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„für ‚Ich liebe dich‘ sag fick die Polizei“

„[A]lle teilen die gleiche Frequenz und erleben eine Art Erweiterung ihrer Fähigkeiten, in der Welt zu sein…jede*r wird durch diese Erfahrung ein bisschen verändert, und das ist gut so. – #ACFM Trip 2: Collective Joy1

„Ich will für ein Publikum schreiben, das die Cops sowieso schon hasst. Ich […]

versuche, einen Beitrag zur Diskussion zu leisten, warum sie scheiße sind und wie wir aus dieser Situation am besten rausfinden.“ 2

Sean Bonneys Gedichte kämpfen für die Abschaffung der Polizeirealität3. Damit ist nicht die brutale Infrastruktur der Polizeiarbeit im engeren Sinne gemeint, sondern die gesellschaftliche Ordnung, zu deren Erhalt diese bösartige und grobe Institution existiert: eine Ordnung von Geld.

Sanktionen. Usw. Von Siedlungskolonialismus, Kapital und Sklaverei, den 79 königlichen Pissern, die den Blick auf den Himmel versperren. Die acht reichsten Menschen der Welt besitzen zusammen mehr als die ärmsten sechzig Prozent . Dieser Status quo wird durch Polizeigewalt aufrechterhalten: Sie 4 hält die „Habenichtse“ davon ab, sich das zu nehmen, was ihnen fehlt – oder aber gemeinsam die Bedeutung von „haben“ zu verändern. Sean schreibt dazu: Cops erfinden Gefängnisse. Gefängnisse erfinden Städte. Erfinden Epochen.

Das ist wirklich passiert

Die von Cops erfundenen Epochen werden von ideologischen Mystifikationen überlagert. Die Entmenschlichung der Zielscheiben von Polizeiarbeit – Sozialschmarotzer; faule Tote; ihre Herkunft und ihre Problemfamilien – und der Trost, der braven Bürger*innen in bunten Spektakeln gespendet wird – königliche Hochzeiten; Babys, Fahnen, Cupcakes; Celebrity- und Krokodilstränen –, legitimieren und kaschieren sowohl alltägliche, normalisierte Polizeigewalt als auch deren Exzesse (letztere

gelangen manchmal in den Fokus medialer Öffentlichkeit) . Wer in diesem Zusammenhang von 5 einer „Ordnung“ spricht, riskiert dieser Mystifizierung beizutragen. Zwar fasst sie etwas vom strikt regulierten, konformen Charakter einer gesellschaftlichen Realität, in der die Gewalt des Schlagstocks alles an seinem Platz festhält; andererseits blendet diese Darstellung aus, dass die Wahrnehmung einer „geordneten“ Welt von unserer jeweiligen Subjektposition in Bezug auf die Polizei und die von ihr aufrecht erhaltenen Wohlstands- und Machtstrukturen bestimmt wird. Es möge keiner behaupten, es gibt einen Unterschied, zwischen Alptraum und täglicher Routine. Gegen diese finstere […] Harmonie mobilisiert Sean eine andere Wirklichkeit, eine andere Konstellation: das ist wirklich passiert / Normal.

Nadia Idle, Keir Milburn, and Jeremy Gilbert, ‘#ACFM Trip 2: Collective Joy [Podcast]’, Novara Media, 7.

1

Mai 2019, https://novaramedia.com/2019/05/07/acfm-collective-joy/

‘Their Own Pantheon: Sean Bonney Interviewed by Jeffrey Grunthaner’, Their Own Pantheon, BOMB

2

Magazine, 11. Dezember 2019, https://bombmagazine.org/articles/sean-bonney/

Kursiv gesetzte Zitate beziehen sich auf folgende Publikationen von Sean Bonney: Happiness: Poems After

3

Rimbaud (London: Unkant Publishing, 2011); Letters Against the Firmament (London: Enitharmon Press, 2015); Our Death (Oakland, CA: Commune Editions, 2019).

