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Genealogie und Migrationsmythen im antiken Mittelmeerraum und auf der Arabischen Halbinsel

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Academic year: 2022

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BERLIN STUDIES OF THE ANCIENT WORLD

EDITION TOPOI

Genealogie und

Migrations mythen im antiken Mittelmeer- raum und auf der

Arabischen Halbinsel

Almut-Barbara Renger

Isabel Toral-Niehoff

(eds.)

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genealogien sind in kulturendes antiken Mittel- meerraums und der Arabischen Halbinsel weit verbrei- tet. Sie dienen dazu, durch Bezüge zwischen einzelnen Menschen und Gruppen sowie zwischen Mensch und Gottheiten Kontinuität und Dauer herzustellen. Unter diachron-historisierender Rückbindung in vertikalen Geschlechterfolgen werden soziale Wirklichkeiten konstruiert, die Ordnung, Stabilität und Beständigkeit suggerieren. Brüche und Diskontinui täten werden harmonisiert, Fortdauer und Verstetigung garantiert und so religiöse, politische und ethnische Ansprüche und Vorrechte legitimiert. Viele dieser Funktionen tei- len die Genealogien mit Mythen von der Herkunft und den Wanderungen einer fi ktiven oder realen Person, eines Geschlechts oder einer Ethnie. Die interdiszipli- näre Betrachtung von Genealogie und Migrations- mythen stellt ein Desiderat dar, dem der vorliegende Band mit Beiträgen aus Religionswissenschaft und Theologie, Biblischer und Klassischer Archäologie, Alter Geschichte, Gräzistik und Latinistik, Ägyptologie

und Arabistik anhand exemplarischer Einzelstudien nachkommt.

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Migrationsmythen im antiken Mittelmeerraum und auf der Arabischen Halbinsel

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Almut-Barbara Renger

Isabel Toral-Niehoff

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Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abruar.

©  Edition Topoi / Exzellenzcluster Topoi der Freien Universität Berlin und der Humboldt-Universität zu Berlin

Abbildung Umschlag: Montuhotep und seine Vorfahren. Aus: Fernand Bisson de La Rouqe, Tˆod –, Fouilles de l’Institut Franc¸ais d’Arch´eologie du Caire (FIFAO) , Kairo : Imperimerie de l’Institute Franc¸ais d’Arch´eologie Orientale,  Fig. 

Typographisches Konzept und Einbandgestaltung: Stephan Fiedler

Printed and distributed by

PRO BUSINESS digital printing Deutschland GmbH, Berlin ISBN ----

URN urn:nbn:de:kobv:-

First published 

Published under Creative Commons by-nc . Germany Licence http://creativecommons.org/licenses/by-nc/./de

www.edition-topoi.de

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Genealogie und Migrationsmythen im antiken Mittelmeerraum und auf der Arabischen Halbinsel. Einleitung —7

DIE BIBEL UND IHR HISTORISCHES UMFELD

 

Die Völkertafel von Genesis  als genealogische Raumordnung. Form, Funktion, Geographie —23

 

Wanderungssagen der Erzväter Israels im Lichte der Geschichte des

. und . Jahrhunderts v. Chr. —41

 

Klios Ärger mit den Söhnen Noachs. Wanderungsnarrative in den Wissenschaen vom Alten Orient und die Rolle der Völkertafel —59

DIE GRIECHISCHRÖMISCHE MYTHENWELT

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Migration, Genealogie und Typologie. Die Konstruktion von Identitäten in Pindars fünerIsthmie —85

 

Amazonen als Einwanderinnen. Ursprung, Konstruktion und

Dekonstruktion mythischer Verwandtscha in Athen und Ephesos —103

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Itala nam tellus Graecia maior erat.Griechen und Troianer als mythische Städtegründer in Italien —135

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GÖTTER, HERRSCHER UND PROPHETEN IN NORDAFRIKA UND AUF DER ARABISCHEN HALBINSEL

 

Elissas lange Reise. Migration, Interkulturalität und die Gründung Karthagos im Spiegel des Mythos —155

 , - 

Götter – Herrscher – Amtsinhaber. Beispiele zu Genealogie als Denkform im Alten Ägypten —175

 

Eine „religiöse Mutation der Spätantike“: Von tribaler Genealogie zum Gottesbund. Koranische Refigurationen pagan-arabischer Ideale nach biblischen Modellen —201

 -

Nebukadnezar, Ma,add und seine Verwandten. Ein arabischer Migrationsmythos im Kontext biblischer Legenden —231

Register —251

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Genealogie und Migrationsmythen im antiken Mittelmeerraum und auf der Arabischen Halbinsel.

Einleitung

Zusammenfassung

Genealogien sind in Kulturen des antiken Mittelmeerraums und der Arabischen Halbinsel weit verbreitet. Sie dienen dazu, durch Bezüge zwischen einzelnen Menschen und Grup- pen sowie zwischen Mensch und Gottheiten Kontinuität und Dauer herzustellen. Unter diachron-historisierender Rückbindung in vertikalen Geschlechterfolgen werden soziale Wirklichkeiten konstruiert, die Ordnung, Stabilität und Beständigkeit suggerieren. Brüche und Diskontinuitäten werden harmonisiert, Fortdauer und Verstetigung garantiert und so religiöse, politische und ethnische Ansprüche und Vorrechte legitimiert. Viele dieser Funktionen teilen die Genealogien mit Mythen von der Herkun und den Wanderungen einer fiktiven oder realen Person, eines Geschlechts oder einer Ethnie. Die interdisziplinä- re Betrachtung von Genealogie und Migrationsmythen stellt ein Desiderat dar, dem der vorliegende Band mit Beiträgen aus Religionswissenscha und Theologie, Biblischer und Klassischer Archäologie, Alter Geschichte, Gräzistik und Latinistik, Ägyptologie und Ara- bistik anhand exemplarischer Einzelstudien nachkommt.

Keywords: Genealogie; Migration; Mythen, Sagen und Legenden; Arabische Halbinsel;

Antiker Mittelmeerraum.

Genealogies are a prevalent feature of the cultures of the ancient Mediterranean and the Arabian Peninsula. They provide continuity and permanence by relating individuals and groups as well as man and the gods. Social realities were constructed along vertical genealogi- cal lines by connecting to the past, thus emphasizing order, permanence and stability.

Gaps and discontinuities were harmonized, and perpetuation and continuation guaranteed, thereby legitimizing religious, political and ethnic claims and prerogatives. Genealogies share a lot of these functions with the origin myths and migration narratives of real or fictional individuals, tribes or ethnic groups. The entanglement of genealogies and myths of wandering has long required a consideration from an interdisciplinary perspective. This

Almut-Barbara Renger, Isabel Toral-Niehoff (eds.) | Genealogie und Migrationsmythen im anti- ken Mittelmeerraum und auf der Arabischen Halbinsel | Berlin Studies of the Ancient World 

(ISBN ----; URN urn:nbn:de:kobv:-) | www.edition-topoi.de

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- ,  -

volume aims to meet this desideratum, with articles based on case studies in the fields of religious studies and theology, biblical and classical archaeology, ancient history, Greek and Latin philology, Egyptology and Arabic studies.

Keywords: Genealogy; migration; myths and legends; Arabian Peninsula; ancient Medi- terranean.

