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Systemische und lösungsorientierte Beratung kompakt

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Academic year: 2022

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Systemische und lösungsorientierte Beratung kompakt

Grundlagen und Methoden wirksamer Kommunikation

Seminar 5

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2 Genogrammarbeit

v Konstellationen und Muster

Ø Kernfamilien, Patchworkfamilien, Ein-Eltern-Familien, Kinderlose, Alleinstehende Ø Geschwisterreihen und –konstellationen

Ø Paar- und Elternbeziehungen

Ø Loyalitäten: geschlossene oder offene Systeme

v Biografische Muster, Lebenszyklen Ø Berufsbiografien (auch der Frauen) Ø Übergänge, Ablösungen

v Netzwerke, Einbindungen Ø Religion, Kirche

Ø Politik, Parteien Ø Sport

Ø Nachbarschaften, Gemeinschaften

v Ressourcen

Ø Fähigkeiten, Stärken, Talente Ø Lebensträume, Werte

Ø Bewältigungsfähigkeiten von Krisen

v Bewältigung von Krisen, Traumata, einschneidenden Lebensereignissen Ø Krieg, Vertreibung, Migration

Ø Verlust von Arbeitsplatz, ökonomischer Grundlage Ø Gewaltübergriffe

Ø Krankheiten, Tode, Abschiede

v Tabus, Familiengeheimnisse Ø Liebschaften

Ø Fehlgeburten, Abtreibungen Ø Familienzweige, -angehörige

v Mythen, Themen, Sprüche, Lebensweisheiten

v Generationsübergreifende, repetitive Muster und Themen

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3 Der unbewusste Lebensplan oder das Skript

Die Transaktionsanalyse, eine psychologische Schule aus den USA, geht davon aus, dass wir viele Entscheidungen nach einem unbewussten Lebensplan fällen, der in unserer Kindheit unter dem Einfluss der elterlichen Erziehung entstanden ist. Für ein kleines Kind sind elterliche Gebote, Verbote, Prinzipien und Regeln absolut, da es bis zum sechsten oder siebten Altersjahr wegen seines noch nicht stark genug entwickelten Denk- und Erkenntnisvermögens keine Möglichkeit hat, diese Prinzipien zu bewerten und sich bewusst damit auseinander zu setzen. Und auch wenn Kinder sich wehren, trotzig sind, so verinnerlichen Sie doch viele dieser Gebote und Regeln, da sie existentiell bedeutsam sind.

Noch als Erwachsene - auch im reifen Alter - befolgen wir unbewusst viele dieser elterlichen

Botschaften. Zum Teil wirken sie unterstützend, vor allem die wohlwollenden Botschaften unserer Eltern (zum Beispiel: „Du schaffst das schon“ "Aus Fehlern wird man klug, drum ist einer nicht genug").

Andere wirken einengend und belastend, vor allem diejenigen aus der kritischen Seite unserer Bezugspersonen (zum Beispiel: „Aus Dir wird nie was“ "Vögel, die morgens singen, holt abends die Katz").

Ein Ziel der Skriptanalyse ist es, sich belastender und einengender Normen, Regeln usw. bewusst zu werden, diese Eltern-Botschaften mit Hilfe des Erwachsenen-Ich kritisch dahin zu überprüfen, ob sie angesichts der Realitäten und der jeweiligen Situation überhaupt sinnvoll sind, und sich, wo nötig, von ihnen zu befreien. Nicht mehr blinder Gehorsam oder rebellischer Trotz gegenüber diesen überlieferten Regeln sollten unser Leben bestimmen, sondern die differenzierte Sicht, wann und wozu sie gut sind (oder waren) und in welchen Situationen und Kontexten sie behindern und wir uns besser andere Leitlinien geben.

Typische Leitsätze

und die Fragen, durch die wir sie erschließen können

• Welches waren die Erwartungen und Ängste der Eltern mir gegenüber?

(„Werde nicht wie Onkel Max!“)

• Welche Lebensregeln sind häufig wiederholt worden?

(„Erst die Arbeit, dann das Vergnügen!“)

• Welche direkten Verhaltensanweisungen habe ich mir zu Herzen genommen?