https://www.oxfam.org/en/press-releases/worlds-billionaires-have-more-wealth-46-billion-people

4

Der anti-koloniale Philosoph und Psychiater Frantz Fanon sprach bekanntlich von den „zwei Städten“ der

5

Kolonialherren und der Kolonisierten (Die Verdammten dieser Erde, 1961). Erstere ist sauber, wohlhabend, strahlend weiß; sie ist gegründet auf der ausgebeuteten Arbeit und den Ressourcen der anderen Stadt, der dreckigen,

verarmten, chaotischen und kriminalisierten Kasbah. Sean spricht von einer Stadt, die hauptsächlich unbewohnbare Wüste ist,

(2)

Die Idee, dass es für die Existenz der Institution Polizei harmlose Gründe gibt und nicht nur diejenigen der „Reproduktion und Aufrechterhaltung ökonomischer Ungleichheit, zumeist entlang rassifizierter Strukturen“ , lässt sich mit Blick auf ihre Ursprünge leicht widerlegen. 1829 6 erfand Robert Peel 1000 Bullen, um die Stadt zu umkreisen. Davor hatte Sir Peel das Amt des Chief Secretary to Ireland inne gehabt und damit Großbritanniens ältester weißer Siedlungskolonie vorgestanden. Seine Aufgabe in Irland: die einheimische Bevölkerung – laut der kolonialen Ideologie rassifizierte „Andere“ mit einer „natürliche[n] Vorliebe für Ärgernis und ein gesetzloses Leben“ , wie Peel es ausdrückte – unter Kontrolle zu halten. 7

Das ist nur ein Beispiel für den „kolonialen Boomerang-Effekt“, der beschreibt, wie

Unterdrückungsmethoden oft erst im Wilden Westen des Imperiums entwickelt werden, um „in die imperiale Metropole zurückgebracht zu werden und gegen die Marginalisierten,

Unterworfenen und Subalternen im Inneren zum Einsatz zu kommen“ . 8

Die Auseinandersetzung mit historischen Gegebenheiten ist ebenso wichtig, wenn es darum geht, ein Verständnis dafür zu entwickeln, was es tatsächlich bedeutet, die Polizei abzuschaffen.

Das lenkt unser Augenmerk auf die Tendenz repressiver Institutionen, sich weiterzuentwickeln, ihren offiziellen Tod zu überleben und sich in angepassten gesellschaftlichen

Kontrollmechanismen neu zu formieren. Zum Beispiel die Neuerfindung von Sklaverei als Masseninhaftierung . 1600 gab es noch keine „Polizei“ im heutigen Sinne. Und doch wurde 9 Giordano Bruno auf dem Scheiterhaufen verbrannt, weil er die Kosmologie der Herrschenden in Frage gestellt hatte – seine Zunge festgebunden wegen seiner frevelhaften Worte. Dasselbe Schicksal 10 teilten tausende zu starke Frauen mit zu viel Wissen, die es gewagt hatten, außerhalb der

erstarrenden Form der bürgerlichen Familie zu leben . Das Newgate-Gefängnis als Technologie 11 der Klassenherrschaft wurde errichtet und verbrannt, noch bevor Robert Peel seine tausend Roboter aus der Asche des verbrannten Gemäuers wieder heraufbeschwor.

In Normaler Materie, also in Atomen und Elektronen finden wir die uns umgebende Polizeigewalt vor, die das Normale erst produziert. Genauso finden wir hier aber auch zahlreiche widerständige Energien – alternative Lebensweisen, imaginiert oder gelebt; flüchtige Solidaritäten;

Alex S. Vitale, The End of Policing (London: Verso, 2017), 108.

6

Tanzil Chowdhury, „From the Colony to the Metropole: Race, Policing and the Colonial Boomerang“, in

7

Abolishing the Police, hrsg. v. Koshka Duff (London: Dog Section Press, 2021), 88.

