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Menschenrechte und Soziale Arbeit im Schatten des Nationalsozialismus

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Academic year: 2022

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Menschenrechte und Soziale Arbeit im

Schatten des Nationalsozialismus

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Annette Eberle · Uwe Kaminsky · Luise Behringer · Ursula Unterkofler

(Hrsg.)

Menschenrechte und Soziale Arbeit im Schatten des

Nationalsozialismus

Der lange Weg der Reformen

(3)

Hrsg.

Annette Eberle

Fakultät Soziale Arbeit, Campus Benediktbeuern, Katholische Stiftungshochschule München Benediktbeuern, Deutschland Luise Behringer

Fakultät Soziale Arbeit, Campus Benediktbeuern, Katholische Stiftungshochschule München Benediktbeuern, Deutschland

Uwe Kaminsky

Evangelisch-Theologische Fakultät, Ruhr University Bochum

Bochum, Deutschland

Ursula Unterkofler

Fakultät Soziale Arbeit, Campus Benediktbeuern, Katholische Stiftungshochschule München Benediktbeuern, Deutschland

ISBN 978-3-658-19516-8 ISBN 978-3-658-19517-5 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-19517-5

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V

Inhaltsverzeichnis

Teil I Der lange Weg der Reformen – Menschenrechtsorientierung seit 1945 (94 S.)

Vom Völkerrecht zu einem Recht der BürgerInnen . . . 3 Susanne Nothhafft

Recht auf Hilfe versus Hilfe für Rechtssubjekte . . . 23 Annette Eberle

Zur historischen Entwicklung der Heimerziehung in

der BRD und der DDR (1945–1975) . . . 51 Uwe Kaminsky

Die Psychiatrie-Enquete und ihre Auswirkungen auf

die Soziale Arbeit . . . 75 Luise Behringer und Christel Achberger

Psychiatriereform in der DDR? . . . 89 Viola Balz

Teil II Wendepunkte – Orte, Professionen, Akteure (79 S.) Die Diagnose „Psychopathie“ in der Kinder- und

Jugendpsychiatrie im Rheinland nach dem Ende

des Zweiten Weltkrieges . . . 109 Frank Sparing und Silke Fehlemann

Vom „Besinnungsstübchen“ ins „Begegnungsstübchen“? . . . 137 Ulrike Winkler

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VI Inhaltsverzeichnis

„Ich kann es nicht vergessen …“ . . . 153 Stefan Rösler

DDR-Heimerziehung im Spiegel der Arbeit der Gedenkstätte Geschlossener Jugendwerkhof Torgau –

Ausstellungen, Zeitzeugen- und Bildungsprojekte . . . 179 Ingolf Notzke

Teil III Perspektiven für die Gegenwart ( 57 S.)

„Kaum biste drin, bist Du auch schon wieder draußen!“ . . . 197 Matthias Laub

Teilhaberechte in der stationären Kinder- und Jugendhilfe

verbindlich verankern . . . 215 Kathrin Aghamiri

„Cause we come with the spirit of going to school“ . . . 227 Annette Korntheuer

EX-IN Kurse – Teilhabe in der Sozialpsychiatrie . . . 245 Christel Achberger

Teil IV Nachwort

Zur Geschichte und Aktualität der

Behindertenrechtsbewegung . . . 259 Johannes Messerschmid

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VII Soziale Hilfe korrespondiert mit Abhängigkeit, die umso größer ist, je mehr der Empfänger auf Hilfe angewiesen oder an ihr interessiert ist. Somit besteht ein Kon- flikt zwischen Freiheit und Hilfe. Um Freiheit auch in der Situation der Teilhabe am Allgemeinen zu gewährleisten, bedarf es besonderer Anstrengung. […] Der einzelne muss aus dem Status des Objekts der Hilfe zum Träger des Rechts auf Hilfe, zum Subjekt, erhoben werden.1

Dieser Satz von Hans F. Zacher stammt aus seiner Schrift „Sozialpolitik und Menschenrechte in der Bundesrepublik Deutschland“ aus dem Jahr 1965. Der Rechtsprofessor an der Universität Saarbrücken, wenige Jahre später dann Direk- tor des Max-Planck-Institutes für ausländisches und internationales Sozialrecht, publizierte den Band als deutschen Landesbericht für die 14. Internationale Konferenz für Sozialpolitik, die der International Council on Social Welfare in Helsinki vom 18. bis 24. August 1968 ausrichtete.