 Einleitung

Genealogische Ableitungen der Herkun in Form von Aszendenz, Deszendenz und, über die Querverbindungen, mit Kognaten und Agnaten sind in antiken und vormo- dernen Kulturen und Gesellschaen ein häufig verwendetes Mittel der Legitimation ge- genwärtiger Verhältnisse und dienen zudem der Verortung und der historischen Erinne- rung.1In horizontaler und vertikaler Linie miteinander verknüpe Personen und/oder Figuren gehören zu einer Familie oder Verwandtscha (engl.kinship), die Beziehungen Einzelner und von Gruppen in einer Gesellscha und/oder Tradition benennt, regelt und kulturell interpretiert. Durch Darstellung in Genealogien, die verwandtschaliches Herkommen (re)konstruieren, werden die Personen und Figuren, seien sie real, seien sie fingiert, in einem weit gespannten Beziehungsgeflecht in Raum und Zeit veran- kert, miteinander vernetzt und voneinander abgegrenzt. Prominente mythische und historische Gestalten innerhalb dieses Geflechts und mit ihnen verbundene Orte wie Städte, Kultplätze und Sakralbauten bilden figurale Knotenpunkte des „kulturellen Ge- dächtnisses“ im Sinne des von Jan und Aleida Assmann geprägten Begriffs – Fixpunkte genealogischen Erzählens.2

Die Menge genealogischer Erzählungen (und mit ihnen der Erzählformen, Genres und Schreibweisen, die Genealogie dar- und ausstellen) ist unüberschaubar. Genealogi- en sind eingebunden in Erzählungen von überexistentiellen Grundlagen des Daseins:

vom Wirken der dem Menschen überlegenen Kräe und Mächte, Gottes bzw. der Göt- ter, Geister und Dämonen. Sie finden sich aber auch, und mit auffälliger Häufigkeit, in Narrativen, die den Menschen selbst unmittelbar existentiell betreffen: in Geschichten

1 Auf die Bedeutung von Genealogie in vormodernen Gesellschaen ist in jüngerer Zeit vermehrt hinge- wiesen worden, u. a. in einer Reihe von Studien mit einem Mittelalterschwerpunkt; grundlegende, ins terminologisch-thematische Feld gehörende Begriffe (Familie, Verwandtscha, Generation; Erinnerung, Gedächtnis, Wissen; Identität, Alterität) diskutie- ren u. a.: Heck und Jahn ; Kellner  (zur Problematik der (Bluts-)Verwandtscha insbes.

S. –); Brandt, Schuh und Siewert . Für die Moderne einschlägig sind z. B.: Melville und Rehberg ; Parnes, Vedder und Weigel .

Auf Sekundärliteratur zu den im vorliegenden Band untersuchten antiken und vormodernen Traditionskomplexen sei hier nicht gesondert verwiesen, s. dazu die einzelnen Beiträge.

2 Vgl. v. a. J. Assmann ; A. Assmann .

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von Wanderung, Flucht und Vertreibung, von Landnahme, Schlachten und Opfertoden, von Siedlungs- und Städtegründungen. Die erzählende, zuhörende und/oder lesende Bezugnahme auf diese Geschehnisse, Handlungen und ihre Träger, die Figuren der Geschichten bzw. die handelnden Personen, dient Einzelnen und Gruppen der kulturel- len und sozialen Aufwertung, Zuordnung und Herstellung von Sicherheit. Insbesonde- re werden Bezüge zu Menschen hergestellt, die über außergewöhnliche Fähigkeiten und Eigenschaen körperlicher oder geistiger Art, Charisma und Heil verfügen bzw. dies in Aussicht stellen, etwa zu religiösen Akteuren wie Priestern und Propheten; des Weiteren zu Helden halbgöttlicher Herkun und zu den Göttern selbst bzw. einem (allgemeinen) Göttlichen, Heiligen, Transzendenten. Eine übergeordnete Rolle spielen außerdem Fi- guren wie die des Stammvaters bzw. der Stammmutter, auch da ihnen omals Gründer- und/oder Eponymenfunktion zukommt. In Rückführung auf sie konstruieren und in- szenieren Einzelne und Gruppen in verschiedensten Darstellungsmodi ihre Identität, zumal dort, wo Klassen, Stände, Kasten u. ä. hohen Stellenwert haben. Zugleich sucht der Mensch – darauf hat u. a. Aleida Assmann verwiesen – mit dem Kontinuitätsmodell der Genealogie, durch Erzeugung von Dauer, „die Erfahrung der Todesgrenze“ kulturell zu kompensieren: „Daß der Vater im Sohn lebt, daß die Vorfahren in den Nachkommen leben, ist das heilende Versprechen, mit dem die Kultur die biologische Zäsur des Todes überwindet.“3

Der vorliegende Band geht Formen und Leistungen genealogischen Denkens in Traditionskomplexen des antiken Mittelmeerraums und auf der Arabischen Halbinsel nach, indem er einen Einblick in die mediale und formale Vielfalt gibt, mit der diese Tra- ditionskomplexe Systeme verwandtschalicher Beziehungen sowohl produzierten als auch narrativ stabilisierten und funktionalisierten. Ungezählte Gruppen, Gemeinschaf- ten und Verbände jener Zeiten und Kulturen verstanden sich als Abstammungsgemein- schaen und erzählten hierüber Geschichten, Mythen im Sinne der altgriechischen Be- deutung des Begriffs (mythoi), die Bestehendes durch Vorhergehendes begründeten und deuteten. Zu diesem narrativen Bestand gehörten insbesondere Migrationsmythen von der Herkun und den Wanderungen einer fiktiven oder realen Person, eines Geschlechts oder einer Ethnie. Sie erzählten vom Ursprung, von Großtaten und Aufstiegsprozessen der Ahnen und verwiesen auf Abstammung, Abfolge und Kontinuität. Omals waren sie zugleich Gründungserzählungen über herausragende Anfänge oder zumindest an solche gekoppelt.

Zu den wiederkehrenden Werten, Paradigmen und Ordnungsprinzipien, die sich in jenen Erzählungen finden, gehören u. a. hohes Alter, vornehme oder göttliche Her- kun, Amtsabfolgen und Blutlinien. Durch letztere erweckten die Erzählungen – hierin bestand eine ihrer Hauptleistungen – den Eindruck, Abbildungen des Natürlichen,

3 A. Assmann , .

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des Leiblichen zu sein. Die in ihnen transportierten Vorstellungen wurden als „Na- turgegebenheiten“ aufgefasst, und es kam zu einer ,Verdinglichung‘ im von Peter L.

Berger und Thomas Luckmann beschriebenen Sinne der „Konstruktion gesellschali- cher Wirklichkeit“.4In manchen Kulturen des antiken Mittelmeerraums und der Arabi- schen Halbinsel hatte das Paradigma der Blutsverwandtscha eine so umfassende Wir- kungsmacht, dass jegliche Gruppenbeziehungen als Blutsverwandtscha mit weit in die Vergangenheit, o mythische Vorzeit, zurückreichender Tiefendimension imaginiert wurden. In diesen Konstruktionen interferierten physisches Reproduktionsgeschehen einerseits und kulturelle Überlieferung andererseits, befördert durch die beiden gemein- same Denkfigur des Ursprungs.

Der Ursprung wiederum bildet im heterogenen Feld genealogischen Erzählens den gemeinsamen Nenner. Seine „besondere Qualität“ besitzen – das hat Klaus Heinrich anhand verschiedener Beispiele aus der Religionsgeschichte erörtert – alle „Gestalten und Lokalitäten und überhaupt alle Geschehnisse“ genealogischer Narrative. An ihm partizipieren Erzählende ebenso wie Hörende und Lesende. Den „Bruch“ zwischen ihm und allem, was ihm entspringt, zu „überbrücken“ – „die Macht der heiligen Ursprünge zu übertragen auf das von ihnen Abstammende, aus ihnen Abgeleitete“ – ist „Funktion der Genealogie im Mythos“.5So betrachtet hat Genealogie die Aufgabe, Anfänge und Herkommen einerseits und spätere Zustände und Konstellationen andererseits zu ver- binden und die ,Lücke‘ zwischen Ursprungszeit und jüngerer Vergangenheit – ein Phä- nomen, für das Jan Vansina, mit Blick auf den typischen Informationsschwund münd- licher Überlieferung, den Begriff desfloating gapgeprägt hat6– zu füllen. Genealogische Konstruktionen, ob als katalogartige Namensabfolgen, ob narrativ ausgeschmückt, ne- gieren diese Lücke. Jan Assmann legt das in seinen Überlegungen zu frühen Hochkul- turen wie folgt dar: „Genealogie ist eine Form, den Sprung zwischen Gegenwart und Vergangenheit zu überbrücken und eine gegenwärtige Ordnung, einen gegenwärtigen Anspruch, zu legitimieren, indem er naht- und bruchlos an Ursprüngliches angeschlos- sen wird.“7

Medial zur Darstellung gebracht wurden die Genealogien und Erzählungen von Anfängen, Wanderungen und Gründungen im antiken Mittelmeerraum und benach- barten Regionen auf viele verschiedene Weisen: durch Texte, Bilder, Artefakte, Archi- tektur, Rituale und weitere Arten von Performanzen. Überliefert sind uns u. a. einfa- che Textformen wie Listen, aber auch komplexe genealogische Narrative in kleinen Erzählformen wie Mythos, Sage und Legende, die textuell wie visuell variationsreich

4 Berger und Luckmann , insbes. –.

5 Heinrich ,  und –.

6 Vansina . Vansinas Terminus beruht auf der Beobachtung, dass schrilose Kulturen über vor allem zwei Vergangenheitsregister verfügen, die

jüngste Vergangenheit, deren Zeitzeugen noch leben, und die „mythische Ursprungszeit“, und dass die Grenze zwischen beiden sich mit der Generationenfolge fortbewegt.

