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Geschlecht, Familie, Sexualität

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Academic year: 2022

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Geschlecht, Familie, Sexualität

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Barbara Umrath hat Erziehungswissenschaften, Soziologie und Psychologie stu- diert und in Soziologie promoviert.

Reihe »Politik der Geschlechterverhältnisse«

Band 61

Herausgegeben von Ina Kerner, Cornelia Klinger, Eva Kreisky, Andrea Maihofer und Birgit Sauer

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Barbara Umrath

Geschlecht, Familie, Sexualität

Die Entwicklung der Kritischen Theorie aus der Perspektive sozialwissenschaftlicher Geschlechterforschung

Campus Verlag

Frankfurt / New York

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ISBN 978-3-593-51065-1 Print ISBN 978-3-593-44155-9 E-Book (PDF) ISBN 978-3-593-44156-6 E-Book (EPUB)

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Satz: DeinSatz Marburg | lf Gesetzt aus: Garamond

Druck und Bindung: Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza Printed in Germany

www.campus.de

Diese Publikation wurde von der Hans-Böckler-Stiftung gefördert.

Zugleich Dissertation an der Europa-Universität Flensburg mit dem Titel

» Geschlecht, Familie, Sexualität – Die Entwicklung der Kritischen Theorie aus der Perspektive sozialwissenschaftlicher Geschlechterforschung«.

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Inhalt

1. Einleitung . . . 11

Aufbau des Buches . . . 19

Hinweise für Leser*innen . . . 21

2. Die Geschlechterthematik in der Rezeption der Kritischen Theorie . . . 25

Zur Darstellung des grundlegenden Ansatzes der Kritischen Theorie . . 27

Die Geschlechterthematik in der Einführungsliteratur und den  Studien zu Geschichte und Entwicklung der Kritischen Theorie . . . 31

Die Geschlechterthematik in der Rezeption Herbert Mar cuses . . . 38

Überblick über die geschlechterthematische Rezeption der  Kritischen Theorie . . . 41

(Homo-)Sexualität in der Rezeption der Kritischen Theorie . . . 45

Schwerpunkte der feministischen Rezeption Kritischer Theorie . . . 48

Perspektivverschiebungen in der feministischen Rezeption . . . 51

Vorgehensweise und Material . . . 58

3. Geschlecht, Geschlechterdifferenz und patriarchale Geschlechterordnung als Momente der bürgerlichen Gesellschaft . . . 65

Die Debatten zu Mutterrecht und Männerbund als Bezugspunkte der Kritischen Theorie . . . 70

Horkheimer zur Genese und Wirkmächtigkeit des Charakters . . . 75

Fromm zur Historizität und Gesellschaftlichkeit der menschlichen ›Triebnatur‹ . . . 81

Das Mutterrecht und die Notwendigkeit einer historisch- materialistischen Situierung psychoanalytischer Überlegungen in der bürgerlich-vaterrechtlichen Gesellschaft . . . 85

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6 Geschlecht, Familie, Sexualität

Die patriarchale Geschlechterordnung als konstitutives Moment bürgerlicher Gesellschaft und die affektive Abwehr der

Mutterrechtstheorie . . . 87 Fromms dialektisches Verständnis von Emanzipation . . . 89 Psychische Veränderung als genuiner Bestandteil von Emanzipation . . 92 Gleichheit, Differenz und die Notwendigkeit eines alternativen

Verständnisses von Geschlecht . . . 94 Bedingungslose Mutterliebe und psychische Bisexualität . . . 99 Zwischen Konkurrenz und ›Kolonialisierung‹: Löwenthal zum

Verhältnis von Erwerbs- und Privatsphäre . . . 105 Zum emanzipatorischen Potenzial der Liebe . . . 108 Ador nos These der Entwicklung spezifisch weiblicher bürgerlicher

Züge . . . 111 Odysseus oder: Die Konstitution des bürgerlichen Subjekts in

herrschaftsförmigen Klassen-, Geschlechter- und Naturverhältnissen . . 115 Problematisierungen der ›Emanzipation der Frau‹ in der 

spätbürgerlichen Gesellschaft . . . 127 Horkheimers Sorge um das Schwinden von Sorge . . . 130 Mar cuses Emanzipationsperspektive: Androgynität und 

feministischer Sozialismus . . . 133 Ador nos Analyse von Weiblichkeit und Männlichkeit als Produkt

›männlicher‹ Gewalt . . . 139 Das Ringen um und mit (Geschlechter-)Differenz bei Ador no

und Horkheimer . . . 142 Zusammenfassung . . . 146 4. Familie als Zugang einer kritischen Gesellschaftstheorie

und das Problem des Autoritarismus . . . 155 Gesellschaftstheorie als Zusammenhangsanalyse: Von den 

Arbeiter(-inne)n und Angestellten zur Familie . . . 161 Die Konzeption eines gesellschaftstheoretisch orientierten

Forschungsprojekts zur Familie . . . 164 Die Umsetzung des Forschungsvorhabens als Projekt zu Autorität

und Familie . . . 167 Die Notwendigkeit einer Differenzierung zwischen Zwang,

Herrschaft und Autorität . . . 174

(8)

Inhalt 7 Autorität in der bürgerlichen Gesellschaft . . . 177 Exkurs: Reproduktion und Verschiebung eurozentrischer Perspektiven in Marxismus und Kritischer Theorie . . . 182 Karl August Wittfogel: Geschlechtliche Arbeitsteilung und 

androzentrisch verengter Arbeitsbegriff . . . 186 Veränderung von Geschlechter- und Generationenverhältnissen

mit Entstehung des Privateigentums . . . 188 Zur Klassenspezifik familiärer Autoritätsverhältnisse in der 

bürgerlichen Gesellschaft . . . 194 Zur Bedeutung von Hausarbeit für die Gestaltung familiärer

Autoritätsverhältnisse . . . 199 Die Antizipation einer feministischen Rechtskritik bei 

Ernst Schachtel . . . 203 Zur Bedeutung ökonomischer Faktoren und gesellschaftlicher

Anschauungen für die rechtliche Regulierung patriarchaler

Geschlechterverhältnisse . . . 205 Intermezzo: Horkheimers und Fromms Beiträge zu Autorität

und Familie in der feministischen Rezeption . . . 212 Horkheimers dialektische Betrachtung von Familie in der 

bürgerlichen Gesellschaft . . . 214 Fromms Konzeption des sado-masochistischen Charakters zwischen

Situierung und androzentrischer De-Thematisierung . . . 221 Die Bedeutung patriarchaler Geschlechterverhältnisse für die 

Entwicklung autoritärer Charakterstrukturen . . . 232 Von den Studien der 1930er-Jahre zu Arbeiten aus späteren 

Jahrzehnten . . . 239 The Authoritarian Personality: Zur Bedeutung von Familie und 

Geschlecht für die Entwicklung (nicht-)autoritärer

Charakterstrukturen . . . 244 Horkheimers Thesen zur Entwicklung von Familie in der 

spätbürgerlichen Gesellschaft . . . 253 Ador nos Auseinandersetzung mit der (Familien-)Soziologie

der Nachkriegsgesellschaft . . . 257 Keine Emanzipation der Familie ohne die Emanzipation des Ganzen . . 259 Zur Genese autoritärer Charakterstrukturen in der spätbürgerlichen

Gesellschaft . . . 264 Zusammenfassung . . . 269

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8 Geschlecht, Familie, Sexualität

5. Sexualität und Sexualmoral als Schlüssel zur Gesellschaft . . . 277 Von der (früh-)sozialistischen Kritik der monogamen Sexualmoral

zum Freudomarxismus . . . 282 Fromm zur Sexualmoral des bürgerlich-kapitalistischen ›Geistes‹ . . . 287 Veränderung und Persistenz der bürgerlichen Sexualmoral zu Beginn

des 20. Jahrhunderts . . . 292 Franz Borkenaus Analyse der bürgerlichen Jugendbewegung: Rebellion statt emanzipatorischer Überwindung der tradierten Sexualmoral . . . . 296 Einschränkung, Entwertung und Instrumentalisierung von Glück

und Genuss . . . 301 Die herrschaftsstabilisierende Bedeutung einer restriktiven

Sexualmoral . . . 305 Fromm zu den (unbewussten) Grenzen einer Reform der 

bürgerlichen Sexualmoral . . . 308 Horkheimers dialektische Betrachtung von Moral . . . 313 Von der freudomarxistischen Aufklärung der 1930er-Jahre zur

