

mativer Urteile lassen sich für einen angenommenen Naturzustand

14 Ob man versuchen sollte, sich beim Übergang zu solchen Prinzipien auf einen angenommenen Sozialvertrag oder nur auf Prinzipien rationaler Entscheidung zu stützen, ist eine sekundäre Frage.

(13)

definieren. Aber selbst von ihnen ist zweifelhaft, ob ihr Inhalt sich in solche gleichnamige Begriffe a u f n e h m e n läßt, wie m a n sie zur Kenn­

zeichnung von Gegenständen braucht, die den wirklichen gesellschaft­

lichen Zustand ausmachen; bzw. ob m a n sie als Prädikate zur Beschrei­

b u n g dieser Gegenstände verwenden k a n n

15

.

b. Entsprechendes wie f ü r die Begriffe gilt auch f ü r die Grundsätze. Auch f ü r sie stellt sich die Frage, ob ihre Akzeptabilität einfach vom ange­

n o m m e n e n N a t u r z u s t a n d auf den gesellschaftlichen Zustand übertra­

gen werden darf.

c. D a m i t wird aber auch ihre Brauchbarkeit f ü r die Rechtfertigung spe­

ziellerer Prinzipien fraglich.

W i e verhält sich n u n Hegel zu dem traditionellen Versuch, a n h a n d der A n n a h m e eines vorgesellschaftlichen Zustandes G r u n d b e g r i f f e der Theo­

rie e i n z u f ü h r e n u n d Grundsätze aufzustellen, u m von ihnen aus zu Be­

griffen u n d Grundsätzen gesellschaftlicher Obligation zu gelangen? A n der Oberfläche seiner Ä u ß e r u n g e n ist seine Einstellung zu diesem Ver­

such entschieden ablehnend. D e r N a t u r z u s t a n d ist etwas Erdichtetes, eine bloße Konstruktion. Philosophie aber hat es nicht mit Fiktion zu tun, son­

dern mit Wirklichem. M a n darf aber nicht übersehen, daß Hegel an die Stelle naturrechtlicher Begründung gesellschaftlicher Obligationen einen inhaltlichen G e d a n k e n — seine Theorie der N a t u r des Geistes — gesetzt h a t und diesen G e d a n k e n in methodischer Hinsicht so zu verwenden be­

m ü h t war, daß ein Vorgehen entstand, das bei n ä h e r e m Zusehen u n d unterhalb der Oberfläche einige Züge trägt, die mit der Naturrechts­ u n d Sozialvertragstheorie durchaus vergleichbar sind, zugleich aber gegenüber dieser Theorie den Vorzug haben, einen Ansatz zur Lösung ihrer Pro­

bleme zu enthalten. Es ist auch zu vermuten, daß m a n diesem — d e m Hegelschen — Vorgehen größere theoriebegründete Leistungsfähigkeit zuschreiben darf. Auf jeden Fall verleiht das Vorgehen der Theorie den C h a r a k t e r einer Selbstverständigung in der Berichtigung von n o r m a ­ tiven Begriffen u n d G r u n d s ä t z e n . — Allerdings k o m m e n diese Züge der Hegelschen Theorie durch eine bis zur Unkenntlichkeit jeglichen Z u s a m ­ m e n h a n g s vorangetriebene, verallgemeinernde A b w a n d l u n g des rational­

naturrechtlichen Begründungsmodells zustande. A u ß e r dem oben unter (2) Gesagten ist es vor allem diese Unkenntlichkeit, die den Hegelschen

15 Die Zweifelhaftigkeit ist um so größer, je unbestimmter man sich die Bedin­

gungen des Übergangs vom einen Zustand in den anderen denkt. — In dieser Hinsicht hätte das Vertragsmodell einen erheblichen Vorteil vor dem entschei­

dungstheoretischen Modell, wenn es nicht mit der Schwierigkeit behaftet wäre, die Verbindlichkeit von Verträgen für einen Zustand voraussetzen zu müssen, in dem von einer solchen Verbindlichkeit eigentlich noch gar nicht gesprochen werden kann.

