Von Johann Tischler, Gießen
0. Die Stammbildung des hethitischen Verbums ist schon mehrere
Male Gegenstand verschieden umfangreicher Abhandlungen gewesen' .
Zuletzt hat N. Oettinger versucht, diese komplexe Materie im Licht
der neuen Erkenntnisse bezüglich der hethitischen Sprachstufen neu
zu behandeln und hat dabei zweifellos einen wesentlichen Schritt
vorwärts getan. Da sich dabei zahlreiche Änderungen bzw. Neuerungen
gegenüber den bisherigen Darstellungen ergeben, ist es nötig, einige
wissenschaftsgeschichtliche Vorbemerkungen" anzubringen, die gleich¬
zeitig einen Beitrag zur theoretischen Fundierung der verbalen Stamm¬
bildung darstellen sollen.
1. Die vordergründigste Motivation für die Erstellung von soge¬
nannten 'Stammformen' liegt — vor allem im Bereich des Verbums —
sicherlich in dem Bestreben begründet, handliche d.h. für die lexika¬
lische Erfassung brauchbare Zitierformen zu gewinnen. Das Bemühen
um derartige 'Lemmaformen' findet sich schon 1917 in der ersten gram¬
matischen Darstellung auf dem Gebiet der Hethitologie, nämlich in F.
HROZNt: Sprache der Hethiter. Leipzig 1917: Zwar listet Hrozn^ im
zugehörigen 'Glossar' alle ihm bekannten Verbalformen separat auf, ist
sich der praktischen Unzulänglichkeit dieser Vorgangsweise aber offen-
Die folgenden Überlegungen wurden durch das Erscheinen des Buches von
N. Oettinger: Die Stammbildung des hethitischen Verbums. Nürnberg: Carl
1979. XVII, 637 S. 8" (Erlanger Beiträge zur Sprach- und Kunstwissenschaft.
64.) ISBN 3 418 000 64 9 angeregt. Auf diese Arbeit wird daher im folgenden des öfteren Bezug genommen.
' Kurze bibliographische Hinweise finden sich bei H. Kronasser: Etymo¬
logie der hethitischen Sprache [EHSJ. Wiesbaden 1966 S. 383 und im Vorspann zu den verschiedenen verbalen Unterklassen (S. 384, 394, 411,412, 422, 432, 435, 438, 460, 468f., sowie 511-513, 527, 536, 549, 556, 569f., 573f , 575-577 und 589).
^ Eine dementsprechende Darstellung mit Klärung der eigenen Position
sucht man in diesem Buch vergebens.
^ Zum Unterschied von den Nomina, die immer unter dem betreffenden
Nominativ aufgeführt sind.
18 ZDMG 132/2
236
sichtlich bewußt*, wie die gelegentliche Verwendung von Stamm¬
formen'' zeigt.
Als Lemmaformen wollte HROZNt jedoch ganz offensichtlich die von
ihm richtig als Nomen actionis bezeichnete Bildung auf -war* einführen,
wie schon der einleitende Satz seiner 'Formenlehre der Verbums' zeigt:
„Im Folgenden gebe ich das Paradigma des häufigen Verbums jawwar
(Nom. akt.) 'Machen'". Diese Vorgangsweise hat sich jedoch bekannt¬
lich nicht durchsetzen können, sondem schon bald und offenbar ohne
weitere Diskussion hat sich die heute übliche Gleichsetzung von
Stammformen = Lemmaform eingebürgert. Sie findet sich zuerst bei F.
Sommer', für den auf Grund seines wissenschaftlichen Werdegangs als
Indogermanist dieses Verfahren naheliegend war: Zwar ordnen die
griechischen Grammatiker und nach ihnen auch ihre römischen
Kollegen den gesamten Wortschatz, d. h. alle flektierbaren Wörter nach
belegten Wortformen, was bis heute üblich geblieben ist, und auch für
die modemen europäischen Sprachen die Regel ist, aber mit dem
Bekarmtwerden der Vorgangsweise der altindischen Grammatik, die
den Wortschatz nach 'Wurzeln' ordnet, ist auch in Europa das
Operieren mit abstrahierten Wortformen (Wurzeln, Stämmen usw.)