Reflexion der Dialektik der Aufklärung in späteren Schriften . . . 319 Odysseus und Juliette: Aufklärung als Internalisierung des Opfers

und Entmythologisierung von Moral, Sexualtabus und Liebe . . . 321 Eros and Civilization: Historisierung der Freudschen Kulturtheorie

und des patriarchalen, repressiven Realitätsprinzips . . . 329 Problematisierung des Körpers als Instrument fortpflanzungs zentrierter Sexualität und entfremdeter Arbeit . . . 333 Die Emanzipationsperspektive einer Transformation von Sexualität

in Eros und von entfremdeter in libidinöse Arbeit . . . 338 One-Dimensional Man: Liberalisierung der Sexualmoral als ›repressive Entsublimierung‹ . . . 345 Ador no zur Liberalisierung der Sexualmoral in der

bundes republikanischen Nachkriegsgesellschaft und ihren Grenzen . . . 350 Zusammenfassung . . . 358 6. Schlussbetrachtung . . . 365 Grenzen der Rekonstruktion und weiterführende Forschungsfragen . . 366 Die Auseinandersetzungen mit Geschlecht, Familie und Sexualität

als integraler Bestandteil der Kritischen Theorie . . . 369 Zur Produktivität Kritischer Theorie für heutige

Geschlechterforschung . . . 374

(10)

Inhalt 9

Danksagung . . . 383

Anhang . . . 385

Primärtexte . . . 385

Weitere Literatur . . . 391

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1. Einleitung

Die sogenannte Frankfurter Schule, auch bekannt als Kritische Theorie, kann als eine der einflussreichsten geistes- und sozialwissenschaftlichen Theorieströmungen des 20.  Jahrhunderts gelten.1 In zeitgenössischer Ge- schlechterforschung wird auf diese allerdings eher selten zurückgegriffen.

Jene auf den ersten Blick irritierende Diskrepanz wird verständlich, wenn man die bis dato vorliegende Sekundärliteratur genauer betrachtet. Insge-

1 Wenn in der vorliegenden Arbeit von der Kritischen Theorie mit großem ›K‹ die Rede ist, ist damit stets der Personenkreis um Max Horkheimer, Theodor W. Ador no und Herbert Mar cuse gemeint, der häufig auch als erste Generation Kritischer Theorie oder ältere Frankfurter Schule bezeichnet wird. Nicht gemeint sind damit Theoretiker*innen wie Jürgen Habermas, Oskar Negt, Regina Becker-Schmidt oder Axel Honneth, die ge- wöhnlich späteren Generationen Kritischer Theorie zugerechnet werden. Wo von kri- tischer Theorie mit kleinem ›K‹ gesprochen wird, werden darunter kritische Ansätze in einem breiteren Sinne verstanden.

Zur Kritik an einer Erzählung der Geschichte Kritischer Theorie im kulturindustriell geprägten »Format des Familienromans« (Steinert 2007, 152), als eine Abfolge verschie- dener Generationen, den Streit ums ›Erbe‹ zwischen den Nachfolger*innen inklusive, vgl. Steinert (2007, 152–211). Inwiefern die Bezeichnung als Frankfurter Schule treffend ist, wird in der Sekundärliteratur unterschiedlich diskutiert. Hauke Brunkhorst weist da rauf hin, dass es gerade nicht die Frankfurter Jahre sind, für die von einer Schule im Sinne »eines holistisch integrierten und professionell organisierten, übergreifenden For- schungsprogramms« (Brunkhorst 1986, 199; Hervorh. i. Orig.) die Rede sein kann, son- dern die überwiegend im Exil in New York verbrachten 1930er-Jahre (vgl. Brunkhorst 1986, 195–201). Helmut Dubiel problematisiert, dass es sich bei der Bezeichnung als Frankfurter Schule um eine Fremdbezeichnung handelt, welche die Ortlosigkeit und die teils bewusst gewählte, teils durch den Nationalsozialismus erzwungene Randstän- digkeit der Kritischen Theorie zum Verschwinden bringt (vgl. Dubiel 1988, 11–16). Alex Demirovic (1999) spricht mit Blick auf die engagierte intellektuelle Praxis Ador nos und Horkheimers in der Bundesrepublik der Nachkriegsjahrzehnte von einer Entwicklung der Kritischen Theorie zur Frankfurter Schule. Da in der vorliegenden Arbeit ein breites Spektrum an Texten verschiedener Autor(-inn)en Gegenstand ist, das seinen räumlich- geografischen Ursprung keineswegs stets in Frankfurt hatte, wird die Bezeichnung als Kritische Theorie vorgezogen.

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12 Geschlecht, Familie, Sexualität

samt dominiert dort eine Darstellung, derzufolge sich die Kritische Theo rie mit der Geschlechterthematik allenfalls am Rande auseinandergesetzt hat.

Die dezidiert feministische Rezeption kritisierte die analytischen ›Werk- zeuge‹ der Frankfurter Schule als unzureichend für ein Verständnis von Geschlechterverhältnissen.2

Die vorliegende Studie entwickelt demgegenüber eine andere Möglichkeit der Rezeption. So wird in den Kapiteln 3 bis 5 eine Geschichte der Frankfur- ter Schule entfaltet, in der Auseinandersetzungen mit der Geschlechterthe- matik als integraler Bestandteil der Entwicklung Kritischer Theorie erkenn- bar werden. Gezeigt wird, dass die Kritischen Theoretiker(-innen) sich über all die Jahrzehnte ihres Schaffens mit Geschlechterverhältnissen befasst ha- ben, wie diese kritische Auseinandersetzung genau aussah, an welche Theo- rien und Denker(-innen) dafür angeknüpft wurde und zu welchen Einsich- ten die Kritische Theorie gelangte.3

2 Ausführlich zur Rezeption der Kritischen Theorie vgl. Kapitel 2.

3 Die Formulierung von der ›Geschlechterthematik‹ ist Eva-Maria Ziege entliehen, die in einem Aufsatz von 2007 einen (eher quantitativ ausgerichteten) Überblick über die The- matisierung von Geschlechterfragen in der Zeitschrift für Sozialforschung (später: Studies in Philosophy and Social Science) gibt. ›Geschlechterthematik‹ wird in der vorliegenden Arbeit im breitesten Sinne verstanden. Zu ihr gerechnet werden nicht nur Fragen, die Männer und Frauen bzw. Männlichkeit und Weiblichkeit betreffen, sondern auch sol- che, in denen es um Körper und Sexualität oder das Verhältnis zwischen sogenannter öffentlicher und privater Sphäre geht. Auch Familie als eine durch Geschlecht und Ge- nerativität strukturierte soziale Institution wird zur Geschlechterthematik gezählt. Mit der Formulierung von der ›Geschlechterthematik‹ ist damit zunächst einmal ein breiter Gegenstandsbereich gemeint, wobei noch keine Aussage da rü ber getroffen wird, was ge- nau in den Blick genommen und wie dies behandelt wird.

Demgegenüber beschreibt der Begriff der ›Geschlechterverhältnisse‹ zumindest grob, wie dieser Gegenstandsbereich wahrgenommen und verstanden wird. Betont wird da- mit zunächst einmal, dass es um mehr als eine ›Frauenfrage‹ geht. Darüber hinaus wird der Begriff der Geschlechterverhältnisse häufig verwendet, um – analog zum im Mar- xismus verbreiteten Begriff der Produktionsverhältnisse – das Insgesamt der gesellschaft- lichen Verhältnisse mit Fokus da rauf, wie die Geschlechter zueinander in Relation gesetzt werden, kritisch in den Blick zu nehmen. Gebräuchlich wird die Rede von ›Ge- schlechterverhältnissen‹ mit der Entwicklung von Frauen- und Geschlechterforschung.

Wie so häufig bei Begriffen, die als zentrale Referenzpunkte für ein Forschungsfeld fun- gieren, findet sich weder eine einheitliche Bestimmung noch Verwendung. In der vor- liegenden Arbeit wird der Begriff verwendet, wenn es sachlich um ein kritisches Erfas- sen (a)  der Verhältnisse der Geschlechter insgesamt, (b) einzelner, etwa symbolischer, Dimensionen dieser Verhältnisse und/oder (c) deren Einbettung in übergreifende gesell- schaftliche Formationen geht. Insofern wird der Begriff auch mit Blick auf die Kritische Theorie Verwendung finden, obwohl diese selbst nicht von Geschlechterverhältnissen gesprochen hat.