(14)

Theorietypus so schwer verständlich macht und bei Interpreten, die von der neuzeitlichen Naturrechts­ u n d naturrechtlich begründeten Staats­

philosophie ausgehen, Mißverständnisse oder Kopfschütteln h e r v o r r u f t . Ehe ich jene den Hegelschen Theorietypus charakterisierenden Züge dar­

stelle, möchte ich daher zunächst einige f u n d a m e n t a l e Erwartungen for­

mulieren. Es sind Erwartungen an den A u f b a u einer normativen Theorie, wie sie sich von den erwähnten Theorietypen aus nahelegen, w ä h r e n d sie von Hegel enttäuscht werden.

III.

G e h t m a n von den vier genannten Theorietypen f ü r sich g e n o m m e n aus, ohne naturrechtliche Überlegungen ins Spiel zu bringen, so k o m m t es f ü r ein System normativer Urteile in erster Linie darauf an, ob dessen Sätze ein logisch konsistentes Ganzes ergeben u n d auf Verträglichkeit hin über­

p r ü f b a r sind. U m die Ü b e r p r ü f b a r k e i t sicherzustellen, wird m a n die in jene Urteile eingehenden Begriffe hinreichend klären müssen. Dabei geht die Klärung — u n d mit ihr die Feststellung des Gegenstandsbereichs, f ü r den ein Urteil gelten soll — der A u f n a h m e dieses Urteils ins C o r p u s der hinsichtlich ihrer logischen Abhängigkeiten überschaubar zu machenden Urteile voraus; die Klärung m u ß als abgeschlossen gedacht werden, ehe ein Urteil als Kandidat f ü r dieses C o r p u s von Sätzen in Frage k o m m t ; und das Ergebnis, zu dem m a n bei dieser die Darstellung des Systems n u r vorbereitenden Arbeit gekommen ist, gilt ein für allemal. M a n läßt also nicht zu, daß Unbestimmtheiten hinsichtlich der normativen O p e r a t o r e n oder hinsichtlich des Begriffsinhalts der ins C o r p u s a u f g e n o m m e n e n U r ­ teile erst im Verlauf der Darstellung der Theorie beseitigt w e r d e n ; oder daß der Gegenstandsbereich, f ü r den die Urteile Geltung beanspruchen, sich im Verlauf der Darstellung der Theorie ändert.

Es d ü r f t e klar sein, daß es sich bei Hegel anders verhält u n d daß d a f ü r letztlich Hegels allgemeine A u f f a s s u n g von philosophischer M e t h o d e ver­

antwortlich ist. Zu beachten aber ist, daß es sich in gewissem U m f a n g e auch bereits anders verhält, w e n n m a n naturrechtliche Begründungsideen im Modell des einen oder anderen der vier eingangs g e n a n n t e n Theorie­

typen zu verwirklichen sucht. Es reicht nicht aus zu sagen, in diesem Fall habe m a n es einfach mit zwei Theorien über zwei verschiedene Gegen­

standsbereiche zu t u n : mit einer Theorie des N a t u r z u s t a n d e s u n d einer Theorie des Rechtszustandes, in d e m gesellschaftliche Obligationen be­

stehen. D e n n die Pointe des naturrechtlichen B e g r ü n d u n g s g e d a n k e n s ist

ja gerade, d a ß m a n Begriffe u n d Prinzipien aus der Theorie des N a t u r ­

zustandes in die Theorie des Rechtszustandes soll übernehmen k ö n n e n .

Wie diese Ü b e r n a h m e zu erfolgen hat u n d mit welchen Modifikationen

an jenen Begriffen und Prinzipien sie zu verbinden ist, h ä n g t dabei v o n

(15)

der Art u n d Weise ab, in der m a n sich das Z u s t a n d e k o m m e n des zweiten Gegenstandsbereichs aus dem ersten denkt. Von diesem Modell einer Be­

g r ü n d u n g ausgehend darf m a n sich nicht wundern, w e n n Hegel im Ver­

lauf der Entwicklung seiner Theorie des Rechts den Bereich der Gegen­

stände wechselt, von denen diese Theorie handelt. D a ß dies nicht n u r ein­

mal, sondern mehrmals geschieht, ist gegenüber der Tatsache, daß es ü b e r h a u p t geschieht, von untergeordnetem Interesse. M a n darf sich auch nicht wundern, sondern m u ß geradezu erwarten, daß der jeweilige Wech­

sel v e r b u n d e n ist mit einer Ü b e r n a h m e und Modifikation von Begriffen u n d Grundsätzen, die f ü r den jeweils vorausgehenden Zustand konzipiert u n d aufgestellt wurden. Es ist auch evident, daß die dabei stattfindende Modifikation sich ergibt aus dem C h a r a k t e r des Ubergangs von einem Bereich z u m anderen

ie

. Fragen sollte m a n sich hingegen, ob der Hegeische Theorietyp f ü r jene Ü b e r n a h m e u n d Modifikation (von Begriffen u n d Grundsätzen) bessere G r ü n d e zu liefern verspricht als die Tradition der naturrechtlichen Begründung gesellschaftlicher und politischer Obligatio­

nen. Inwiefern hat Hegel hier etwas besseres zu bieten als das Vertrags­

modell?