Das Zachers Aussage zugrunde liegende Motiv des „Subjekts als Träger des Rechts“ kann als Leitmotiv für den vorliegenden Band angesehen werden. Als universeller Grundsatz formuliert er Ausgangspunkt und Reflexionsrahmen für die unterschiedlichen Perspektiven der einzelnen Beiträge zur Relevanz und Aus- gestaltung des Verhältnisses von Menschenrechten und Sozialer Arbeit. Mit der Devise „vom Objekt zum Subjekt“ reflektierte Zacher den historischen Charak- ter der Menschenrechte und zwar zu einem Zeitpunkt, an dem dieser Prämissen- Wechsel innerhalb des Völkerrechts erst eingeläutet worden war, begleitet von den politischen Bewegungen in den 1960er Jahren, die u. a. Sozialreformen in ihren Ländern einforderten. Die Tagung im August 1968 in Helsinki markierte für

Einleitung

1Hans F. Zacher Sozialpolitik und Menschenrechte, (München: Günther Olzog,1968), 16.

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VIII Einleitung

diese Reformbewegung innerhalb der Profession der Sozialen Arbeit eine wich- tige Zwischenstation. Über ihre internationalen Fachorganisationen, dem Inter- nationalen Dachverband der Sozialen Arbeit (International Federation of Social Work/IFSW) und dem Internationalen Zusammenschluss der Ausbildungsstätten für Soziale Arbeit (International Association of Schools of Social Work/IASS) diskutierten über 2100 Personen aus 53 Ländern das Thesenpapier, in das auch Zachers Bericht eingeflossen war.2 Ein Vierteljahrhundert später gaben beide Weltorganisationen gemeinsam mit dem Menschenrechtszentrum der Verein- ten Nationen die Schrift „Human Rights and Social Work“3 heraus. Sie sollte als Handreichung für die Ausbildung von Sozialarbeiter*innen weltweit die- nen und begründete das Konzept des politischen „dritten Mandats“ für die Pro- fession. Dass der Diskurs ab Mitte der 1990er Jahre auch im deutschsprachigen Raum entsprechend Widerhall fand, ist der Sozialwissenschaftlerin Silvia Staub- Bernasconi zu verdanken.4 Nach ihrer Definition verpflichtet das „dritte Mandat“

zu einer Berufsethik, die den Prinzipien der Menschenrechte und der sozialen Gerechtigkeit folgt.5 Zu diesem Zeitpunkt lagen das Ende des Zweiten Weltkriegs und die Deklaration der Menschenrechte (1948) als Reaktion auf bis dahin unvor- stellbare Menschenrechtsverletzungen bereits ein halbes Jahrhundert zurück.

Die Menschenrechtskonvention schlug sich in der Bundesrepublik in besonderer Weise im Grundgesetz (1949) nieder und war damit auch Rechtsgrundlage für die Ausgestaltung des Sozialwesens, das die Wahrung der Persönlichkeitsrechte fortan zu gewährleisten hatte. Oder, wie es Hans F. Zacher formulierte: „Der Einzelne muss aus dem Status des Objekts der Hilfe zum Träger des Rechts auf Hilfe, zum Subjekt, erhoben werden.“

Im Fokus dieses Bandes steht die Untersuchung dieses Prozesses als „langer Weg der Reformen“ ausgehend von der unmittelbaren Nachkriegszeit, mit den 1960er Jahren als Bezugspunkt und einem offenen Ende. Es geht um die Frage,

2Vgl. Miss Avery Jack. 2008. Finland, 1968, AOTEAROA NEW ZEALAND SOCIAL WORK, I:17.

3UN, IFSW I IASSW Hrsg. 1994. Human Rights and Social Work. A Manual for Schools of Social Work and the Social Work Profession, Professional Training, Series No 1, New York and Geneva: United Nations.