7 Zitiert aus J. Assmann , .



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umgesetzt wurden; des Weiteren teils stark verdichtete, teils ausführlich ausgemalte, Genealogien in Epos, Drama und Lyrik, in mythographischen Handbüchern sowie in religiöser Traditionsliteratur, wie z. B. heiligen Schrien und ihren Auslegungen in ex- egetischen Texten. Diese Testimonien, von denen eine Auswahl in der vorliegenden Aufsatzsammlung vorgestellt wird, erlauben eine Reihe von Folgerungen über Formen von Genealogie und ihren ,Sitz im Leben‘ (z. B. historische und theologische Diskurse;

Herrschas- und Amtsnachfolge; beruflicher und politischer Status und Eigentumsrech- te; Erinnerungsrituale und Bestattungssitten). Sie erteilen aber auch Aufschluss über die Vielfalt der Funktionalisierungen behaupteter verwandtschalicher Beziehungen (z. B. chronologische Einteilung von Vergangenheit; Gliederung und Verfügbarhaltung von Wissensbeständen; Legitimierung und Sicherung aktuell bestehender Herrschas- verhältnisse und Privilegien; Erklärung von Handlungen/Praktiken Einzelner und von Gruppen). – Der vorliegende Band bietet Perspektiven auf die genannten Zusammen- hänge aus verschiedenen Disziplinen (Theologie und Religionswissenscha, Biblischer und Klassischer Archäologie, Alter Geschichte, Gräzistik und Latinistik, Ägyptologie und Arabistik), um fachübergreifende Diskussionen anzuregen.

 Entstehung des Bandes

Hintergrund der Beitragssammlung ist die internationale TagungGenealogie und Migra- tion. Antike Wanderungsmythen(Topoi-Haus Berlin-Dahlem, .–. Oktober ), die von dem zweitägigen sondierenden WorkshopGenealogie in Religionen und Kulturen des Altertums(Topoi-Haus Berlin-Dahlem, .–. Mai ) vorbereitet wurde. Beide Ver- anstaltungen liefen unter dem ArbeitstitelGenealogie und Migrationsmythen in vormoder- nen Kulturen von der Antike bis zum Frühmittelalterund bezogen viele verschiedene Diszi- plinen ein. Sie gingen aus der Zusammenarbeit der zwei Herausgeberinnen hervor, die selbst aus verschiedenen Fachrichtungen kommen und das wissenschaliche Interesse am Thema Genealogie teilen: Almut-Barbara Renger, die mit einem Antikeschwerpunkt an der Schnittstelle der Religions- als Kulturwissenscha zur Literaturwissenscha ar- beitet, und Isabel Toral-Niehoff, die in der Arabistik und den Islamwissenschaen ver- ortet ist und regelmäßig mit Altertumswissenschalern kooperiert.

Den organisatorischen und finanziellen Rahmen für die Zusammenarbeit schuf der Exzellenzcluster Topoi mit der Cross Sectional Group V (CSG-V)Space and Collective Identities. Die regelmäßigen Treffen der Gruppe, in denen über die Fächerdisziplinen hinweg methodisch-konzeptionell die Verbindung von räumlich verorteter materieller Kultur mit kollektiven Identitäten diskutiert wurde, bildeten eine wichtige Kommuni- kationsplattform, durch die sich das Potential der Zusammenarbeit nachhaltig zu entfal- ten vermochte. Zu den zentralen Anliegen der CSG-V gehörte die Auseinandersetzung



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mit der Dynamik von Identitäten und Raum, wie sie sich an sprachlichen und narra- tiven Identitätsdiskursen z. B. in Form von Eponymen und Mythen nachweisen lässt.

Diskutiert wurden in diesem Zusammenhang insbesondere Wanderungsnarrative, die ein hohes identifikatorisches Potential entfalten, da sie die bestehende Raumordnung deuten, diese in ein Netzwerk wechselseitiger Raumbez¨uge (artikuliert als Verwandt- scha wandernder Eponyme, Ahnen, Ethnien, Götter) einbauen, einen Vergangenheits- bezug zur räumlichen Gegenwart herstellen und den realen oder imaginierten Transfer von Wissen thematisieren. Sowohl der Genealogie-Workshop von  als auch die Tagung von  mit ihrer Fokussierung auf Migrationsmythen wurden maßgeblich durch diese Diskussionen angeregt.

Es würde hier zu weit führen, die einzelnen Faktoren und Schritte aufzuzählen, die zur fruchtbaren Zusammenarbeit der Herausgeberinnen in der CSG-V des Exzellenz- clusters führten. Lediglich zwei Punkte seien hervorgehoben:

. Auf der einen Seite stand das Interesse von Almut-Barbara Renger an diachronen Erzählstrukturen in verschiedenen literarischen Genres der griechisch-römischen Anti- ke, in denen es um genealogische Verhältnisse von Göttern, Halbgöttern und Menschen geht, wie sie in dichter Form die sogenannten, leider nur stark fragmentarisch überlie- ferten, Logographen (Hekataios von Milet, Akusilaos von Argos, Pherekydes von Athen etc.) dargestellt haben. Das Projekt, das sich aus diesem Interesse heraus entwickelte und in der CSG-V mit dem TitelGenealogy, Migration Myths, & Mythotopographyangesiedelt war, befasste sich mit der auffälligen, kaum überschaubaren Fülle von Wanderungs- narrativen in der griechischen Mythologie, von denen wir seit der HomerischenIlias und dem unter Hesiods Namen überlieferten Frauenkatalog zahlreiche Textzeugnisse und bildliche Darstellungen besitzen. Als Fallbeispiel diente das mythologische Bezie- hungsgeflecht von eponymen und Gründungsheroen und -heroinen, in dem Europa, die vom obersten olympischen Gott Zeus entführte phönizische Königstochter, unter- gebracht ist: Viele der in diesem Geflecht qua Verwandtscha verbundenen Hero(in)en sind mobile Wanderungsfiguren, die ab dem fünen vorchristlichen Jahrhundert eine in griechischer Wahrnehmung wichtige, über das gesamte Mediterraneum verstreute Großfamilie bildeten.8

. Isabel Toral-Niehoffs Interesse für Genealogie auf der anderen Seite gründet in der grundsätzlichen Erkenntnis, dass Verwandtscha zwischen Individuen und beson- ders auch von Stämmen ein zentrales Ordnungsprinzip in nahöstlichen Gesellschaen zu sein scheint und jedenfalls diskursiv einen großen Raum in den Texten einnimmt, die aus der Frühzeit (.–. Jahrhundert) stammen. Vor diesem Hintergrund organisierte sie vor etwa zehn Jahren zusammen mit Kollegen aus der Alten Geschichte (Ulrich Gotter, Nino Luraghi) im Rahmen des SFB  Identitäten und Alteritätenin Freiburg einen

8 Vgl. dazu Renger , –.



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zweiteiligen Workshop über Genealogie unter vergleichender Perspektive (–), vor allem mit Blick auf Fragen der Konstitution kollektiver Identitäten.

