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Archiv "Neurophysiologie der Redewendungen" (07.07.1988)

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

In den Redewendungen werden uralte Erfahrungen der Mensch- heit ausgedrückt. Betreffen sie Körperfunktionen, die durch psy- chische Erregung hervorgerufen werden, dann beschreiben sie treffend Psychosomatik. Der Aufsatz will dies an vielen Beispielen in lockerer Folge belegen und zugleich grob skizzierte neurophy- siologische Erklärungen liefern. Beide, die passende Redewen- dung wie auch die einfache, verständlich formulierte neurophysio- logische Deutung, können dem Kranken helfen, seine psycho- somatische Störung besser zu verstehen, zu akzeptieren und sich psychotherapeutischer Behandlung zu öffnen. Unsere Vorfahren, die Schöpfer der Redewendungen, hatten offenbar ein mehr ganzheitliches Verständnis vom Menschen und weniger Not mit dem sogenannten Leib-Seele-Problem, mit dem wir Adepten der abendländischen Philosophie uns „herumschlagen" müssen.

Roland Schiffter

Da bleibt einem glatt die Spucke weg

Neurophysiologie

der Redewendungen

R

edewendungen sind

kein leeres Gerede.

Da steckt immer et- was dahinter. Da wer- den uralte Volksweis- heiten und jahrhundertelange Er- fahrungen zu derben bis unziem- lichen Halbsätzen oder allegorischen

„Schlag-Worten" komprimiert. Sie treffen meist „den Nagel auf den Kopf". Jeder weiß, was gemeint ist.

Viele Redewendungen beziehen sich auf unsere Körperfunktionen, vor allem auf die durch seelische Erre- gung ausgelösten körperlichen Re- aktionen. Sie sind sozusagen psycho- somatische Erkenntnisse, die vom Volksmund auf eine „schlagende"

Kurzform gebracht worden sind.

Psychosomatik ist also auch schon

„ein alter Hut", um den heutzutage nur etwas „mehr Wind gemacht wird", zugegebenermaßen aber ein eminent wichtiger und notwendiger Wind, der noch viel zu wenig „Staub aufwirbelt".

Affekte, Stimmungen, Gefühle sind Funktionen des limbischen Sy- stems und seiner komplexen Ver- schaltungen mit der Großhirnrinde und dem Hypothalamus (Abbildun- gen 1 und 2). Die dabei entstehen-

den, in Regelkreisen zirkulierenden spezifischen bioelektrischen Impulse werden auch ständig in den gesam- ten Körper projiziert, entweder über den Hypothalamus und in die von ihm absteigenden vegetativen Bah- nen, oder auch über hypothalamus- unabhängige vegetative Efferenzen und schließlich über die absteigen- den motorischen ( „extrapyramida- len") Bahnen. Das sogenannte ex- trapyramidal-motorische System ist ebenfalls besonders eng mit limbi- schen Strukturen verknüpft, mit dem Ergebnis, daß Psychomotorik generiert wird.

Die aus diesen Systemen abstei- genden Efferenzen und ihre entspre- chenden Effekte im Körper sind also entweder vegetativ (sympathisch oder parasympathisch) oder moto- risch (Regelung des Muskeltonus oder zum Beispiel Gestik und Mi-

Aus der Abteilung für Neurologie (Leiter Professor Dr. med.

Roland Schiffter) des Krankenhauses Am Urban, Berlin (West);

der Aufsatz entstand als Modifikation nach einem Vortrag zum 65. Geburtstag von Professor Dr. med. Hans Schliack

mik) Andere Efferenzen des zen- tralen Nervensystems gibt es nicht.

Das olfaktorische System

Der Leser mag schon „den Bra- ten riechen" oder gar das „anrüchi- ge" Vorhaben als „brenzelig" emp- finden. Der Autor hat aber gleich- wohl die Hoffnung, daß er nicht als

„ruchlos" gilt, wenn er „ruchbar macht", was das Volk schon seit Jahrhunderten „in der Nase hat".

Es soll hier also zunächst das olfak- torische System besprochen werden.