üblich geworden*.
Es ist klar, daß derartige (Lemma-) Stammformen durch möglichst
genaue Analyse des belegten Paradigmas gewonnen werden und so
gewählt werden sollen, daß umgekehrt ihre Kenntnis allein ausreicht,
die einzelnen Flexionsformen zu 'generieren'. Die Vorarbeiten für diese
analytischen Arbeiten wurden schon von Hrozn* selbst geleistet, der
einige der produktiven Verbalsuffixe richtig erkannt hat ( -nu-, -sk-u. a. ).
■* Dies erhellt schon aus der allerdings recht vagen Vorbemerkung (8. 212) zum Glossar, wo es heißt: „Die Verbalformen werden natürlich immer jede für sich — in der alphabetischen Reihenfolge — angeführt".
^ S. 153 „*ja-'gehen' ; 8. 159 „*(M-" ; S. 161 „>(1-, ""pdt-" usw. Es handeh sich meist um Fälle, in denen etymologische Vergleiche angestellt werden.
^ In der späteren Literatur zeitweise als 'Infinitiv' bezeichnet, was sicherlich
im Sinne HroznYs gewesen wäre.
' Boghazköi-Studien [BoSt] 7 (1922), 1 ({. (Verbum^iÄ:-) , 6f (Verbum Ao^^^;- ) und öfter im Text. Außerdem ist nun auch das Glossar (S. 65 f) dementspre¬
chend aufgebaut.
'* Dieser Einfluß ist übrigens nicht auf die Indogermanistik beschränkt
geblieben, wie Aufbau und Lemmatisierung von W. Radloff: Versuch eines
Wörterbuches der Türk-Dialecte (Opyt slovarja tjurkskich rmreCij). 4 Bde. St.
Petersburg 1893-1911 zeigen. Besonders wertvoll daher der von A. von Gabain
und W. Veenker herausgegebene Index der deutschen Bedeutung. Wiesbaden
1969-72.
Zur Stammbildung des hethitischen Verbums
1928 hat dann Götze" versucht, durch eine streng systematische
Einteilung zu möglichst einheitlichen Flexionsklassen zu gelangen, die
Grundlage für die Stammansätze, wie sie dann bei Friedrich in
seinem Wörterbuch'" als Lemmaformen erscheinen.
Da diese (Lemma-) Stammformen demnach lediglich auf einem
temporären Wissensstand basierende Zitierformen darstellen, ist es
nicht ausgeblieben, daß sie gelegentlich — v.a. in der Frühzeit der
Hethitologie — modifiziert werden mußten; so spricht Sommer BoSt 7
(1922), 12 und 65 noch von einem Verbum tarn- 'lassen' mit den
Formen tamuuar, tamahhun, tamaSi, tamatti, tamaS, tamama, und
tamattari. Es handelt sich indes um Formen eines vokalischen Verbums
tama-, wie Götze 1930" gesehen hat.
Derartige Änderungen waren unumgänglich, solange sie Korrekturen
in Bezug auf die Analyse des Wortkörpers betrafen, also auf bis dahin
ungenügender Kenntnis der morphologischen Elemente basierten. Sie
sind zum überwiegenden Teil bereits bei Friedrich in seinem Wörter¬
buch berücksichtigt worden. Die seitdem immer wieder vorgeschla¬
genen bzw. durchgeführten Änderungen der Stammformen'^ betreffen
meist den Vokalismus des Stammauslauts, gehören also eher in den
° A. Götze: MadduwattaS. Leipzig 1928. (Mitteilungen der Vorderasiatisch- Ägyptischen Gesellschaft. 32,1.), S. 58-62.
'" J. Friedrich: Hethitisches Wörterbuch [HW] . Heidelberg 1952-1954; dazu 1.-3. Ergänzungsheft, 1957, 196L 1966. Im wesentlichen hat dies auch für E. H.
Sturtevant: Hittite Glossary. Philadelphia 1931 (^1936; Supplement 1939)
gegolten.
