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JOHANN JAKOB SCHEUCHZER (1672-1733)
KUPFER-BIBEL IN WELCHER DIE PHYSICA SACRA ODER GEHEILIGTE NATURWISSENSCHAFT DERER IN HEIL. SCHRIFFT VORKOMMEN
DEN NATÜRLICHEN SACHEN DEUTLICH ERKLÄRT
Augsburg/Ulm: JohannAndreas Pfeffel, 4 Teile, 1731-1735, Teil1, TafelXXIII
KupferstichvonJakob Andreas Fridrich nach Johann MelchiorFüßli und Johann Daniel Preißler; 31,1x 19,8 cm (Platte),40,0 x 27,0 cm (Blatt)
FDH-FGM, Bibi. II RI
Literatur: Müsch 2000; dies. 2001, S. 87-102;
Felfe 2003; Hofmann 2013, S. 277-282.
Johann Jakob Scheuchzers ,Kupfer-Bibel“ kann insofern zur Vorgeschichte der Bildgat
tung Arabeskegezählt werden,alseinestruk
turelle Verwandtschaft eines Großteils der mehr als 750 Kupfertafeln des bei Pfeffelin Augsburg erschienenen Monumentalwerks vor allem mit Runges.Zeiten-Arabesken zu konstatieren ist, undzwar in formaler wiein
haltlicher Hinsicht. Scheuchzers ,Kupfer-Bi bel“ dient dem physikotheologischen Gottes
beweis. Die Physikotheologiegeht davon aus, dass die Schöpfung, wie sie in der Bibel be
richtet wird, nichtimWiderspruchzur Na
turerkenntnis des Menschen steht, sondern im Gegenteil perfekt mitihr harmoniert, ja, verborgene Naturwahrheiten aufbewahrt. Sie stützt sich dabeiaufdas von den Cambridger Platonisten geprägte Design-Argument, das propagiert, dass alles, was durch Gottes wei
sen Ratschluss geschaffen wurde, sinnvoll und damitgut ist.Dieser Abgleich war nötig geworden, weildie fortschreitende Naturer kenntnis biblische Setzungen etwa zum Schöpfungsvorgang, zur Entstehung der Erde oderzur Sintflut infragezu stellen schien. Be griff man die Sprache der Bibel in solchen Fällen alsmetaphorisch, so waren dieWider
sprüche aus der Welt zu schaffen.Tendenziell entwarf diePhysikotheologie ein optimisti sches, Fortschrittbejahendes Weltbild. Aller
dings bliebeseinerseits beidem Faktum des unerklärlichen Uranfangs und andererseits
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bei der unausweichlichen Einsicht in die Ver
gänglichkeitirdischerExistenz. Insofern ist Tafel23, die sichauf 1.Mose, Vers 26 und 27, auf dieSchöpfung des Menschenbezieht, ein gutes Beispiel für denNachweis der religiösen Fundierung vonTextund Bild der .Kupfer-Bi bel“,für den Versuch, biblischen Schöpfungs
bericht und naturwissenschaftlichen Er
kenntnisstand zum menschlichen Werden von der Zeugung bis zurGeburt inein sinn
volles Verhältnis zu setzen. Schließlich dafür, dass dasWerden immer auch unter demSig
num des Todessteht, aberauch dafür - ob Scheuchzer dies wollte odernicht -,dass na
turwissenschaftlicher Randkommentar und biblisches Binnenbilddurch dengezeichneten Rahmendurchaus voneinander getrennt und unterschiedlichenWirklichkeitssphären zuge hörig sind und ihr Verhältniseine Bedeu
tungsverkehrung erlebt: Der Rahmen wird wichtigerals das Binnenbild,die Rahmener kenntnis dominiert die biblische Wahrheit, ihr gilt daseigentliche Interesse.Darin spiegelt sich ein typisch aufklärerisches Problem, ein
KAT. NR. 41-69 111 Originalveröffentlichung in: Busch, Werner ; Maisak, Petra ; Weisheit, Sabine (Hrsgg.): Verwandlung der Welt : die romantische Arabeske, Petersberg 2013, S. 111-113
Kompromiss, der die Säkularisierungstendenz erträglich machen soll.