Schon auf jenem Workshop in Freiburg zeigte sich, wie erneut in dem Berliner Workshop von , Folgendes: Medialität, Dimension, Träger, Figuren und soziale Funktion genealogischer Narrative sind kulturell bedingt, und es gilt, dies in Einzelstu- dien sorgfältig herauszuarbeiten. Auf dem Berliner Workshop kristallisierte sich zudem die Notwendigkeit einer Einengung des Themas für die Projekttagung im Herbst 

heraus. Es wurde daher beschlossen, denRaumbezug genealogischer Testimonien zur zentralen Fragestellung zu machen und das heterogene Feld genealogischen Erzählens auf damit verbundene Aspekte wie Mobilität und Migration hin zu befragen. Im Work- shop von  war deutlich geworden, dass Raum und sich verändernde Raumvor- stellungen bzw. -verhältnisse in den untersuchten Religionen und Kulturen ein kon- stitutives Element der Genese und Transformation religiöser, kultureller und gesell- schalicher Traditionen und Identitäten darstellen und Genealogie, Verwandtschas- verh¨altnis und Geographie in enger Beziehung zueinander stehen. Diesem Befund wur- de auf der zweiten Tagung – unter Berücksichtigung der Diskussionen der CSG-V zu Wanderungsnarrativen und mit Blick auf insbesondere (aber nicht ausschließlich) bi- blische Erzählungen und die pagane griechisch-römische Mythenwelt – gesondert nach- gegangen. Zur besseren Vergleichbarkeit der zu betrachtenden Phänomene auf Grund- lage gemeinsamer erkenntnisleitender Fragestellungen erhielten die Tagungsteilnehmer im Vorfeld einen Fragenkatalog zur Verbindung von Mythos, Genealogie und Lokali- tät/Ort/Topos in den jeweils zu untersuchenden kulturell-religiösen Traditionskomple- xen. Gefragt wurde – unter anderem – nach Formen, Darstellungsmedien und Leis- tungen von Genealogie, nach dem Zusammenspiel von Erzählung und diachroner Di- mension von Identität, nach spezifischen historischen Erfahrungen von Mobilität und Migration (z. B. Nomadismus, Fernhandel, Kolonisierung, kriegerische Expansion), die eine Entstehung bzw. Rezeption von Wanderungsnarrativen möglicherweise begünstig- ten, sowie nach der Verräumlichung kollektiver Vergangenheits- und Selbstdeutungen in Form mythischer Topographien.

 Die Beiträge

Die erste Sektion des TagungsbandesDie Bibel und ihr historisches Umfeldthematisiert, aus verschiedenen Perspektiven, biblische Genealogien und Wanderungsnarrative.

Thomas Hieke stellt einenlocus classicusder genealogischen Weltliteratur ins Zen- trum seiner Überlegungen:Die Völkertafel von Genesis  als genealogische Raumordnung.

In seiner textnahen Analyse von Form und Inhalt dieser ,Völkercharta‘ zeigt er, dass sie versucht, die Vielfalt der vorfindlichen Welt vermittels der Kategorien Abstammung



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und Verwandtscha narrativ in ein vorstellbares System zu bringen und eine räumli- che und hierarchische Ordnung vorzunehmen. In den Genealogien finden sich sowohl geographische als auch ethnische Bezeichnungen, die dazu dienen, die Beziehungen Israels zu den entsprechenden Gebieten und Gruppen zu definieren. Die Darstellung der Völkerschaen als miteinander verwandt verdeutlicht zudem in einer Art ,Manifest‘, dass alle Menschen trotz ihrer kulturellen Eigenheiten zueinander in Beziehung stehen.

Somit akzentuiert die Völkertafel die Zusammengehörigkeit des Menschengeschlechts und bildet eine Ätiologie für die Ausbreitung der Menschheit im Raum. Abstammung und Verwandtscha sind, so stellt Hieke fest, „Chiffren und Darstellungsmittel“ zur Ordnung der Welt und Bewältigung von Differenz.

Dieter Vieweger nimmt in seinem Beitrag zu denWanderungssagen der Erzväter Israels im Lichte der Geschichte des . und . Jahrhunderts v. Chr.zwei zentrale Wanderungsnar- rative aus der Frühgeschichte Israels in den Blick und korreliert sie mit dem archäologi- schen Befund. Bei den Texten handelt es sich zum einen um dienarratiozur Ansiedlung der Erzväter Israels (Abraham, Isaak und Jakob) in Palästina, der die Auswanderung Abrahams aus Ur/Haran vorangeht (Buch Genesis), zum anderen um die mit Mose ver- bundenen Sagen vom Exodus aus Ägypten (Buch Exodus). Insbesondere geht Vieweger der Frage nach der möglichen Verknüpfung der Wanderungssagen mit alten Traditio- nen nach, indem er untersucht, inwiefern die ,erzählte Welt‘ der Erzvätergeschichten Elemente der archäologisch nachweisbaren Lebenswelt der Eisenzeit I enthält. Er zeigt, dass diese Erzählungen weniger als historische Reflexe, sondern vielmehr als Landbesitz- und Landanspruchserzählungen (der späteren Königszeit) zu verstehen sind, weist aber zugleich darauf hin, dass sie möglicherweise Fragen ethnischer und kultureller Selbst- wahrnehmung und Abgrenzung in der Eisenzeit I widerspiegeln.

Felix Wiedemann schließlich setzt sich aus wissenschashistorischer Sicht mit der Frage auseinander, wie und nach welchen Mustern Abstammung und Migrationen ver- schiedener Völker im . und frühen . Jahrhundert narrativ diskursiviert worden sind.

InKlios Ärger mit den Söhnen Noachs. Wanderungsnarrative in den Wissenschaen vom Alten Orient und die Rolle der Völkertafeluntersucht er die narrativen Einbettungen der Völkerta- fel in den Altertumswissenschaen. Dabei zeigt er, dass Erzählungen von Herkun und Wanderungen der Völker vor dem Hintergrund nationaler Identitätskonstruktionen ge- rade auch für die Moderne von erheblicher Brisanz waren und biblische Zuordnungen in vielfältiger Weise in wissenschaliche Darstellungen Eingang fanden (z. B. die genea- logische Dreiteilung der Völkerschaen). Wiedemann zufolge lässt sich somit von einer

„Verschränkung“ religiöser Erzählung und wissenschalicher Darstellung sprechen, die politische und soziale Fragen der Gegenwart der jeweiligen wissenschalichen Autoren reflektiert.

Die zweite Sektion des Bandes nimmt die Funktion von Genealogie und Migration in griechischen und römischen Mythen in den Blick.



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In seinem BeitragMigration, Genealogie und Typologie. Die Konstruktion von Identitäten in Pindars füner Isthmiezeigt Jan Stenger anhand einer sorgfältigen Lektüre des Sieges- liedes, wie Pindar den Mythos der Aiakiden kreativ umformt. Da die Söhne des Aiakos ihre Heimat Ägina verlassen mussten, eignete sich der Mythos für eine genealogische Rückführung der Inselbewohner auf die Helden nicht. Eine Herleitung der Identität von Aiakos über Blutlinien war den aristokratischen Familien mithin nicht möglich, wohl aber über das Modell ideeller Abstammung. So nahm Pindar die großen Heroen in Dienst, um seine aristokratischen Auraggeber als Geistesverwandte der Aiakiden zu preisen, und in dem Gedicht tritt an die Stelle einer realen Genealogie, in der Migration zentralen Stellenwert hat, eine Typologie, mit der Verbindungen zwischen dem mythi- schen Geschlecht der Aiakiden und den zeitgenössischen Bewohnern Äginas bzw. den dort führenden Aristokratenfamilien als ideellen Nachfahren der Aiakiden geknüp

werden.

Ebenfalls dem Bereich der griechischen Mythologie, aber auf der Basis von archäo- logischen Quellen widmet sich Martin Langner inAmazonen als Einwanderinnen. Ur- sprung, Konstruktion und Dekonstruktion mythischer Verwandtscha in Athen und Ephesos.Der Beitrag rekonstruiert zwei mythische Wanderungsnarrative aus vorklassischer Zeit: ers- tens die am Ende des . Jahrhunderts v. Chr. beliebte Erzählung von Theseus und Antio- pe, die mit alten Kultmalen in Athen in Verbindung gebracht werden kann, und zwei- tens einen Gründungsmythos, über den Befunde früharchaischer Zeit (. Jahrhundert v. Chr.) im Kontext neuerer Grabungen im Artemisheiligtum von Ephesos Aufschluss erteilen. Langner zeigt, dass die vorgängige Funktion beider Narrative als identitätsstif- tende Migrationsmythen im . Jahrhundert v. Chr., unter Einfluss der Perserkriege und der daraus resultierenden hegemonialen Interessen Athens, aufgegeben und von der Dualität zwischen Griechen und Barbaren überlagert wurde. Hatten beide Narrative einstmals die offene und friedliche Begegnung mit dem Fremden – eine Grunderfah- rung während der griechischen Kolonisation – thematisiert, so wurde dieses integrative Moment im . Jahrhundert, zum Zwecke ethnischer Abgrenzung, von der Negativ- funktionalisierung der Amazone als Sinnbild des aggressiven Fremden abgelöst. Die- se Transformation wurde, wie Langner darstellt, dadurch befördert, dass die einstigen Raumbezüge nun nicht mehr präsent waren.

Der Beitrag von Ulrich Schmitzer führt in die Welt der hellenisierten römischen Mythen. InItala nam tellus Graecia maior erat. Griechen und Troianer als mythische Städ- tegründer in Italienbefasst sich der Autor mit den mythischen Wanderungen, welche die imaginäre Landkarte des antiken Italien definieren. Ihre Bezugspunkte waren selten autochthon, sondern stammten vor allem aus dem Umkreis des troianischen Krieges.