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Einleitung 13 Gegenüber dem Gros der bisherigen feministischen Rezeption verfolgt die vorliegende Arbeit damit ein anderes Anliegen. Wie in Kapitel 2 noch ge- nauer dargestellt wird, war die feministische Rezeption, die im Zuge der Ent- wicklung von Frauen- und Geschlechterforschung ab den frühen 1970er-Jah- ren einsetzte, über weite Strecken von einer kritischen Abarbeitung geprägt.

Dabei ging es stets auch um das Verhältnis von feministischer und Kritischer Theorie: Wie eng kann feministische Theorie sich an die Kritische Theorie anlehnen? Wie viel Abgrenzung tut not? Prägnant zum Ausdruck kommt die- ses Ringen im Titel eines Aufsatzes von Gudrun-Axeli Knapp aus dem Jahr 1996, der da lautet »Traditionen – Brüche: Kritische Theorie in der feminis- tischen Rezeption«. Insgesamt waren die feministischen Zugriffsweisen von einer Mischung aus kritischer Abarbeitung und dem Bestreben nach Weiter- entwicklung und Aktualisierung geprägt. Die vorliegende Studie ist hingegen in erster Linie rekonstruktiv angelegt. In ihrem Vordergrund steht nicht die feministische Weiterentwicklung und Aktualisierung der älteren Kritischen Theorie. Vielmehr sollen deren Auseinandersetzungen mit der Geschlech- terthematik vor dem Hintergrund heutiger Geschlechterforschung detailliert rekonstruiert werden. Dabei wird deutlich werden, dass letztere nicht nur in mancherlei Hinsicht über die ältere Kritische Theorie hinausgeht, sondern diese auch umgekehrt Impulse für eine stärker gesellschaftstheo retische Aus- richtung von Geschlechterforschung zu geben vermag.

Dominierte in der bisherigen feministischen Rezeption ein kritisch-aktu- alisierender Zugriff, soll es in der vorliegenden Arbeit darum gehen, die Tex- te der Kritischen Theorie selbst stärker zum Sprechen zu bringen und ihnen Gehör zu schenken. Dies bedeutet nicht, dass nun endlich einmal dargelegt würde, wie die Kritische Theorie ›tatsächlich‹ über Geschlechterverhältnisse nachgedacht hat, was ihre verschiedenen Vertreter(-innen) ›wirklich‹ gemeint haben. In der Formulierung des Zum-Sprechen-Bringens und Gehörschen- kens ist bereits das dialogische Moment der Rekonstruktion angedeutet. Wie jeder Rekonstruktion wohnt somit auch der folgenden ein konstruktives Ele- ment inne.4 Ohne dieses würden sich Rekonstruktionen erübrigen, wären sie doch Wiederkäuen des immer Gleichen, nicht eine mögliche Quelle neuer

4 Wenn in dieser Studie bisweilen von ›Einsichten der Kritischen Theorie‹ die Rede ist, sind dies somit immer auch Einsichten der die Kritische Theorie heute lesenden Verfasse- rin dieser Arbeit. Die ›reine Kritische Theorie‹ ohne subjektive Anteile der Rekonstruie- renden (in welche wiederum objektive Momente eingehen) lässt sich nicht rekonstruie- ren. Für die genauere Beschreibung der Vorgehensweise, die der vorliegenden Studie zugrunde liegt vgl. die Ausführungen am Ende von Kapitel 2.

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14 Geschlecht, Familie, Sexualität

Erkenntnisse. Das bedeutet zugleich, dass keine Rekonstruktion vorausset- zungslos ist. So stehen im Hintergrund der vorliegenden Rekonstruktion Be- griffe, Analysen und Fragestellungen heutiger Geschlechterforschung. Sie prä- gen das Erkenntnisinteresse an der Kritischen Theorie und machen auf diese Weise das konstruktive Moment des Rekonstruktionsprozesses aus. Anders formuliert ist es die grundlegende These dieser Arbeit, dass sich erst mit den Begriffen und Erkenntnissen heutiger Geschlechterforschung rekonstruieren lässt, wie genau die Kritische Theorie sich mit Geschlechterverhältnissen aus- einandergesetzt hat. Es bedarf einer entsprechend informierten Per spektive, um (a) über einschlägige Überlegungen und Einsichten nicht hinweg zu lesen sowie (b) deren Produktivität und Grenzen näher zu bestimmen.

Ausgegangen wird in der vorliegenden Arbeit damit erstens von einer grundlegenden Einsicht neuerer Geschlechterforschung: Der Erkenntnis, dass Zweigeschlechtlichkeit ein zentrales Strukturelement moderner Ge- sellschaften darstellt. Wenn die bisher vorliegenden Darstellungen der Kri- tischen Theorie  – wie in Kapitel  2 anhand von Einführungsliteratur und Studien zu Geschichte und Entwicklung der Kritischen Theorie gezeigt wird – da rauf hinauslaufen, die Geschlechterthematik sei nicht bzw. kaum Gegenstand Kritischer Theorie gewesen, kann dies aus Perspektive heutiger Geschlechterforschung nicht einfach als Aussage über die Behandlung ent- sprechender Fragen durch die Kritische Theorie genommen werden. Viel- mehr ist ein Zusammenhang zwischen jenem Befund zu vermuten und dem, was im Zentrum der Aufmerksamkeit der jeweiligen Rezipient*innen steht und was nicht in den Blick kommt bzw. stillschweigend vorausgesetzt wird.

Denn dass eine Theorie der modernen Gesellschaft nicht umhin kommt, sich mit der (historisch-gesellschaftlich zu verstehenden) ›Tatsache‹ der Zweige- schlechtlichkeit auseinanderzusetzen, liegt aus Perspektive der Geschlechter- forschung auf der Hand. Im Folgenden wird daher näher zu fragen sein, wie, auf welche Weise und in welcher Form dies in der Kritischen Theorie geschah – implizit oder explizit, unwillkürlich oder reflektiert, affirmativ oder kritisch.

Die Kritische Theorie vor dem Hintergrund heutiger Geschlechterfor- schung zu rekonstruieren, bedeutet zweitens einen Unterschied zu bisheri- gen feministischen Lesarten. Wie in Kapitel 2 noch ausführlich dargestellt wird, wurde die Kritische Theorie weniger aus der Perspektive der Geschlech- terforschung betrachtet, die erst um 1990 deutlichere Konturen annimmt, denn aus einer frauenforschenden Perspektive.5 Damit lag der Schwerpunkt

5 Von ›Frauenforschung‹ zu sprechen war bis weit in die 1980er-Jahre hinein – neben der Charakterisierung als ›feministische Theorie‹ bzw. ›feministische Forschung‹ – die geläu-

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Einleitung 15 der Betrachtung weniger auf der wechselseitigen Konstituierung von Männ- lichkeit und Weiblichkeit oder gar der Konstitution von Geschlecht(lichkeit) überhaupt, sondern auf der Frage nach der Darstellung von Frauen und de- ren Erfahrungen. Demgegenüber fragt die vorliegende Arbeit danach, wie die Kritische Theorie die Kategorie Geschlecht und Geschlechterdifferenz verstanden hat, da sich erst auf dieser Basis klären lässt, wie die Darstellun- gen von Frauen bzw. Weiblichkeit zu verstehen sind.

Sich der Kritischen Theorie aus der Perspektive heutiger Geschlechterfor- schung zuzuwenden, heißt drittens, den Fokus nicht isoliert auf Geschlech- terverhältnisse zu legen, sondern diese in ihrer Verflechtung mit anderen Macht-, Herrschafts- und Ungleichheitsverhältnissen zu betrachten – eine Einsicht, die sich im Zuge der ab Anfang der 2000er-Jahre auch in der deutschsprachigen Frauen- und Geschlechterforschung intensiv geführten Debatten um ›Intersektionalität‹ zunehmend durchgesetzt hat und heute als zentraler Bestandteil des Selbstverständnisses von Geschlechterforschung gelten kann.6 Greift eine isolierte Betrachtung von Geschlechterverhältnis- sen somit zu kurz, ist im ›intersektionalen‹ Selbstverständnis insbesondere für sozialwissenschaftliche Geschlechterforschung die Herausforderung an- gelegt, sich zu einer kritischen Gesellschaftstheorie weiterzuentwickeln, de-

fige Selbstbezeichnung für dieses sich im Zuge der Neuen Frauenbewegung entwickeln- de Forschungsfeld. Die heute gebräuchliche (Selbst-)Bezeichnung als ›Geschlechterfor- schung‹ oder ›Gender Studies‹ findet sich in dieser Zeit kaum. Für die Unterscheidung zwischen Frauenforschung und Geschlechterforschung vgl. Maihofer (2006).