(„Sei nicht so ehrgeizig!“)

• Welchen Verwünschungen und Glückwünschen habe ich geglaubt?

(„Aus dir wird nie etwas Rechtes!“)

• Welche geheimen Delegationen habe ich erfüllt?

(„Werde du, was ich nicht konnte, z.B. Vorgesetzter“)

• Welche Etiketten habe ich akzeptiert?

(„Du bist und bleibst unordentlich!“)

(4)

4 Die Antreiber

(Transaktionsanalyse nach E. Berne)

Grundüberzeugungen, die uns bewußt leiten, können uns fördern, aber auch hemmen. Wenn wir in Streß sind, geben wir häufig spontan diesem Druck der verinnerlichten Antreiber nach, in der Hoffnung, daß sie uns nützlich sind. Wenn die Antreiber dann nicht hinterfragt werden, können sie auch einen partnerschaftlichen Kontakt zu meinem Gegenüber verhindern.

Sei stark! A lässt sich nicht anmerken, was wirklich in ihm vorgeht und dass er sich womöglich schwach bzw. überfordert fühlt oder sich in der Situation ausgenutzt fühlt.

Erlaubnisse: Ich kann stark sein und gleichzeitig Bedürfnisse haben!

Ich darf meinen Gefühlen trauen und mich von ihnen leiten lassen!

Ich brauche niemanden zu beeindrucken, um gemocht zu werden!

Streng dich an! B rackert sich für eine Lösung der Situation ab, indem sie ständig Rat- und Vorschläge anbringt und sich dabei immer mehr verspannt. B fühlt sich sehr verantwortlich und müht sich ab.

Erlaubnisse: Ich darf mich für das Erreichte freuen und mich ausruhen!

Ich lasse mir selber auch mal helfen!

Beeil dich! C fängt an, schneller und intensiver zu arbeiten, noch mehr Aufgaben in kürzerer bzw. derselben Zeit bewältigen zu wollen.

Erlaubnisse: Ich darf mir Zeit nehmen und es dann auf meine Art tun!

Ich brauche anderen nicht vorauszueilen, um beachtet zu werden!

Mache es mir / allen recht!

D versucht die Wünsche und Erwartungen der anderen zu erahnen und zu erfüllen, damit diese sich wohl fühlen.

Erlaubnisse: Ich darf mich wichtig nehmen und herausfinden, was ich selbst will!

Ich darf nachdenken, bevor ich es auf meine Art tue!

Sei perfekt! E versucht in allen Dingen und Aufgaben perfekt zu sein und ist häufig mit dem eigenen Ergebnis unzufrieden. E achtet sehr darauf, ob und wie die anderen zufrieden sind und nimmt eher die eigenen Mängel wahr.

Erlaubnisse: Ich darf Fehler machen, ohne mich unzulänglich zu fühlen und kann daraus lernen!

Ich darf mich so zeigen, wie ich bin, und meinen eigenen Stil entwickeln!!

(5)

5 Ressourcenkarussell

1. Welche Bilder oder Metaphern fallen Dir als Vergleich ein, wenn es in der Arbeit so richtig gut

"läuft"?

2. Woran genau merkst Du bei Dir, wenn es gut läuft (Haltung, Atmung, Gefühl, …)?

3. Wenn Du Dich an eine befriedigende Arbeitsssituation erinnerst, welche Qualitäten und Fähigkeiten konntest Du da anwenden. (wann, wo, bei wem …)

4. Angenommen, ein guter Freund / eine gute Freundin hätte Dir bei der Arbeit in der letzten Zeit unbemerkt zugeschaut, worüber könnte er / sie vermutlich herzhaft lachen oder schmunzeln?

5. Angenommen, Du würdest anlässlich Deiner Pensionierung ein Fest veranstalten und jemand würde für Dich eine Ehrenrede in Würdigung Deiner Verdienste halten, welche Qualitäten würde sie benennen, wenn sie auf Dein Beraterleben zurückschaut?