Connor Woodman, „The Imperial Boomerang: How Colonial Methods of Repression Migrate Back to the

8

Metropolis“, Verso, 22. Juli 2019, https://www.versobooks.com/blogs/4383-the-imperial-boomerang-how-colonial- methods-of-repression-migrate-back-to-the-metropolis

Michelle Alexander, The New Jim Crow: Mass Incarceration in the Age of Colorblindness (New York: The New

9

Press, 2011).

Wie Charlotte Thießen es im Ausstellungstext der Gedichte an der Klosterruine, Berlin, zusammenfasst:

10

„Bonney spricht hier durch den italienischen Philosophen, Mathematiker und Dichter Giordano Bruno, der am 17.

Februar 1600 auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Bruno war nicht zuletzt Anhänger der kopernikanischen Theorie, weil er darin den Beweis einer ewigen Bewegung der Formen sah, aus der sich auch die Vergänglichkeit einer jeden Ordnung ableiten ließ. Angesichts einer momentanen Niederlage ist es die Aufgabe militanter Lyrik, die Bruchteile revolutionären Begehrens zu sammeln, wie es Bonney hier in einer abolitionistischen Alchemie in der Sprache Brunos tut: für Wasser sag Pest, d.h. die Sprache von Richtern, der unendliche Vokal, / für Wasser sag Feuer, d.h. Pulsare und Reizgas [etc.]”.

Silvia Federici, Caliban and the Witch: Women, the Body, and Primitive Accumulation (New York: Autonomedia,

11

2004).

(3)

Kollaborationsverweigerung. Lebensweisen, die von den offiziellen Narrativen dämonisiert und ausgelöscht werden. Seans Lyrik protokolliert diese lange Geschichte von Herrschaft und Widerstand.

Care statt Käfig

Die Funktion der Polizei ist es im Wesentlichen, Gewalt anzuwenden und anzudrohen, um die Bevölkerung in Schach zu halten. Soziale Hierarchien und Normen sind durchzusetzen, nicht- konformes Verhalten wird bestraft. Das kann direkt über staatliche Institutionen geschehen (Polizei, Strafvollzug, Grenzschutz, Militär, Geheimdienst) oder ausgegliedert über private

„Sicherheitsdienste“ (Gerichtsvollzieher*innen, privatisierte Überwachungsapparate, G4S, Serco usw.). Auch die allgemeine Öffentlichkeit darf Polizeiarbeit leisten: Die britischen Hostile-

Environment-Maßnahmen verpflichten u.a. Beschäftigte im Gesundheits- und Bildungssektor sowie Arbeitgeber*innen und Vermieter*innen dazu, Dokumente und Aufenthaltsorte

vermeintlicher „Ausländer*innen“ zu überprüfen und damit als Grenzpolizei zu agieren : Musik 12 des Gesetzes — wir sind die Lieder, die sie spielen — Mittäterschaft / wir Zähne des Imperiums.

Eine abolitionistische Perspektive stellt folgende Frage: Wie kann eine Gesellschaft aussehen, die zu ihrer Aufrechterhaltung nicht dieses Maß an Gewalt benötigt? Wie Sarah Lamble schreibt,

lässt sich die Polizei nicht einfach so beseitigen – wir müssen die Verhältnisse angehen, die den Menschen das Gefühl vermitteln, die Polizei sei die einzige oder beste Option, wenn ihnen etwas zustößt. [… Das] erfordert von uns, Strategien zu finden, die Strukturen, Institutionen und Systeme abzubauen, auf denen Gefängnisse und Polizei fußen und sie immer weiter nähren. Gleichzeitig müssen wir Systeme der gegenseitigen Fürsorge, des Wohlergehens und der Unterstützung aufbauen, damit menschliche Bedürfnisse erfüllt werden können und gemeinsam ein gutes Leben möglich wird. 13 Dieser Wandel vom Käfig zu Care und Community, wie er von Abolitionist*innen vertreten und praktiziert wird, kann der Beginn eines Gegenlichts, das uns sehen lässt, sein.