6 Der Begriff der ›Intersektionalität‹ wurde bereits 1989 durch die amerikanische Juris- tin Kimberlé W. Crenshaw geprägt, die das Bild einer Straßenkreuzung wählte, um deutlich zu machen, dass Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen Schwarzer Frau- en in den USA sich aus dem Zusammenspiel von gender und race ergeben (vgl. Cren- shaw 1989, 321f.). Die grundlegende Intention, Zusammenhänge bzw. Verflechtungen von – nur analytisch zu unterscheidenden – Identitätskategorien, Diskriminierungsfor- men, sozia len Ungleichheitsstrukturen und/oder gesellschaftlichen Verhältnissen in den Blick zu nehmen, wurde in der deutschsprachigen Frauen- und Geschlechterforschung durchweg begrüßt. Kontrovers diskutiert wurde und wird hingegen, wie neu ein solches Vorhaben ist, was sich hier kreuzt, ob die Metapher einer Kreuzung überhaupt angemes- sen ist, wie viele und welche Analysekategorien heranzuziehen sind und nicht zuletzt, wie ›Intersektionalität‹ in empirische Forschungsarbeiten umgesetzt werden kann. Vgl.

hierzu unter anderem die Einführung in Intersektionalitätstheorien von Katrin Meyer (2017), die Aufsätze von Gudrun-Axeli Knapp (2008a, 2008b), Katrin Meyer und Pat- ricia Purtschert (2010), Alex Demirovic und Andrea Maihofer (2013) sowie die Sammel- bände von Knapp und Angelika Wetterer (2003), Gabriele Dietze, Antje Hornscheidt, Kerstin Palm und Katharina Walgenbach (2007), Cornelia Klinger und Knapp (2008) bzw. Helma Lutz, María Teresa Herrera Viva und Linda Supik (2010).

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16 Geschlecht, Familie, Sexualität

ren Gegenstand komplexe, ineinander verflochtene Mechanismen von Herr- schaft, Macht und Ungleichheit sind.7 Es geht um die Entwicklung einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive, die etwa Klasse und Geschlecht nicht nur als ›Kategorien‹ versteht, die in ihrer Interdependenz Identitäten und Gruppen konstituieren, nicht nur als Bestandteile eines interaktiven ›do- ing difference‹ (West & Fenstermaker 1995), sondern entsprechenden Ver- flechtungen zugleich auf der Ebene gesellschaftlicher Verhältnisse, in diesem Fall: von Produktionsweise und Geschlechterordnung, nachgeht. Wie die- se anspruchsvolle Aufgabe zu bewältigen ist, kann bislang als eine weitge- hend offene Frage gelten. In der vorliegenden Arbeit soll daher besonderes Augen merk da rauf gelegt werden, welche Perspektiven auf die konstitutive Verflechtung verschiedener Macht-, Herrschafts- und Ungleichheitsverhält- nisse sowie die damit einhergehenden Subjektivierungsweisen die ältere Kri- tische Theorie entwickelt hat.

Viertens wird in aktueller Geschlechterforschung seit einigen Jahren rege diskutiert, wie die Entwicklungen gegenwärtiger Geschlechterverhält- nisse einzuschätzen sind. Jüngste Anlässe hierfür bieten das Erstarken des Rechtspopulismus und ein breiterer öffentlicher Diskurs, in dem die positi- ve Bezugnahme auf einzelne Aspekte feministischer und sexueller Emanzi- pationsbewegungen nicht selten einhergeht mit Prozessen der ›Veranderung‹

und der Artikulation rassistischer Forderungen.8 Grundlegende Einigkeit besteht dahingehend, dass Fragen, Positionen und Forderungen, die von feministischen Bewegungen ab Ende der 1960er-Jahre artikuliert wurden, Eingang in das Selbstverständnis breiterer Bevölkerungskreise, in Organisa-

7 Auf die Notwendigkeit einer Weiterentwicklung von Geschlechterforschung zu einer kritischen Gesellschaftstheorie haben in den deutschsprachigen feministischen Dis- kussionen zu ›Intersektionalität‹ u. a. Regina Becker-Schmidt (2007), Cornelia Klinger (2003a), Gudrun-Axeli Knapp (2005) und Andrea Maihofer (2006) verwiesen.

8 Für feministische Analysen des zeitgenössischen Rechtspopulismus vgl. etwa den von Sabine Hark und Paula-Irene Villa herausgegebenen Sammelband Anti-Genderismus.

Sexualität und Geschlecht als Schauplätze aktueller politischer Auseinandersetzungen (2015), die Analysen in dem von Roman Kuhar und David Paternotte herausgegebenen Band Anti-Gender Campaigns in Europe. Mobilizing against Equality (2017) sowie den Beitrag von Franziska Schutzbach (2016) in der PROKLA 185. Kritisch dazu, wie der positive Bezug auf eine zumeist als realisiert verstandene Gleichstellung von Frauen oder Toleranz gegenüber Homosexualität mit Abgrenzungen gegenüber ›dem Islam‹ und For- derungen nach einem noch restriktiveren Umgang mit Geflüchteten einhergehen kann vgl. Dietze (2016a, 2016b) und Hark & Villa (2017), die dies am Beispiel der öffentlichen Debatten problematisieren, die auf die massiven sexuellen Übergriffe in der Sylvester- nacht 2015/16 in Köln folgen sollten.

(18)

Einleitung 17 tionsentwicklung, politische Entscheidungsprozesse und öffentliche Diskus- sionen gefunden haben. Umstritten ist hingegen, was die zu beobachtende Integration feministischer Positionen in den gesellschaftlichen und politi- schen Mainstream bedeutet und wie weitgehend sich die Geschlechterver- hältnisse in diesem Zuge verändert haben.9 Zugespitzt formuliert: Haben wir es vor allem mit einem Bedeutungsverlust der Kategorie Geschlecht, ei- ner ›Vereinnahmung‹ feministischer Kritik oder einer ›Illusion der Emanzi- pation‹ zu tun? Vor diesem Hintergrund soll danach gefragt werden, wie die Kritische Theorie die Geschlechterverhältnisse ihrer Gegenwart beschreibt, welche Veränderungen sie beobachtet und wie sie diese deutet. Insbesondere wird der Blick da rauf gerichtet, welches Verständnis von Emanzipation sich in den Arbeiten der Kritischen Theorie findet.

Letzteres legte nahe, aus dem umfangreichen Werk der Frankfurter Schu- le für die Rekonstruktion solche Arbeiten auszuwählen, die es erlauben, die Reflexion gesellschaftlicher Entwicklungen durch die Kritische Theorie zu verfolgen. Dies führte dazu, Schriften zu Familie (Kapitel 4) bzw. zu Sexu- alität und Sexualmoral (Kapitel 5) besondere Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, da beide Themenkomplexe von der Kritischen Theorie über den Verlauf mehrerer Jahrzehnte immer wieder aufgegriffen werden. Eine sol- che thematische Fokussierung stand zu Beginn der Studie keineswegs fest, sondern ist selbst bereits Resultat des Forschungsprozesses. Für die Schwer- punktsetzung auf Familie sprachen zudem zwei weitere Gründe: Zum einen sind einzelne Aufsätze zur Familie von feministischer Seite sehr intensiv re-

9 Nancy Fraser (2009) etwa spricht von einer neoliberalen ›Umdeutung‹ (resignification) feministischer Positionen und Forderungen; Nina Power (2009) attestiert dem in ei- ner breiteren Öffentlichkeit zirkulierenden Verständnis von Feminismus ›Eindimensio- nalität‹. Cornelia Koppetsch und Günter Burkart (1999) kommen in einer Studie zu heterosexuellen Paarbeziehungen zu dem Schluss, der bei vielen Paaren dominierende Gleichheitsdiskurs sei als eine ›Illusion der Emanzipation‹ zu bezeichnen. Anknüpfend daran sprechen Cornelia Koppetsch und Sarah Speck in einer neueren Arbeit von ei- ner »Gleichheitsillusion« (Koppetsch & Speck 2014, 289). In eine ähnliche Richtung geht Angelika Wetterers (2003) These der ›rhetorischen Modernisierung‹. Andrea Mai- hofer (2007, 2014) hingegen hält es für angemessener, in diesem Zusammenhang von einer ›paradoxen Gleichzeitigkeit von Wandel und Persistenz‹ der Geschlechter- und Familienverhältnisse zu sprechen. Monika Götsch (2015) wirft auf Basis einer empiri- schen Untersuchung mit Jugendlichen, die einerseits positiv Bezug nehmen auf eine – in der Regel als realisiert verstandene – Gleichheit der Geschlechter, gleichzeitig aber Ge- schlechterdifferenz in ihren Erzählungen als eine hierarchische reproduzieren, die Fra- ge auf, ob die gegenwärtigen Geschlechterverhältnisse nicht als ›modernisiertes Patriar- chat‹ zu beschreiben wären.