6. Denke an einen der etwas schwieriger verlaufenden Arbeitsprozesse: Wenn Du daraus einen Comic-Film machen würdest: wie hieße der Titel, welche Rollen würden vorkommen, wie würde die Schlüsselszene aussehen?

7. Wenn eines oder mehrere Deiner Vorbilder, Leitbilder oder "inneren Führer" Dir bei einer gelungenen Arbeit zugesehen hätte, welche wertschätzenden Äußerungen würden sie machen?

8. Angenommen, ein Zaubertrick in diesem Seminar würde bewirken, dass Du morgen plötzlich über eine für die Arbeit Qualität verfügst, die Du Dir wünschst, woran könnten andere und ich diese Veränderung merken?

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6 Netzwerkdimensionen

Inhalt

Welcher Art sind meine sozialen Beziehungen vorrangig?

Freundschaft, Kollegialität, Familie?

In welchen Lebenslagen sind sie mehr, wann weniger tragfähiger?

Dichte

Wie viele Kontakte gibt es in meinem Netzwerk?

Erreichbarkeit

Wie schnell erreiche ich bei Bedarf einen Ansprechpartner?

Passung

Kann mein augenblickliches Netzwerk für mein aktuelles Problem Unterstützung bieten? Oder müsste ich andere Netzwerke aufsuchen / aufbauen?

Wechselseitigkeit

Gibt es in den Beziehungen in meinem Netzwerk eine Balance von Geben und Nehmen?

Haltbarkeit

Halten die Beziehungen auch Rüttelstrecken und Krisen aus?

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7

Vom Nutzen familienbiographischer Aufarbeitung der Geschichte für die Sozialarbeit

Dr. Margarete Hecker

Im Nachdenken, was der Nutzen der Aufarbeitung der Familiengeschichte in der Sozialarbeit sein könnte, sind mir spontan zwei Problemkreise als Beispiele eingefallen.

Das eine habe ich von einer ehemaligen Studentin unserer Evangelischen Fachhochschule Darmstadt erfahren. Sie hat bei uns die dreijährige Weiterbildung in Sozialtherapie, Fachrichtung Familientherapie absolviert. Inzwischen promoviert sie in Neuseeland im Fernstudium über ein Thema aus der

Reproduktionsmedizin. (Hier bekäme sie mit einem Sozialarbeiterabschluß leider keinen

Promotionszugang zu einer deutschen Universität.) Es geht in diesem Beispiel um einen Mann, der — weil sein Vater als Verwundeter des 2. Weltkrieges nicht zeugungsfähig war — aus einer Samenspende geboren worden war, als dies rechtlich noch nicht erlaubt war. Dies ereignete sich in den 60er Jahren in London. Es war zwischen Eltern und Ärzten strengste Geheimhaltung geboten. Als der junge Mann heranwuchs, wunderte er sich über das Verhalten seines Vaters. Er hatte immer das Gefühl, jemand anders lebe noch mit in der Familie. Bei Spaziergängen ging sein Vater immer hinter ihm und seiner Mutter. Er hat durch eifriges Nachforschen die Wahrheit über seine Herkunft erfahren, hat auch einen Halbbruder aus der gleichen Samenspende gefunden, aber die große Frage, wer ist mein biologischer Vater? Blieb letztlich ungeklärt, weil die Ärzte zur Zeit seiner Nachforschungen bereits tot waren.

Wir wissen auch von unzähligen Pflege- und Adoptivkindern, wie wichtig ihnen das Recht auf Wissen um ihre Abstammung ist, und wie viel dies für ihre Identitätsbildung bedeutet, ohne dass wir die soziale Elternschaft damit entwerten wollen. Ganz im Gegenteil. Das Wissen aus der familientherapeutisch- biographischen Erfahrung hat hier wesentliche Veränderungen gebracht. In meiner

Sozialarbeiterausbildung in den 50er Jahren hat man noch streng am Konzept der lnkognito-Adoption festgehalten, während man heute hilft, größtmögliche Klarheit über die Herkunft zu erlangen. Auch das Nachdenken über die Kinder, die aus Samenspenden geboren wurden, geht international in diese Richtung.