4Staub-Bernasconi, Silvia. 1995. Das fachliche Selbstverständnis Sozialer Arbeit – Wege aus der Bescheidenheit Soziale Arbeit als „Human Rights“ Profession, in: Wendt, Wolf Rainer. (Hrsg.): Soziale Arbeit im Wandel ihres Selbstverständnisses. Beruf und Identität, Freiburg i.Br.: Lambertus, S. 57–104.

5Ebd.

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IX Einleitung

wie lange die Konzepte der NS-Zeit in der Sozialen Arbeit noch wirkungsmächtig waren, und ab wann und unter welchen Einflüssen ein Menschenrechtsbewusst- sein in die Soziale Arbeit einkehrte. Die interdisziplinären Beiträge beziehen sich dabei auf einzelne Phasen oder wichtige Wendepunkte und behandeln diejeni- gen Bereiche, in denen die Betroffenen, aktuell und aus historischer Erfahrung, als besonders bedroht bzw. schützenswert gelten: Kinder- und Jugendhilfe, Hil- fen für Menschen auf der Flucht und in der Migration, Hilfen für Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen. Die für diese Gruppen auch von der Bundesrepublik Deutschland ratifizierten Menschenrechtskonventionen, die Genfer Flüchtlingskonvention (1951/54), die Kinderrechtskonvention (1990) und die Behindertenrechtskonvention (2008) markieren wichtige Eckpunkte und zen- trale Ereignisse im Prozess der Subjektorientierung und der Konkretisierung der Grundrechte: Heimkampagnen in den 1960er Jahren, Psychiatrie-Enquete (1975), die „Selbstbestimmt-Leben-Bewegung“ (1980er), die Einrichtung des Runden Tisches der Heimerziehung (2009), den Fonds Heimerziehung (2012) und die Stiftung Anerkennung und Hilfe für die Rehabilitation der ehemaligen Heimkin- der in der Psychiatrie und der Behindertenhilfe (2017).

Die Beiträge entstanden im Rahmen der Tagungsreihe „Soziale Arbeit – (k) ein Ort für Menschenrechte“ am Campus Benediktbeuern der Katholischen Stiftungshochschule München. In dieser wurden die Entwicklungen der 1950er und 1960er Jahre unter dem Motto „Im Schatten der NS-Zeit. Stand der Aufar- beitung – Formen der Vermittlung“ (Mai 2015) und die Entwicklungszeit ab den 70er Jahren unter dem Titel „Von der Psychiatrieenquete zur Behindertenrechts- konvention“ (Juni 2016) untersucht. Die interdisziplinäre Zusammensetzung aus Vertreter*innen des Rechts (in der Sozialen Arbeit), der Sozialgeschichte, der Psychologie und der Sozialen Arbeit entstand nicht systematisch. Es kamen dieje- nigen Autor*innen, die sich der Aufarbeitung der Gewalt- und Missbrauchserfah- rung in der Fürsorge/Sozialen Arbeit in Deutschland widmen, oder zu Ansätzen und Rahmenbedingungen forschen, die zur Realisierung einer Menschenrechts- orientierung beitragen. Gleichzeitig beschäftigen sich alle mit dem Perspektiv- wechsel vom Objekt zum Subjekt als Träger des Rechts, nicht nur thematisch, sondern auch in ihrer methodischen Herangehensweise. Für sich und im Gesam- ten bilden die Beiträge einen Zwischenstand ab, aus dem sich Fragestellungen für einen interdisziplinären Dialog ergeben.