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18 Geschlecht, Familie, Sexualität

zipiert worden. Die einschlägigen Arbeiten der Kritischen Theorie zu rekon- struieren – und das deutlich umfassender, als bisher geschehen –, erlaubt damit, Unterschiede zwischen einer frauen- bzw. geschlechterforschenden Lektüre hervortreten zu lassen. Zum anderen steht Familie seit vielen Jahr- zehnten im Zentrum einer eigenen Bindestrich-Soziologie, während ihr in kritischer Gesellschaftstheorie bis heute vergleichsweise wenig Aufmerksam- keit zukommt. Angesichts dieser Diskrepanz schien es fruchtbar, die Arbei- ten der Kritischen Theorie genauer in den Blick zu nehmen, betrachtete die- se Familie doch bereits in den 1930er-Jahren als einen geeigneten ›Zugang‹

zu einer kritischen Gesellschaftstheorie.10 Eine etwas anders gelagerte Diskre- panz sprach für den Fokus auf Auseinandersetzungen der Kritischen Theorie mit Sexualität und Sexualmoral. Hier war es die Beobachtung, dass Sexuali- tät zwar in zeitgenössischer Geschlechterforschung eine zentrale Rolle spielt, anders als Familie aber bis dato vergleichsweise selten als Gegenstand der So- ziologie behandelt wird. Für die Kritische Theorie hingegen stellten Sexua- lität und Sexualmoral nichts weniger als einen ›Schlüssel‹ zum Verständnis von Gesellschaft dar.11 Die Auseinandersetzung mit den einschlägigen Arbei- ten der Kritischen Theorie vermag insofern dazu beizutragen, diese Themen selbstverständlicher als bislang üblich als genuine Gegenstände der Soziolo- gie zu erkennen.

Insgesamt bewegt sich die vorliegende Studie im Spannungsfeld von diszi- plinären, in diesem Fall: soziologischen, Fragestellungen und interdisziplinä- ren Zugangsweisen, wie sie sowohl für die Kritische Theorie als auch für Frau- en- und Geschlechterforschung charakteristisch sind. In terminologischer Hinsicht kennzeichnend ist eine ständige ›Übersetzungsarbeit‹ zwischen dem begrifflich-analytischen Instrumentarium der älteren Kritischen Theorie und dem einer jüngeren Frauen- und Geschlechterforschung. Auf diese Weise ver- folgt die Arbeit nicht zuletzt das Anliegen, an der Kritischen Theorie interes- sierte und mit dieser vertraute Leser*innen an Fragestellungen und Perspekti- ven der Geschlechterforschung heranzuführen sowie umgekehrt Leser*innen aus dem Feld der Geschlechterforschung, die bisher wenig mit der Kritischen Theorie in Berührung kamen, einen Zugang zu dieser zu eröffnen.

10 Familie als ›Zugang‹ zu einer kritischen Theorie der Gesellschaft ist eine Formulierung aus einem Dokument, das im Zuge der Recherchen für die vorliegende Arbeit im Archiv des Instituts für Sozialforschung gefunden wurde. Ausführlicher hierzu vgl. Kapitel 4.

11 Die Formulierung von der ›Sexualmoral als Schlüssel zum Verständnis der Gesellschaft‹

findet sich in einer Aufzeichnung Friedrich Pollocks über gemeinsame Gespräche mit Max Horkheimer Ende der 1950er-Jahre. Vgl. hierzu Kapitel 5.

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Einleitung 19

Aufbau des Buches

Das auf die Einleitung folgende Kapitel 2 beginnt mit einer ausführlichen Betrachtung der Geschlechterthematik in der Rezeption der Kritischen The- orie. Besonderes Augenmerk gilt dabei der feministischen Rezeption. Insge- samt wird deutlich werden, dass eine Studie dazu, wie die Geschlechterthe- matik in der Kritischen Theorie verhandelt wurde, bis dato aussteht. Diese Forschungslücke schließt die vorliegende Arbeit. Deren methodische Vor- gehensweise, die in enger Auseinandersetzung mit der bisherigen Rezeption entwickelt wurde, sowie das ihr zugrunde liegende Material werden zu Ab- schluss des zweiten Kapitels näher beschrieben.

Die Kapitel 3 bis 5 bilden den Hauptteil des Buches. In ihnen werden die Auseinandersetzungen der Kritischen Theorie mit der Geschlechterthematik vor dem Hintergrund heutiger Geschlechterforschung detailliert rekonstru- iert und diskutiert. Als erstes Kapitel des Hauptteils kommt Kapitel 3 zu- gleich die Funktion zu, grundlegend in das Denken der Kritischen Theorie einzuführen. Inhaltlich geht es dabei zum einen um die Frage, wie die Kri- tische Theorie Geschlecht und Geschlechterdifferenz verstanden hat. Her- ausgearbeitet wird deren dezidiert historisch-materialistischer Zugang – aber auch dessen Grenzen. Zum anderen wird gezeigt, dass die Kritische Theo- rie die patriarchale Geschlechterordnung als ein konstitutives Moment der bürgerlichen Gesellschaft verstanden hat. Die Frage der Emanzipation wird in Kapitel 3 mit besonderem Fokus auf die ›Emanzipation der Frau‹ aufge- nommen, um in den beiden folgenden Kapiteln weiter vertieft zu werden.

Kapitel 4 befasst sich mit den Arbeiten der Kritischen Theorie zu Familie.

Hier wird erstens dargestellt, wie ausführlich man sich am Institut für So- zialforschung gerade in den 1930er-Jahren mit patriarchalen Geschlechter- und Generationenverhältnissen in der Familie und Gesellschaft beschäftigt hat. Zweitens wird dem Problemzusammenhang, den die Kritische Theorie zwischen (patriarchalen) Familien- und Geschlechterverhältnissen auf der ei- nen, autoritären Tendenzen auf der anderen Seite sieht, genauer nachgegan- gen. Gegenstand von Kapitel 5 sind schließlich die Auseinandersetzungen der Kritischen Theorie mit Sexualität und Sexualmoral. Herausgearbeitet wird, dass diese der bürgerlichen Gesellschaft ein zutiefst ambivalentes Ver- hältnis zu Sexualität, Sinnlichkeit, Lust, Glück und Genuss bescheinigt. Zu- gleich diagnostiziert die Kritische Theorie eine zunehmende Liberalisierung der Sexualmoral im Zuge der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft, die jedoch von Emanzipation in einem emphatischen Sinne unterschieden

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20 Geschlecht, Familie, Sexualität

wird. Insgesamt wird im Hauptteil deutlich werden, dass die Analyse von Geschlecht, Familie, Sexualität und Sexualmoral von der Kritischen Theo- rie als eine genuine Aufgabe kritischer Gesellschaftstheorie verstanden wur- de. Aus Sicht heutiger Geschlechterforschung werden jedoch auch Grenzen im spezifischen Zugriff der Kritischen Theorie erkennbar. Eine Grenze, die sich dabei durchgängig zeigen wird, ist die einer eher episodischen statt sys- tematischen Berücksichtigung von Geschlecht, Geschlechterdifferenz und Geschlechterverhältnissen.

Die einzelnen Kapitel des Hauptteils folgen einem ähnlichen Aufbau.