'' A. Götze: Neue Bruchstücke zum großen Text des Hattusilis und den Parallel¬
texten. Leipzig 1930. (Mitteilungen der Vorderasiatisch-Aegyptischen Gesell¬
schaft. 34.), S. 64-76 (Paradigma S. 76). Das Verbum figuriert bei Kronasser:
EHS § 216.2 unter den Kausativen mit -na-, wohl zu Recht, da es sich um ein
Verbum handelt, das Bewegungen (hinaus-, frei-, herauslassen) veranlaßt.
Anders Oettinger: Stammbildung 155f, der hierin ein Nasalinfix-Verbum
'ultimae laryngalis' sieht (?, angeblich Nasalpräsens *trnehi-miz\i "^ierÄ^- 'durch¬
dringen' in heth. larh-mi 'überwinde', was weder mit den Belegen — durchwegs nach der - Äi-Konjugation — noch mit den heth. Lautgesetzen — h müßte erhalten sein — in Einklang zu bringen ist. Hauptstütze für diese Theorie ist offenbar das Ptz. tar-na-ah-h[a-ajn (Keilschrifttexte aus Boghazköi [KBo]. Leipzig, Berlin 1916fi"., III 45 Vs. 2' (junge Abschrift!)
'^ So figuriert das Verbum kappuuai- 'zählen (usw.)' (Götze: Madd. 121 ff.
und dann Friedrich: HW99) bei Kronasser: EHS 502 als kappuwaye- und
jetzt bei Oettinger: Stammbildung 332 f. als kappue-; beide — jeweils aus
verschiedenen Motiven durchgeführten — Neuerungen stellen keine essentielle
Bereicherung des Informationsgehaltes der Lemmaform dar und sind insofern
unnötig; die von Oettinger verwendete Notation suggeriert zudem eine sicher¬
lich nicht sprachwirkliche Hiatuslautung.
16*
Bereich der Lautlehre und bedeuten keinerlei Revision im Bereich der
Morphologie und haben insofern wenig Aussichten, die inzwischen
eingebürgerten und somit gleichsam kanonisierten Stammformen =
Lemmaformen verdrängen zu können.
1.1. In den Bereich der Erstellung von Lemmaformen gehören neben
der Reduktion einer 'Stammform', von der aus die belegten Flexions¬
formen 'generiert' werden können, auch die Angaben bezüglich der
Flexionsklasse, also derArt des Endungssatzes. Götze: Madd. (1928)
58-61 hat als erster ein entsprechendes System vorgeschlagen, das von
Friedrich in seiner Grammatik' ' ausgebaut worden ist und auf das
sich die verschlüsselten Angaben in Friedrichs Wörterbuch (auch in
der Neubearb. von A. Kammenhuber'") beziehen:
Klasse I (mit 8 Untergruppen) = mi-Konjugation
Klasse 11 (mit 7 Untergruppen) = ///-Konjugation (bei
Friedrich auf 3 Gruppen reduziert).
Außerdem verwendet Friedrich noch die Siglen Med. 1 und
Med. 2 (mediopassivisch flektierende Verba mit konsonantischem
bzw. vokalischem Stammauslaut).
Dieses System hat sich zwar in der Vergangenheit bewährt''\ doch
sind hier sicherlich auch andere Notierungsverfahren erwägenswert. So
hat Oettinger ein durch nachgestellte Endungen charakterisiertes
einfaches System verwendet'", das allerdings dadurch belastet ist, daß
" J. Friedrich: Hethitisches Elementadmch [HE]. 1: Kurzgefaßte Grammatik.
Heidelberg 1940, §§ 169-196. Das System ist auch in der 2. Auflage (1960)
beibehalten worden.
'* J. Friedrich — A. Kammenhuber: Hethitisches Wörterbuch. 2., völlig
neubearb. Aufl. auf der Grundlage der edierten hethitischen Texte. Heidelberg 1975 ff.
