• Keine Ergebnisse gefunden

Den Gott ernähren. Überlegungen zum regelmäßigen Opfer in altorientalischen Tempeln

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Den Gott ernähren. Überlegungen zum regelmäßigen Opfer in altorientalischen Tempeln"

Copied!
12
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

E. Stavrianopoulou - A. Michaels - Cl. Ambos (Hrsg.), Transformations in Sacrificial Practices.

From Antiquity to Modern Times, Berlin 2008, 75-86.

Den Gott ernähren.

Überlegungen zum regelmäßigen Opfer in altorientalischen Tempeln

von STEFAN M . MAUL

Ein eigenes Wort für „Tempel" kennen die Sprachen des Alten Zweistromlandes nicht. Sumerer und Akkader, Assyrer und Babylonier bezeichneten die Tempel ihrer Städte lediglich als „Häuser" bzw. „Haushalte" der Götter. Mit Fug und Recht darf man die altorientalische eigenbegriffliche Bezeichnung für „Tempel", nämlich „Haus" bzw. „Haushalt des Gottes N . N . " als zutreffend bezeichnen. Denn altorientalische Tempel waren nicht in erster Linie Gebetshäuser, sondern präsenti­

erten sich vielmehr als in das Monumentale gesteigerte Wohnhäuser der stets anthro- pomorph gedachten Götter, in denen diese inmitten der Stadt - einem Fürsten nicht unähnlich — mit Familie und Hofstaat residierten.

1

In den historischen Perioden der altorientalischen Kultur verfügten Gotteshäuser über einen Thron- und einen Festsaal, über Empfangs-, Wohn- und Schlafräume, und den Göttern standen in ihren Häusern reichlich Kleider, Schmuck und Haushaltsgeräte, Wagen und Möbel aller Art zur Verfügung. Z u dem göttlichen Hofstaat in einem Tempel zählten nicht nur der Gatte oder die Gattin, Kinder und Kindeskinder der verehrten Gottheit, sondern auch deren göttliche Wesire, Minister, Berater, Herolde, Boten und Pförtner und sogar Harfenspieler und Frisöre. Wie in Palastanlagen gruppierten sich auch in den Gotteshäusern W o h n - und Repräsentationsräume gemeinsam mit Wirtschahs­

trakten um weitläufige Höfe, an denen z.B. Küche und Bäckerei, Brauerei und Schlachterei lagen. Zahlreiche Tempelangehörige, Arbeiter, Handwerker, Verwal­

tungsfunktionäre und Priester kamen gemeinsam, so wie in jedem anderen Haushalt, der Aufgabe nach, die Ernährung ihres Hausherrn und der ihm Anempfohlenen sicherzustellen. In dem Wirtschaftsbetrieb eines Tempels wurden feine Speisen und Lebensmittel aller Art aus den Grundstoffen hergestellt, die die Gärten und Ländereien, die Herdenbestände und Gewässer des Tempels sowie andere Einkünfte lieferten. Täglich zweimal, morgens und abends, wurde den Göttern, im Rahmen eines umfangreichen Rituals, verbunden mit Gesängen und Gebeten, ein reichliches Mahl serviert, zu dem verschiedene Biersorten, Wein und Milch, Brote, Kuchen,

Einen Überblick über die Tempel des Alten Zweistromlandes bietet Heinrich 1982.

(2)

7 6

G e bä c k e u n d Süßspeisen, Eier, Früchte, H o n i g , Fisch, G e f l ü g e l u n d ausgewählte gekochte, gebratene u n d gegrillte Fleischstücke verschiedener Tiere aufgetragen w e r d e n k o n n t e n . E i n n i c h t geringer Teil der A k t i v i t ä t e n der Wirtschaftseinheit

„ T e m p e l " floss so i n die E r n ä h r u n g der Götter.

G l e i c h drei altorientalische M y t h e n m a c h e n deutlich, welch e n o r m e B e d e u t u n g i m A l t e n O r i e n t der täglichen Versorgung der G ö t t e r m i t Speis u n d T r a n k beigemessen w u r d e . D e r sumerische M y t h o s Enki und Ninmacb1 berichtet, w i e in der fernen V o r w e l t d i e ersten G ö t t e r sich m i t G ö t t i n n e n in der E h e vereint u n d n e u e G ö t t e r gezeugt hatten. I n G e n e r a t i o n e n hatten sich die G ö t t e r so vermehrt, dass für sie alle n i c h t m e h r h i n r e i c h e n d N a h r u n g zur V e r f ü g u n g stand. D e s h a l b blieb d e n zahlreich g e w o r d e n e n G ö t t e r n nichts anderes übrig, als i m Schweiße ihres Angesichts selbst für ihr tägliches Brot z u sorgen. U n t e r der F ü h r u n g der w e n i g e n „großen G ö t t e r "

hatten sie i n harter Fronarbeit n u n m e h r die Flussbetten des Landes z u graben, d a m i t die Erde d u r c h Bewässerung des Ackerlandes fruchtbar werde u n d die Feldfrucht als G r u n d l a g e des L e b e n s gedieh. D i e G ö t t e r aber klagten laut über die i h n e n aufer­

legte, unerträglich gewordene M ü h e . E n k i , der G o t t der Weisheit, fasste d a r u m den Plan, ein ganz neues W e s e n , n ä m l i c h d e n M e n s c h e n , zu erschaffen, d a m i t dieser in Z u k u n f t die schwere A r b e i t der G ö t t e r verrichte, die G ö t t e r v o n jeglicher Arbeitslast befreie, u n d nicht n u r sich selbst sondern auch die n u n m e h r freigestellten G ö t t e r ernähre. G a n z ä h n l i c h verhält es sich in d e m babylonischen Atramchasis-Epos.3 „Als die G ö t t e r M e n s c h w a r e n " , so lautet die bemerkenswerte erste Zeile der altbabylo­