Jedes Kapitel beginnt mit einem kurzen Überblick über zentrale Gedanken und Thesen, die im Mittelpunkt der weiteren Ausführungen stehen, sowie einer knappen Beschreibung des Materials, anhand dessen diese rekonstru- iert werden. Dem folgt eine kurze Skizze der ›diskursiven Traditionsstränge‹

(Opitz 2006), vor deren Hintergrund die Texte der Kritischen Theorie zu verstehen sind. Daran schließt sich die detaillierte Rekonstruktion an. Diese verfolgt in loser Chronologie, stets beginnend mit Arbeiten aus den 1930er- Jahren und von dort fortschreitend zu Schriften aus späteren Jahrzehnten, die Entwicklung bestimmter thematischer Motive bei verschiedenen Autor(- inn)en aus dem Kreis der Kritischen Theorie. Deren Überlegungen werden weder systematisch verglichen noch synthetisiert, sondern nebeneinander gelesen. Auf diese Weise entsteht ein spannungsvoller Dialog, der erst als Gesamtes ein Bild davon ergibt, wie die Geschlechterthematik in der Kriti- schen Theorie verhandelt wurde. Am Ende eines jeden Kapitels werden we- sentliche Überlegungen noch einmal zusammengefasst, Querverweise zu an- deren Kapiteln hergestellt sowie Einsichten und Grenzen aus der Perspektive heutiger Geschlechterforschung festgehalten.

Im abschließenden Kapitel  6 werden zentrale Ergebnisse der Arbeit knapp rekapituliert. Besonderes Augenmerk wird dabei zum einen der Fra- ge gelten, welche anderen Akzentuierungen und Neu-Bewertungen in der Wissenschaftsgeschichtsschreibung zur Kritischen Theorie angebracht schei- nen. Zum anderen wird skizziert, wie der Dialog zwischen feministischer und Kritischer Theorie über die vorliegende Studie hinaus fortzusetzen wäre.

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Einleitung 21

Hinweise für Leser*innen

Im Zuge der Zweiten Frauenbewegung und der sich mit ihr entwickeln- den Frauen- und Geschlechterforschung wurde die Verwendung des gene- rischen Maskulinums nachdrücklich problematisiert.12 Seitdem hat sich ein zunehmendes gesellschaftliches Bewusstsein für die Notwendigkeit entwi- ckelt, nicht nur das männliche Geschlecht sprachlich sichtbar zu machen.

Neben den bereits seit Längerem existierenden Varianten, Frauen durch die Verwendung von Schrägstrich oder großem Binnen-I ausdrücklich zu be- nennen, stellen der sogenannte Gender-Gap oder das Gender-Sternchen neuere Vorschläge einer geschlechtergerechten bzw. geschlechterinklusiven Sprache dar. Letztere sollen auch Menschen einschließen, die sich als transse- xuell, transgender oder intersexuell verstehen bzw. Selbstbezeichnungen wie

› agender‹, ›queer‹ oder ›genderfluid‹ bevorzugen. Die ausdrückliche Artiku- lation einer solchen über die Binarität der Zweigeschlechtlichkeit hinausge- henden Vielfalt an Geschlechtsidentitäten ist damit ein jüngeres Phänomen;

Identität selbst ein Konzept, das mit der modernen bürgerlichen Gesellschaft wenn nicht entsteht, so doch entscheidend an Bedeutung gewinnt. Inso- fern wäre es ahistorisch zu behaupten, die sich in letzter Zeit artikulierenden

›geschlechtlichen Existenzweisen‹ (Andrea Maihofer) hätte es als Identitäten schon immer gegeben. Zudem ist eine künftige Gesellschaft vorstellbar, in der Identität keine oder eine weniger zentrale Rolle spielen würde und/oder nicht mehr derart eng an Geschlecht gekoppelt wäre, wie dies heute der Fall ist. Da es sich bei Sprache um eine gesellschaftliche Praxis handelt, derer wir uns tagtäglich – in Alltagssituationen ebenso wie in wissenschaftlichen Kon- texten, im Denken für uns allein ebenso wie in der mündlichen und schriftli- chen Kommunikation mit Anderen – bedienen, kommt der Verwendung ei- ner geschlechterinklusiven Sprache eine nicht zu vernachlässigende Rolle bei der emanzipatorischen Veränderung patriarchaler, binärer, heteronormativer Geschlechterverhältnisse zu, ohne dass sich allein da rü ber diese Verhältnisse nachhaltig verändern ließen.

Aus diesem Grund wurde sich in der vorliegenden Arbeit grundsätzlich für die Verwendung des Gendersternchens entschieden. Da es sich bei der Kritischen Theorie um einen Kreis überwiegend männlich sozialisierter Den- ker handelte, schien die Verwendung des Gendersternchens hier allerdings

12 Vgl. hierzu etwa Luise Pusch Das Deutsche als Männersprache: Aufsätze und Glossen zur feministischen Linguistik (1984).

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22 Geschlecht, Familie, Sexualität

nicht angemessen.13 Von ›den zentralen Protagonisten‹ der Kritischen Theo- rie wird – den faktischen Geschlechterverhältnissen in der Frankfurter Schu- le entsprechend – ausschließlich in der männlichen Form die Rede sein. Um die damaligen Geschlechterverhältnisse sichtbar zu machen, ohne da rü ber die Beiträge von Frauen zur Kritischen Theorie gänzlich zum Verschwinden zu bringen, wird in anderen Fällen von ›kritischen Theoretiker(-innen)‹ bzw.

›Mitarbeiter(-innen) des Instituts für Sozialforschung‹ gesprochen. Analog wird beispielsweise mit der ›Arbeiter(-innen)bewegung‹ des 19. und frühen 20. Jahrhunderts verfahren, um auch hier männliche Dominanz und dama- lige Selbstverständlichkeiten sichtbar zu machen, ohne die aktive Beteiligung von Frauen sprachlich komplett auszublenden. Sofern es sich nicht um Zita- te handelt, die stets unverändert übernommen wurden, wird in allen ande- ren Fällen das Gendersternchen verwendet.

Eine Entscheidung zu treffen war auch dahingehend, wie mit Texten der Kritischen Theorie umgegangen werden sollte, die ursprünglich in englischer Sprache veröffentlicht und erst später ins Deutsche übersetzt worden waren.

Dies betraf vor allem Arbeiten Herbert Mar cuses. Da auch die sorgfältigste Übersetzung stets eine gewisse Modifikation bedeutet, wurden die Primär- texte stets in der Sprache herangezogen, in der sie erstmals erschienen wa- ren. Um einer deutschsprachigen Leser*innenschaft die Orientierung zu er- leichtern, beziehen sich die Seitenangaben im Fließtext aber auf die jeweilige deutschsprachige Ausgabe. Wo Interpretationen sich dem Rückgriff auf die englischen Originale verdanken oder dieser eine Modifikation von Zitaten der deutschen Ausgabe geboten erscheinen ließ, wird dies in Fußnoten erläu- tert bzw., sofern es sich um geringfügige Änderungen handelt, durch eckige Klammern gekennzeichnet. Beibehalten wurde der englische Originaltitel der zwei wohl bekanntesten Bücher Mar cuses: Eros and Civilization. A Phi- losophical Inquiry into Freud (1955) und die neun Jahre später erschienene Studie One-Dimensional Man. Studies in the Ideology of Advanced Industrial Society (1964). Was Eros and Civilization betrifft, war dafür ausschlaggebend, dass die deutsche Erstausgabe von 1957 den Titel zwar noch als Eros und Kul- tur übersetzte, dieser seit der Neuauflage von 1965 jedoch Triebstruktur und Gesellschaft lautet. Zum Verschwinden gebracht wurde damit der Begriff des Eros, der für die vorliegende Arbeit jedoch keine zu vernachlässigende Ne-

13 Hinzu kommt, dass den Kritischen Theoretiker(-inne)n feministische Sprachkritik fern lag und sie selbst das generische Maskulinum verwendeten. Eine durchgehende Verwen- dung des Gendersternchens hätte damit bei Zitaten einen Eingriff in die Originaltexte bedeutet.

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Einleitung 23 bensache darstellt. Für das Festhalten am englischen Titel One-Dimensional Man sprachen hingegen andere Gründe. Hier ging es darum, den im engli- schen Original zum Ausdruck kommenden Androzentrismus – ›man‹ als Sy- nonym für ›den Menschen‹, während ›woman‹ stets nur für sich steht und nicht ›das Allgemeine‹ repräsentieren kann – nicht unsichtbar zu machen.

Wo sich in den Texten der Kritischen Theorie Begriffe fanden, die eine eurozentrische Perspektive verraten, wurde ähnlich verfahren. Zitate wur- den auch in diesem Fall unverändert übernommen. Gleichzeitig werden ent- sprechende Formulierungen und die da rin sich ausdrückende Blickrichtung kritisch kommentiert. Auf diese Weise soll präsent gehalten werden, dass die Entwicklung einer geschlechterinklusiven und nicht-diskriminierenden Sprache einer zeitlich später einsetzenden kritischen Reflexionsbewegung entstammt.