Die wichtigsten Erwartungen, deren Enttäuschung v e r w u n d e r n m u ß u n d der Begründung bedarf, liegen sozusagen innerhalb des Hegel mit den f r ü h e r e n naturrechtlichen Begründungen gemeinsamen R a h m e n s wechselnder Gegenstandsbereiche. Ich will diese Erwartungen und einige der G r ü n d e , aus denen Hegel sie enttäuscht, zunächst grob umreißen; erst im Anschluß daran werde ich a n h a n d von Beispielen erläutern, wie ich

16 A l s ein Indiz dafür, daß Hegel die Idee einer solchen f o r m a l e n V e r w a n d t s c h a f t seiner T h e o r i e mit d e m naturrechtlichen B e g r ü n d u n g s g e d a n k e n nicht g a n z b e ­ fremdlich erschienen wäre, darf m a n vielleicht die Tatsache werten, d a ß er selbst i m Hinblick auf die v o n i h m für die Sittlichkeit u n d i n s b e s o n d e r e f ü r d e n Staat b e h a u p t e t e V e r e i n i g u n g v o n Pflicht u n d Recht (§ 155, § 261), die er eine der wichtigsten B e s t i m m u n g e n n e n n t (§ 2 6 1A ) , e i n e inhaltliche V e r w a n d t s c h a f t seiner A u f f a s s u n g v o n sittlicher bzw. politischer Verpflichtung mit der im n e u ­ zeitlichen Naturrecht paradigmatisch nach d e m V e r t r a g s m o d e l l gedachten A u f ­ f a s s u n g u n d B e g r ü n d u n g gesellschaftlicher O b l i g a t i o n g e s e h e n hat. D i e Einheit v o n Pflicht u n d Recht, w i e H e g e l sie b e h a u p t e t , ist nämlich so z u d e n k e n , daß der Einzelne das, w a s seine Pflicht ist, im Sittlichen (und im Staat) w i e d e r z u ­ rückerhält als ein Recht; beide, g e l e i s t e t e Pflicht u n d z u k o m m e n d e s Recht, sind z w a r i h r e m Inhalt nach verschieden, aber i m Wert bleiben beide identisch, w i e H e g e l in der V o r l e s u n g v o n 1824/25 (Gr. 413) ausführt. U n d u m es g a n z d e u t ­ lich z u machen, w a s f ü r ein W e c h s e l v e r h ä l t n i s er dabei i m A u g e hat, sagt er — g e m ä ß v o n G r i e s h e i m s Nachschrift j e d e n f a l l s —: „Es ist w i e b e i m Vertrag".

Trotz seiner scharfen Kritik an der A u f f a s s u n g , politische O b l i g a t i o n e n d e s Bürgers u n d staatliche M a c h t b e f u g n i s b e r u h t e n auf Vertrag (§ 75), hat H e g e l a l s o d e n Inhalt dieser O b l i g a t i o n e n i m V e r h ä l t n i s zu d e n Rechten des Bürgers nach d e m V e r t r a g s m o d e l l gedacht.

(16)

mir das Hegeische V e r f a h r e n beschaffen u n d — wenigstens teilweise — gerechtfertigt denke.

(1) Wie Hegel eine Erwartung enttäuscht, die noch außerhalb des so­

eben umrissenen Rahmens liegt, w u r d e oben [II, (1), (2)] bereits skiz­

ziert: Statt mit der Klärung u n d Berichtigung von Begriffen, die sich auf einzelne menschliche Individuen anwenden lassen, beginnt Hegel mit Be­

griffen, die — w e n n ü b e r h a u p t — so n u r in einer einzigen abstrakten Enti­