Es hat, besonders über die Stria ol- factoria medialis, direkte Projektio- nen zum limbischen System. Auf diesem Wege können olfaktorische Reize unmittelbar Affekte, Emotio- nen und die dazugehörigen psycho- motorischen Verhaltensschablonen sowie die typischen vegetativen Ef- fekte in der Peripherie auslösen.

Durch diesen Umstand wird gut ver- ständlich, warum auch beim Men- schen Geruchsreize so unmittelbar und meist unreflektiert komplexe Affekte und andere psychische Re- aktionen in Gang setzen, wie zum Beispiel Ekel, Wohlbehagen, Ab- A-1998 (46) Dt. Ärztebl. 85, Heft 27, 7. Juli 1988

(2)

Der Papez circuit

Gyrus cinguli

Nuclei tegmenti

Formatio reticularis egmenti Nucieus amygdalae

Hippocampus Hypöphyse Hypothalamüs

For nix Corpus callosum

mammilare

MIIIII■11111111111•111

Tractus cinguli Tractus fornicis Tractus

mamillo-thalamicus

Radiatio

thalamico-cingularis Tractus

mamillo-tegmentalis

Abbildung 1: Der Papez-Zirkel (aus: Schihier, R: Neurologie des vegetativen Systems, Springer-Verlag Berlin, Heidelberg, New York, Tokyo 1985, Seite 10)

wehr oder Verlockung. Man kann damit auch besser verstehen, warum selbst primär psychische, nicht durch sensorische Reize induzierte Erre- gungen so gern mit olfaktorischen Erlebnissen umschrieben werden.

Der Geruchssinn hat auch beim Menschen noch die Funktionen

„des Witterns", des „Schnüffeln", des „Schnupperns" , und dies eben nicht nur im real-sensorischen Be- reich, sondern auch im übertragenen Sinne, wie man etwas Bedrohliches

„wittert", eine soziale Atmosphäre

„schnuppert" oder nur mal eben ir- gendwo „reinriecht" .

Mit bestimmten Geruchswahr- nehmungen verknüpfte Erlebnisse werden auch nach vielen Jahren häufig dann als besonders lebhaft- szenische Erinnerungsbilder wieder wachgerufen, wenn man den damit assoziierten Geruchsstoff wieder riecht.

Das gustatorische System

Über Geschmack läßt sich durch- aus streiten. Jeder gesunde Mensch hat zwar ein gustatorisches System, aber manch einer verhält sich einfach

„geschmacklos" oder wird schnell

„sauer" oder empfindet sein Schick- sal als „bitter" , während ein anderer etwa beim Anhören „süßer" Melo- dien oder beim Betrachten eines „sü- ßen" Mädchens „geschmäcklerisch mit der Zunge schnalzt". Es gibt viele mißliche Umstände, die einem über- haupt nicht „schmecken" oder wo

„das Salz in der Suppe fehlt", „die Spucke wegbleibt" oder wieder ande- re, bei denen einem geradezu „das Wasser im Munde zusammenläuft".

Die parasympathischen Systeme des Geschmacksinns und der Drü- sensekretion haben ähnlich enge Verbindungen zum limbischen Sy- stem und zum Hypothalamus. Bei bestimmten akuten, freudigen oder Kampfstimmung erzeugenden Erre- gungen im limbischen System be- steht also gespannter Sympathikoto- nus, dann sind die Speicheldrüsen blockiert und es bleibt die Spucke weg, in anderen Situationen tröpfelt behaglich der Parasympathikotonus, und das Wasser läuft im Munde zu- sammen.

Der Magen-Darm-Kanal

Manchmal kommt einem „der Kaffee hoch" oder man findet alles

„zum Kotzen". Der Magen-Darm- Kanal ist nicht minder umfassend vegetativ innerviert , und wie jedes vegetative Teilsystem ist auch das gastroenterale System in einer stu- fenleiterartig gegliederten Ordnung hierarchisch aufgebaut. Sie reicht von der Hirnrinde über das limbi- sche System, den Hypothalamus bis zu den vegetativen Efferenzen, die über Rückenmarksbahnen, Nerven- wurzeln, Grenzstrang und periphere Nerven bis zu den Erfolgsorganen ziehen.