Aber der Weg, auf den dieses Licht fällt, ist kein einfacher. Die stratifizierenden und

normalisierenden Funktionen der Polizeiarbeit wirken auch in die Sozialarbeit, psychiatrische Institutionen, das „Sozialleistungssystem“ und patriarchale Familienformen hinein, und das nicht zuletzt unter dem Vorwand der „Sorge“ . Dass auch Konzepte von Community keine 14

unschuldigen sind, wird im Phänomen der gegenseitigen Überwachung im Alltag deutlich. Oft arbeitet diese stillschweigend mit formalisierten Überwachungsformen zusammen und repliziert ihren Bestrafungscharakter. Er war ein totaler Freak / die ganze Nacht / Normalisierung. Auch da, wo bestimmte Abweichungen von gemeinschaftlichen Normen nicht illegal sind, wird eine solche Jedermannspolizei als Verfechterin des „Normalen“ und „Respektablen“ in der Regel das Gesetz auf ihrer Seite haben. [M]onströse Wucherung / der Haltung der Vernunft.

Arianne Shahvisi, „We Are All Police Now: Resisting Everyday Bordering and the Hostile Environment“,

12

in Abolishing the Police, hrsg. v. Koshka Duff (London: Dog Section Press, 2021), 39–51.

„Practising Everyday Abolition“, in Abolishing the Police, hrsg. v. Koshka Duff (London: Dog Section Press,

13

2021), 148.

Anne Boyer: „Wie sich zeigt / hat der Staat kein Monopol auf Gewalt / nur eine stillschweigende

14

Partnerschaft / mit der Familie“ MONEY CITY SICK AS FUCK (London: Materials, 2019), 25. Vgl. z. B. Saidiya Hartman, Wayward Lives, Beautiful Experiments: Intimate Histories of Social Upheaval (London: 2019, Serpents Tail); Loic Wacquant, Punishing the Poor: The Neoliberal Government of Social Insecurity (Durham, NC: Duke University Press, 2009);

Shatema Threadcraft, „Intimate Injustice, Political Obligation, and the Dark Ghetto“, Signs 39, Nr. 3 (2014): 735–60.

Und natürlich, stets relevant, Michel Foucault, Discipline and Punish: The Birth of the Prison, übers. v. Alan Sheridan, 2.

(4)

Das bedeutet Polizei. Winzige verschluckte Silben blockieren was auch immer von unseren Erinnerungen übrig ist. Überall Sirenen. Kollektive Erinnerung ist unsere Abwehr gegen den ständigen Form- und Imagewandel der Polizei.

Kollektiver Rausch

„Fidele Freund*innen, jetzt fängt unser Spaß erst richtig an“, schrieb das Problemkid Arthur Rimbaud zur Pariser Kommune. Er beschrieb die Kommune als eine Form der Verbindung, ein Experiment im Zusammensein und im Fühlen, die die Verewigung des Augenblicks rechtfertigte, sogar – und insbesondere – nach der Massakrierung besagter Freund*innen durch staatliche Gewalt. Vielleicht ist es kein Zufall, dass momentan die Diskussionen über die Abschaffung der Polizei und Ideen von kollektivem Rausch einen gemeinsamen Höhenflug erleben. Diese Form der Freude ist Ekstase und Acid und kostenlose Partys, bedroht durchs neueste Strafgesetz und die abgeschmackte Selbstverbrennung, die Britpop heißt. Kollektiver Rausch findet sich in der

„schöpferischen Verbindung mit vielen anderen Menschen, Ideen“, die sich bei einer Demonstration, in Gesprächen mit Freund*innen oder zufälligen Begegnungen mit dem Unerwarteten einstellen kann („mein Herz fühltʼs sicher, die Fremden im Schatten sind

Brüder“ ). Sean kämpfte um einen Horizont kollektiven Rausches für alle, eines Glücks, das die 15 flüchtige, unwahrscheinliche Harmonie beschreibt, deren Realität er nicht aufgeben wollte.