tät exemplifiziert sind: dem Geist zum Beispiel; u n d er deutet diese Be­

griffe mit Hilfe einer Reihe noch abstrakterer Begriffe, die ebenfalls in normativen Theorien anderen T y p s gar nicht v o r k o m m e n — wie z. B. mit Hilfe des Hegel eigentümlichen, spekulativen Begriffs v o m Begriff u n d vieler anderer Anstatt die A u f g a b e einer Begründung normativer Sätze möglichst isoliert von voraussetzungsvollen u n d metaphysikverdächtigen inhaltlichen Ansichten über umfassende, abstrakte Entitäten anzugehen, schickt Hegel ihr grundlegende Sätze einer allgemeinen Theorie des G a n ­ zen solcher Gegenstände voraus. Die Entscheidung f ü r diesen Holismus k a n n m a n geradezu als Hegels theorietechnische Grundentscheidung be­

zeichnen

18

. Doch außer Hegels allgemeinsten G r ü n d e n f ü r diese Entschei­

dung, die in den Z u s a m m e n h a n g der Hegeischen A u f f a s s u n g von Geist u n d von philosophischer Erkenntnis gehören, gibt es d a f ü r noch einen speziellen G r u n d : N u r im A u s g a n g von der Theorie eines Gegenstandes, dessen Bereich wesentlich u m f a s s e n d e r ist als der Bereich menschlicher Individuen u n d dessen Element ganz anders zu identifizieren ist als Ele­

mente dieses Bereichs, besteht ü b e r h a u p t Aussicht, zwei Ü b e r z e u g u n g e n miteinander vereinbar zu machen, von denen Hegel die erste mit den Ver­

tretern des neuzeitlichen Naturrechts teilt, w ä h r e n d er die zweite gegen diese zur Geltung bringen möchte, weil in der T a t vieles f ü r sie spricht:

a. daß die primär aufzuhellenden deskriptiven Gehalte, die in einem Sy­

stem normativer Urteile gebraucht werden, Begriffe sind — wie P e r ­ son', ,Eigentum', ,Vertrag' —, die exemplarisch von einzelnen Indivi­

duen gebraucht w e r d e n ; u n d

b. daß ungeachtet dessen die vorrangigen N o r m e n nicht solche sind, die

17 W e n n ich i m f o l g e n d e n d e n Ausdruck „Begriff" in d i e s e m für H e g e l s p e z i ­ fischen S i n n gebrauche, w e r d e ich, falls sich der Gebrauch nicht v o n selbst ver­

steht, d e n q u a l i f i z i e r e n d e n Ausdruck „Hegelisch" oder „ s p e k u l a t i v " d a v o r s e t z e n . 18 D e r T e x t der v e r ö f f e n t l i c h t e n Rechtsphilosophie verdeckt diese Entscheidung allerdings dadurch ein w e n i g , d a ß er, oberflächlich g e l e s e n , d e n Eindruck er­

weckt, an die Stelle jener u m f a s s e n d e n T h e o r i e k ö n n t e n einerseits gelegentliche H i n w e i s e auf die Logik — als A r s e n a l a l l g e m e i n s t e r B e g r i f f e u n d als a l l g e m e i n e M e t h o d e n l e h r e — treten, s o w i e andererseits e i n e an u n s e r g e w ö h n l i c h e s Ver­

s t ä n d n i s v o n S e l b s t b e w u ß t s e i n a n k n ü p f e n d e A u s k u n f t ü b e r das, w a s für e i n e n W i l l e n charakteristisch ist (vgl. § 4 Z ; § 7 A).

(17)

sich mit der empirischen Exemplifikation jener Begriffe institutionell v e r k n ü p f t finden, sondern vielmehr N o r m e n , die f ü r ein institutionel­

les Lebensganzes gelten, das Individuen zwar als seine Mitglieder u m f a ß t , f ü r welches die einzelnen Individuen aber erst als solche M i t ­ glieder Bedeutung haben.

Die Grundidee der Ermöglichung einer Verbindung dieser beiden Überzeugungen könnte man, soweit sie im Konzept jener u m f a s s e n d e n Theorie schon enthalten sind, u n g e f ä h r folgendermaßen umreißen: Be­

griffe, wie sie in einer normativen Theorie gebraucht werden, erlangen ihre Adäquatheit nur, w e n n sie einbezogen werden in den Entwicklungs­

gang des spekulativen Begriffs, der sich in seiner Verwirklichung zur Adäquation mit sich selbst bringt.