In der Überlieferung hiervon sind die Gegensätze von Griechen und Troianern aufge- hoben und zu einer neuen Synthese geführt. Illustriert wird dies am Beispiel des Ur- sprungsdiskurses Italiens und der spezifischen Gründungsgeschichte Roms, die durch



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- ,  -

ihre besondere Komplexität hervorsticht: Hercules, Griechen, Troianer und Italiker sind amalgamiert und schließlich in der mütterlichen Linie des Romulus zusammengeführt, der väterlicherseits von Mars abstammt. Schmitzer zeigt, indem er dies herausarbeitet, dass in jenem Diskurs um die Ursprünge Roms weniger die Betonung von Differenz als vielmehr die integrative Funktion von Genealogie im Vordergrund steht.

Die letzte Abteilung des Bandes bündelt Beiträge zu Genealogien und Wanderungs- mythen, die auf Nordafrika und die Arabische Halbinsel bezogen sind.

Der Beitrag von Michael Sommer bildet einen Übergang von der zweiten zu dieser Sektion, da der erörterte Mythos zwar im phönikischen Nordafrika angesiedelt, aber vermutlich eine griechische Konstruktion ist – wobei lokale Substrate sich nicht aus- schließen lassen. InElissas lange Reise. Migration, Interkulturalität und die Gründung Kartha- gos im Spiegel des Mythosbefasst sich Sommer mit den verschiedenen konkurrierenden Gründungsmythen zu Karthago. Er konzentriert sich dabei auf die bekannteste der Varianten, die zugleich narrativ besonders komplex ist: die Geschichte der Wanderung der tyrischen Prinzessin Elissa-Dido, die vor ihrem Bruder Pygmalion über Zypern nach Nordafrika flieht, dort mithilfe einer List Land erwirbt und die Stadt Karthago grün- det. Im Zentrum von Sommers Überlegungen hierzu stehen der Transfer von Wissen und Know-how, die Raumkonzeption des Mythos (linear), Aspekte der Genealogie – und schließlich die Frage nach der Deutungsmacht über den Mythos, die zugleich Auf- schluss über seine „normative und formative Kra“ gibt.

Susanne Bickel und Hans-Hubertus Münch befassen sich in ihrem BeitragGötter – Herrscher – Amtsinhaber. Beispiele zu Genealogie als Denkform im Alten Ägyptenin einem weiten chronologischen Bogen mit Genealogischem in altägyptischen Quellen.Sie be- handeln in ihrer Übersicht Götter-, Herrscher- und Privatgenealogien und arbeiten die vielseitige Nutzung von Genealogie zum Zwecke von Zeitmessung, Erinnerungskon- struktion, Legitimierung von Amtsausübung, Bildung und Stabilisierung kollektiver Identität heraus. Zusammenfassend stellen sie fest, dass Wanderungen – im Gegensatz zur altägyptischen Literatur – in diesen Kontexten keine Rolle spielen. Das könnte, so die These des Autorenteams, mit der eigentümlich räumlich geschlossenen Weltsicht in Zusammenhang stehen.

Angelika Neuwirths AufsatzEine ,religiöse Mutation der Spätantike‘: Von tribaler Genea- logie zum Gottesbund. Koranische Refigurationen pagan-arabischer Ideale nach biblischen Model- lenverweist in den Entstehungshorizont des Koran im spätantiken Arabien. Anhand ein- zelner signifikanter Suren und deren intertextueller Bezüge zu anderen heiligen Schrif- ten weist Neuwirth nach, dass die koranische Verkündigung den Versuch markiert, die fest verwurzelten tribalen genealogischen Muster der vorislamischen Zeit und deren pagane Kulte durch eine neue, eher metaphorische Form der Genealogie zu ersetzen, die sich an biblischen Modellen orientiert und damit einen neuen Raum erschließt.

Neuwirth versteht „Migration“ als „durchgängigen Subtext für die zu beschreibende



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Entwicklung“, als eine „,Migration‘ aus der realen paganen Welt in eine imaginierte biblische Textwelt“. Ihrer Interpretation nach folgt die koranische Verkündigung dem

„Mutationsprozess“ der Spätantike, wie ihn Guy Stroumsa beschrieben hat: An die Stelle eines öffentlichen identitätstragenden Kultes tritt ein neuer Religionstyp, der auf der Schri als höchster Autorität beruht.

Isabel Toral-Niehoffs BeitragNebukadnezar, Ma,add und seine Verwandten. Ein ara- bischer Migrationsmythos im Kontext biblischer Legendenbeschließt die Sektion. Über die Auseinandersetzung mit der Persistenz genealogischer Denkmuster in islamischer Zeit zeigt sie das Scheitern des koranischen Versuchs auf, das pagane Paradigma der Bluts- verwandtscha abzulösen, wie ihn Angelika Neuwirth in ihrem Beitrag beschreibt. Zu- gleich weist Toral-Niehoff in ihrem Beitrag auf die Wirkungsmacht biblischer Genea- logien in diesem Raum hin, wurden doch biblische Gestalten mit arabischen Stam- mesgenealogien verbunden. So wurde erstens der Prophet Muhammad mit einer il- lustren prophetischen Ahnenreihe aufgewertet, zweitens das religiöse Prestige der Ara- ber, als Abstammungsgemeinscha des Propheten und als Adressaten der Verkündi- gung, herausgestellt und drittens der Islam als „Siegel der Prophetie“ genealogisch mit den biblischen Offenbarungstexten verknüp. Am Beispiel des Migrationsnarrativs des Ma,add (Eponym der genealogischen Stammesgruppe der Nordaraber und zugleich Ahnherr des Propheten Muhammad) illustriert Toral-Niehoff, wie diese Erzählung ein Netzwerk zwischen Personen aus dem biblischen, koranischen und arabischen triba- len Feld und so eine neue, verdichtete Synthese herstellt. In räumlicher Hinsicht lässt sich der Ma,add-Mythos als Versuch begreifen, den biblischen Raum arabisch-islamisch zu besetzen und zugleich die Raumergreifung der frühislamischen Eroberungszeit im Raum des Nahen Ostens zu legitimieren.

 Diskussionsergebnisse und Perspektiven

Bei aller kulturbedingten Diversität der Ergebnisse der einzelnen Beiträge zeigen sich mit Blick auf die Funktionen und Leistungen von Genealogie und Migrationsnarra- tiven, kultur- und zeitübergreifend, etliche Gemeinsamkeiten. Viele von ihnen sind oben einleitend umrissen. Diejenigen Gemeinsamkeiten, die auf der Tagung in den Aussprachen nach den Vorträgen und in der Abschlussdiskussion aller Tagungsteilneh- mer zutage traten, seien an dieser Stelle noch einmal gesondert benannt und in drei grundlegenden Erkenntnissen zusammengefasst, die sich auch in den meisten der hier vereinigten Einzelstudien herauskristallisieren.

() Die untersuchten Genealogien sind Versuche, Distanz zu überbrücken und in- tegrativ zu wirken, indem sie Beziehungsnetze her- und ausstellen, ,Wir-Diskurse‘ gene- rieren und stabilisieren und vielfach der Überwindung von – insbesondere ethnischer –



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Differenz (Hieke, Langner, Sommer) dienen. Dies hängt mit dem Umstand zusammen, dass Genealogien qua Thematisierung realer oder imaginierter Bluts-,Bande‘ komplexe, o vielverzweigte Verknüpfungen zwischen Einzelnen und Gruppen herstellen und es zur typologischen und/oder strukturellen Koppelung verschiedener Verwandtschassys- teme kommt (Stenger, Schmitzer, Toral-Niehoff).

() Ihre integrative Funktion teilen die Genealogien mit den Migrationsmythen, insofern als auch diese – vor allem geographische – Distanz überbrücken (Vieweger, Wiedemann, Stenger, Schmitzer, Sommer, Toral-Niehoff). Durchdringen Genealogie und Migrationserzählung einander, ergibt sich ein dichtes semantisches Gefüge von Figuren, ihrem Herkommen und ihren Wanderungen, das sich bei Bezogenheit auf Akteure wie z. B. Erzväter (Patriarchen), Priester und Propheten oder auf Gottheiten durch eine besondere religiöse Aufladung auszeichnet (Hieke, Vieweger, Schmitzer, Bickel/Münch, Neuwirth, Toral-Niehoff).