Die Verfasser*innen revolutionärer Pamphlete des 17. Jahrhunderts verstanden ihr Schreiben als Pfeile gegen alle Tyrann*innen und die Tyrannei, apokalyptische Heimsuchungen, die allen Bewohner*innen der Erde die frohe Botschaft der bevorstehenden Abschaffung des Privatbesitzes überbrachten. Besonders den Reichen16. Sie „betrachteten Druckwerke nicht als bloßen Zusatz zur mündlichen Rede, das dem gesprochenen Wort ein ‚Nachleben‘ gab […], sondern als eigenen Sprechakt: Predigt oder Prophezeiung, Beschwerde oder Anstiftung“ . Ähnlich handelt es sich bei Seans Texten nicht 17 einfach um Texte über Politik. Ihr Ziel ist nicht einfach, mögliche politische Positionen oder Handlungen zu empfehlen oder zu beschreiben, beispielsweise die Abschaffung der Polizei.

Seine Texte sind Sprechen als politische Aktion.

In diesem Sinne richten sich die hier abgedruckten Gedichte auch nicht an Zuschauer*innen – die artig auf ihren Plätzen sitzen und zuhören. Die Worte werden dann lebendig, wenn sie einer lärmenden, unsteten Menschenmenge zugerufen werden, die antwortet. In seiner Erklärung der

„allgemein vernehmbaren Unruhe, die eine revolutionäre oder kreative Epoche markiert“, schreibt der Soziologe Émile Durkheim über die Figur des Redners: „Die leidenschaftlichen Energien, die er [sic] freisetzt, erzeugen ein erneutes Echo auch in ihm selbst, was seine Dynamik weiter verstärkt. Er hört auf, sprechendes Individuum zu sein und wird zur

fleischgewordenen Personifikation einer Gruppe.“ Durkheims Vorstellung ist, dass die Kraft 18 der Wörter dem Kollektiv entspringt, nicht etwa dem Göttlichen oder dem Dämonischen zugeschrieben werden kann. Rede kann so nur als Teil eines gemeinsamen Projekts fungieren.

Arthur Rimbaud, „What’s It to Us, My Heart? (1872)“, übers. v. Simon Bull (London: im Bloomsbury

15

Social Centre verteiltes Pamphlet, 2011).

Aus Pamphlettiteln des Levellers Richard Overton und des Ranters Abiezer Coppe.

16

Helen Lynch, Milton and the Politics of Public Speech (Farnham: Ashgate, 2015), 11.

17

Émile Durkheim, The Elementary Forms of Religious Life, übers. v. Karen E. Fields (London: The Free Press,

18

1995), 212–13.

(5)

Seans Lyrik hat ganze Streikpostenketten elektrisiert. Während wir uns im Schnee um launische Soundsysteme zusammendrängten, mit Schildern, auf denen „JUSTICEFOR

CLEANERS“ (GERECHTIGKEITDENREINIGUNGSKRÄFTEN) stand, und Bannern mit „FREE

EDUCATION HERE & NOW (RRP £9,000)“ (KEINESTUDIENGEBÜHRENJETZT! (UPE £9,000)), begann die Menge immer wieder spontan den eindringlichen Refrain say fuck the police zu singen, wie bei einem Punklied. Seans Texte sind ein kollektives Zusammenkommen, wobei immer das Potenzial von freudigem Chaos oder chaotischer Freude besteht. Genau das soll Polizeiarbeit eindämmen – über Einkesselung, Verhaftung, Freiheitsentzug – und zerstreuen – mit Schlagstöcken, über die Trennung in isolierte und kontrollierbare Einheiten, über Demobilisierung und

Datenbanken, Infiltrierung und paranoide Zusammenbrüche . 19

Wie die von ihm gefeierten radikalen Traditionen – angefangen bei den Ranters der 1640er, die freie Liebe praktizierten, bis zu (genießt den Sprung) den illegalen Raver*innen der 1990er – finden Seans Worte ihre größte Energie in Momenten der Auseinandersetzung und im kollektiven Ausdruck, der sich über seinen legalen Status keine Gedanken macht.