(2) Natürlich ist der nächste Anlaß zur V e r w u n d e r u n g , daß Hegel den Versuch unternimmt, mit Hilfe der G r u n d b e g r i f f e u n d Sätze seiner um­

fassenden Theorie zur Einführung jener Begriffe zu kommen, die den deskriptiven Gehalt normativer Sätze über menschliche Individuen aus­

machen — also zu Begriffen wie ,Person' u n d ,Eigentum'; wobei m a n in Erinnerung behalten m u ß , daß diese E i n f ü h r u n g den Charakter der Be­

richtigung vorhandener Begriffe haben u n d das Selbstverständnis, das wir in solchen Begriffen besitzen, voranbringen soll

1 9

. G e n a u e r : daß H e ­ gel diesen Versuch u n t e r n i m m t , d ü r f t e nach allem Gesagten nicht m e h r verwunderlich sein — sofern nicht der Anspruch erhoben wird, dieser Schritt habe deduktiven Charakter, was Hegel nie behauptet hat. W o h l aber durchkreuzt etwas an der Art, wie Hegel die E i n f ü h r u n g der neuen Begriffe vornimmt, gewisse Erwartungen, die m a n von den anderen Theorietypen her h a b e n wird. Ich möchte nachher an einem Beispiel a u f ­ zeigen, wie diese E i n f ü h r u n g vonstatten geht, u n d werde mir daher jetzt nicht die M ü h e machen, das V e r f a h r e n zu beschreiben. N u r auf einen besonderen P u n k t ist schon jetzt hinzuweisen: Die E i n f ü h r u n g erfolgt nicht, wie m a n wohl erwarten möchte, im Hinblick auf Sätze, aus denen sich möglichst viel ableiten läßt, u n d auch nicht in H o f f n u n g auf ein kon­

sistentes System v o n normativen Urteilen; sondern unter der Devise, v o r h a n d e n e n Begriffen, mit Hilfe deren m a n Begriffe jener umfassenden Theorie deuten k a n n , u m g e k e h r t etwas von deren Gehalt mitzuteilen u n d sie so inhaltlich bestimmter u n d adäquater zu machen, als sie es in unse­

ren Vorstellungen oder in unbefriedigenden normativen Theorien sind.

D a ß dabei nicht auf Ableitungsleistungen u n d Konsistenz in einem Sy­

1 9 Z u m Beispiel d a h i n g e h e n d , d a ß P e r s o n nicht m e h r nur als d a s j e n i g e W i l l e n s­

subjekt v e r s t a n d e n wird, d e s s e n H a n d l u n g e n der Zurechnung f ä h i g sind (s. Kant, M S 22), w ä h r e n d u n b e s t i m m t bleibt, w a s P e r s o n als i m P r o z e ß ihrer Verwirklichung befindliche Freiheit ist.

(18)

stem normativer Urteile abgehoben wird, ist solange nicht verfänglich, als das weitere Vorgehen Spielraum zu zusätzlichen Modifikationen der neu eingeführten Begriffe u n d zur Einschränkung der mittels ihrer gebildeten Grundsätze läßt.

(3) Mit der E i n f ü h r u n g von Begriffen, wie z. B. ,Person' oder E i g e n ­ tum', werden Begriffe ins Spiel gebracht, die bereits in unseren gewöhn­

lichen Vorstellungen oder in vorliegenden, nichtspekulativen Theorien existieren; Begriffe sozusagen, unter denen m a n sich etwas vorstellen kann. Dabei werden diese Vorstellungen, ganz wie es den naturrecht­

lichen Begründungsmodellen entspricht — zunächst jedenfalls — nicht mit ihrem vollen Bedeutungsgehalt in die neu eingeführten Begriffe über­

n o m m e n . Trotzdem aber fixiert Hegel — u n d sei's auch n u r fiktiv — kei­

nen empirischen Zustand, f ü r den die so reduzierten deskriptiven Gehalte

— sei's als Deskriptoren, sei's als Prädikate — ausreichend sein sollen.

M a n möchte meinen, seine Lehre vom abstrakten Recht stelle eine ab­

straktere Version traditioneller A u f f a s s u n g e n vom N a t u r z u s t a n d dar.