Die Beiträge im ersten Kapitel versuchen den „Langen Weg der Reformen“

als Entwicklungslinien zu analysieren. Die Juristin Susanne Nothhafft unter- sucht den „Prozess der Humanisierung des Völkerrechts“ seit dem Zweiten Weltkrieg. Sie arbeitet heraus, wie mittels Schaffung von Menschenrechtskon- ventionen und -Verträgen zunehmend Rechte und Pflichten von Individuen im

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X Einleitung

Völkerrecht anerkannt wurden. Diese Entwicklung setzt sie in Beziehung zum Menschenrechtsdiskurs in der Sozialen Arbeit. Ausgehend von dem Ansatz der bereits oben eingeführten Sozialarbeitswissenschaftlerin Silvia Staub-Bernas- coni die eine „Global Agenda“ als transnationales sozial-politisches Mandat der Profession postuliert, entwirft Nothhafft eine Handlungsperspektive für die Pro- fession, die Menschenrechte nicht nur als Reflexionsrahmen des eigenen Han- delns, sondern als Handlungswerkzeug versteht, um Klient*innen praxistaugliche Zugänge zu Rechten zu verschaffen. Der folgende Beitrag der Historikerin und Pädagogin Annette Eberle untersucht aus sozialhistorischer Perspektive die Ent- wicklung des Rechtsstatus des Menschen innerhalb der Hilfestrukturen vom indi- viduellen Recht auf Hilfe, wie er bereits in der Weimarer Verfassung begründet war und dann auf der Basis der Erfahrungen mit dem Bruch der Grundrechte in der NS-Zeit, zu einem Recht auf „Hilfe für Bürger“ in der Bundesrepub- lik Deutschland. Am Beispiel der Gruppen, die sich lange im toten Winkel der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit befanden, wie die Heimkinder, Menschen in der Psychiatrie oder in der Behindertenhilfe arbeitet sie Traditionen, Faktoren und Rahmenbedingungen heraus, die sich in der historischen Rückschau als konstitu- tiv für eine Menschenrechtsorientierung bzw. deren Verletzung erwiesen haben.

Dem schließt sich der Beitrag des Historikers Uwe Kaminsky an, der diese Tradi- tionen und Entwicklungen insbesondere für die Situation der „Heimkinder in Ost und West“ darlegt. Damit fasst er auch den Forschungsstand für einen der weni- gen bislang historisch untersuchten Bereiche der Fürsorge und Sozialen Arbeit zusammen. Dabei unternimmt er einen Vergleich der Geschichte der Heimerzie- hung in der Bundesrepublik und der DDR, um insbesondere die Ähnlichkeiten vor dem Hintergrund einer gemeinsamen Vorgeschichte herauszuarbeiten. Zent- ral ist der Befund, dass in beiden deutschen Staaten Formen der Diskriminierung Jugendlicher praktiziert wurden, die zu extremen Demütigungen, wirtschaftlicher Ausbeutung im Heim oder in Fremdbetrieben, körperlichen Misshandlungen und sexuellem Missbrauch geführt haben. Am Ende steht ein Erklärungsversuch über mögliche Ursachen und Faktoren dieser vergleichbaren Folgen einer Erziehung in Heimen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Systemen. Der Beitrag der Psy- chologinnen Christl Achberger und Luise Behringer wendet sich der Rolle der Psychiatrieenquete auf dem „Langen Weg der Reformen“ zu und untersucht deren Implikationen für die Soziale Arbeit. Sie rekonstruieren dabei Mythos und Rea- lität des Reformprojektes. Die Psychiatrieenquete sei zwar als der große Meilen- stein und Wendepunkt in der westdeutschen Psychiatrie betrachtet worden, hatte aber keinen radikalen Bruch mit der Psychiatrie vorgesehen. Weder das medizi- nische Modell noch gesellschaftliche Bedingungen wurden infrage gestellt, noch wurden die Menschenrechte thematisiert. Bei der Umsetzung der Forderung nach gemeindenaher, bedarfsgerechter und umfassender Versorgung aller psychisch

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XI Einleitung

kranken und behinderten Menschen hielt auch die Soziale Arbeit Einzug in die Psychiatrie bzw. in die entstehende dezentrale sozialpsychiatrische Versorgung.