Kein Mensch ist Müll

Ein etwas banaleres kulturelles Phänomen der 1990er stellten die mit POLITE NOTICE (Höflicher Hinweis) überschriebenen Hinweissticker dar, die damals in Taxis klebten. Als Kind habe ich das wiederholt als POLICE NOTICE (Polizeihinweis) gelesen und mich gefragt, was die Polizei wohl tun würde, wenn sie mich dabei ertappten, wie ich unangeschnallt im Auto sitze. Ich bin mir sicher, dass das von den Verantwortlichen beabsichtigt war, und tatsächlich besteht eine

Verbindung zwischen den Konzepten: Die Vorstellung von politesse – also von Sittlichkeit gemäß bürgerlichen Konventionen – und der moderne, bürokratische Polizeistaat entstanden zeitgleich . 20 Eine explizite und primäre Funktion des letzteren bestand darin, politesse als Verhaltensform auch widerständigen Elementen aufzuzwingen. Arbeiterklassenmilieus, deren ausschweifenden

Freizeitbeschäftigungen und gefährlichen Tendenzen zur gewerkschaftlichen Organisation ausgerottet werden sollten, bekämpften die neuen Ordnungskräfte als „blaue

Heuschreckenplage“21.

Seans Gedichte inszenieren und vergegenwärtigen Formen von Liebe und Sorge, die in der Polizeirealität (fast) unmöglich sind. Nett kommen die Verse allerdings nicht daher. Ich bin kein Garten, schreibt er. Hier gibt’s keine Orchideen. Schon gar nicht sind sie höflich: der Rest des Briefes / ist zurückgekommen, / er ist anstößig und unangebracht. Sorgearbeit verrichtet man nicht mit

Seidenhandschuhen: Entgegen jedem Imperativ zu Ehrbarkeit steht er auf der Seite der

gesellschaftlich Verachteten – der Perversen, der Drogendealer*innen, der verfickt nochmal Untröstlichen.

Aus diesem Grund vermute ich fast, dass die Gedichte von Sean, auch wenn er zweifellos ein abolitionistischer Dichter ist, manch anderen Abolitionist*innen missfallen könnten. Jetzt, da radikale Polizeikritik zunehmend in der Wissenschaft, in NGOs, im Social-Media-Mainstream und in der Mittelklasse angesagt ist, besteht die nachvollziehbare Tendenz, einen gut

verdaulichen Abolitionismus zu entwickeln, der die in diesen Räumen herrschenden Protokolle

Siehe z.B. Connor Woodman, Spycops in Context (2): Counter-Subversion, Deep Dissent, and the Logic of Political

19

Policing (London: Centre for Crime and Justice Studies, 2018). Verfügbar auf: https://www.crimeandjustice.org.uk/

publications/spycops-in-context

Siehe z. B. Michel Foucault, History of Madness, übers. v. Jean Khalfa (London: Routledge, 2009).

20

Erstveröffentlichung 1961 unter dem Titel Folie et Déraison: Histoire de la Folie à l'âge Classique.

Robert D. Storch, „The Plague of the Blue Locusts: Police Reform and Popular Resistance in Northern

21

(6)

und Sensibilitäten nicht bedroht. Die Causa Abolitionismus einem Publikum zugänglich zu machen, das nicht schon von vornherein „Cops hasst“, kann helfen, Aspekte wie Sorge, Pflege, lokale Bindungen, Schadensminderung und Anti-Gewalt-Programme als Gegenpol zur Gewalt des Strafjustizsystems zu betonen. Infografiken mit Teekannen, die abbilden, wie sich

Polizeibudgets zugunsten von Bildung, Wohnen und psychotherapeutischen Programmen umverteilen lassen, können wichtige Diskussionen darüber einleiten, was Menschen wirklich brauchen, um gut leben zu können. Im Kontext einer abolitionistischen Konferenz, bei der die Safer Spaces-Richtlinien länger sind als der Keynote-Vortrag, würden Zeilen wie folgende dann womöglich eher unpassend erscheinen: die Zeit neu erfinden. Gewalt neu erfinden. dann / ok, auf diese Pisser losgehen wie die Furien; […] unsere sexuelle Forschung wir / scheißen in eure Gedärme / hallo.