Das psychosomatische Erfolgs- organ ist dabei jeweils von frühkind- licher Prägung und biographischen Determinanten bestimmt, denn je- der reagiert anders. Der eine muß leicht erbrechen, wenn er etwas Wi- derliches riecht, schmeckt, hört oder sieht oder auch nur denkt, ein ande- rer kriegt Magenkrämpfe, alles Un- erfreuliche „schlägt ihm auf den Magen".

Der individuell negative, zum Beispiel eklige Affekt entsteht durch ein spezifisches Erregungsmuster in den Regelkreisen zwischen Hirnrin-

de und limbischem System. Die re- sultierenden neuronalen Impulse werden auf den Hypothalamus pro- jiziert, und dort wird ein parasym- pathischer Impulsstrom generiert, der über das Vaguskerngebiet und den Vagus hektische peristaltische Kontraktionen und überschießende Salzsäure- und Sekretproduktionen verursacht. Das macht Beschwer- den. Es entwickelt sich oft ein ambi- valenter Wechsel zwischen Angst, Unterwerfung und Ekel, sprich ge- steigertem Parasympathikotonus und andererseits Kampf- oder Fluchtstimmung mit gesteigertem Sympathikotonus. So kann schließ- lich ein Magengeschwür entstehen, wobei der Sympathikotonus durch die Vasokonstriktion und damit Ischämie und durch Blockade der schützenden Schleimdrüsen das Bett bereitet für die ätzende Wirkung von Salzsäure und Magensekreten, die wiederum durch den erhöhten Parasympathikotonus verursacht sind.

Daß die chronische Gastritis und das Magengeschwür psychoso- matische Krankheiten sind, wußten offenbar schon unsere Altvorderen.

Ihnen ist dann auch manchmal eine

„Laus über die Leber gelaufen"

(3)

Gyrus cinguli

Corpus callosum

Corpus mammilare

Nuclei tegmenti

Formatio reticularis tegmenti

Nucleus amygdalae Hippocampus

Hypöphyse Hypothalamus

Tractus-amygdalo- hypothalamicus ventralis (ventrale Mandelkern- strahlung)

Tractus fornicis Stria terminalis Bahnverbindungen vom limbischen System zum Hypothalamus

Abbildung 2: Einige Bahnen des limbischen Systems, die zum Hypothalamus projizieren (aus: Schiliter, R.: Neurologie des vegetativen Systems, Springer-Verlag Berlin, Heidel- berg, New York, Tokyo 1985, Seite 14)

oder sie haben schlimmstenfalls so- gar „Gift und Galle gespuckt", weil Leber, Gallengänge und Gallenbla- se ebenfalls intensiv vegetativ inner- viert sind. Mit dem anderen Ende des Magen-Darm-Kanals haben sich unsere Vorväter auch sehr ausgiebig beschäftigt. Der eine „macht sich vor Angst in die Hosen" oder ist schlicht ein „Schleimscheißer", der andere ist „verstopft", er „kommt nicht zu Potte" , „kommt nicht zu Stuhle" oder — die Derbheit des Volksmundes sei verziehen —

„scheißt sich nicht aus". Auch das ist Psychosomatik, die wie jede Psy- chosomatik ihr somatisches Korrelat im Gehirn hat. Der hochgespannte Sympathikotonus führt zur Darm- atonie und Dauerkontraktion des in- neren M. sphinkter ani, die para- sympathikotone Demuts- und Angstreaktion öffnet den inneren Sphinkter und fördert die Rektum- peristaltik.

Das System

der Schweißdrüsen

Man kommt zuweilen „ganz schön ins Schwitzen" oder hat in der Erwartungsspannung „feuchte Hän- de" und „Herzklopfen". Vieles ist durchaus „schweißtreibend", etwa wenn man im übertragenen Sinne

„in den Schwitzkasten" genommen wird. „Von der Stirne heiß rinnen muß der Schweiß" — das Dichter- wort ist so treffend, daß es eine volkstümliche Redewendung gewor- den ist.