Doch nichts deutet darauf hin, daß Hegel das abstrakte Recht bloß als methodische Fiktion verstand

20

. W i e aber ist es d a n n zu verstehen? Die A n t w o r t liegt, wie mir scheint, in einer methodischen Konsequenz, die Hegels Theorie des Geistes f ü r die Behandlung ihrer Inhalte hat. Aller­

dings hat Hegel erst in der zweiten Auflage seiner Encyclopädie auf die Konsequenz hingewiesen, u n d das n u r andeutungsweise. Die konkrete N a t u r des Geistes, so heißt es da in § 380, bringe f ü r die Betrachtung die eigentümliche Schwierigkeit mit sich, daß die besonderen Stufen u n d Be­

stimmungen der Entwicklung seines Begriffs nicht zugleich als besondere Existenzen zurück — u n d seinen tieferen Gestaltungen gegenüber bleiben, wie dies in der äußeren N a t u r der Fall sei. Die Bestimmungen u n d S t u f e n des Geistes seien wesentlich n u r als Momente, Zustände, Bestimmungen an den h ö h e r e n Entwicklungsstufen. Der Fiktion eines Zustandes, f ü r den die Begriffe der Lehre vom abstrakten Recht ausreichend sein k ö n n ­ ten, bedarf es, so k a n n m a n folgern, daher nicht, weil das abstrakte Recht insgesamt n u r M o m e n t , Zustand und Bestimmung an (mindestens) einer höheren Entwicklungsstufe des einen Geistes ist. W a s aber wird unter diesen U m s t ä n d e n aus dem Umgang mit jenen Begriffen, die vorstel­

lungsmäßig v o r h a n d e n sind u n d zur E i n f ü h r u n g der G r u n d b e g r i f f e des abstrakten Rechts gebraucht werden? Die philosophische Erkenntnis h a t ja nicht nur, wie Hegel es einmal n e n n t (Enc. § 246 A; vgl. Rechtsphiloso­

phie § 2 A), den Gegenstand nach seiner spekulativen Begriffsbestim­

m u n g in dem philosophischen G a n g anzugeben; sie h a t auch die empi­

rische Erscheinung, welche der Begriffsbestimmung entspricht, n a m h a f t

20 Vgl. dagegen llting, a. a. O., S. 62.

(19)

zu machen und von ihr zu zeigen, daß sie der Begriffsbestimmung in der T a t entspricht. Dazu soll m a n sich „in den Vorstellungen u n d in der Sprache" (§ 2 A) nach dem entsprechenden Inhalt umsehen. Wie soll dies U m s e h e n Aussicht auf Erfolg haben, w e n n es keine Eins­zu­eins­Korrela­

tion zwischen Begriffsbestimmung und — in der Vorstellung u n d Sprache artikulierter — empirischer Erscheinung gibt? Auf diese Schwierigkeit macht Hegel an der herangezogenen Stelle der Encyclopädie selbst a u f ­ merksam, w e n n er f o r t f ä h r t : dadurch, daß im Geist dessen niedere Be­

stimmungen wesentlich n u r als Momente, Zustände u n d Bestimmungen an den höheren Entwicklungsstufen sind, geschehe es, daß an einer nie­

drigeren, abstrakteren Bestimmung das Höhere sich schon empirisch vor­

h a n d e n zeige

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. Indem niedrigere Stufen betrachtet werden, müsse man, u m sie „nach ihrer empirischen Existenz bemerklich zu machen", an höhere erinnern, „an welchen sie n u r als Formen v o r h a n d e n sind", u n d auf diese Weise einen Inhalt antizipieren, „der erst später in der Entwick­

lung sich darbietet".

Leider h a t Hegel nicht gesagt, wie er das mit dieser „Schwierigkeit"

einhergehende Problem bewältigen zu k ö n n e n glaubt: die der Begriffs­

b e s t i m m u n g entsprechende empirische Erscheinung namhaft zu machen, u n d von ihr zu zeigen, daß sie der Begriffsbestimmung in der Tat ent­

spricht. Ich möchte nachher (IV) an einem Beispiel zeigen, wie ich mir die Bewältigung dieses Problems denke. M a n k o m m t dabei nicht ohne Ü b e r ­ legungen aus, in denen kontrafaktische Konditionalsätze eine wesentliche Rolle spielen. Dadurch ist das Hegeische V e r f a h r e n demjenigen der Fik­

tion eines Zustandes näher v e r w a n d t , als Hegels Rede von der „Entwick­

lung des Begriffs" suggeriert. Hierzu vorerst n u r soviel: Grundsätzlich d ü r f t e Hegel das Problem f ü r lösbar erachtet haben,

(a) weil die empirische Erscheinung, die es n a m h a f t zu machen u n d als entsprechend nachzuweisen gilt, in der Vorstellung gegeben ist;

(b) weil Vorstellungen Hegels A u f f a s s u n g nach nicht n u r einfache Be­

s t i m m u n g e n sind, die „im weiten Boden der inneren abstrakten All­

gemeinheit des Vorstellens ü b e r h a u p t " „vereinzelt" stehen (Enc.