Sieg den Sozialschmarotzer*innen!

Wie verlockend das alles auch sein mag: Eine abolitionistische Politik, die vollkommen auf Konfrontation oder Militanz verzichtet, wird nicht weit kommen . So schrieb Sean schon 22

unmittelbar nach den Anti-Polizei-Aufständen von 2011: Unter solch extremen Bedingungen verhält sich Wasserstoff wie flüssiges Metall, das Elektrizität und Hitze weiterleitet. Wenn nichts davon passiert, ist es eine Zeitverschwendung. Du meinst vielleicht, das hat nichts mit dir zu tun. Klar, es kann gute Gründe dafür geben, warum du dich nicht inmitten eines Krawalls wiederfinden magst. Aber die Frage, wer die Risiken von Militanz auf sich nimmt, wer den „Zorn der Gesetzgeber*innen“ auf sich nimmt (wie es ein Journalist, der sich an der philippinischen First Quarter Storm-Bewegung aktiv beteiligte, ausdrückt) , bleibt eine politische Frage. Sean hatte den Mut, das Risiko nicht auf 23 andere abzuwälzen, und seine Anerkennung galt Autor*innen, die es ebenso handhabten. Diane DiPrima half Wehrdienstverweigerern über die Grenze nach Kanada. Amiri Baraka wurde für seine Rolle bei den Rebellionen in Newark von 1967 strafrechtlich verfolgt. John Milton beteiligte sich an einem Königsmord.

Seans „Pantheon“ ist sich darüber im Klaren, wie leicht das Schreiben und besonders die Dichtung selbstgefällige Ersatzhandlung für Aktion werden können. An die griechische anarchistische Dichterin Katerina Gogou denkend, schreibt Sean: die Cops zucken, elende Schatten […] Äonen entfernt von der Musik, die sie definiert, Musik, die sie noch nie hören konnten, während wir sie so sehr geliebt haben, dass sie unser Leben in unzählige Scherben zersplittert hat. Das Risiko, dein Leben in unzählige Scherben zerbersten zu sehen, ist es wert. Das heißt nicht, dass jede*r seine*ihre abolitionistische Politik auf genau die gleiche Weise wie Sean ausleben muss. Als libertärer Kommunist hatte er großen Respekt für eine Heterogenität an Taktiken, und weder er noch ich haben vor, Teekannen zu verbieten. Und dennoch, seine Arbeit hinterfragt zurecht die

Vorstellung, man könne für die Abschaffung der Polizeirealität kämpfen und gleichzeitig ein angenehmes, normales Leben führen, ohne jemals irgendwo anzuecken oder Ärger zu bekommen. Poesie, warum / Kommt von „machen“ / Heißt, „Mach es“.

Darüber hinaus existiert die Möglichkeit, sich von den Verrufenen abzugrenzen, nur für diejenigen, deren

22

Überleben nicht als Affront gegen (ableistische, rassistische, stratifizierende, heteronormative, neurotypische usw.) Anständigkeit betrachtet wird. Siehe z. B. Adam Elliott-Cooper, „‚Our Life Is a Struggle‘: Respectable Gender Norms and Black Resistance to Policing“, Antipode: A Radical Journal of Geography 51, Nr. 2 (2019): 539–57; Vanessa E. Thompson, „Beyond Policing, For A Politics of Breathing“, in Abolishing the Police, hrsg. v. Koshka Duff (London: Dog Section Press, 2021), 179–92.

Jose F. Lacaba, „The January 26 Confrontation: A Highly Personal Account“, in Days of Disquiet, Nights of

23

Rage: The First Quarter Storm & Related Events, überarbeitete Auflage (Manila: Anvil Publishing, 2017), 47.

Referenzen

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