() Genealogien verfügen, wie auch Migrations- und Gründungsmythen, über ei- ne ausgeprägte legitimatorische Wirkungsmacht, die der Sicherung von Besitzansprü- chen und Privilegien (politisch, religiös, sozial, ethnisch) dient (Vieweger, Wiedemann, Stenger, Langner, Bickel/Münch, Toral-Niehoff). Sie ist u. a. dadurch bedingt, dass ge- genwärtige Hierarchien und Herrschasverhältnisse, über Berufung auf Abfolge und Kontinuität, in die Vergangenheit projiziert und auf diese Weise als rechtmäßig erklärt werden. Die legitimatorische Kra tritt in Verbindung mit Migrationsmythen auch in räumlicher Hinsicht zutage, da diese Narrative die geographische Verortung von Ein- zelnen und Gruppen, und bisweilen auch deren Expansionen, erklären (v. a. Hieke, Vieweger, Wiedemann, Sommer, Toral-Niehoff).

Freilich zeigen sich, wie die Gespräche auf der Tagung zu erkennen gaben, bei einem vergleichenden Blick auf die untersuchten Traditionskomplexe und Darstellungs- formen auch deutliche Unterschiede. So erwiesen sich in der Abschlussdiskussion, um nur ein Beispiel zu nennen, die Raumkonstruktionen und Raumnarrationen der un- tersuchten Texte, Bilder und Artefakte als besonders divers: Die in ihnen erzeugten und vermittelten Raumbezüge reichen von der Bewegung durch den Raum einerseits (Vieweger, Wiedemann, Stenger, Schmitzer, Sommer) und der statischen Raumzuwei- sung andererseits (Hieke, Bickel/Münch) über imaginäre Landkarten und mythische Topographien (Langner, Schmitzer, Toral-Niehoff) bis hin zu einem metaphorischen Verständnis von Migration als Bewegung von einem Identitätsparadigma zu einem an- deren, neuen (Neuwirth).

Schließlich ergaben sich weiterführende Fragen, die für vertiefende Einzelstudien und/oder Fortsetzungen des interdisziplinären Dialogs, wie er im Rahmen des Projekts geführt wurde, Perspektiven eröffnen mögen. Auch hiervon sei eine Auswahl genannt:

() Mit Blick auf die legitimatorische Wirkungsmacht der genealogischen Erzählun- gen stellt sich z. B. die Frage nach der sozialen Kontrolle und Deutungsmacht über diese



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Narrative und damit nach den Akteuren, die über sie verfügten und sie zum Zwecke eigener Interessen funktionalisierten.

() Ein weiterer Punkt betri die Darstellung der komplexen räumlichen Netz- werke, die durch das Zusammenwirken von Genealogien und Wanderungsnarrativen entstehen. Ihrer Mehrdimensionalität könnte in Form angemessener Visualisierungen Rechnung getragen werden: Wie lassen sich genealogische Stammbäume und Wande- rungserzählungen kartieren und welche Erkenntnisse lassen sich aus diesen Darstellun- gen gewinnen?

() Last, but not least stellt sich die Frage nach dem Wissen und seinem Transfer, der mit genealogischen Konstruktionen und Wanderungsmythen verbunden war: Wie lässt sich dieses Wissen bestimmen? Wie wurde es generiert und autorisiert? Und in welchen personalen und apersonalen Formen wurde es weitergegeben?

Der vorliegende Band soll gerade durch seine offenen Fragen zur Weiterführung des

 im Exzellenzcluster Topoi begonnenen Dialogs anregen und das Potential einer interdisziplinären Herangehensweise an die Thematik aufzeigen.



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

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ALMUTBARBARA RENGER

Dr. phil. (Heidelberg ), Habilitation (Frankfurt a. M. ), ist Professorin für Antike Religion und Kultur sowie deren Rezeptionsgeschichte an der Freien Universität Berlin. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Mythen und ihre Rezeption, Kultur- und Religionsgeschichte der Antike und deren Fortwirken, Ideen- und Wissensgeschichte, Literatur-, Kultur- und Religionstheorien sowie Wechselbeziehungen zwischen Religion und Literatur.

Prof. Dr. Almut-Barbara Renger Freie Universität Berlin Institut für Religionswissenscha

Gosslerstraße -

 Berlin

E-Mail: renger@zedat.fu-berlin.de

ISABEL TORALNIEHOFF

Studium der Geschichte und Islamkunde in Tübin- gen, Dr. phil. (Tübingen ), Habilitation (Berlin

), ist seit  Marie Curie Fellow am Institute for the Study of Muslim Civilizations, Aga Khan University London. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Arabien und der Nahe Osten in der Spätantike, kulturelle Identität, Kulturtransfer-Prozesse, arabische Magie und Geheimwissenschaen, Übersetzungsliteratur sowie Al-Andalus.

PD Dr. Isabel Toral-Niehoff Freie Universität Berlin

Seminar für Semitistik und Arabistik Altensteinstraße 

 Berlin

E-Mail: itoral@zedat.fu-berlin.de



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Die Völkertafel von Genesis  als genealogische Raumordnung. Form, Funktion, Geographie

Zusammenfassung

Die sogenannte Völkertafel von Genesis  ist ein fiktionaler Text, der die Kategorien Ab- stammung und Verwandtscha als Darstellungsmittel verwendet, um in narrativer Weise eine räumliche Ordnung der vorfindlichen Welt vorzunehmen. Das Kapitel ist ein ausge- wogen strukturiertes Ganzes, das die Aspekte Sprache, ethnische Zugehörigkeit, räumli- che Lage und Verwandtscha in ein einziges Bild der Völkerwelt integriert. Die Völker kommen in Genesis  als autonome Größen eigenen Rechts in den Blick und werden unter drei Ausgangsgrößen (entsprechend den drei Großmachtsphären) systematisiert. Die Darstellung der Völkerschaen als verwandt macht deutlich, dass alle Menschen trotz ihrer kulturellen Eigenheiten zueinander in Beziehung stehen. In der Erzähllinie des Buches Genesis ist die Völkertafel eine Ätiologie für die Ausbreitung der Menschheit im Raum und eine Erfüllung des Schöpfungssegens: Alle existierenden Völker gehören zu der von Gott geschaffenen Menschheit. Die Völkertafel hat außerdem die Funktion, die bekannten Völker geographisch zu verorten und sie über genealogische Beziehungen auch zueinander ins Verhältnis zu setzen. Genesis  zeigt die Weltdeutung und die politische Sichtweise ihrer Verfasser zu deren Zeit.

Keywords: V¨olkertafel; Genesis ; Verwandtscha; Sch¨opfung.

The so-called Table of Nations from Genesis  is a fictional text that employs the cate- gories of lineage and kinship as a representational means for arranging the existing world into a spatial order through narrative. The chapter is a well-balanced whole that integrates aspects of language, ethnic affiliation, spatial locations and kinship into a unique image of the nations of the world. Genesis  depicts the nations as autonomous powers of their own right, and groups them systematically into three entities (corresponding to the three imperial spheres). By representing the tribes as interrelated, the Table makes it clear that all people, despite their cultural differences, are related to one another. Within the narrative of the Book of Genesis, the Table of Nations functions as an etiology for the propagation of mankind in space and as a fulfillment of the blessing of creation: All of the existing

Almut-Barbara Renger, Isabel Toral-Niehoff (eds.) | Genealogie und Migrationsmythen im anti- ken Mittelmeerraum und auf der Arabischen Halbinsel | Berlin Studies of the Ancient World 

(ISBN ----; URN urn:nbn:de:kobv:-) | www.edition-topoi.de



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nations belong to mankind as created by God. Furthermore, the Table of Nations served the function of situating the nations geographically and of placing them in relation to one another through genealogical ties. Genesis  reflects its author’s worldview and political views of the time of its origin.

Keywords: Table of Nations; Genesis ; kinship; creation.

 Einfuhrung: Hermeneutik und Kontext

¨

. Vorbemerkung

Die biblische Urgeschichte setzt mit der Erz¨ahlung von der großen Flut (Sintflut) einen tiefen Einschnitt, der einem grundlegenden Neubeginn gleichkommt. Es¨uberleben nur Noach und seine S¨ohne (mit ihren Frauen und ihren Familien), so dass die Aus- breitung der Menschheit mit diesen Personen beginnt. Alle Menschen sind also¨uber Noach miteinander verwandt. Das ist keine biologisch-genetische Aussage, sondern ei- ne mythologische Feststellung, die den Versuch darstellt, die Vielfalt der vorfindlichen Welt mit ihren „V¨olkern, L¨andern, Sprachen und Sippenverb¨anden“ in ein vorstellbares System zu bringen. Dazu setzt die sogenannte V¨olkertafel im zehnten Kapitel des Buches Genesis bei den drei S¨ohnen des Noach und ihren Nachfahren an.