An derEntstehung der Illustrationenwaren nicht nurverschiedene Künstler beteiligt, es nahm auchderVerlegerEinfluss, der die Illus trationsmenge des über2000-seitigen Werkes ausKostengründen zu steuern suchte, vor al
lem aber musste Scheuchzer das Illustrations
material liefern. Erstandeuropaweitmit Wis senschaftlern und Verlegern im Austausch, sammelte naturwissenschaftliche Traktatlitera
tur und Illustrationen undgab vor, wasdie Il lustratoren wiedergebensollten. Für das Bin
nenbild und die naturwissenschaftlichen Ge
genstände des Rahmenswar Johann Melchior Füssli zuständig, für die dekorativenRahmen
teileder Augsburger Akademiedirektor Jo hannDaniel Preißler; die in zwei Schritten ge
fertigten Vorlagezeichnungen setzten Stecher in Pfeffels Verlag um. Preißlers dekorative Rahmenformen,die das jeweilige Blatt mit ei
nem imaginierten Steinrahmen versahen, ei
nem Typus, der aus derTraditionderTitel blattentwürfe stammte,gab einemjeden Blatt ein geradezu monumentales Aussehen. Man konnte dieslesen - undsollte es wohl auch- als monumentalenGottesbeweis, alsverewigte Schöpfungsgeschichte. Doch die Neugierde weckenden wissenschaftlichen Details des Rahmenwerks ließen dasBinnenbild zu einer metaphorischen Illusion schrumpfen. Tafel
XXIII hat dieRahmenfiguren, die sich bei Frederic Ruyschs 1701-1716 in 10 Bänden in Amsterdamerschienenem Thesaurus Anato- micuscum Figuris Aeneis“ bedienen,durch nummeriert. Dabeiverfolgen die Ziffern eins bis sieben dasEinnisten der befruchtetenEi zelleimUterus biszur Herausbildungdes Fö
tus in drei Entwicklungsstufen.Dieseitlichen Nummern acht biself zeigen daskindliche Skelett in drei Stufen auf der linken Seite, während rechts ein erwachsenes Skelett mit von Adern durchbluteter, abgezogener Haut in der Hand sich offenbar Tränen wegwischt, gedacht als Verweis auf irdische Vergänglich
keit. Zugleichaber folgen dieSkelette anato
mischer Literaturund sind vor allem auch lesbar als Beleg für Gottes hochkomplexe Ordnungsstruktur.
Das Innenbild zeigt Adam im Paradies, um geben vondenzuvorvon Gott geschaffenen Tieren, erwird vom Sonnenstrahl, den wirals Gottes Strahlbegreifen sollen, getroffen und auf diese Weise belebt.Die Schaffung Evas aus Adams Rippe wird ausgelassen, sie er schien wohldernaturwissenschaftlichenEr kenntnis nichtvermittelbar.So kommt auch der Physikotheologe Scheuchzer an derdeis
tischen Einsicht nicht vorbei,dass die Annah
me Gottes als uranfangliches Bewegungs
und Belebungsprinzip unverzichtbarist, dann jedoch zuerforschende Naturprozesse einset
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zen, dieGottes direktes Einwirken nicht mehr brauchen. Doch vor der daraus ableitbaren menschlichen Hybris warnendieSkelette,die Vergänglichkeit ist nichtaufzuheben.
Das Gebildeeiner scheuchzerschen Illustrati
onistein Hybrid. Zwischen Rahmen und In
nenbild existiert nureine behauptete Konver genz: Das ist beidenrungeschen Arabesken nicht anders,dieInnenbilder folgen einem naturzyklischen Weltbild, der Rahmeneiner teleologischen, religiösen Vorstellung, die Spannung soll arabeskaufgehoben werden, in künstlerischer Fiktion. Scheuchzerfrönt letzt lichnoch einemFortschrittsoptimismus, be hauptet ein ganzheitliches Weltbild. Runge hat es verloren und kann nur melancholisch die Hoffnungauf einen zukünftigen durch die Kunst erneuertenutopischen universalen Zu
sammenhang äußern. W.B.
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BERTHOLD HEINRICH BROCKES (1680-1747)
AUS DEM ENGLISCHEN ÜBERSETZTE JAHRES ZEITEN DES HERRN THOMSON [JAMES THOMSON, THE SEASONS]. ZUM ANHANGE DES IRDISCHEN VERGNÜGENS IN GOTT
Hamburg: Christian Herold1744 FDH-FGM, Bibi. IXB 202/F 3
Literatur: Cohen 1964; Harris 1968 (zu Thom- sons Naturbegriff: S.239-247); Brockes 1972 (Faksimile-Reprint der Ausgabe 1745); Busch 1996, S. 17-32; Goodman 2004.
James Thomsons(1700-1748) ,The Seasons“ isteinJahrhundertgedicht.1726 erschien der Winter1, 1727der,Sommer1,1728 der .Früh ling“ und 1730 im Rahmen der ersten Ge samtausgabeder Winter“. Der besondere Reiz unddie besondere Bedeutungdes Gedichtes bestehen darin, dass aufgeklärtes Wissen, vor allem das der Naturwissenschaft, in einen poetischenZusammenhang integriert wurde.
Verbindendes Element ist der Drang nach Naturerkenntnis - und Erkenntniswird ge
fördert durch empirisch genaue Beschrei
bung. Selbstwenn der Ton gelegentlich wie aus einem botanischen oder geologischen Lehrbuch klingt, die Hingabe auch an das
112 III. RUNGE: DIE ARABESKE ALS HIEROGLYPHE
kleinstePhänomen ist offensichtlich. Heros des Gedichtesist Newton,dessen Prismenex perimentim Detail, aber eben auchin poeti
scher Sprache beschrieben wird. Daswieder
um stärkt Thomsons Farbbeschreibungen.