nische Fassung dieses Textes, „als die G ö t t e r M e n s c h waren", also als sie a u f M e n s c h ­ enweise A r b e i t z u verrichten hatten, u m das eigene Uberleben zu sichern, ließen die w e n i g e n g r o ß e n , schicksalsbestimmenden G ö t t e r die zahlreichen anderen E u p h r a t u n d Tigris, die „Lebensadern" des Landes, graben. D o c h die Fron der beschwer­

lichen Erdarbeiten lastete so sehr a u f d e m H e e r der Götter, dass diese nach lange aufgestauter W u t sich e n d l i c h z u s a m m e n r o t t e t e n , ihre Schaufeln u n d Tragkörbe verbrannten u n d d e n Palast der g r o ß e n G ö t t e r zu s t ü r m e n drohten. N u r die v o m G o t t der W e i s h e i t angeratene E r s c h a f f u n g des M e n s c h e n , die die G ö t t e r a u f D a u e r v o n ihrer Last befreite, k o n n t e v e r h i n d e r n , dass die göttliche O r d n u n g in A u f s t a n d u n d C h a o s versank. D e r M e n s c h sollte v o n n u n an für alle Z e i t die A r b e i t der G ö t t e r weiterführen u n d d a d u r c h , so sagt es unser T e x t , s o w o h l „für die H u n g e r s t i l l u n g der M e n s c h e n " als auch „für d e n Unterhalt der G ö t t e r "4 Sorge tragen. D a s sogen­

annte babylonische W e l t s c h ö p f u n g s e p o s schließlich, das Enuma elisch? schildert, w i e M a r d u k , der G o t t B a b y l o n s , heldenhaft die d u n k l e n U r m ä c h t e , die die Existenz der G ö t t e r b e d r o h t hatten, besiegt u n d unschädlich m a c h t , m i t seinem S c h ö p f u n g s w e r k die neue W e l t o r d n u n g errichtet u n d schließlich d e n M e n s c h e n erschaffen lässt, d a m i t dieser die G ö t t e r für i m m e r v o n ihren Lasten freistelle u n d versorge.

2 Vgl. die Übersetzungen von Römer 1993, 386-401.

3 Vgl. die Übersetzungen: von von Soden 1994, 612-645 und Foster 2005, 227-280.

4 Atramchasis-Epos (altbabylonische Fassung), Tafel I, Zeile 339 (siehe von Soden 1994, 626).

5 Vgl. die Übersetzungen von Lambert 1994, 565-602 und Foster 2005, 436-486.

(3)

Den Gott ernähren. Überlegungen zum regelmäßigen Opfer

77 Alle drei Texte teilen die Ansicht, dass der Mensch einzig und allein geschaffen wurde, um den Unterhalt der Götter zu sichern. Das Versorgen der Götter mit Speis und Trank, die Hege und Pflege der Götter - hierin sind sich die sumerischen und babylonischen Texte, die von der Erschaffung des Menschen handeln, einig - ist die eigentliche, die wahre Aufgabe des Menschen. In drastischen Bildern schildern die Erzählungen von der Sintflut, dass Menschen und Götter hierbei eine untrennbare Gemeinschaft zweier Parteien bilden, die ohne einander nicht sein können. Denn als die von allen Göttern gemeinsam beschlossene Sintflut über die Erde hinweggegan­

gen war und scheinbar nicht ein einziger Mensch überlebt hatte, so schildert es das Gilgamesch-Epos

6

:

„packte selbst die Götter die Angst vor der Flut.

Sie wichen zurück, sie hoben sich fort in den Himmel des Anum.

D a kauern die Götter im Freien, eingerollt in sich selbst wie die Hunde, laut schreit die Göttin auf, einer Kreißenden gleich,

in Klagegeschrei verfiel Belet-ili, die (sonst doch so) schön an Stimme:

'Wahrlich jener uranfängliche Tag ist deshalb wieder zu Lehm geworden, weil ich in der Götterversammlung Böses sprach!

W i e konnte ich nur in der Götterversammlung Böses sprechen und, um meine Menschen auszurotten, Krieg erklären? Denn ich bin es doch, die sie gebar! Meine eigenen Menschen sind's doch!

W i e Fische im Schwärm füllen sie jetzt das Meer!'

Die Götter, die aus der Unterwelt, verweilen mit ihr in Weinen, in Klage aufgelöst, verweilen sie mit ihr in Weinen,

verdorrt ihre Lippen, beraubt der gekochren Opferspeisen."7

Ausgezehrt, da mit der Vernichtung der Menschen die Speisung der Götter aufge­

hört hatte, stürzten sich die Unsterblichen (wie unser Text sagt) „wie die Fliegen"

auf das süß duftende Opfer, das Uta-napischti, der babylonische Noah, „den vier Winden dargebracht hatte".

8

Dank diesem ernähren die Menschen nach der Sint­

flut, dem uranfänglichen Schöpfungsplan folgend, nun wieder die Götter, wähtend die Götter ihren Menschen Schutz und Leitung geben. Das Gilgamesch-Epos liefert hier ein weiteres, interessantes Detail. Erst König Gilgamesch, der der Sumerischen Königsliste zufolge 26.554 Jahre nach der Flut den Thron von Uruk bestieg, soll, als er auf seiner Suche nach dem ewigen Leben bis zu dem in die Unsterblichkeit entrückten mesopotamischen Noah gelangt war, von diesem „Kunde von der Zeit vor der Flut" erlangt und dafür gesorgt haben, dass „die Kultstätten, welche die

6 Vgl. die Übersetzung: Maul 20063.

' Maul 20063, 144 (Tafel XI, 114-127).

8 Maul 20063, 146.

(4)

78

Sintflut zerstörte" wiedererstanden u n d „die u m n e b e l t e n M e n s c h e n " die „seit ewiger Z e i t vergessenen R i t e n " wieder erlernten u n d praktizierten.9 G i l g a m e s c h , für die M e s o p o t a m i e r das V o r b i l d aller K ö n i g e , w i r d in der T r a d i t i o n des Z w e i s t r o m l a n d e s so z u d e m j e n i g e n Herrscher, der die tiefe N a r b e beseitigte, d e n die Flut, trotz Versöh­

n u n g , i m Verhältnis zwischen G ö t t e r n u n d M e n s c h e n hinterlassen hatte. D e n n er soll es gewesen sein, der das O p f e r f ü r die G ö t t e r wieder an seinen o r d n u n g s g e m ä ß e n Platz, n ä m l i c h in seinen rituellen R a h m e n i m T e m p e l d i e n s t gestellt hatte.