''' Daß sich in ihm ein flexivisches Element (erste bzw. zweite Hauptkonjuga¬
tion; aktivische bzw. mediopassivische Flexion) sowie ein morphologisches
Element überschneiden (innerhalb der Hauptkonjugationen wird auf die
verschiedenen Stammklassen verwiesen, die durch semantisch zumeist deutlich faßbare Suffixe gekennzeichnet sind) hat sich kaum je nachteilig bemerkbar gemacht. Bei Kronasser: EHS §§ 185 ff. hat es deswegen keine Berücksichti¬
gung gefunden, da es sich um ein rein philologisches System handelt.
'" MSS 34 (1976), 109-149 sowie Stammbildung (1979) passim. In beiden Arbeiten wird wechselseitig auf die andere verwiesen, terminologische Erläute¬
rungen sind jedoch nirgends zu finden. Das System ist grundsätzlich anspre¬
chend, vgl. z.B. arrf-"" (mi-Verbum, also Hauptkonjugation I); hat-^'" (hi-
Verbum, Hauptkonj. II); Auch die Dreiteilung der mediopassiven Verben ist
synchron ansprechend vgl. kiS-" und dukk-"" (angeblich Stativ-Verben; bei Friedrich: HE^ S. 77 f als Mediopassiv der Ai-Konjugation bezeichnet — nach A. GoETZE: Die Annalen des MurSiliS. Leipzig 1933, 259) und harp-"" („eigent¬
liche" mediopassive Verben).
Zur Stammbildung des hethitischen Verbums
darin die angebliche und völlig unbewiesene Kategorie 'Stativ' einge¬
baut ist.
2. Mit der eben besprochenen (Leituna-)Staminform eines Verbums
sollte die (Synchron-)Stammform identisch sein, unter der man „das
gemeinsame Element, das allen Formen eines Paradigmas zugrunde
liegt"" versteht. Während jedoch die Lemmaform einen mehr auf die
philologische Praxis ausgerichteten Zweck hat und als Vehikel der lexi¬
kologischen Verständigung dient, muß die (Synchron-)Stammform —
eine ideale Abstraktion — tatsächlich die dem aktuellen Erkenntnis¬
stand entsprechende Gnmdform sein. Aus der verschiedenen Zielrich¬
tung erklärt sich die gelegentlich anzutreffende Diskrepanz in der Nota¬
tion verbaler Stammformen bei verschiedenen Autoren"*.
Während diese Diskrepanzen sich bei der Beschreibung eines
diachron einheitlichen Idioms'" in Grenzen halten dürften, ist beim
Hethitischen mit seinen verschiedenen Sprachstufen, deren Erfor-
Als terminologische Hilfsmittel ist diese Notierungsweise sicherlich geeignet, sie darf jedoch nicht als Ausdruck der diachronen Genese verstanden werden, wie auch die frühci'c .\ruuihiui'. daß es sich hier um eine Fcirtsct/ung des Unter¬
schiedes zwischen der mi- und der Äi'-Konjugation handle, hinfallig ist, vgl.
besonders Iv Neu; Das httliilisciH Midiopa-sair und xiini indogermanischen Orundlag( n . Wiesbaden 1968. (Studien zu den Bogazköy-Texten. 6.), 16-23.
Der Unterschied betrifft die 3. Person Sg. Prs., Prt. und Imp., nämlich Präsens -ta(ri) („mi-Konj.") vs. -a(ri) („hj-Konj.", „Stativ")
Präterit. -tat - " - vs. -at - " -
Imperat. -taru - " - vs. -aru - " -
Die Genese dieses zusätzlichen Dentals, dieses „6l6ment prödesinenciel", kann solange nicht geklärt werden, als die Ratio der Verteilung unklar ist (vgl. Neu l.c.)
" E. Schwyzer: Griechische Orammatik. I: Allgemeiner Teil. Lnvlldin . W'arl- liiJdiing, Flexion. München 1939, S. 417 (also z.B. (puAax- für ipüXa^, (pfjAaxot;, ipuAaxi usw.)