Die fehlende gesellschaftliche Einbindung der Reformkonzepte hatten für die Betroffenen zur Folge, dass ihre Lebenswelt in der Sonderwelt Psychiatrie nur in eine Sonderwelt Sozialpsychiatrie verlagert wurde. Als Herausforderung insbe- sondere für die Soziale Arbeit gelte es nun, die Teilhaberechte der Betroffenen zu realisieren. Die Psychologin Viola Balz legt mit ihrem Beitrag zur „Psychiat- riereform in der DDR“ Möglichkeiten des Vergleichs für den Zeitraum von 1960 bis zum Ende der DDR dar. Sie arbeitet heraus, wie sich die psychiatrische Ver- sorgung in der DDR differenzierte, und, auf welchen Wegen und inwieweit die fachliche Perspektive sowie sozialpsychiatrische Reformversuche Eingang in die Gesundheitspolitik fanden. Dabei stützt sie sich auf Archivalien des Ministeriums für Gesundheitswesen der DDR sowie auf psychiatrische Fachpublikationen. Sie analysiert die Verflechtungen zwischen fachlichen und staatlichen Akteuren sowie die Steuerungsprozesse der psychiatrischen Versorgung. Dabei verweist sie auf erste Reformvorschläge, wie sie in den Rodewischer Thesen deutlich wurden, und beschreibt zum Ende der DDR hin die Entstehung eines gesundheitspolitischen Präventionsdiskurses, der für das Risiko einer psychiatrischen Erkrankung das individuelle Gesundheitsverhalten verantwortlich machte.

Im folgenden Abschnitt „Wendepunkte – Orte, Professionen, Akteure“ wird der „lange Weg der Reformen“ anhand von Binneneinsichten untersucht, die, zusammengenommen, die Wirkungsmacht von institutionellen Realitäten und Mentalitäten vor Augen führen. Die beiden Historiker Frank Sparing und Silke Fehlemann diskutieren anhand der Diagnose der „Psychopathie“ zeithistorische Fragen des Umgangs mit zu versorgenden Kindern und Jugendlichen in der frü- hen Bundesrepublik. Neben einem historischen Aufriss der Debatten über die Diagnose der „Psychopathie“, deren Kern mittlerweile in der Diagnose der Per- sönlichkeitsstörungen aufgegangen ist, stellen sie Einzelschicksale von Betroffe- nen vor. Die Einsichten gewannen sie auf der Basis einer Erhebung der Daten von 60 Kindern und Jugendlichen aus der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Bonn für den Zeitraum zwischen 1945 und 1952. Die im Rheinland in den 1950er Jahren erfolgte Einrichtung von Sonderabteilungen und schließlich einer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Anfang der 1960er-Jahre konnte jedoch das Problem des Umgangs mit als problematisch eingeschätzten Kindern und Jugend- lichen nicht lösen. Erst die seit Ende der 1950er Jahre abnehmende Bereitschaft von Psychiatern „Psychopathie“ zu diagnostizieren, brachte eine deutliche Ent- spannung in den Anstalten, die nicht mehr als reine Verwahrstationen für renitente Minderjährige fungieren wollten.

Dem Umgang mit der Sexualität von Menschen mit Behinderungen wid- met sich der Beitrag der Historikerin Ulrike Winkler. Sie zeichnet ausgehend

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XII Einleitung

von einer noch bis in die 1970er-Jahre herrschenden Ansicht, die Menschen mit Behinderungen als unmündige „Kinder“ oder gar triebhafte „Monster“ betrach- tete, den dann einsetzenden Wandel nach. Am Beispiel der „Empfehlungen ( Rahmenrichtlinien) für die Pflege, Therapie und Förderung geistig Behinderter in Heimen und Anstalten“ des „Verbandes evangelischer Einrichtungen für geis- tig und seelisch Behinderte“ zum Thema Sexualität aus dem Jahre 1974 und der Praxis in evangelischen Einrichtungen wird die angestrebte „Normalisierung“ im Umgang ebenso deutlich wie die praktische Hilflosigkeit der betreuenden und begleitenden Sozialarbeiter*innen. Gerade in konfessionellen Einrichtungen galt es tradierte Engführungen hinsichtlich der eigenen Sexualmoral aufzubrechen und einem Menschenrecht des Lebens von Sexualität Geltung zu verschaffen.