§ 20); sondern sie außerdem einen Inhalt besitzen, der — stamme er n u n aus den Sinnen oder aus dem selbstbewußten D e n k e n — jeden­

falls bei einem gebildeteren D e n k e n aus einer Mannigfaltigkeit von ebenfalls vereinzelten, einfachen Bestimmungen besteht, die in der Form des bloßen Nebeneinander v e r b u n d e n sind (ebenda).

21 Oberflächlich betrachtet könne das Höhere daher hier schon wesentlich seine Stelle und sogar Wurzel zu haben scheinen; es könne auch so aussehen, als müsse man seine Bestimmungen als besondere Arten des Niederen betrachten.

Hier also geht der Abweg ab, der dazu führt, den Staat als Vertragsverhältnis aufzufassen.

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(c) D a Vorstellungsgehalte bloß nebeneinander stehen, lassen sie sich durch den Gedanken entzweibrechen.

(d) Sofern es um das N a m h a f t m a c h e n einer ganzen empirischen Erschei­

n u n g geht, müssen die Teile dann allerdings nachträglich wieder zu einem Ganzen z u s a m m e n g e f ü g t werden. Aber das k a n n nach Prinzi­

pien geschehen, u n d die Teile können dabei in Reihenfolgen Berück­

sichtigung finden, die allein durch den spekulativen Begriff u n d nicht durch den Inhalt der Vorstellung diktiert sind.

(4) Außer der Art, wie Hegel Begriffe einführt, die auch in den klassi­

schen neuzeitlichen Naturrechtslehren eine Rolle spielen, ist sicherlich die Tatsache verblüffend, daß diese Begriffe, nachdem sie einmal eingeführt sind, selbst innerhalb der sogenannten Sphäre, in die sie, so eingeführt, gehören — u n d damit auch in bezug auf den durch diese Sphäre festgeleg­

ten Anwendungsbereich —, nicht ihre feste Bedeutung behalten, sondern diese Bedeutung mehrfach ändern. V e r b l ü f f e n d ist auch, daß der A n ­ spruch erhoben wird, im weiteren Verlauf dieser Bedeutungsänderungen entspringe am Ende „mit Notwendigkeit" eine neue Sphäre, u n d damit auch ein neuer Anwendungsbereich mit einer neuen Reihe e i n z u f ü h r e n d e r Begriffe. W i e d e r u m steht hier zunächst nicht zur Diskussion, wie Hegel all dies zu erreichen versucht; sondern nur die Frage, warum er sich über­

h a u p t im Interesse der Systematisierung von Prinzipien u n d deskriptiven Gehalten einer Theorie normativer Urteile derartige Herkulesarbeiten zumutet. W e n n es n u r d a r u m ginge, von der angeblich spekulativen N a ­ tur des Begriffs Zeugnis abzulegen oder den Stoff der neuzeitlichen N a ­ turrechtslehren u n d der naturrechtlich begründeten Staatslehren auch einmal dialektisch zu präsentieren, was immer das heißen soll, so wäre der Verdacht k a u m auszuräumen, daß Hegel, u m jenen Stoff zu bewälti­

gen, sich seiner M e t h o d e wie eines Prokrustesbetts bedient. Doch auch f ü r die soeben g e n a n n t e n Verfahrenseigentümlichkeiten lassen sich spezifisch auf die A u f g a b e einer Theorie normativer Urteile bezogene G r ü n d e an­

geben: O h n e ein V e r f a h r e n , das regelt, wie v o n einem Gegenstandsbe­

reich, f ü r den gewisse Begriffe e i n g e f ü h r t werden, zu einem anderen überzugehen ist, u n d das diesem Ü b e r g a n g auch den Sinn gibt, die A n ­ wendbarkeit der zunächst f ü r jenen ersten Bereich e i n g e f ü h r t e n Begriffe auf den zweiten Gegenstandsbereich zu erzwingen, läßt sich das oben er­