Wenn also — wie in dem Anm. 12 erwähnten Beispiel — ein Verbum in der
Literatur in den verschiedensten 'Stammformen' erscheint, so liegt in den
meisten Fällen — von den eigentlichen Unterschieden in der wissenschaftlichen Konzeption einmal abgesehen — zusätzlich noch eine terminologische Konfusion
vor; die Konkurrenz zwischen der praxisorientierten Lemma-Stammform und
der idealen Synchron-Stammform existiert auch in anderen Philologien (z. B. im
Bereich des Griechischen), kommt aber dort wegen der übermächtigen phüolo¬
gischen Tradition — die Lemmaformen stammen ja zum Großteil schon aus der
antiken Grammatik — auch dort nicht zum Tragen, wo neue sprachwissenschaft¬
liche Erkenntnisse (z.B. durch mykenisches Material) Revisionen derartiger Ansätze nahelegten.
'" In der Praxis dürfte ein solches allerdings kaum je anzutreffen sein (von den teilweise wenig umfangreichen überlieferten Korpora toter Sprachen einmal abgesehen).
Johann Tischler
schung und Abgrenzung ja gerade in Gang gekommen ist^°, diesbezüg¬
lich eine besonders heikle Situation gegeben: Tatsächlich sieht
Oettinger die Hauptaufgabe seiner Stammbildung des hethitischen
Verbums darin, die Charakteristika der jeweiligen Ebenen herauszuar¬
beiten^'.
'Variationen' der Stammbildung eines Verbums sind im Hethitischen
sehr häufig anzutreffen. Zum Beispiel basieren die in älterer Sprache
belegten Flexionsformen des Verbums i&par-^, 'ausbreiten' auf einer
thematisierten Stammform iSparre/a-^, die sich auch in jüngerer Zeit
finden; zusätzlich treten jedoch im Junghethitischen noch weitere
Stammbildungsvarianten auf: So eine thematisierte Form iSparra- mit
Durchführung des -a- im ganzen Paradigma^" und Überführung in die
//i'-Konjugation und eine Erweiterung i&parriia-^ . Von besonderer
Bedeutung sind jedoch Formen wie 1. Sg. Prs. iSparhi, 3. Sg. iSpari,
usw., die deutiich auf ein athematisches Wurzetverbum mit der Stamm¬
form iSpar- weisen: Die sicherhch sprachhistorisch ältere Form iSpar-
ist demnach erst später belegt, als die Thematisierung iSparre/a-, eine
Erscheinung, die wahrscheinlich in der ungleichmäßigen Beleglage
ihre Ursache hat?*.
Für eine zusammenfassende Darstellung des Standpunktes zumindest
einer der Parteien, die an der z.Z. wohl meistumstrittenen Frage in der heth.
Philologie beteüigt sind, s. S. Heinhold-Krahmer, I. Hoffmann, A.
Kammenhuber, G. Mauer: Probleme der Textdatierung in der Hethitologie.
Heidelberg 1979. (Texte der Hethiter. 9.)
^' Angesichts der z.Z. in voüem Fluß befindlichen Diskussion bezüglich der Datierung der hethitischen Texte ist zu vermuten, daß manches Einzelergebnis in der Arbeit von Oettinger zu modifizieren sein wird; dies gilt insbesondere fur die nur kärglich belegten Verba, deren Stammform in einer der früheren
Sprachebenen oftmals nur durch einen einzigen Beleg dokumentiert werden
kann.
So der traditionelle Stammansatz = Lenunaform, s. Friedrich: //TT 89,
der wohl sprachhistorisch primär sein wird, vgl. Tischler: Hethitisches etymolo¬
gisches Glossar. Lfg. Iff. Innsbruck 1977ff., 416ff. für die etymologischen Deutungen.
3. Sg. Prs. iSparizzi: 3. PI. iSparami; Belege bei Oettinger: Stammbildung 266 IT.
^* Daher 1. Sg. iSparahhi, 2. Sg. iSparratti, 3. Sg. iäparrai usw.
3. Sg. iSparriiazzi usw.
^' Ganz anders Oettinger 267 f, der die athematische Form iSpar- als
Analogiebildung zum bedeutungsverwandten iikar- betrachtet und grundsätz¬
lich von dem unhaltbaren Postulat ausgeht, die philologisch ältesten Formen seien auch die spraehhistorisch primären.