. Hermeneutik

Vor diesem Hintergrund ist die biblische V¨olkertafel von Genesis  ein fiktionaler Text, der nicht¨uber biologische oder gar genetische, auch nichtuber ethnisch verifizierbare¨ Verwandtschasverh¨altnisse spricht. Vielmehr werden in ihm die Kategorien Abstam- mung und Verwandtscha als Chiffren und Darstellungsmittel verwendet, um in narra- tiver Weise eine r¨aumliche Ordnung der vorfindlichen Welt vorzunehmen. Wenn man will, kann man auch in positivem Sinne von Mythos sprechen: Vorfindliche Daten (hier:

die Vielfalt der V¨olker, Rassen, Sprachen, L¨ander) werden–zur Bew¨altigung der Kom- plexit¨at oder aus welchen Gr¨unden auch immer–in einen gr¨oßeren Sinnzusammen- hang gestellt und interpretiert. So, wie das menschliche Gehirn beim Wahrnehmungs- prozess eine F¨ulle von Wahrnehmungen und Sinneseindr¨ucken filtert und durch Kor- relation mit Erfahrenem und Gespeichertem in fassbare Sinnzusammenh¨ange bringt, so ordnet der biblische Text auf dem Stand seiner Zeit die vorfindliche Welt und kreiert eine plausible Erz¨ahlung, einen Mythos, als Angebot der Sinndeutung und Identifika- tion.



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Dabei w¨ahlt dieser Mythos die Form der Genealogie: „EineGenealogieim engen Sinne ist ein Text, dessen prim¨ares Interesse darin liegt, genealogische Informationen weiterzugeben, sonst aber keine weiteren Aussagen¨uber die erw¨ahnten Personen zu machen. . . . In einer Genealogie werden die Personen nur durch ihr genealogisches Verh¨altnis zu anderen Personen qualifiziert. Anderweitige Charakterisierungen tauchen allenfalls am Rande auf.“1

Im Sinne dieser Definition ist die V¨olkertafel eine durch kurze Erz¨ahlnotizen er- weiterte Genealogie. Zu einer genealogischen Information geh¨oren (mindestens) zwei Glieder (die zwei Generationen, also z. B. Vater und Sohn) sowie ein Indikator, der die genealogische Beziehung kl¨art, z. B. eine Verbform vonzeugen odergebaren¨ oder ein nominaler Begriff wieVater,Mutter,Sohn,Tochter(s. u., Form).

. Kontext

Auf die Todesnotiz des Noach am Ende des . Kapitels (Gen ,–), mit der die Fluterz¨ahlung beendet wird, folgt das große Gliederungssignal des Buches Genesis, die sogenannte Toledot-Formel. Sie wird meist mit „Dies ist die Geschlechterfolge nach NN“¨ubersetzt und gliedert das Buch Genesis in zehn ,Kapitel‘ (ab Gen ,) mit einem Vorwort (Gen ,–,).2 Der in der Formel genannte Name ist der ,Ahnvater‘: Nicht

¨uber ihn wird im folgenden Abschnitt (Kapitel) erz¨ahlt, sondernuber seine Nachfahren.¨ Ab Gen , geht es um die Nachfahren von „Himmel und Erde“, n¨amlich die ersten Menschen; ab Gen , um die Nachfahren Adams; ab Gen , um die Nachfahren Noachs und ab Gen , um die Nachfahren der S¨ohne Noachs: die V¨olker der Erde.

Die Stichwortbeziehungen zwischen Gen , und , fungieren als Rahmen um das Kapitel, so dass die Abgrenzung gegen¨uber der folgenden Erz¨ahlung vom Turmbau zu Babel (Gen ) deutlich wird.

,: Das ist die Toledot (Geschlechter- folge) der Söhne Noachs, Sem, Ham und Jafet. Ihnen wurden nach der Flut Söhne geboren.

,: Das waren die Sippenverbände der Söhne Noachs nach ihrer Geschlech- terfolge in ihren Völkern. Von ihnen zweigten sich nach der Flut die Völker der Erde ab.

Mit der V¨olkertafel endet der Abschnitt allerdings nicht. Zur Toledot der S¨ohne Noachs geh¨ort auch die Erz¨ahlung vom Turmbau zu Babel: In beiden Texten geht es um die Aus- breitung der Menschheit auf der Erde. Wie aber die Turmbaugeschichte als ,Antwort‘

auf die V¨olkertafel zu lesen ist, wird noch zu kl¨aren sein.

1 Hieke , .

2 Siehe dazu Hieke , passim.



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 Text und Struktur

. Ubersetzung¨

1Das ist dieToledotder S¨ohne Noachs, Sem (V. –), Ham (V. –) und Jafet (V. –).

Ihnen wurden nach der Flut S¨ohne geboren.

2Die S¨ohne Jafets sind Gomer, Magog, Madai, Jawan, Tubal, Meschech und Tiras.

3 Die S¨ohne Gomers sind Aschkenas, Rifat und Togarma.4 Die S¨ohne Jawans sind Elischa, Tarschisch, die Kitt¨aer und die Rodaniter3.5Von ihnen zweigten sich die In- selv¨olker in ihren verschiedenen L¨andern ab, jedes nach seiner Sprache und seinen Sippenverb¨anden in ihren V¨olkerschaen. 6 Die S¨ohne Hams sind Kusch,Agypten¨ (V. ), Put und Kanaan (V. ; Gen ,).7Die S¨ohne von Kusch sind Seba, Hawila, Sabta, Ragma und Sabtecha, und die S¨ohne Ragmas sind Saba und Dedan.8 Kusch zeugte Nimrod; dieser wurde der erste Held auf der Erde.9Er war ein t¨uchtiger J¨ager vor JHWH. Deshalb pflegt man zu sagen: Ein t¨uchtiger J¨ager vor JHWH wie Nimrod.

10 Kerngebiet seines Reiches war Babel, Erech, Akkad und Kalne im Land Schinar.

11Von diesem Land zog er nach Assur aus und erbaute Ninive, Rehobot-Ir, Kelach

12sowie Resen, zwischen Ninive und Kelach, das ist die große Stadt.13Agypten zeugte¨ die Luditer, die Anamiter, die Lehabiter, die Nauhiter,14die Patrositer und die Kaslu- hiter, von denen die Philister abstammen, ferner die Kaoriter.15Kanaan zeugte Sidon, seinen Erstgeborenen, und Het,16ferner die Jebusiter, die Amoriter, die Girgaschiter,

17die Hiwiter, die Arkiter, die Siniter,18die Arwaditer, die Zemariter und die Hamati- ter. Sp¨ater spalteten sich die Sippenverb¨ande der Kanaaniter.19Das Gebiet der Kanaani- ter reichte von Sidon, wenn man¨uber Gerar kommt, bis Gaza, wenn man¨uber Sodom, Gomorra, Adma und Zebojim kommt, bis Lescha.20Das waren die S¨ohne Hams nach ihren Sippenverb¨anden, nach ihren Sprachen in ihren L¨andern und V¨olkerschaen.

21 Auch Sem wurden Kinder geboren. Er ist der Stammvater aller S¨ohne Ebers (V. –), der Bruder Jafets, desAlteren.¨ 22Die S¨ohne Sems (Gen ,) sind Elam, Assur, Arpachschad, Lud und Aram. 23 Die S¨ohne Arams sind Uz, Hul, Geter und Masch.24Arpachschad (Gen ,) zeugte Schelach, Schelach (Gen ,) zeugte Eber.

25Dem Eber wurden zwei S¨ohne geboren; der eine hieß Peleg (Teilung) (Gen ,.), denn zu seiner Zeit wurde das Land geteilt, und sein Bruder hieß Joktan.26Joktan zeug- te Almodad, Schelef, Hazarmawet, Jerach,27Hadoram, Usal, Dikla,28Obal, Abima¨el, Scheba,29Ofir, Hawila und Jobab. Das alles sind S¨ohne Joktans.30Ihr Siedlungsgebiet reichte von Mescha, wenn manuber Sefar kommt, bis ans Ostgebirge.¨ 31Das waren die

3 Anstelle des masoretischenwe-dod¯an¯ımwird mit der Septuaginta, dem Samaritanus und  Chr ,

we-rod¯an¯ımgelesen und eine Verwechslung der

hebr¨aischen BuchstabenReschundDaletangenom- men.