w ä h n t e Problem der Ü b e r t r a g u n g deskriptiver Gehalte u n d Prinzipien v o n einem Gegenstandsbereich auf den anderen nicht lösen. D a r ü b e r hin­

aus m u ß , wie z u m vorangehenden P u n k t a u s g e f ü h r t , das V e r f a h r e n auch sichern, daß Teilvorstellungen wieder integriert werden zu einem Ganzen, das als die empirische Erscheinung n a m h a f t gemacht w e r d e n k a n n , die einer Bestimmung des spekulativen Begriffs korrespondiert — u n d z w a r korrespondiert auf jene indirekte, über verschiedene Stationen der speku­

lativen Begriffsbestimmung u n d Berichtigung v o r h a n d e n e r Begriffe lau­

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fende Weise; auf jene Weise also, die Hegel fü r Bestimmungen des Gei­

stes in Anspruch nimmt. Ein so anspruchsvolles V e r f a h r e n könnte sein Ziel wohl k a u m in Aussicht stellen, w e n n nicht wenigstens zwei weitere Bedingungen erfüllt werden:

(a) w e n n — wie b e h a u p t e t — die eingeführten Begriffe nicht von v o r n ­ herein zurechtgeschneidert werden auf die Möglichkeit hin, deskrip­

tive Gehalte u n d Prinzipien, die aus ihnen a u f z u b a u e n sind, von einem Gegenstandsbereich auf einen anderen zu übertragen, d a n n müssen sie im Verlauf der Entwicklung der über ihren anfänglichen Gegenstandsbereich aufzustellenden Theorie durch Bedeutungsände­

derungen hierzu tauglich gemacht werden.

(b) Desgleichen m u ß , w e n n sie in bezug auf einen anderen Gegenstands­

bereich wieder ins Spiel k o m m e n , in bezug auf den zunächst andere Begriffe eingeführt w o r d e n sind, entweder durch weitere M o d i f i k a ­ tion — sei's an den n u n m e h r eingeführten oder an den ursprünglich f ü r einen anderen Gegenstandsbereich eingeführten Begriffen — Sorge getragen werden, daß sich keine Prinzipien aufstellen lassen, aus denen sich Forderungen ergeben, die miteinander in Kollision k o m m e n ; oder es müssen Prinzipien plausibel werden, die Kollisio­

nen entscheidbar machen.

So wird die Hegeische Rechtsphilosophie durch den Theorietypus, den sie verkörpert, zugleich zu einer Theorie typischer Normenkollisionen u n d der Prinzipien ihrer Ü b e r w i n d u n g (s. z. B. § 127). Im Hinblick auf die Tatsache, daß noch Kant der A u f f a s s u n g war, eine Kollision v o n Pflichten u n d Verbindlichkeiten sei vernunftrechtlich nicht denkbar (MS 24), u n d daß er dementsprechend Rechte, die sich prima vista einer kolli­

sionsfreien D e n k b a r k e i t entziehen — wie z. B. das Notrecht — als n u r vermeintliche abtat (MS 41 f.; vgl. dagegen Rechtsphilosophie § 127), ist das gewiß nicht der geringste unter den Vorzügen des Hegeischen T h e o ­ rietyps.

A n d e r e Vorzüge d ü r f t e n längst deutlich geworden sein: Hegels Rechts­

philosophie macht Halt weit vor dem Ziel einer systematischen Theorie normativer Urteile, die u n s mit zwingenden G r ü n d e n f ü r die Beurteilung v o n Einzelfällen ausstatten will (vgl. Vorrede, S. 34) — einem Ziel, das sich mit bescheidenen Mitteln formulieren läßt; das aber ohne einen sehr anspruchsvollen Apriorismus auch n u r bescheidene Ergebnisse verspricht.

W e r sich dieses Ziel setzt, wird normalerweise n u r diejenigen Einzelfall­

urteile rechtfertigen k ö n n e n , die k o m p e t e n t Urteilende o h n e h i n in der Regel richtig zu fällen wissen; er wird höchstens in wenigen Grenzfällen d a r ü b e r hinausgehen u n d unser Urteil treffsicherer machen können.

Die Brauchbarkeit des Ergebnisses h ä n g t bei diesen Grenzfällen aber ganz

von der Frage ab, ob die in der Theorie aufgestellten Prinzipien einseitig

sind oder nicht. Gerade auf eine richtige Entscheidung dieser Frage zielt

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