In der T a t ist in d e n altorientalischen K u l t u r e n v o n den f r ü h e n Stadtstaaten des 3.

Jahrtausends v. Chr. bis h i n zu d e n W e l t r e i c h e n des ersten vorchrisdichen Jahrtausends H e r r s c h e r t u m stets m i t der Idee v e r b u n d e n , dass der K ö n i g als M i t t l e r zwischen d e n M e n s c h e n u n d d e n G ö t t e r n a u c h die V e r s o r g u n g der G ö t t e r gewährleisten muss.

H i e r v o n zeugen n i c h t allein zahlreiche k ö n i g l i c h e Stiftungen u n d Erlasse, in d e n e n nicht selten a u f steinernem M o n u m e n t „für alle Z e i t " die regelmäßige Z u w e n d u n g v o n Speis u n d T r a n k an eine G o t t h e i t festgesetzt w u r d e , sondern vor allem auch die Königstitulaturen aus drei Jahrtausenden. D a s E p i t h e t o n „Versorger (sumerisch ü - a bzw. akkadisch zäninum) der G o t t h e i t N . N . " oder „Versorger des T e m p e l s N . N . "

legten sich sumerische Stadtfursten des 3. vorchristlichen Jahrtausends ebenso z u wie die G r o ß k ö n i g e des assyrischen u n d des b a b y l o n i s c h e n Reiches.10 V o r allem in B a b y l o n i e n prägte die A u f g a b e des K ö n i g s , die G ö t t e r z u versorgen, so sehr das B i l d des K ö n i g t u m s , dass b a b y l o n i s c h e Königsinschriften anders als assyrische so gut w i e nie v o n K r i e g u n d E r o b e r u n g sprechen, sondern fast ausschließlich die Sorge des K ö n i g s u m die G ö t t e r schildern. G e g e n s t a n d dieser Inschriften sind Berichte über B a u u n d W i e d e r h e r s t e l l u n g v o n T e m p e l n , die Pflege v o n R i t e n u n d K u l t e n . D e m z u g r u n d e liegt die tief i m 3. vorchristlichen Jahrtausend verwurzelte Vorstel­

lung, dass ein Herrscher als G ü n s t l i n g , ja als der Erwählte einer G o t t h e i t angesehen werden muss, w e n n er es ist, der dieser G o t t h e i t , N a h r u n g , H e g e u n d Pflege zuteil werden lassen k a n n . In d e m sumerischen S t ä d t e b u n d des 3. Jahrtausends v. Chr.

k a m d e m e n t s p r e c h e n d j e n e m Fürsten eine V o r m a c h t s t e l l u n g zu, der über N i p p u r , die Stadt des G ö t t e r k ö n i g s Enlil verfugte, u n d so d e n G o t t in seinem N a m e n ver­

sorgen ließ. K a u m ein anderer G e i s t spricht aus den Inschriften des neuassyrischen K ö n i g s Tiglatpilesars III. ( 7 4 5 - 7 2 7 v. C h r . ) , der B a b y l o n , die große Gegenspielerin Assyriens, erobert u n d sich selbst z u m babylonischen K ö n i g erhoben hatte. I n einer k n a p p e n , sein Lebenswerk resümierenden Inschrift schildert er seinen Feldzug gegen die Babylonier f o l g e n d e r m a ß e n : „Ich betrat B a b y l o n . Ich opferte reine O p f e r g a b e n v o r M a r d u k , m e i n e m H e r r n . Ich herrschte über Babylon."1 1 D a s s M a r d u k , der G o t t Babylons, die O p f e r g a b e n des assyrischen K ö n i g s auf D a u e r a n n a h m , war geradezu ein Beweis für das R e c h t des assyrischen K ö n i g s , A n s p r u c h a u f d e n babylonischen T h r o n geltend z u m a c h e n .

9 Siehe Maul 20063, 46 (Tafel I, 8) und 47 (Tafel I, 42-44).

10 Zu Einzelheiten siehe Seux 1967.

11 Siehe Tadmor 1994, 130.

(5)

Den Gott ernähren. Überlegungen zum regelmäßigen Opfer 7 9

W o h e r a b e r s t a m m e n d i e S p e i s e n , d i e e i n Kö n i g d e m G o t t s e i n e r S t a d t , s e i n e s L a n d e s o d e r s e i n e s R e i c h e s a u f t i s c h e n l i e ß ? I n d e r F o r s c h u n g ist d i e s e r w o h l s e h r w i c h t i g e n F r a g e k a u m h i n r e i c h e n d R a u m g e g e b e n w o r d e n .1 2 G e h e n w i r i h r a l s o h i e r n a c h . I n e i n e r I n s c h r i f t a u s d e m 7 . v o r c h r i s t l i c h e n J a h r h u n d e r t s c h i l d e r t d e r a s s y r i s c h e K ö n i g A s a r h a d d o n d i e F e i e r l i c h k e i t e n , d i e e r a n l ä s s l i c h d e s R i c h t f e s t e s f ü r d e n v o n i h m r e n o v i e r t e n T e m p e l d e s R e i c h s g o t t e s A s s u r a n g e o r d n e t h a t t e .1 3