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S¨ohne Sems nach ihren Sippenverb¨anden, nach ihren Sprachen in ihren L¨andern, nach ihren V¨olkern.

32Das waren die Sippenverb¨ande der S¨ohne Noachs nach ihrer Geschlechterfolge in ihren V¨olkern. Von ihnen zweigten sich nach der Flut die V¨olker der Erde ab.

. Struktur

Abbildung  zeigt die V¨olkertafel von Gen  in einer graphischenUbersicht. Dabei¨ markieren die einfachen Linien die Darstellung der genealogischen Abkun mit dem nominalen Ben-Typ. Bei diesem Typ wird die Beziehung zwischen den Generationen mit dem Substantiv „Sohn/S¨ohne (Tochter/T¨ochter) des NN“ bezeichnet, also etwa:

Jafet

Gomer Magog Madai Jawan Tubal Meschech Tiras

Aschkenas Rifat Togarma Elischa Tarschisch Kittäer Rodaniter

Inselvölker Ham

Kusch Ägypten Put Kanaan

Seba Hawila Sabta Ragma Sabtecha Nimrod

Saba Dedan

Luditer Anamiter Lehabiter Naftuhiter Patrositer Kasluhiter Kaftoriter Philister

Sidon Het Jebusiter Amoriter Girgaschiter Hiwiter Arkiter Siniter Arwaditer Zemariter Hamatiter

Sem 10,21: Yalad-Typ Passiv  Eber

Elam Assur Arpachschad Lud Aram

Schelach Uz Hul Geter Masch

Eber Dpass

Peleg Joktan

(Gen 11,16.18)

Almodad Schelef Hazarmawet Jerach Hadoram Usal Dikla Obal Abimaël Scheba Ofir Hawila Jobab

  Graphische Darstellung der V¨olkertafel („Das ist die Toledot der S¨ohne Noachs, Sem, Ham und Jafet. Ihnen wurden nach der Flut S¨ohne geboren.“)



(30)

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„Die S¨ohne Jafets sind: . . . “. Die dickeren Linien markieren den sogenannten Yalad-Typ, der die Generationenbeziehungen mit dem VerbYaLaD,zeugen,gebaren¨ ,hervorbringen beschreibt: „Agypten zeugte die Luditer . . . “. Im Passiv lautet die Wendung bei Eber:¨

„Dem Eber wurden zwei S¨ohne geboren.“ Gestrichelte Linien stehen f¨ur andere Anga- ben (z. B. „Von ihnen zweigten sich die Inselv¨olker ab . . . “).4

Das ist die Toledot der S¨ohne Noachs, Sem, Ham und Jafet.

Ihnen wurden nach der Flut S¨ohne geboren (Gen ,).

Die vergleichsweise stereotype oder regelm¨aßige Gestalt der V¨olkertafel kann folgende gliederndeUbersicht deutlich machen:¨

1 Toledot der S¨ohne Noachs, Sem, Ham und Jafet . . .

2 Die S¨ohne Jafets . . .

3 Die S¨ohne Gomers . . .

4 Die S¨ohne Jawans . . . 5. . . Inselv¨olker . . . L¨ander – Sprache – Sippenverb¨ande – V¨olkerschaen.

6 Die S¨ohne Hams . . .

7 Die S¨ohne von Kusch . . . die S¨ohne Ragmas . . .

8−12 Kusch zeugte Nimrod . . .

13−14 Agypten zeugte . . .¨

15−19 Kanaan zeugte . . .

20 Das waren die S¨ohne Hams . . .

Sippenverb¨ande – Sprachen – L¨ander – V¨olkerschaen.

21 Auch Sem wurden [Kinder] geboren.

Er ist der Stammvater aller S¨ohne Ebers . . .

22 Die S¨ohne Sems . . .

23 Die S¨ohne Arams . . .

24 Arpachschad zeugte Schelach, Schelach zeugte Eber.

25 Dem Eber wurden zwei S¨ohne geboren;

der eine hieß Peleg . . . und sein Bruder hieß Joktan.

26−30 Joktan zeugte . . .

Das alles sind S¨ohne Joktans. . . .

31 Das waren die S¨ohne Sems . . .

Sippenverb¨ande – Sprachen – L¨ander – V¨olker.

32 Das waren die Sippenverb¨ande der S¨ohne Noachs nach ihrer Geschlechterfolge in ihren V¨olkern. Von ihnen zweigten sich nach der Flut die V¨olker der Erde ab.

4 Im Buch Genesis gibt es noch zwei weitere Typen zur Bezeichnung von genealogischen Verh¨altnissen:

den Toledot-Typ, der durch die Verwendung des Nomenstoledot(Geschlechterfolge) gekennzeichnet ist,

und den Geschwister-Typ, der die NominaBruder oderSchwesterzur Bezeichnung von Beziehungen innerhalb einer Generation verwendet.



(31)

 Form

Im Korpus der V¨olkertafel herrscht der nominale Ben-Typ vor, der sich vor allem f¨ur l¨angere Aufz¨ahlungen eignet,5 aber auch f¨ur die rahmenden Kolophone6, z. B. „Das waren die S¨ohne Hams“ (Gen ,). Das Korpus gliedert sich nach den drei S¨ohnen, wobei auff¨allig ist, dass entgegen der in ihrer Reihenfolge stets gleichen Trias Sem, Ham, Jafet (Gen ,; ,; ,; ,; ,;  Chr ,) die V¨olkertafel mit Jafet beginnt. Ein Grund daf¨ur k¨onnte der Wille zu einem steigernden Auau hinsichtlich der zeitlichen Tiefe sein: Von Jafet werden zwei, von Ham drei, von Sem aber f¨unf Generationen aufgez¨ahlt.

Die Genealogie Hams grei gegen¨uber der Jafets mit drei Generationen weiter in die Zeit aus und bietet detailliertere geographische Angaben. Dies gilt vor allem f¨ur den eigens herausgestellten Enkel des Ham und Sohn des Kusch, Nimrod. Er wird, abweichend vom bisher vorherrschenden Ben-Typ, mit dem verbalen Yalad-Typ ein- gef¨uhrt und erh¨alt eine ausf¨uhrliche Qualifizierung sowie eine geographische Situie- rung im Zweistromland mit der Nennung bekannter St¨adtenamen (u. a. Babel, Assur, Ninive).7Der Yalad-Typ wird beim zweiten Sohn Hams,Agypten, fortgef¨¨ uhrt. Dessen Nachkommen (die ,Enkel‘ Hams) werden nicht mehr als Personennamen (im Singular), sondern schon als V¨olkernamen (Plural) aufgef¨uhrt. Auch beim vierten Sohn Hams, Kanaan, wird der Yalad-Typ verwendet. Bei ihm sind die Nachkommen sowohl als Ein- zelpersonen (Sidon als Erstgeborener, Het) als auch als V¨olkernamen (die Jebusiter, die Amoriter etc.) gestaltet. DerUbergang von (fiktiver) Einzelperson als¨ heros eponymos (Kanaan) zur Volksbezeichnung ist mit Gen , gegeben: Der Vers f¨ugt geographische Erl¨auterungen zu den Kanaanitern an.

5 Jacob , –, sieht den Ben-Typ dann angebracht, „wenn wir nicht sowohl an den Pers¨onlichkeiten der einzelnen S¨ohne als an der gemeinsamen Wurzel und der Summe ein Interesse nehmen sollen“.

6 Sie fehlen in  Chr ,–; vgl. Wiseman , .

Wiseman sieht den Zweck eines Kolophons darin, den vorausgehenden Text zusammenzufassen und eine Verbindung zu¨ahnlichen Texten herzustellen, die die gleiche Art von Kolophon tragen, aber urspr¨unglich auf unterschiedlichen Schrist¨ucken

¨uberliefert wurden.

7 F¨ur Details zu Nimrod vgl. neben den Kommenta- ren u. a. Toorn und Horst , –; Ceccherelli

, –. Nach Witte  handelt es sich bei Gen ,–, der „Kurzerz¨ahlung¨uber Nimrod“, um einen nachpriesterschrilichen Nachtrag.



Referenzen

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