Die Schweißsekretion ist eine reine Sympathikusfunktion, wobei das thermoregulatorische Schwitzen (Hitze, Muskelarbeit) im Hypotha- lamus induziert wird, das psychoso- matische Schwitzen, das nur an Hand- und Fußflächen und im Ge- sicht auftritt (zum Beispiel in der Er- wartungsspannung), sicherlich im limbischen System in Gang gesetzt wird. Beide Schwitzarten sistieren, wenn zum Beispiel im Hirnstamm die gemeinsame hypothalamo-spina- le sympathische Bahn, etwa beim Wallenberg-Syndrom, unterbrochen wird (Hemianhidrose).

Aufschlußreich ist auch das so- genannte adrenerge Schwitzen:

Dem geschockten, aber unverletzt

davongekommenen Unfallopfer oder auch nur Unfallzeugen oder dem Beschauer eines guten Horror- films „bricht der kalte Schweiß aus". Was ist passiert? Die akute limbische und hypothalamische Er- regung hat plötzlich eine übermäßi- ge Adrenalinausschüttung aus der Nebenniere bewirkt. Das anflutende Adrenalin hat durch Kontraktion der glatten Muskelzellen an den Schweiß- drüsenausführungsgängen das dort vorhandene Depot viskösen klebri- gen Schweißes einmalig und explo- sionsartig ausgepreßt und gleichzeitig durch allgemeine Vasokonstriktion eine kalte, leichenblasse Haut be- wirkt. Schließlich hat es dem Unfall- opfer auch „die Haare zu Berge ste- hen lassen", weil die Piloarrektoren- muskeln zur Kontraktion gebracht worden sind, die ebenfalls rein sym- pathisch innerviert werden. Aus ähn- lichen Gründen „sträuben sich die Nackenhaare", die Situation muß nur „haarsträubend" genug sein.

Die Augen

Manchmal bekommt man

„glänzende Augen", weil ein Erleb- nis einen freudigen Sympathikoto- nus ausgelöst hat. Das ist nichts an-

deres als eine bilaterale psychoso- matische Reizmydriasis mit entspre- chend erweiterter Pupille und erwei- terter Lidspalte. Der große Neuro- anatom Clara hat einmal treffend gesagt: Jemand, der seiner oder sei- nem Geliebten schmachtend sagt

„ich liebe dich" und dabei parasym- pathisch enge Pupillen hat, der lügt.

Enge Pupillen, also ein „stechender Blick", entstehen besonders bei ver- haltener Wut, Ekel und angewider- ter Abwehr.

Die Vasomotorik der Haut

Nicht nur in Liebesbeziehungen kann es passieren, daß man zuweilen

„rot anläuft" oder „kalk-weiß"

wird. Diese psychosomatischen Re- aktionen der Vasomotorik in der Haut sind gleichfalls Ausdruck des parasympathisch-sympathischen Wechselspiels, das von den limbi- schen Affekten und Stimmungen un- terhalten und gesteuert wird. Para- sympathische, demütig-peinliche Verlegenheit oder helle, entspannte Begeisterung lösen vasodilatatori- sehe Hautrötung aus, sympathische Schreck-, Kampf- oder Fluchtstim- mung bewirkt vasokonstriktorische A-2002 (50) Dt. Ärztebl. 85, Heft 27, 7. Juli 1988

(4)

Blässe. Jeder versteht diese vegetati- ven Signale der Affektlage des ande- ren ganz unmittelbar.

Harnwege und Niere

Junge Leute, besonders die weiblichen Geschlechts, geraten ge- legentlich in die mißliche Lage, daß sie sich in extremer, lustvoller Erre- gung „in die Hosen machen". Sie

„machen sich naß" , weil nach einer Phase faszinierter und nicht mehr steigerungsfähiger sympathikotoner Spannung das System gegenregula- torisch in eine Art parasympathiko- tone „Auflösung" umkippt und so neben anderen parasympathischen Reaktionen auch die Detrusorkon- traktionen heftig werden und der nunmehr erschlaffte innere Sphink- ter „den Dingen ihren Lauf läßt".

Die Zeitungen berichteten davon, als die „Beatles" oder die „Rolling Stones" die Jugend „in ihren Bann schlugen". Kummer und Sorgen sol- len „an die Nieren gehen", jedoch ist hierzu noch wenig Präzises zu sa- gen. Vielleicht lösen sie Nierenbek- ken- und Ureterspasmen aus.