Zur Stammbildung des hethitischen Verbums
Es ist hier also besonders deutlich, daß von der (Lemma-)Stammform
mehrere synchron erschließbare Stammformen zu unterscheiden sind;
als Lemmaform wird — sprachhistorisch zu Recht — die athematische
Form iSpar- verwendet, weimgleich die thematische Form i&parre/a-
dieser Aufgabe — der Zahl der Belege und der diachronen Verbreitung
nach — beinahe besser gerecht werden würde.
3. Von der (Lemma-)Stammform als lexikologischem Hilfsmittel und
den verschiedenen Synchron-Stammformen, die sich bei der Unter¬
scheidung der diachronen Sprachebenen ergeben, ist die 'Diachron'-
Stammform zu unterscheiden, die als Ausgangsspunkt dieser oft
umfangreichen und in komplizierter Weise ineinander verwobenen
Paradigmata betrachtet werden kann.
Daß diese Diachron-Stammform, die u. a. auch als Ausgangspunkt für
den weiteren Sprachvergleich außerhalb einer Sprachgruppe verwendet
werden kann, nicht mit der ältesten belegten Stammform gleichgesetzt
werden kann, ist angesichts der speziellen Beleglage mit dem erdrük-
kenden Übergewicht junghethitischer Texte selbstverständlich. Als
Diachron-Stammform empfiehlt sich vielmehr die morphologisch
einfachste Form, die davon abgeleiteten Formen dagegen wird man als
sekundär betrachten, solange nicht besondere Umstände das Gegenteil
erweisen^'. Die athematische Stammform iSpar- z.B. dürfte sprach¬
historisch älter sein als ihre Thematisierung iäparre/a-, auch wenn die
Beleglage dagegen zu sprechen scheint^".
4. (Schluß) Bei der Untersuchung der Stammbildung, insbesondere
der verbalen Stammbildung einer diachron so unterschiedlichen
Sprache wie dem Hethitischen sind in besonderem Maße die verschie¬
denen Aspekte des Terminus 'Stammform' zu beachten:
A Die Stammform im Sinne von 'Lemmaform' (z. B. iäpar- 'ausbreiten')
ist ein bloß lexikologisches Vehikel: Zwar sollte sie derjenigen Stamm¬
form entsprechen, welche die synchron und diachron weiteste Verbrei¬
tung hat, eine einmal eingeführte Form karm jedoch durchaus auch
^' Eine morphofogisch 'einfachere' Form als sekundär zu erweisen, wäre z. B.
dann möghch, wenn zu einem bisher als deverbal betrachtetem Verbum ein
nominales Grundwort auftaucht: In diesem Fall müßte das bisher als primär
angesehene 'einfache' Verbum als retrograde Bildung gelten.
^* Die von Oettinger 270 als Beweis fur die angebhche Priorität der thema¬
tischen Bildung iSparre- herangezogene Parallele mit ai. sphuräti'sXäüi mit dem Fuß', die beide auf uridg. (sie) *sprÄ,zurückgehen sollen, ist angesichts der Tatsache, daß Thematisierungen die einfachste Art morphologischer Erweite¬
rungen darstellen und beinahe überall und allezeit auftreten können, wertlos.
dann beibehalten werden, wenn sich im Laufe der zunehmenden wissen¬
schafthchen Erkenntnisse herausstellen sollte, daß eine andere Stamm¬
bildungsvariante weiter verbreitet ist.
B Davon zu unterscheiden sind die Stammformen, wie sie sich inner¬
halb der verschiedenen synchronen Ebenen (im Hethitischen zumindest
theoretisch 3 Stufen) und sogar weiterhin auf diesen ergeben und die die
Grundlagen fiir die belegten Paradigmata darstellen, z. B. iSpar-, iSpar-
re/a-, iSparra-, iSparriia-.