M a n b e w i r t e t e n i c h t n u r g e l a d e n e G ä s t e d r e i T a g e l a n g i m T e m p e l h o f , s o n d e r n a u c h d i e G ö t t e r w u r d e n m i t f e s t l i c h e n M a h l z e i t e n v e r s o r g t . H i e r z u b e r i c h t e t d e r K ö n i g : „ I c h s c h l a c h t e t e g e m ä s t e t e S t i e r e , s c h ä c h t e t e E d e l s c h a f e u n d k ö p f t e V ö g e l d e s H i m m e l s u n d F i s c h e d e r W a s s e r t i e f e n o h n e Z a h l . A u s b e u t e d e s M e e r e s u n d E r t r a g d e s G e b i r g e s h ä u f t e i c h v o r i h n e n a u f . ... A b g a b e n (igise) a u s ( a l l e n ) O r t s c h a f t e n , s c h w e r w i e g e n d e s B e g r ü ß u n g s g e s c h e n k l i e ß i c h s i e e m p f a n g e n u n d m a c h t e i h n e n z a h l r e i c h e G e s c h e n k e . " M a n k ö n n t e d i e s e N a c h r i c h t als H i n w e i s a u f d i e R e i c h h a l t i g ­ k e i t d e s g ö t t l i c h e n S p e i s e p l a n s v e r s t e h e n , u n d s i c h m i t d i e s e r E r k l ä r u n g z u f r i e d e n g e b e n . S e n s i b l e r e s E i n f ü h l u n g s v e r m ö g e n i n d i e a l t o r i e n t a l i s c h e n D e n k s t r u k t u r e n w i r d z u d e r E r k e n n t n i s f u h r e n , d a s s s i c h h i n t e r d e r d e s k r i p t i v e n , v i e l l e i c h t e i n w e n i g n a i v w i r k e n d e n A u f z ä h l u n g v o n O p f e r t i e r e n w e i t m e h r v e r b i r g t : D i e T i e r e l i e f e r n n i c h t n u r d i e e i w e i ß r e i c h e N a h r u n g f ü r d e n G o t t , s o n d e r n s i e r e p r ä s e n t i e r e n a u c h d i e d r e i k o s m i s c h e n B e r e i c h e d e s a l t o r i e n t a l i s c h e n W e l t b i l d e s , d e n e n s i e j e w e i l s e n t s ­ t a m m e n : S c h a f e u n d S t i e r e s t e h e n f ü r d i e E r d e ; d i e V ö g e l f ü r d e n H i m m e l u n d d i e F i s c h e f ü r d e n O z e a n , d e r d i e E r d e u m g i b t u n d ü b e r d e n s i c h d i e E r d e w ö l b t . M i t d e r D a r b r i n g u n g d i e s e r T i e r e w i r d d e r h ö c h s t e G o t t e r n ä h r t u n d „ b e s ä n f t i g t " , i n d e m er g e t r a g e n w i r d v o n d e r L e b e n s k r a f t d e s g e s a m t e n K o s m o s i n s e i n e r v e r t i k a l e n O r d n u n g : H i m m e l , E r d e , O z e a n . D a z u d e n T i e r e n a l l e r A r t , d i e K ö n i g u n d T e m p e l b e r e i t g e s t e l l t h a b e n m ö g e n , a u c h n o c h , w i e u n s e r T e x t s a g t , . A b g a b e n a u s ( a l l e n ) O r t s c h a f t e n " k o m m e n , l i e g t d e r G e d a n k e n a h e , d a s s d e r g e s a m t e R a u m , d i e g e s a m t e G e m e i n s c h a f t d e r M e n s c h e n , a l s o g e w i s s e r m a ß e n d a s „ A Ü " d e m G o t t s e i n e n T r i b u t z u b r i n g e n h a b e , u m i h n g e m e i n s c h a f t l i c h z u e r n ä h r e n .

S o l l t e m a n d i e s f ü r e i n e ü b e r z o g e n e I n t e r p r e t a t i o n h a l t e n , w i r d m a n e i n e s B e s s e r e n b e l e h rt w e n n m a n V e r w a l t u n g s a r c h i v e z u R a t e z i e h t , i n d e n e n d i e H e r k u n f t v o n f ü r d i e S p e i s u n g v o n G ö t t e r n v e r w e n d e t e O p f e r g a b e n v e r z e i c h n e t w u r d e n . D r e i T o n t a f e l f u n d e a u s d r e i E p o c h e n a l t o r i e n t a l i s c h e r G e s c h i c h t e l i e f e r n u n s j e w e i l s i n g r ö ß e r e r Z a h l e n t s p r e c h e n d e U r k u n d e n .

A u s d e r Z e i t d e s R e i c h e s d e r I I I . D y n a s t i e v o n U r , d e m 2 1 . v o r c h r i s t l i c h e n J a h r ­ h u n d e r t , k e n n e n w i r g l e i c h m e h r e r e H u n d e r t V e r w a l t u n g s u r k u n d e n , d i e u n s A u s k u n f t d a r ü b e r e r t e i l e n , w o h e r d a s S c h i a c h t v i e h k a m , d a s i m T e m p e l d e s G ö t t e r k ö n i g s E n l i l i n N i p p u r d e m G o t t i m R a h m e n d e s t ä g l i c h e n M a h l s d a r g e b r a c h t w u r d e .1 4 E s s t a m m t e k e i n e s w e g s a l l e i n a u s d e n s e h r u m f a n g r e i c h e n H e r d e n b e s t ä n d e n d e s S t a a t e s u n d d e r T e m p e l . V i e l m e h r w u r d e n a u s a l l e n , a u c h a u s d e n f e r n s t e n R e g i o n e n d e s

2 Vgl. Mayer - Sallaberger - Seidl 2003, 93-106.

3 Siehe Borger 1956, 5.

' Vgl. Sallaberger 2003-2004, 45-62.

(6)

80

Stefan M. Maul

Reiches T i e r e fü r das O p f e r vor d e m Reichsgott geliefert. Jahr für Jahr schickten die Statthalter u n d G o u v e r n e u r e des Reiches als O p f e r für Enlil ein gemästetes S c h a f oder ein Z i e g e n b ö c k c h e n . D a b e i w u r d e die zunächst vielleicht unverhältnismäßig erscheinende M ü h e nicht gescheut, einen B o t e n m i t e i n e m einzelnen T i e r über E n t ­ f e r n u n g e n v o n bis z u mehreren h u n d e r t K i l o m e t e r n n a c h N i p p u r z u senden, w o m a n vor d e n T o r e n der Stadt ein V e r w a l t u n g s z e n t r u m eingerichtet hatte, das für die zentrale Registrierung des staatlich kontrollierten Viehbestandes zuständig war.