Das Sexualsystem

Aus der Sexualsphäre gibt es im deutschen Sprachraum merkwürdig wenig treffende Redewendungen, obwohl doch bis zu 80 Prozent der Sexualfunktionsstörungen der Män- ner psychosomatisch verursacht sein sollen. Immerhin gibt es eine gan- ze Menge ängstlich-gehemmter

„Schlapp-Schwänze" , und manche Frau ist „kalt wie ein Fisch". Hier muß man jeweils einen abnorm ge- steigerten Sympathikotonus unter- stellen. Allzu vulgäre Redewendun- gen sollen allerdings unausgespro- chen bleiben, um beim Leser Schamröte, Piloarrektorenschauer oder Brechreiz zu vermeiden.

Atmung, Sprache und quergestreifte Muskulatur

Es kann sein, daß es einem

„den Atem verschlägt" oder „die Luft wegbleibt". Derartige psycho- somatische respiratorische Reaktio- nen sind uns allen sehr geläufig, wir

haben sie und viele andere durchaus schon leibhaftig und real erfahren.

Nach überstandener Gefahr müssen wir oft erst einmal „tief Luft ho- len", nach einer gelungenen Lei- stung stehen wir vielleicht mit „ge- schwollener Brust" da, verharren sozusagen stolz im Inspirations- krampf.

Die respiratorischen Neurone in der unteren Medulla oblongata blei- ben unter dem Einfluß psychovege- tativer Efferenzen aus kortikalen und limbischen Regionen zwar weit- gehend stabil, jedoch sind die will- kür-motorische („pyramidale") In- nervation der Atemmuskulatur so- wie die „extrapyramidale" Rege- lung des Atmens außerordentlich stark von Affekten und Stimmungen modulierbar (Psychomotorik). Spre- chen, Lachen, Singen, oder Spielen von Blasinstrumenten mögen als Beispiele dafür dienen.

Ein plötzlicher Affekt kann uns auch „die Sprache verschlagen", wir „kommen ins Stottern" oder sind sogar „sprachlos". Auch dies sind im wesentlichen psychosomati- sche Effekte an der quergestreiften Muskulatur, die ansonsten auch am ganzen übrigen Körper wirksam werden können. Diverse schmerzlo- se oder schließlich schmerzhafte Muskelverkrampfungen, Rücken- schmerzen, Lumbago und ähnliches können Folge einer andauernden

„strammen Haltung" oder einer

„inneren Verkrampfung", also der Unfähigkeit sein, sich psychisch zu lockern, sich „gehen zu lassen", zu entspannen. Viele Menschen nen- nen wir psychisch „verkrampft" , sie sind es in der Regel dann auch mus- kulär. Andere neurotisch gestörte Menschen entwickeln abnorme Aus- drucksbewegungen in Mimik und Gestik oder Gangbild, eben in ihrer Psychomotorik, was ja eine gestörte Motorik der quergestreiften Musku- latur ist.

Das Herz

-

Kreislauf

-

System

Für den Schluß aufgespart bleibt das „Herzstück" der

Redewendun- gen

in aller Welt und allen Spra- chen. Wir bitten „herzlich", haben einen „Herzenswunsch", tun etwas

„mit Herz und Verstand", müssen uns oft etwas „zu Herzen nehmen".

Das Herz-Kreislauf-System ist im besonderen Maße intensiv vege- tativ innerviert und reagiert ausge- sprochen sensibel auf alle nur denk- baren Erregungen des limbischen Systems. Es könnte einem „ganz schwer ums Herz werden", wenn man darüber nachdenkt, wie unge- nügend sich die nicht-psychothera- peutische, naturwissenschaftlich orientierte Forschung um diese Din- ge kümmert. Die spektakulärste Volkskrankheit unserer Tage, der Herzinfarkt, hat unbestritten eine bedeutsame psychosomatisch-psy- chovegetative Komponente. Nicht alle Herzinfarkte sind arteriosklero- tisch-thrombotische Verschlüsse von Kranzarterien, nicht wenige sind Folge sympathikotoner Spasmen.