Da es in der vorliegenden Studie darum geht, Entwicklungen des kriti- schen Nachdenkens über Geschlechterverhältnisse und Gesellschaft nachzu- zeichnen, wurde sich dafür entschieden, bei Literaturbelegen stets das Jahr der Erstveröffentlichung anzugeben.14 So wird beispielsweise die Dialektik der Aufklärung, die zunächst 1944 in kleiner Auflage als hektographiertes Ty- poskript erschien und schließlich 1947, mit gewissen Modifikationen, als ge- drucktes Buch, im Weiteren als ›Ador no & Horkheimer 1944/1947‹ zitiert.15 Im Literaturverzeichnis wird das Jahr der Erstveröffentlichung in eckigen, das Jahr derjenigen Ausgabe, aus der zitiert wurde, in runden Klammern ausgewiesen.

14 Da die aphoristischen Notizen Horkheimers aus den Nachkriegsjahren zum Teil erst nach dessen Tod erschienen, wurde sich in diesem Fall für die Angabe des jeweiligen Entstehungszeitraums entschieden.

15 Für eine Diskussion der Gründe, die Ador no und Horkheimer zu Veränderungen am Text von 1944 bewogen haben mögen, und eine Einschätzung der Bedeutung dieser Modifikationen vgl. den editorischen Anhang in Band 5 der Gesammelten Schriften Horkheimers.

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2. Die Geschlechterthematik in der Rezeption der Kritischen Theorie

Die sogenannte Frankfurter Schule kann als eine der einflussreichsten geis- tes- und sozialwissenschaftlichen Theorieströmungen des 20. Jahrhunderts gelten. Entsprechend umfangreich und weiterhin wachsend ist die zwi- schenzeitlich vorliegende Sekundärliteratur, die vollständig zu überblicken ein Ding der Unmöglichkeit ist. Im Folgenden soll danach gefragt werden, welche Rolle die Geschlechterthematik in der bisherigen Rezeption der Kri- tischen Theorie spielt. Angesichts der Fülle an Literatur kann es dabei um nicht mehr – aber eben auch nicht weniger – gehen als darum, zentrale Re- zeptionslinien herauszuarbeiten.

In einem ersten Schritt werden hierfür zum einen Arbeiten betrachtet, die in das Denken der Kritischen Theorie bzw. einzelner zentraler Vertreter einführen, zum anderen material- und umfangreiche Studien zu Geschichte und Entwicklung der Frankfurter Schule bzw. dem Werk bestimmter Pro- tagonisten. Dabei wird sich zeigen, dass die Geschlechterthematik, wenn überhaupt, zumeist am Rande Erwähnung findet. Bei Leser*innen muss so der Eindruck entstehen, die Kritische Theorie habe sich mit entsprechenden Fragen nicht weiter befasst. Eine gewisse Ausnahme stellt lediglich die Dar- stellung der Arbeiten Herbert Mar cuses dar, auf die daher gesondert einge- gangen wird.

In einem zweiten Schritt wird sich Sekundärliteratur zugewandt, in der die Auseinandersetzungen der Kritischen Theorie mit der Geschlechterthe- matik größere Aufmerksamkeit erfahren. Besonderes Augenmerk wird dabei auf Arbeiten von Autor*innen liegen, die sich selbst als feministisch bezeich- nen und/oder einen Arbeitsschwerpunkt in der Frauen- und Geschlechter- forschung haben.16 Da im Zuge der Recherchen für die vorliegende Studie

16 Wenn im weiteren Verlauf der Darstellung bisweilen von einer ›geschlechterthemati- schen‹, an anderen Stellen von einer ›feministischen‹ Rezeption der Kritischen Theorie die Rede ist, so ist der erste Begriff breiter zu verstehen. Er besagt zunächst einmal nur, dass in dieser Rezeption Geschlechterfragen im weitesten Sinne als ein Thema der Kriti-

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26 Geschlecht, Familie, Sexualität

allein rund 80 Aufsätze ausfindig gemacht werden konnten, die sich mit der Geschlechterthematik in der Kritischen Theorie beschäftigen, können auch hier nur zentrale Rezeptionslinien herausgearbeitet werden. Um jene Texte interessierten Leser*innen für eigene Lektüren zugänglich zu machen, werden diese jedoch ausführlich in Fußnoten ausgewiesen. Die Betrachtung dieser zweiten Art von Arbeiten wird deutlich machen, dass die Geschlech- terthematik – anders als die Lektüre der im ersten Schritt behandelten Ein- führungen und Studien vermuten lassen würde – für die Kritische Theorie durchaus Gegenstand war. Gleichzeitig wird sich zeigen, dass ungeachtet der Vielzahl an Beiträgen eine detaillierte Studie zur Geschlechterthematik in der Kritischen Theorie weiterhin als Forschungslücke gelten muss. Mit der vorliegenden Arbeit wird diese geschlossen. Deren Vorgehensweise, die in enger Auseinandersetzung mit dem bisherigen Forschungstand entwickelt wurde, wird im letzten Abschnitt dieses Kapitels genauer dargestellt.

Berücksichtigt werden im Folgenden Beiträge, die in deutscher und/oder englischer Sprache erschienen sind. Untersucht werden diese zum einen da- rauf, was man als Leser*in über die Auseinandersetzungen der Kritischen Theorie mit der Geschlechterthematik erfährt: Inwiefern findet diese in der Sekundärliteratur Erwähnung? Welche Texte und Autor*innen werden in diesem Zusammenhang betrachtet? Äußern sich die Rezipient*innen aus- drücklich zur Frage, welche Bedeutung die Kritische Theorie der Geschlech- terthematik beimaß und wenn ja, wie schätzen sie deren Stellenwert ein?

Nehmen die Rezipient*innen eine Bewertung von deren Behandlung durch

schen Theorie wahrgenommen und im Vergleich zu den eingangs diskutierten Arbeiten relativ ausführlich behandelt werden, trifft aber noch keine Aussage da rü ber, aus wel- cher (kritischen) Perspektive dies geschieht. Der ›geschlechterthematischen Rezeption‹

zugerechnet werden beispielsweise Arbeiten von Autor*innen wie Reimut Reiche oder Dennis Altman, die eher einer kritischen Psychoanalyse und Sexualforschung (Reiche) bzw. den sich Anfang der 1970er-Jahre entwickelnden Gay Studies (Altman) zuzuord- nen sind. Die Formulierung von der ›feministischen Rezeption‹ ist hingegen enger ge- fasst. Letzterer zugeordnet werden nur solche Arbeiten, deren Autor*innen sich aus- drücklich auf die Begriffe ›Feminismus‹ bzw. ›feministisch‹ beziehen und/oder einen Forschungsschwerpunkt in der Frauen- und Geschlechterforschung haben. Mit dieser begrifflichen Differenzierung soll nicht suggeriert werden, dass Gay Studies oder die sich später entwickelnden Queer Studies ein klar von Geschlechterforschung im engeren Sinne zu trennendes Forschungsfeld wären. Wie im Folgenden noch deutlich werden wird, zielt die Unterscheidung zwischen einer feministischen Rezeption im engeren Sin- ne und einer geschlechterthematischen Rezeption im breiteren Sinne vielmehr da rauf, unterschiedliche Fragestellungen, Schwerpunktsetzungen und Perspektiven erkennbar werden zu lassen.

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Die Geschlechterthematik in der Rezeption der Kritischen Theorie 27 die Kritische Theorie vor und zu welchen Schlüssen gelangen sie, wo dies der Fall ist? Zum anderen wird danach gefragt, inwiefern sich in der Sekun- därliteratur über die direkten Auseinandersetzungen der Kritischen Theo- rie mit der Geschlechterthematik hinaus Einschätzungen zu deren Poten- zial für ein Verständnis von Geschlechterverhältnissen finden: Gehen die Rezipient*innen da rauf ein, welche erkenntnistheoretischen und methodo- logischen Möglichkeiten die Kritische Theorie hierfür bietet? Was wird gege- benenfalls als produktiv, was als unzureichend, hinderlich oder der Weiter- entwicklung bedürftig betrachtet?

