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Mit der Lüge leben : die Philosophie und ihr schwieriges Verhältnis zur Unwahrheit

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Academic year: 2022

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F o r s c h u n g F r a n k f u r t 1 / 2 0 0 4 67 G u t e B ü c h e r

W

ir sind umgeben von Lügen, jeder bedient sich ihrer, oft sogar mehrmals täglich, aber in der Philosophie kommt die Lüge eigent- lich nicht vor; sie ist offenbar von ihrer eigenen Wahrheit geblendet.

Das spricht nicht für die Philosophen.

Denn für sie ist die Lüge ein Mal- heur, das sie bislang mit gescheiter Definitionskunst aus der Welt ver- bannen wollten. Nun werden sie durch die Habilitationsschrift der Philosophin Simone Dietz gerade von der Lüge eingeholt, die ihnen die Lücken im Korsett der Wahrheit vor Augen führt. Während andere Philosophen Detailfragen der Wahr- heit sezieren und dadurch aus der Tradition der Selbstbezüglichkeit der Philosophie nicht herausfinden, lässt die Autorin sich von der Lüge leiten und gelangt zu einer umfassenden Darstellung der Wahrheit.

Augustinus erklärte, die Sprache zur Täuschung zu benutzen, sei Sünde. Und auch Immanuel Kant sowie die moderne Sprachphiloso- phie haben keine wirklich bessere Antwort gefunden. Dagegen legt Dietz die erste Arbeit vor, die sprachphilosophische und morali- sche Aspekte der Bewertungen der Lüge miteinander verbindet. Die Fährte, an der die Gegenwartsphilo- sophie den Menschen verfehlt, nimmt Dietz bei Gottlob Frege und Ludwig Wittgenstein auf, deren In- teresse an einer »zeitlosen Wahrheit wissenschaftlicher Erkenntnis ... al- les Subjektive als unwissenschaft- lich aus seiner Betrachtung ausblen- det« (S. 37). Doch gerade Wittgen- stein selbst hat das wissenschaftlich Ungreifbare an der Lüge herausge- spürt; denn die »Regeln des charak- teristischen Lügenverhaltens ... las- sen sich ... nicht aufzählen und kon- trollieren wie Rechenregeln, denn sie bilden kein System« (S. 46).

Die Autorin versteht es, aus dem wichtigsten zeitgenössischen Kon- zept der Moralphilosophie, der von den Frankfurter Philosophen Karl- Otto Apel und Jürgen Habermas konstruierten Diskursethik, anhand ihrer Bewertung der Lüge elemen- tare Mängel nachzuweisen. »Der Beweis für die Unhintergehbarkeit der Wahrhaftigkeitsnorm liegt bei

Habermas, wie bei Apel, im perfor- mativen Selbstwiderspruch des Lüg- ners, und dieser performative Selbstwiderspruch ergibt sich aus der Auffassung, in jedem Sprechakt müsse notwendigerweise Wahrhaf- tigkeit beansprucht werden, weil je- de Kommunikation auf den überge- ordneten Zweck eines begründeten Einverständnisses festgelegt sei. Da- mit hat die Diskursethik sicher ei- nen relevanten Zweck der Sprache ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt, sie hat aber nicht bewiesen, dass jeder Sprachgebrauch diesem Zweck zu folgen und sich normativ an den impliziten Voraussetzungen konsensorientierter Diskurse zu ori- entieren hat.« (S. 177)

Die moralische Verurteilung der Lüge kann nicht aus einem norma- tiven Gehalt der Sprache oder der sprachlichen Regeln herausgezogen werden; das moralische Kriterium muss in der Beziehung zwischen Lügner und Belogenem gesucht werden. So kommt es, dass ein Phi- losoph, den die beiden Frankfurter Diskursethiker gar nicht schätzen, ihnen im systematischen Umgang mit der Lüge noch eine Lektion er- teilen könnte. Es ist Arthur Scho- penhauer, der große Entlarver irra- tionaler Handlungsmotive aus dem 19. Jahrhundert.

Die heute gängigen Verfahren,

»Ableitungen der Unrechtmäßigkeit der Lüge aus dem Sprachvermögen des Menschen«, hat Schopenhauer schon vor 150 Jahren als »platt, kin- disch, und abgeschmackt« bezeich- net. Wie kein anderer der in Dietz’

Studie behandelten Autoren sah Schopenhauer klar, dass nur die dif- ferenzierte Beurteilung der Lüge

»den schreienden Widerspruch zwi- schen der Moral, die gelehrt, und der, die täglich, selbst von den Red- lichsten und besten, ausgeübt wird«

beseitige. So wie allgemein ein Recht, sich mit Gewalt gegen Ge- walt zur Wehr zu setzen anerkannt wird, so erkennt Schopenhauer ein Recht zur Lüge an; denn ich brau- che niemandem, »der unbefugt in meine Privatsphäre späht«, Rede und Antwort zu stehen.

Wenngleich auch Schopenhau- ers Ansatz keine ȟber das Motiv

des Mitleids und die Gefühle des Unrechttuns und Unrechtleidens«

hinausreichenden Kriterien zur mo- ralischen Bewertung von Handlun- gen liefert, so kommt ihm doch das unbestreitbare Verdienst zu, »dass er die Überlegenheit einer differen- zierten Beurteilung gegenüber dem grundsätzlichen moralischen Ver-

dikt gegen die Lüge deutlich ge- macht hat« (S. 222). Schließlich konstatiert die Autorin, dass ein ge- nerelles oder absolutes Verbot der Lüge sich nicht begründen lasse.

»Ein unbedingter Anspruch, ande- ren in jeder Hinsicht vertrauen zu dürfen, käme einer Selbstentmün- digung gleich. … Wohl aber gibt es einen berechtigten und moralischen Anspruch darauf, von anderen nicht verletzt, geschädigt, und in meiner Selbstbestimmung unzuläs- sig behindert zu werden. In diesem Sinn besteht wohl ein berechtigter moralischer Anspruch, von anderen nicht boshaft belogen zu werden, und hier ist es ebenfalls ein Gebot der Klugheit, mit solcher Bosheit dennoch zu rechnen.« (S. 226) ◆

Mit der Lüge leben

Die Philosophie und ihr schwieriges Verhältnis zur Unwahrheit

Simone Dietz Der Wert der Lüge mentis Verlag, Paderborn, 2002, ISBN

3-89785-271-3, 244 Seiten, 32 Euro.

Der Autor

Privatdozent Dr. Klaus-Jürgen Grün lehrt am Institut für Philosophie und ist Leiter sowie Gründer des Philosophischen Kol- legs für Führungskräfte, das erfolgreich Philosophie und Öffentlichkeit miteinan- der vertraut macht.

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