Stefan Rösler rekonstruiert den Prozess der Aufarbeitung des Unrechts an den Heimkindern anhand der Arbeit des Fonds Heimerziehung und der Stiftung Aufarbeitung und Anerkennung. Da er an diesem Prozess selbst in seiner Funk- tion als Leiter der Regionalen Anlauf- und Beratungsstelle als Akteur für ehema- lige Heimkinder in Bayern wie auch der Stiftung Anerkennung und Hilfe tätig war, legt er keine wissenschaftliche Analyse sondern einen „Bericht aus der Pra- xis“ vor. Er fasst Hintergründe, die Genese und Formen der Aufarbeitung und Entschädigung zusammen und stellt diesen Befunden eigene Erfahrungen und Einschätzungen entgegen. Ein wichtiges Fazit: eine gesellschaftliche Ausein- andersetzung mit (ehemaligen) Heimkindern und ihren Erfahrungen und Bio- grafien erfolgte in der Regel kaum. Es sei aber auch zu beachten, dass die aus guten Gründen einhellig geforderte Aufarbeitung für viele Betroffene psychisch belastender sei als postuliert. Zudem böten die mit den Instrumenten des Fonds und der Stiftung verbundenen Aufarbeitungs- und Entschädigungsprozesse nur begrenzte Möglichkeiten der individuellen Mitgestaltung.

Ingolf Notzke, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Gedenkstätte „Geschlos- sener Jugendwerkhof Torgau“ stellt die Einrichtung als einmaligen Ort der Auf- arbeitung, der Erinnerung und des Gedenkens an das Unrecht der Heimerziehung in der ehemaligen DDR vor. Nach einer Zusammenfassung zum Wissensstand über die repressiven Machtstrukturen innerhalb des Bildungs- und Erziehungs- apparates der DDR in ihren Bezügen zum Heimerziehungssystem, diskutiert er die Rolle der Gedenkstätte für die DDR-Heimkinder als Ort der Begegnung und Erinnerung. Ein wichtiger Beitrag für die Durchsetzung ihres Rechtes der Anerkennung des ihnen widerfahrenen Unrechts war das Urteil des 5. Strafse- nats des Kammergerichts Berlin vom 15. Dezember 2004, das den Aufenthalt im Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau erstmals für grundsätzlich rechtsstaats- widrig erklärt hatte. Der Senat stellte dabei fest, dass die Art und Weise der Unterbringung in dieser offiziell einzigen geschlossenen Heimeinrichtung der

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XIII Einleitung

DDR-Jugendhilfe die Menschenrechte der betroffenen Jugendlichen schwerwie- gend verletzt habe.