C Eine der verschiedenen Sjmchron-Stammformen wird in der Regel
mit der Diachron-Stammform identisch sein, die den historischen
Ausgangspunkt für die Auseinanderentwicklung der verschiedenen
Synchron-Stammformen gebildet hat und die außerdem als Grundlagen
für den über diese eine Sprache hinausgehenden Sprachvergleich
dienen kann, z. B. i&par-. Diese Diachron-Stammform muß keineswegs
mit der philologisch ältesten Form identisch sein: Selbst bei gleichmä¬
ßiger Überlieferungslage kommt es vor, daß alte Formen weniger häufig
sind als junge oder daß sie erst in jüngeren Sprachepochen belegt sind;
dem Argument des Erstbeleges kann in der heth. Sprachwissensehaft
mit seiner ungleichmäßigen Überlieferung daher nur beschränkte
Bedeutung beigemessen werden.
Eine Gesamtdarstellung des hethitischen Verbums mit einer klaren
Trennung dieser verschiedenen Gesichtspunkte bleibt trotz der bewun¬
derungswürdigen Arbeitsleistung, die N. Oettinger mit seiner
eingangs erwähnten Untersuchung geleistet hat und auf der jede
weitere Forschung aufbauen muß, noch zu schreiben^". •
Einige weitere Aspekte der verbalen Stammbildung und Flexion — v. a.
Umfang und Hintergründe für den Flexionsklassenweehsel — bei Vf in: Gedenk¬
schrift für H. Kronasser. Hrsg. von E. Neu. Wiesbaden 1982, S. 235-249.
Von Helmut Gätje, Saarbrücken
Es ist für die Erkenntnis der allgemeinen Kulturgeschichte von
wesentlicher Bedeutung, daß die verschiedenen wissenschaftlichen
Disziplinen sich selbst in ihrer historischen Entwicklung begreifen und
sich dabei im Zusammenhang mit anderen Disziplinen als Bestandteil
einer umfassenden Entfaltung menschlichen Seins sehen. Wenn auch
die Anfänge einzelner Wissenschaften einem breiteren Verständnis
zugänglich sein mögen, so setzen die komplexeren Stadien der
Weiterentwicklung oft eine spezifische Kenntnis voraus, über die in
erster Linie der fachwissenschaftlich Gebildete verfugt. Auf der
anderen Seite hat sich die Entwicklung der Wissenschaften zum Teil in
Kulturkreisen vollzogen, deren Sprachen dem Fachwissenschaftler
nicht immer in gleichem Maße vertraut sind, so daß dieser nicht selten
auf Hilfe von philologischer Seite angewiesen ist. Freilich ist diese Hilfe
nur dann von Nutzen, wenn sie selbst im Rahmen einer gewissen fach¬
wissenschaftlichen Kenntnis erfolgt. Der Idealfall wäre, daß der Fach¬
wissenschaftler zugleich ein vollgültiger Philologe oder der Philologe
zugleich ein vollgültiger Fachwissenschaftler ist. Dieser Fall ist zwar
für manche Teilgebiete gegeben, kann aber angesichts der Fülle kultur¬
historischer Daten kaum in gleicher Weise für das jeweilige Gesamtge¬
biet vorausgesetzt werden.
Zu den Wissenschaften, die bis heute ein erstaunliches Geschichtsbe¬
wußtsein bewahrt haben, gehört die Medizin, die sich immer wieder im
Spiegel ihres Werdeganges betrachtet hat und trotz tiefgreifender
Wandlungen immer noch in verschiedener Weise aus ihrer Geschichte
zu lemen vermag. Daß dieser Fall nicht ganz selbstverständlich ist,
zeigt sich am Beispiel der modemen Psychologie, in welcher das histo¬
rische Bewußtsein offenbar sehr viel weniger ausgeprägt ist als in der
Medizin. Dies hängt wohl unmittelbar mit der Entwicklung der
einzelnen Wissenschaften zusammen und kann insofern wieder Gegen¬
stand einer wissenschaftsgeschichtlichen Betrachtung werden. Werm
jemand ein kompetenter Psychologe sein karm, ohne die Geschichte der
Psychologie zu kennen, so gilt Entsprechendes auch fiir den Arzt; doch