Selbst bei den arteriosklerotisch be- dingten Herzinfarkten spielen derar- tige Spasmen in den noch reaktions- fähigen Gefäßabschnitten eine wich- tige Rolle. Die ehrgeizige, aber er- folglose Typ-I-Persönlichkeit, die im besonderen Maße zum Herzinfarkt prädisponiert ist, soll hier nur als Stichwort genannt sein. Auch die ausschließlich psychosomatisch ver- ursachten Herzbeschwerden wie vie- le Angina-pectoris-ähnliche Herzan- fälle, Attacken von „Herzangst", paroxysmale Tachykardien und Ar- rhythmien sollen hier nur kurz ge- nannt sein.

Bei vielen Gelegenheiten, „die zu Herzen gehen", bekommen wir sympathisch-tachykardes „Herz- klopfen" , in schlimmen Fällen

„bricht uns das Herz", in „Herzens- angelegenheiten schütten wir jeman- dem unser Herz aus", tun etwas nur

„schweren Herzens" oder freuen uns „aus vollem Herzen". Mancher ist herzlos, ein anderer speist gern herzhaft. Wir legen jemandem „das Herz zu Füßen" oder „herzen und küssen" den Menschen, den wir

„ins Herz geschlossen haben".

„Das Herz ist kein Stein", sagt ein altes russisches Sprichwort, „Herz und Schmerz" ist mit Abstand das häufigste Wortpaar der lyrischen

Dichtung, der Schlagertexterei und

der seichten Gefühlsliteratur. Hier äußert sich die Psychosomatik des Alltags.

Dt. Ärztebl. 85, Heft 27, 7. Juli 1988 (53) A-2005

(5)

Für den Bluthochdruck ein- schließlich der hypertonen Krisen und die vielen Formen der hypoto- nen Ohnmachten gilt ähnliches: Je- mand „setzt uns unter Druck", ei- nem anderen „steigt das Blut zu Kopfe", oder „sein Blutdruck steigt auf 180" . Und er denkt schließlich

„mich rührt der Schlag" (Furcht vor der hypertonischen Massenblutung).

Anlaß für die Blutdrucksteigerung ist jeweils eine psychische Erregung, ein Affekt. Diese in der Volksmei- nung ganz geläufigen und selbstver- ständlichen Erkenntnisse sind durch viele Untersuchungen bestätigt: Ste- reotaktische Reizungen in diversen limbischen Strukturen führen regel- mäßig zur Blutdrucksteigerung. Sti- mulation des zentralen Kerngebietes des Amygdalums löst konstant sym- pathikotone alpha-adrenerg vermit- telte Vasokonstriktion in den Mus- kelgefäßen und dadurch ausgepräg- ten arteriellen Hypertonus aus.

Ähnliche Effekte sind durch Reizung bestimmter Hypothalamus- regionen oder auch des Locus coeru- leus zu provozieren. Bei Ratten oder Katzen führt Immobilisationsstreß zur Hypertonie, dominante Affen- männchen, die im Käfig gehalten hilflos einem Konkurrenten ausge- liefert sind, reagieren ebenfalls mit Hypertonus. Es gibt gewichtige Ar- gumente, daß auch die essentielle Hypertonie maßgeblich von solchen psychosomatischen Mechanismen in Gang gesetzt und unterhalten wird.

„Da legst di nieder"

Zum Problem der psychosoma- tischen Hypotonie sind Redewen- dungen eher häufiger. Jemand „fällt vor Schreck in Ohnmacht" oder „es schwinden die Sinne", es wird ei- nem „schwarz vor Augen". In Bay- ern sagt man „da legst di nieder", in Preußen würde man eher antworten

„das haut mich um" oder „da bin ich platt". Derartige psychosomati- sche Ohnmachten durch plötzlichen Blutdruckabfall sind häufig und wa- ren in früheren Zeiten sogar schick- lich. Es handelt sich dabei ganz überwiegend um „echte" hypotone Kreislaufregulationsstörungen, die etwa durch Schreck, peinliche oder

auch freudige Überraschung und ähnliches in Gang gesetzt werden.