V o n dieser staatlich-königlichen B e h ö r d e w u r d e die O p f e r g a b e registriert, quittiert u n d schließlich d e m T e m p e l des Reichsgottes zugeführt. D i e erhaltenen U r k u n d e n zeigen, dass peinlich genau v e r b u c h t w u r d e , welcher Statthalter z u welcher Z e i t sein jährlich bereitzustellendes O p f e r t i e r n a c h N i p p u r hatte bringen lassen.

E i n zweiter, für unsere Fragestellung bedeutsamer F u n d k o m m t aus d e m zentralen H e i l i g t u m Assyriens, aus d e m T e m p e l des Reichsgottes Assur. A l s dort bei U m b a u a r - beiten in e i n e m N e b e n g e b ä u d e des T e m p e l s das F u ß b o d e n n i v e a u e r h ö h t werden sollte, hatte m a n sich nicht die M ü h e gemacht, d e n R a u m ganz auszuleeren, bevor er m i t S c h u t t aufgefüllt w u r d e . In einer E c k e blieben so drei n u n wiedergefundene T ö p f e m i t T o n t a f e l n liegen, die z u d e m A r c h i v eines T e m p e l b e a m t e n gehörten, dessen A u f ­ gabe darin bestand, über die für die tägliche Speisung der G ö t t e r des A s s u r - T e m p e l s verwendete O p f e r m a t e r i e B u c h z u führen.1 5 D i e etwa 8 0 U r k u n d e n , die allesamt aus d e m 12. vorchristlichen J a h r h u n d e r t s t a m m e n , zeigen, dass beachtliche Parallelen z u d e n soeben geschilderten Verhältnissen des 21. J h . v. Chr. z u verzeichnen sind. A u c h in A s s u r gingen regelmäßig N a t u r a l i e n aus d e n Provinzen des Reiches ein, die für das tägliche O p f e r v o r d e m Reichsgott, in diesem Fall für Assur, b e s t i m m t waren. I n tabellenartigen Z u s a m m e n s t e l l u n g e n w u r d e n die jährlich gelieferten Eingänge aus d e n insgesamt 2 7 Provinzen des Reiches verbucht. Jeder Verwaltungsdistrikt hatte eine festgelegte M e n g e an Getreide, H o n i g , Sesam u n d Früchten z u entrichten. D a für mehrere Jahre entsprechende A u f l i s t u n g e n erhalten blieben, lässt sich ermitteln, dass i m D u r c h s c h n i t t jährlich etwa 100 m3 Getreide; 1 m3 H o n i g , 10 m3 Sesam, 5 m3

Früchte geliefert w u r d e n , pro P r o v i n z entspricht das ungefähr 3,7 m3 Getreide; 3 7 1 H o n i g , 3 7 0 1 Sesam, 185 1 Früchten.1 6 Diese nicht ü b e r m ä ß i g h o h e A b g a b e w u r d e ausschließlich v o n d e n der K r o n e unrersteilten Verwaltungsdistrikten erbracht, oder anders gesagt: die für die Speisung des G o t t e s Assur v o n a u ß e n nach A s s u r geliefer- ren G ü t e r k o m m e n ausschließlich aus d e m mät Assur (also A s s u r - L a n d ) g e n a n n t e n Assyrien, n i c h t aber aus d e n L a n d e n tributpflichtiger Vasallen.1 7 N e b e n den Ü b e r ­ sichten, in d e n e n die jährlich „erhaltenen ständigen O p f e r " aufgeführt sind, gibt es gleichartige Z u s a m m e n s t e l l u n g e n , in d e n e n die T e m p e l b e a m t e n ebenfalls für ein J a h r die „ n o c h aussrehenden ständigen O p f e r " erfassten. A u ß e r d e m blieben Z w e i t ­ schriften der E m p f a n g s q u i t t u n g e n , die d e n Lieferanten der z u o p f e r n d e n G ü t e r

15 Siehe pedersen 1985, 43-53 (Archiv M4).

16 Hierzu vgl. Frevdank 1997, 47-52; vgl. auch Freydank, 2006, 215-222.

17 Aus der Anzahl der hier genannten Toponyme wurde wohl mit Recht auf die Ausdehnung des mittel­

assyrischen Reiches geschlossen, vgl. Freydank 1997, 51 mit Anm. 38.

(7)

Den Gott ernähren. Überlegungen zum regelmäßigen Opfer 81

ausgestellt w o t d e n waren, sowie E m p f a n g s q u i t t u n g e n erhalten, die die O p f e r v e r­

walter sich v o n d e n weiterverarbeitenden Bäckern, Brauern, Ölpressern u n d K ö c h e n hatten ausstellen lassen.

D e r dritte T e x t f u n d schließlich k o m m t aus d e m i m Jahre 6 1 2 v. Chr. bei der E i n n a h m e N i n i v e s niedergebrannten assyrischen Königspalast. A n die h u n d e r t U r k u n d e n unter d e n zahlreichen i m Schutt des Palastes wiederentdeckten Ver­

w a l t u n g s d o k u m e n t e n haben die i m A s s u r - T e m p e l in Assur darzubringenden O p f e r z u m Gegenstand.1 8 W i e in d e m in Assur entdeckten Opferverwalterarchiv finden sich auch hier n o c h , ein halbes Jahrtausend später, Aufstellungen über jene G a b e n , die für das tägliche M a h l des Gottes benötigt w u r d e n . D i e U r k u n d e n sind freilich ein w e n i g anders organisiert. A u f ihnen ist nicht nur der jeweils für einen Tag des M o n a t s b e s t i m m t e sehr reichliche Speiseplan des Gottes verzeichnet, der v o n ganzen R i n d e r n , Fleischstücken u n d Geflügel über G e m ü s e , S u p p e n , Brote, K u c h e n u n d Früchte bis h i n z u Ö l e n , Bieren u n d anderen G e t r ä n k e n reicht. In den U r k u n d e n ist auch notiert, wem die A u f g a b e z u k o m m e n soll, diese Speisen z u stiften. H i e r sind neben G o u v e r n e u r e n u n d Städten des neuassyrischen Reiches auch die K ö n i g i n , der K r o n p r i n z , militärische u n d politische Würdenträger, h o h e Funktionäre des T e m ­ pels u n d des Palastes sowie Vertreter der einflussreichen Familien i m U m f e l d des Herrschers genannt.