Im abschließenden Kapitel über die „Perspektiven für die Gegenwart“

werden aktuelle Forschungsprojekte aus der Sozialen Arbeit und der Sozi- alpsychiatrie vorgestellt, die sich insbesondere auf die Umsetzung der Men- schenrechtskonventionen berufen, vor allem die Kinderrechtskonvention, die Behindertenrechtskonvention wie auch die Genfer Flüchtlingskonvention. Matth- ias Laub, Sozialarbeitswissenschaftler, untersucht, welche Barrieren im Rahmen der Sozialplanung beseitigt werden müssten, um Teilhabe gemäß den Anforde- rungen der Behindertenrechtskonvention in regionalen Lebensbereichen umzu- setzen. Die aktuell durchgeführte Studie des Autors offenbart dabei erhebliche Zugangsbarrieren für Menschen mit psychischen Behinderungen. Vor dem Hin- tergrund der normativen Anliegen der UN-Behindertenrechtskonvention sowie der Erkenntnisse aus der Partizipationsforschung führt er die Bedeutung einer sozialräumlichen Perspektive durch örtliche Teilhabeplanung auch für Men- schen mit psychischen Behinderungen ein. Die Sozialarbeitswissenschaftle- rin Kathrin Aghamiri untersucht anschließend im Rahmen ihrer Studie, wie sich Teilhaberechte in der Kinder- und Jugendhilfe verbindlich verankern las- sen. Angesichts der strukturellen Anfälligkeit von stationären Einrichtungen für Machtmissbrauch müsse Partizipation als Kernelement einer menschenrechts- orientierten Sozialpädagogik realisiert werden. Dabei sei es jedoch nicht ausrei- chend, diese als pädagogisches Ziel zu konzeptualisieren, sondern sie müsse im Sinne der UN-Kinderrechtskonvention als Recht realisiert werden. Am Beispiel der „Verfassunggebenden Versammlung“ wird vorgestellt, wie Kinderrechte im Alltag von Heimeinrichtungen strukturell verankert und alltagswirksam umge- setzt werden können. Das setzt zum einen voraus, dass Kinder und Jugendliche um ihre Berechtigung wissen und erfordert zum anderen eine demokratische Öffentlichkeit, in der sie ihre Rechte einfordern können. Der Beitrag von Annette Korntheuer, ebenfalls Sozialarbeitswissenschaftlerin, schließt mit der Forde- rung nach Bildungsteilhabe von jungen Flüchtlingen direkt an. Grundlage ihrer Untersuchung ist eine Befragung von jugendlichen Geflüchteten in Toronto und in München. Die Befunde der von ihr vorgestellten Befragung versteht sie als Perspektiven für Bildungskonzepte in der Sozialen Arbeit. Sie arbeitet her- aus, dass Bildungsmotivation und hohe Bildungsaspirationen wichtige Ressour- cen für junge Geflüchtete darstellen. Wenn man die Menschenrechtsorientierung allerdings ernst nähme, ergebe sich aber die Frage, inwiefern diskriminierende und exkludierende Strukturen toleriert werden sollen, welche junge Geflüchtete dazu zwingen, diese Ressourcen zu entwickeln. Ihre innere Stärke sollte nicht als Vorwand für den Erhalt von marginalisierenden Strukturen genutzt werden. Das

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XIV Einleitung

Menschenrecht auf Bildung müsse jungen Geflüchteten unabhängig von ihrem rechtlichen Status zugänglich gemacht werden.

Abschließend stellt Christel Achberger mit EX-IN einen wirksamen Ansatz der Menschenrechtsorientierung in der Psychiatrie vor. Ziel der EX-IN Kurse (Experienced Involvement) sei es, Psychiatrie-Erfahrene zu befähigen, ihre Erfah- rungen als Genesungsbegleiter*innen und Dozent*innen in die professionelle psychiatrische Arbeit einzubringen. Auf diese Weise werden sie beteiligt und ihr Erfahrungswissen findet Eingang in die Psychiatrie. In den EX-IN Kursen set- zen sich die Teilnehmer*innen mit ihren eigenen Psychiatrie- und Krankheits- erfahrungen auseinander und ordnen sie gesundheitsfördernden Konzepten zu.

Das führt zum einen zu einer Veränderung des Verständnisses von sich selbst, zu einem besseren Selbstwertgefühl und mehr Selbstbewusstsein. Und zum anderen verändert sich dadurch die Psychiatrie, sie wird menschlicher und das gegensei- tige Verstehen wächst. Behandlung und psychosoziale Betreuung orientieren sich an den Bedürfnissen der Patient*innen, die Genesungsbegleiter*innen sichern die Patienten*innenperspektive. Aus der Einbeziehung von Genesungsbegleiter*in- nen ergeben sich auch Antworten auf die Herausforderungen der UN-Behinder- tenrechtskonvention und des Bundesteilhabegesetzes.

In Form eines Nachwortes kommen Akteure der deutschen Selbstbestimmt Leben Bewegung zu Wort. Johannes Messerschmied und Oswald Utz sprechen über ihre Perspektiven zur Geschichte und Aktualität der Behindertenbewegung.

Oswald Utz ist Behindertenbeauftragter und Stadtrat in München, Johannes Mes- serschmid Vorstandsmitglied im dortigen Behindertenbeirat.

In den in drei Kapiteln gegliederten Beiträgen spiegeln sich die historische Annäherung an die Geschichte der Sozialen Arbeit vor dem Hintergrund des Diskurses um die Menschenrechte, die Wendepunkte verschiedener Emanzipa- tionsprozesse in unterschiedlichen Praxisfeldern und gegenwärtige Perspektiven Sozialer Arbeit vor dem Hintergrund historischer Veränderungen und von Lern- prozessen.

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