Hier müssen „reflexartige" Mecha- nismen in limbischen und hypothala- mischen Strukturen zu einer Stimu- lierung des sogenannten cholinergen sympathischen Vasodilatatoren-Sy- stems führen, so daß eine allgemeine Vasodilatation der Muskelgefäße bei Vasokonstriktion der Hautgefä- ße (Blässe) und damit die plötzliche Hypotonie entstehen. Wie beim Hy- pertonus lassen sich auch in den ver- schiedenen limbischen Strukturen durch Reizung, etwa des basalen Mandelkernanteils im Tierversuch, hypotone Blutdruckstürze auslösen.

Dabei sind auch die wichtigen Baro- rezeptorenreflexe blockiert. Ähn- liche Effekte kennen wir auch aus dem Hypothalamus und dem Locus coeruleus sowie durch Experimente aus der Verhaltensphysiologie.

Bei allen diesen kardiovaskulä- ren psychosomatischen Krisen rea- giert das Organsystem auf sympathi- sche oder parasympathische Impul- se, die im Gehirn gestartet werden.

Es kommt entweder zu einer sympa- thikotonen Vasokonstriktion mit Hypertonus und Tachykardie oder zu parasympathikotonem Blut- druckabfall mit Bradykardie, even- tuell bis zur Asystolie. Die Partial- bereiche können auch isoliert oder schwerpunktartig betroffen sein, et- wa mehr das Herz oder mehr das Kreislaufsystem. Vielleicht sind im Gehirn spezielle psychosomatische Reaktionsmuster fest etabliert, die auf spezifische Stimuli reagieren. Re- dewendungen sind also Kurzformeln für psychosomatische Reaktionen und Störungen. Sie sind altes Erfah- rungsgut der Menschheit. Sie lassen sich auch naturwissenschaftlich deu- ten und helfen dem Kranken wie dem Arzt, die Störungen besser zu verste- hen und leichter zu akzeptieren.

Literatur

Schiffter, R.: Neurologie des vegetativen Sy- stems. Springer Berlin-Heidelberg-New York- Tokio 1985

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. med. Roland Schiffter Krankenhaus Am Urban von Berlin-Kreuzberg Abteilung für Neurologie

Dieffenbachstraße 1 • 1000 Berlin 61

FÜR SIE REFERIERT

Karzinomrisiko nach

Magenresektion

Die Diskussion über das „Ope- rationsfolgekarzinom" nach einer Magenteilresektion ist in den letzten Jahren einer kritischen Betrachtung gewichen, hat sich doch gezeigt, daß die ehemaligen Ulkuspatienten nicht nur durch ein Magenstumpfkarzi- nom, sondern durch eine Vielzahl anderer Erkrankungen wie chro- nisch obstruktive Emphysembron- chitis, Bronchialkarzinom und Le- berzirrhose bedroht sind.

Von 5018 Patienten, die vor mindestens 25 Jahren im St. James Hospital, Balham, operiert worden waren, konnten die Autoren 2768 Todesfälle analysieren. In den er- sten 15 Jahren nach der Operation fand sich kein erhöhtes Krebsrisiko, ab dem 20. Jahr ließ sich jedoch ein um den Faktor 3.3 erhöhtes generel- les Krebsrisiko nachweisen. Dabei ließen sich folgende Tumorrisiken ermitteln: Magenkarzinom 4,5fach, Kolonkarzinom 1,6fach, Bronchus- karzinom 3 ,9fach, Pankreaskarzi- nom 4fach, Gallengangskarzinom 9,lfach, Ösophaguskarzinom 2,3- fach, Blasenkarzinom 2,4fach, Mammakarzinom 4fach.

Ursache dieses massiv erhöhten Krebsrisikos könnte die Produktion zirkulierender Karzinogene im ope- rierten Magen sein, wofür auch die Latenzzeit von 20 Jahren sprechen würde.

Caygill, C. P. J., M. J. Hill, C. N. Hall, J.

S. Kirkham, T. C. Northfield: Increased risk of cancer at multiple sites after gastric surgery for peptic ulcer. GUT 28:

924-928, 1987

PHLS Communicable Disease Surveillan- ce Centre, Central Public Health Labora- tories, 61 Colindale Avenue, London NW9 5HT

A-2008 (56) Dt. Ärztebl. 85, Heft 27, 7. Juli 1988

Referenzen

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