Zur Darstellung des grundlegenden Ansatzes der Kritischen Theorie

Da Einführungen in die Kritische Theorie bzw. das Denken einzelner zentra- ler Vertreter in vielen Fällen nicht nur der erste, sondern auch der letzte Kon- takt von Leser*innen mit dieser Theorietradition sein dürften, gebührt ihnen besondere Aufmerksamkeit. Einführungen in die Kritische Theorie liegen in deutscher Sprache von Helmut Dubiel (1988), Christoph Türcke und Ger- hard Bolte (1994) sowie von Michael Schwandt (2009) vor.17 In der Ein- führungs-Reihe des Junius-Verlags erschienen zudem kompakte Bände, die an das Denken zentraler Protagonisten der Kritischen Theorie heranführen:

Gerhard Schweppenhäuser (1996) beschäftigt sich mit Theodor W. Ador- no, Sven Kramer (2003) mit Walter Benjamin, Rolf Wiggershaus (1998) mit Max Horkheimer, Hauke Brunkhorst und Getrud Koch (1987) mit Her- bert Mar cuse. Besondere Bedeutung für die Rezeption der Kritischen The- orie kommt zudem den Studien von Martin Jay (1973), Rolf Wiggershaus (1986) und Alex Demirovic (1999) zu, die deren Geschichte und Entwick- lung breit rekonstruieren und sich dabei auf umfangreiches Material stüt- zen. Wer sich auch nur etwas näher mit der Kritischen Theorie befasst, wird früher oder später auf diese Arbeiten stoßen, die nicht zu Unrecht den Ruf

17 Als Einführung kann zudem das im Rowohlt-Verlag erschienene übersichtliche Bänd- chen von Rolf Wiggershaus Die Frankfurter Schule (2010) gelten – nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen deutlich umfangreicheren Studie von 1986, die den Untertitel Geschichte. Theoretische Entwicklung. Politische Bedeutung trägt. Da im Rahmen der vor- liegenden Arbeit auf letztere ausführlicher eingegangen wird, kann eine nähere Betrach- tung von Wiggershaus’ kürzerer Arbeit entfallen.

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28 Geschlecht, Familie, Sexualität

von ›Standardwerken‹ beanspruchen können. Insofern werden auch diese im Folgenden näher zu betrachten sein. Ergänzend werden zudem ausgewähl- te Monografien herangezogen, die sich genauer mit einzelnen Vertretern der Kritischen Theorie beschäftigen – im Fall von Max Horkheimer die Arbeiten von Olaf Asbach (1997) und John Abromeit (2011), zu Herbert Mar cuse die Studie von Douglas Kellner (1984), für Theodor W. Ador no die als intellek- tuelle Biografie zu bezeichnende Arbeit von Detlev Claussen (2003).

Allein Ador nos Gesammelte Schriften umfassen 20 Bände, nachgelassene Arbeiten noch nicht eingerechnet. Einen Überblick über das Werk der Kri- tischen Theorie oder auch nur das eines ihrer zentralen Vertreter zu geben, stellt damit zweifelsohne eine Herausforderung dar, die nur selektiv gelöst werden kann – zumal dann, wenn ein solcher Überblick sich wie die Einfüh- rungsliteratur an Leser*innen wendet, die mit der Kritischen Theorie noch nicht vertraut sind und die Darstellung den Umfang eines Taschenbuches mit 100 bis 250 Seiten nicht überschreiten soll. Zu entscheiden ist, welche Fragestellungen und Analysen, welche Begriffe und Thesen als unverzichtbar und charakteristisch für die Kritische Theorie gelten müssen, was vielleicht interessant sein mag, aber doch vernachlässigbar erscheint. In den oben ge- nannten Arbeiten fallen die Auseinandersetzungen der Kritischen Theorie mit der Geschlechterthematik größtenteils unter Letzteres.

Durchgehend hervorgehoben wird in der einschlägigen Rezeption, dass die Kritische Theorie Anfang der 1930er-Jahre reflexiv an die Marxsche Theo- rie anknüpft.18 Marxistische Erwartungen von der alsbald bevorstehenden Revolution haben sich offensichtlich nicht erfüllt. Die Entfesselung der Pro- duktivkräfte hat nicht zur Sprengung der kapitalistischen Produktionsver- hältnisse geführt; die bürgerliche Gesellschaft hat nicht nolens volens einer kommunistischen Gesellschaft den Weg bereitet – zumindest nicht, wenn darunter mehr als der real existierende ›Sozialismus in einem Land‹ gemeint ist, stalinistischer Terror inklusive. Konfrontiert sieht sich die Kritische The- orie vielmehr mit dem Erstarken faschistischer Bewegungen in ganz Europa und dem Siegeszug des Nationalsozialismus in Deutschland – der die Mit- glieder des Instituts für Sozialforschung als Marxist*innen mit größtenteils

18 Wenngleich unterschiedlich detailliert und mit je etwas anderem Akzent wird das grundlegende Programm der Kritischen Theorie in den 1930er-Jahren sehr ähnlich be- schrieben. Für die folgenden Ausführungen vgl. (Abromeit 2011, 141–247), (Asbach 1997, 35–144), (Brunkhorst & Koch 1987, 28f. u. 33–40), (Dubiel 1988, 17–23), (Jay 1973, 31–142), (Schwandt 2009, 18–72), (Schweppenhäuser 1996, 9f. u. 22–25), (Türcke

& Bolte 1994, 1–20) sowie (Wiggershaus 1986, 49–146).

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Die Geschlechterthematik in der Rezeption der Kritischen Theorie 29 jüdischem Hintergrund ins Exil zwingt. Als deren Verdienst betont die ein- schlägige Sekundärliteratur, erkannt zu haben, dass ein zu starren Formeln, Lehrsätzen und Bekenntnissen geronnener Marxismus, wie er in großen Tei- len der damaligen Arbeiter(-innen)bewegung und ihren Parteien vorherrscht, diese Entwicklungen nicht zu verstehen vermag. Prägnant auf den Punkt ge- bracht wird das Verhältnis der Kritischen Theorie zu Marx bei Türcke und Bolte: »Abwendung von der Marxschen Zukunftsprognose – durch Anwen- dung der Marxschen Krisentheorie« (Türcke & Bolte 1994, 13).

Die Kritik der politischen Ökonomie ist aus Sicht der Mitglieder des In stituts für Sozialforschung damit unverzichtbar. Um die Entwicklungs- tendenzen der bürgerlichen Gesellschaft als Ganzer zu verstehen, ist die Marxsche Theorie jedoch weiter zu entwickeln zu einer kritischen Gesell- schaftstheorie. Dazu gehört insbesondere, den im Marxismus bis dato ver- nachlässigten kulturellen und psychischen Dimensionen mittels interdis- ziplinärer empirischer Sozialforschung und Einbeziehung der Freudschen Psychoanalyse stärkere Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. In diesem Sin- ne wird der grundlegende Ansatz der Kritischen Theorie in der einschlägigen Sekundärliteratur wie folgt charakterisiert: Als »Kritik des Ökonomismus«

(Asbach 1997, 98), »rejection of economist or deterministic interpretations of Marx« (Abromeit 2011, 177), »eine gewisse Wendung zur Subjektivität:

[…] von der Ökonomiekritik zur Kulturkritik« (Türcke & Bolte 1994, 19) bzw. Überwindung eines schematischen Modells von ›ökonomischer Basis‹

und einem als bloß abgeleitet geltenden ›kulturellen Überbau‹ zugunsten der Frage nach Vermittlungen zwischen Ökonomie, Kultur und Psyche (vgl. Du- biel 1988, 20 u. 25–29).

Ähnlich werden die Arbeiten einzelner zentraler Protagonisten beschrie- ben. So sieht Asbach im maßgeblich von Horkheimer geprägten Programm der 1930er-Jahre ausdrücklich eine Erweiterung des Politischen über den im Marxismus zentral gesetzten Klassenkampf hinaus (vgl. Asbach 1997, 136f.).

In eine ähnliche Richtung gehend betont Schwandt mit Blick auf Mar cuses Reflexionen zu den Protestbewegungen der 1960er-Jahre dessen breites Ver- ständnis notwendiger Veränderung: Anders als im klassischen Marxismus verlange Befreiung für Mar cuse »nicht mehr nur die Eroberung der politi- schen Macht zur Erlangung der ökonomischen, sondern die Umwälzung al- ler gesellschaftlichen Bereiche« (Schwandt 2009, 156). Potenzielles Subjekt einer solchen Veränderung sei nicht länger »eine spezifische Klasse« aufgrund ihrer besonderen »Verankerung im Produktionsprozess«, sondern diejenigen, welche »die Sperre der Eindimensionalität«, die Mar cuses späten Arbeiten

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