Selbst wenn Thomson in letzter Instanz Gott beruft und um die Grenzen menschlicher Existenz weiß, so ist er doch vonFortschritts
optimismus geprägt. ThomsonistDeist,d.h.
er siehtGott als uranfänglichesBewegungs prinzip, dann aber hatGott nach deistischer Überzeugung den Menschendie Weltin Ei
genverantwortung überlassen, was ihn aller
dingszu Hybris führen kann. Um nicht auf die falsche Bahn zukommen, wozu dieGroß
stadt verleiten kann, istinpopescher, voral
lem aber in horazscherTradition der Rückzug indie Natur in voller Konzentration aufihre Erscheinungenvonnöten.
DieseGrundanschauung musstebei Brockes auf gänzliche Zustimmung stoßen. In seinem .Irdischen Vergnügen in Gott1, das zwischen 1721 und 1748 in neun Bänden erschien, sucht er gleichfallsin poetischer Formnach einem AusgleichvonWissenschaft und Reli
gion.Brockes warPhysikotheologe.Auchfür ihn ist dieBeobachtung selbst des Kleinsten und Unbedeutendsten in der Natur unver
zichtbar,auch er findet eineSprache zur Be nennungdifferenziertester Phänomene, wo bei er allerdings -im Gegensatz zu Thomson- bei einemjeden Phänomen dessenWert di rekt aus Gottes Schöpfung herleitet. Bei Thomson ist Gottein ferner Übervater, bei Brockes ist er in allem und jedem unmittel
bar anwesend. Brockes Übersetzung des thomsonschen Gedichtes ist von großer sprachlicher Schönheit, er spürtdenNuan
cennach undfindetfür alles eine bildreiche Sprache.
DasFrontispizzuseinerÜbersetzung,dieim Rahmen des .IrdischenVergnügens' erschien, ist insofern interessant, als es denErkenntnis
standvon Thomson undBrockesundauch die elaborierte Form der Benennung der Phä
nomene mitnichten erreicht. Die Darstellung bleibt verblüffend konventionell. Die Erdku
gelschwimmt im himmlischen Äther umge ben von einem Puttenkranz, der dieJahres
zeitenmit geläufigenAttributen verkörpert.
Bei jedem der vier Jahreszeitenputtenpaare
tauchtaus den Wolken jeweils einStück des Zodiakusmitdenzugehörigen Monatsstern bildern auf. Eingefasst ist dasGanze vonan
einander anschließenden Rocaillebögen, die in den Ecken nocheinmal jahreszeitlichpas
sende Pflanzenund Früchte aufführen. Das folgt inallem undjedemder barockenJahres
zeitenikonographie - Blume im Frühling, Kornim Sommer, Wein im Herbst, Windund Schnee im Winter. Da helfen auch diealsBü
gel um den Globusgeführten Wendekreise nichts.In jeder barocken Bibliothek, in höfi
schenRäumen alsSupraporten,in der Jahres
zeitengraphik: Das Repertoireistidentisch.
Liest man Thomson dagegen, so spricht zwar auch er vonden Blumen imFrühling, aber mit botanischer Präzision, imWinterstellt er Überlegungen zu Frostkristallen an, die er im Mikroskop gesehen hat,im Herbst reflektiert er über geologische Strukturen. So ruft das Frontispiz geläufige, gewachseneVorstellun genauf, die von den Dichtern im Textinjeder Hinsicht Überboten werden.Unddoch sind auch Philipp OttoRunges und Caspar David Friedrichs Tages- bzw. Jahreszeitenzyklen vor der Folie dieser Traditionzusehen:Die baro cken Putten geistern noch durchRunges.Zei
ten, ja,manmusssogar sagen, dass inWis senschaftsillustrationen des späten18. Jahr hunderts Putten diegezeigten Experimente vorführen, selbst die aus denWolkenerschei
nendeHand Gotteswird zur verweisenden Zeigehand: „Schaut her, hier ereignet sich Entscheidendes“. Den spätaufklärerischen Sä
kularisierungsprozess allerdings versucht die romantische Jahreszeitenikonographie wieder durch Aufladung mittieferemSinn rückgän
gig zu machen - in einer Form der Remytho- logisierung. Sieerschien nötig, weil der thom- sonscheOptimismus nach dem Europa er
schütterndenErdbeben vonLissabon 1755, spätestens aber nach den Erfahrungen der Französischen Revolution verlorengegangen war. Allerdings wissen etwa die Romantiker CasparDavidFriedrich oderderEngländer Wordsworth durchaus den naturwissen schaftlichenErkenntnisstandfür diese Remy- thologisierung zu nutzen.Sieprägen dafür neuekünstlerische Formen, dieauch das Un
erklärlichenichtunterschlagen. W.B.
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