Alle drei hier nur k u r z charakterisierten T e x t f u n d e zeigen deutlich, dass, auch w e n n der K ö n i g selbst als Versorger des Gottes galt, die A u s w a h l der bereitgestellten Speisen so getroffen w u r d e , dass G ü t e r aus d e m gesamten L a n d a u f den T i s c h des G o t t e s gelangten. Jede einzelne Provinz, jede Stadt u n d in neuassyrischer Zeit auch die h o h e n Würdenträger hatten G a b e n zu liefern. Diese z u erfassen, zu verarbeiten u n d d e m G o t t z u z u f ü h r e n , w o h l bereichert u m eigene G a b e n , war die A u f g a b e des K ö n i g s , der so sicherstellte, dass ganz der in den M y t h e n artikulierten A b s i c h t der M e n s c h e n ­ s c h ö p f u n g entsprechend, das gesamte L a n d , die G e m e i n s c h a f t der M e n s c h e n , d e n G o t t ernährte. D i e G e m e i n s c h a f t der Untertanen des K ö n i g s k o n n t e sich so auch als „Ernährungsgemeinschaft" w a h r n e h m e n , die i h r e m G o t t gegenüber d e m i m Schöpfungswerk formulierten Auftrag an den M e n s c h e n n a c h k a m . W i e stark hierbei der G e d a n k e ist, dass es die Arbeit (aller) M e n s c h e n sei, die die Versorgung der G ö t t e r sicherzustellen habe, zeigt eine U r k u n d e aus d e m mittelassyrischen A r c h i v des O p f e r ­ verwalters.19 I n diesem D o k u m e n t waren 4 9 i m A s s u r - T e m p e l beschäftigte M ü l l e r verzeichnet, denen die A u f g a b e z u k a m , das aus den Provinzen des Reiches einge­

hende, für die Speisung des Assur bestimmte Getreide z u mahlen. In der U r k u n d e ist die H e r k u n f t eines jeden der Arbeiter genannt. O b g l e i c h i m U m l a n d v o n Assur sicherlich hinreichend Müller hätten rekrutiert werden k ö n n e n , k o m m e n die für

Fales - Postgate 1992, Texte Nr. 158-219 und S. X X X I V - X X X V I ; van Driel 1969, 206ff. Hierzu vgl. auch Holloway 2002, lOOff. mit weiterführender Literatur.

19 Freydank 2004, Text Nr. 60 (VAT 20921). Der Text ist dort lediglich als Keilschriftautographie veröffendicht.

(8)

82

die H e r s t e l l u n g der Opferspeisen eingesetzten Arbeiter aus allen 2 7 Provinzen des Reiches, die so n i c h t allein A n t e i l an der Opfermaterie, s o n d e r n gleichermaßen auch ( u n d dies institutionell abgesichert) an der Bereitung der Götterspeisen haben.2 0

D e r i n d e n S c h ö p f u n g s m y t h e n formulierte A n s p r u c h an die M e n s c h e n , dass die A r b e i t aller die G ö t t e r ernähren m ö g e , ist so bis in das W ö r t l i c h s t e h i n e i n umgesetzt.

In diesem S i n n e h a b e n an der „ G o t t e s - E r n ä h r u n g s g e m e i n s c h a f t " n i c h t nur G o u ­ verneure u n d h o h e W ü r d e n t r ä g e r teil, s o n d e r n auch H a n d w e r k e r , Bauern, H i r t e n u n d V i e h z ü c h t e r , die das d e m G o t t B e s t i m m t e d u r c h ihre A r b e i t hervorbringen. D i e identitätsstiftende Kraft, die der Vorstellung des O p f e r s als einer G a b e der die G e s ­ ellschaftsschichten umfassenden G e m e i n s c h a f t i n n e w o h n t , sollte n i c h t unterschätzt werden. A u s H e r r e n u n d U n t e r t a n e n w i r d so ein G o t t e s v o l k . I m Falle Assyriens, i n d e m der N a m e des G o t t e s Assur a u c h das L a n d u n d seine B e w o h n e r bezeichnet, w i r d dies in besonderer W e i s e deutlich.2 1

Bezeichnenderweise w u r d e n in d e m stark expandierenden neuassyrischen R e i c h n e u eingegliederte Provinzen dazu verpflichtet, sich an der regelmäßigen Speisung des Reichsgottes zu beteiligen. So versuchte A s a r h a d d o n , das eroberte Ä g y p t e n n i c h t n u r unter e i n e m G o u v e r n e u r in das assyrische Herrschaftsgebiet, das L a n d Assur, z u z w i n g e n , s o n d e r n erlegte i h m gleichzeitig, w i e wir aus Inschriften des A s a r h a d d o n erfahren, die Pflicht auf, „bis in die Ewigkeit regelmäßige O p f e r für A s s u r u n d die großen G ö t t e r "2 2 z u entrichten.

W e n n es n u n die G e m e i n s c h a f t v o n K ö n i g u n d d e n i h m Unterstellten ist, die den Reichsgott z u ernähren u n d d a d u r c h göttliches W o h l w o l l e n sicherzustellen hat, bedeutet i m U m k e h r s c h l u s s , dass eine Verweigerung der Speisegabe e i n e m sich der E r n ä h r u n g s g e m e i n s c h a f t E n t z i e h e n u n d d a m i t d e m L e u g n e n g l e i c h k o m m t , z u d e n M e n s c h e n z u zählen, für die der K ö n i g v o r d e m Reichsgott V e r a n t w o r t u n g trägt.

E i n e V e r w e i g e r u n g der Speisegabe für d e n Reichsgott unterscheidet sich daher k a u m v o n einer H a l t u n g , die A u f s t a n d als u n u m g ä n g l i c h betrachtet! M i t e i n e m M a l w i r d klar, w a r u m i n d e m mittelassyrischen A r c h i v der Opferverwalter so peinlich genau darüber B u c h geführt w u r d e , w e r seine A b g a b e nicht erbracht hatte, u n d w a r u m die entsprechenden neuassyrischen U r k u n d e n (worüber sich die Herausgeber w u n d e r n2 3) nicht i m A s s u r - T e m p e l sondern i m Königspalast z u N i n i v e aufbewahrt wurden.2 4

Eine fehlende, nicht eingegangene O p f e r g a b e k o n n t e m a n zwar leicht ver­

schmerzen, w i e folgender Brief eines Assur-Priesters an einen neuassyrischen K ö n i g deutlich zeigt:

*° Vgl. auch den verwandten Text V A T 20946 .(= Freydank 2005, Text Nr. 64).

21 Hierzu vgl. Galter 1996, 127-141.

22 Siehe Borger 1956, 99, 4 8 ^ 9 (§65, Mnm. A, Zincirli-Stele).

23 Fales - Postgate 1992, XXXV.

24 Akullanu, ein Priester des Assur-Tempels informierte seinen König Assurbanipal schriftlich darüber, welcher der Gouverneure nicht lieferte (siehe dazu z.B. Parpola 1993, Text Nr. 96, Z. 13-25; vgl.

ferner auch Cole - Machinist 1998, Texte Nr. 8-11 und Nr. 18-21).

(9)

Den Gott ernähren. Überlegungen zum regelmäßigen Opfer 83

„Der heutige 5. Kanunu25 ist von der Stadt Talmusu zu bestreiten. Nichts wurde geliefert. Niemand kam. Ich habe (dennoch) für das Leben des Königs, meines Herrn, das Opfer vor Assur [und den Göttern des] Königs, meines Herrn, dargebracht."26

Das fehlende Opfergut konnte ohne weiteres aus dem Vermögen des Assur-Tempels erbracht werden. Aber darum ging es nicht. Die verdeckte Renitenz, die das Nicht- liefern der erwarteten Gaben darstellte, war nicht hinzunehmen, und wurde, wie ein weiterer Brief aus den Staatsarchiven der neuassyrischen Könige des 7. vorchrist­

lichen Jahrhunderts deutlich zeigt, geahndet:

„[An den König], meinen Herrn: [Dein Diener D]adi. [Heil], dem König, meinem Herrn. Mögen Nabu und Marduk den König, meinen Herrn, segnen!

Zwei Rinder und 20 Schafe, Opfergaben des Königs, die die Stadt Diquqina zu erbringen hat, sind nicht geliefert worden. Der König, mein Herr, möge dieser Angelegenheit nachgehen. (...) Es sind nun [x] Jahre, dass sie nicht geliefert haben.

Die haben das eingestellt. Der König, mein Herr, sollte seine Soldaten [dort hinschicken]."27

Wir beobachten hier, wie die „Ernährungsgemeinschaft des Assur" sich auf dem Weg befindet, einer Art Staatsidentität zu entfalten: Derjenige kann sich Assyrer nennen, der in der umfassenden Gemeinschaft der sozialen Schichten, der Städte und Provinzen an der Versorgung jener Gottheit teilhat, die den Namen des Landes Assur trägt und deren Unterhalt der assyrische König zu gewährleisten hat. Diesen Weg von einer Opfergemeinschaft zu einer gewissermaßen übernationalen Gemein­

schaft des assyrischen Volkes dokumentiert ein weiterer Brief aus den Staatsarchiven der letzten assyrischen Könige: Ein hoher Beamter des Reiches berichtet hier über einen Kollegen, der der Pflicht, die Versorgung Assurs für einen Tag aus eigenen Mitteln zu bestreiten, nicht nachgekommen war. Diesen Vorgang kommentiert er mit den Worten:

„Wenn diese Leute, die ja Assyrer sind, schon unwillig sind und nicht den König meinen Herrn fürchten, wie werden sich dann erst Leute aus fremden Ländern dem König, meinem Herr, gegenüber gebaren?" 8

Die „Reste" der dem Gott vorgesetzten Gaben, wurden nach der Speisung des Gottes abgeräumt und an den König, an hochstehende Palastangehörige, an

Der Kanunu ist der zehnte Monat des Jahres. Er entspricht etwa dem Zeitraum Dezember/Januar.

Cole - Machinist, 1998, Text Nr. 8, Vs. 15-Rs. 7.

Cole - Machinist, 1998, Text Nr. 18.

Cole-Machinist, 1998, Text Nr. 19, Rs. 2-6.

(10)

84

Provinzstatthalter, Priester und Tempelpersonal verteilt.

29

Wer diese Reste isst, so ist es ausdrücklich in einem neuassyrischen Brief an den König gesagt, „der wird leben".

30

Aus der Gemeinschaft der Gottesernährer wird so auch eine Gemeinschaft, die mit Götterspeise nicht nur den Gott, sondern auch ihren König und sich selbst ernährt.

Der mit einer solchen Götterspeisung verbundene Gedanke einer Gemeinschaft, die die Menschen untereinander ebenso verbindet wie das Gottesvolk mit seinem göttli­

chen Herrn, wird zumindest der Gemeinschaft der Willigen Identität und Festigkeit verliehen und so dem assyrischen Reich in nicht unerheblichem Maße zu innerer Stabilität verholfen haben.

29 Vgl. z.B. Cole - Machinist, 1998, Text Nr. 156.

30 Siehe Reynolds 2003, Text Nr. 133, Rs. 2 -3*.

(11)

Den Gott ernähren. Überlegungen zum regelmäßigen Opfer BIBLIOGRAPHIE

85

BORGER, R Y K L E

1956 (Hrsg.). Die Inschriften Asarhaddons, Königs von Assyrien. Graz (AfO Beiheft 9).

COLE, STEVEN W . - PETER MACHINIST

1998 (Hrsg.). Letters from Priests to the Kings Esarhaddon andAssurbanipal, Stare Archives of Assyria XIII. Helsinki.

DRIEL, GOVERT VAN

1969 The Cult ofAssur. Assen.

FALES, FREDERICK M . - J O H N N . POSTGATE

1992 (Hrsg.). Imperial Administrative Records. Part I: Palace and Temple Administration, State Archives of Assyria VII. Helsinki.

FOSTER, BENJAMIN

2005 Before the Muses. An Anthology ofAccadian Literature. Bethesda (Maryland).

FREYDANK, HELMUT

1997 „Mittelassyrische Opferlisten aus Assur". In: H. Waetzoldt - H. Hauptmann (Hrsg.). Assyrien im Wandel der Zeiten. XXXIXe Rencontre Assyriologique Internationale, Heidelberg, 6.-10. Juli 1992. Heidelberg (HSAO 6).

2004 (Hrsg.). Mittelassyrische Rechtsurkunden und Verwaltungstexte V. Saarbrücken ( W V D O G 106).

2005 (Hrsg.). Mittelassyrische Rechtsurkunden und Verwaltungstexte VI. Saarbrücken ( W V D O G 109).

2006 .Anmerkungen zu mittelassyrischen Texten. 5". In: Altorientalische Forschungen 33, 215-222.

GALTER, HANNES D .

1996 „Gott, König, Vaterland. Orthographisches zu Assur in altassyrischer Zeit". In: Wiener Zeitschriftfür die Kunde des Morgenlandes86, 127-141 [= Festschrift H. Hirsch].

HEINRICH, ERNST

1982 Die Tempel und Heiligtümer im alten Mesopotamien. Berlin.

HOLLOWAY, STEVEN W .

2002 Aissur is King!Assur is King! Religion in the Exercise of Power in the Neo-Assyrian Empire. Leiden/

Boston/Köln.

LAMBERT, WILFRED G .

'994 „Akkadische Mythen und Epen: Enuma Hisch". In: O. Kaiser (Hrsg.). Weisheitstexte, Mythen und Epen. Mythen und Epen II, Texte aus der Umwelt des Alten Testaments III/4. Gütersloh, 565-602.

MAUL, STEFAN M .

2006' Das Gilgamesch-Epos neu übersetzt und kommentiert. München.

MAYER WERNER R . - WALTHER SALLABERGER - URSULA SEIDL

2003 „Opfer". In: D.O. Edzard (Hrsg.). Reallexikon der Assyriologie und Vorderasiatischen Archäologie, Bd. 10 1./2. Berlin/New York, 93-106.

(12)

P A R P O L A , S I M O

1993 (Hrsg.) Lettersfrom Assyrian andBabylonian Scholars, State Archives o f Assyria X . Helsinki.

P E D E R S E N . O L O F

1985 Archives and Libraries in the City ofAssur. A Survey ofthe Material from the German Excavations, Parti. Uppsala 1985.

P v E Y N O L D S , F R A N C E S

2003 (Hrsg.). The Babylonian Correspondence ofEsarhaddon, State Archives of Assyria X V I I I . Helsinki.

Rö M E R , W I L L E M H . P H .

1993 „ M y t h e n u n d Epen in sumerischer Sprache: Enki und N i n m a c h " . In: O . Kaiser (Hrsg.).

Weisheitstexte, Mythen und Epen. Mythen und Epen I, Texte aus der U m w e l t des Alten Testa­

ments LTI/3. Gütersloh, 3 8 6 - 4 0 1 .

S A L L A B E R G E R , W A L T H E R

2 0 0 3 - 2 0 0 4 „Schlachtvieh aus Puzrisch-Dagan. Z u r Bedeutung dieses königlichen Archivs". In: Jaar- bericht Ex Oriente Lux 38, 4 5 - 6 2 .

S E U X , M A R I E - J O S E P H

1967 Epithetes Royales Akkadiennes et Sumeriennes. Paris.

S O D E N , W O L F R A M V O N

1994 .Akkadische M y t h e n u n d Epen: D e r altbabylonische Atramchasis-Mythos". In: O . Kaiser (Hrsg.). Weisheitstexte, Mythen und Epen. Mythen und Epen LI, Texte aus der U m w e l t des Alten Testaments III/4, Gütersloh, 6 1 2 - 6 4 5 .

T A D M O R , H A Y I M

1994 (Hrsg.). The Inscriptions ofTiglath-Pileser III, King of Assyria. Jerusalem.

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Regeln für das Zusammenleben in einer Gemeinschaft 26.. Miteinander trauern

Von Gott zu sprechen, zum Beispiel in Frauenliturgien, mit denen ich mich in meinen liturgiewissenschaftlichen Überlegungen immer wieder beschäftige, lässt sich gar nicht trennen

Aber auch alle, die den unbekann- ten Gott suchen, auch solchen ist Gott nicht fern … ER will nämlich, ›dass alle Menschen gerettet werden‹ (1 Tim.2,4)« nach: Lumen gentium

Entschuldigung für die Ironie, aber ich kann einfach nicht anders reagieren, um meinem Ärger Luft zu machen: Ich finde, wir machen uns mit dieser Art von Predigten einfach

Wie Helmut Plessner zeigte, hat dies direkte Konsequenzen für das politische Handeln von Bürgern in einem Staat: „Menschen, die daran gewöhnt sind, dem Staat als einer

Wie hast Du mich verlassen!“ von Luise Hensel ist auf abi- pur.de veröffentlicht.?. Du

Wer jedoch Agenden, Vorbereitungsliteratur und Materialien genauer betrachtet, wird feststellen, dass sich erstaunlich viele Gebete nicht nur an Gott, sondern auch mehr oder

Gott lässt uns nicht allein Keiner, der auf Gott