Der zweite Problemkreis betrifft die Erfahrungen aus Familienrekonstruktionen als Teil der Sozial- und Familientherapeutischen Weiterbildung. Ich bin in diesem Zusammenhang beim Explorieren der Genogramme unserer Kursteilnehmer häufig auf das Phänomen gestoßen, dass es merkwürdige Häufungen von Unfällen, Krankheiten oder unerklärlichen Schuldgefühlen gibt, woraufhin Familienmitglieder sich sehr schwere Aufgaben auf den Buckel laden. Schwierige Aufgaben und Problemfelder gibt es ja in der Sozialarbeit genug. Bei weiterem vorsichtigen Nachfragen hat es dann sehr häufig einen unaufgeklärten Zusammenhang mit einem Vater oder Großvater als Teilnehmer des 2. Weltkrieges gegeben, der in die unzähligen später verschwiegenen und verdrängten Unrechts- bis hin zu Gräueltaten des 3. Reiches verstrickt waren. Ohne, dass die Kinder oder Enkel direkt davon erfahren haben, spüren sie, dass sie etwas zu Tragen haben, was ihnen selber gar nicht gehört, was sie nicht verursacht haben. Als ob sie eine Familienschuld wieder gutmachen müssten. Wir werden an das Wort in der Bibel über ,,die Sünden der Väter“ erinnert.

Als ich in den 70er Jahren, angeregt durch amerikanische und holländische Trainer, in die

systemtheoretische und systemtherapeutische Arbeit und Denkweise hineinwuchs, war man noch der Meinung, dass familiäre Probleme aus dem — wie es immer hieß —Hier und Jetzt gelöst werden

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8 könnten. Ich höre noch meinen wegen seiner großen Verdienste um die Armutsfamilien hoch

geschätzten Lehrer Salvador Minuchin in seinem argentinischspanischen Englisch sagen: ,,Don‘t comes with past history!“ Er hat sehr viel aus der genauen Beobachtung der Struktur und der Hierarchie der familiären Dynamik abgeleitet. Die Feministinnen unter seinen Mitarbeiterinnen haben dann damit begonnen, das Phänomen des sexuellen Missbrauchs zu erforschen, und sie haben herausgefunden, dass das strikte Festhalten am Hier und Jetzt zu kurz greift. Es gibt traumatische Geheimnisse, die sich erst durch die Exploration der Geschichte erschließen. Ebenso gibt es in den deutschen

Nachkriegsfamilien in der 2. und 3. Generation Erfahrungen, die nur durch ein genaues Verständnis der Familiengeschichte zu begreifen sind.

Als ich 1979/1980 das Glück hatte, ein akademisches Jahr in der Klinik bei Minuchin arbeiten zu dürfen, traf ich auch Barbara Krasner aus dem Team von Ivan Boszormenyi-Nagy, einem aus Ungarn stammenden Psychiater, der die Schule der kontextuellen Familientherapie begründet hat. (Damals sprach man von der Versäulung der familientherapeutischen Schulen: Minuchin als Begründer der Strukturellen Schule, Haley und Cloe Madanes die Strategische Schule und eben Nagy die Kontextuelle Schule.) Boszormenyi-Nagy war davon überzeugt, dass man eine Familie, ihre Loyalitäten und ihre Vermächtnisse auf die nächsten Generationen nur aus ihrer Geschichte und ihrem ethischen Kontext verstehen könne. Barbara Krasner war die Jüdin in seinem Team. Sie hatte sehr tiefe Erfahrungen mit Uberlebenden des Holocaustes gemacht und hat die Auswirkungen, was es heißt, überlebt zu haben, auf die 2. und 3. Generation therapeutisch begleitet und bearbeitet. Barbara hat damals sehr eindringlich mit mir gesprochen und mich ermutigt, ,,Margaret, Eure Nazifamilien und ihre Kinder brauchen für ihre Identität und für ihr Weiterleben genau so Hilfe, wie die Familien der Opfer, geh zurück nach Deutschland und kümmere Dich um die Aufarbeitung der Geschichte!“

Meine Kollegen an der Fachhochschule in Darmstadt waren von solchen Ideen, als ich 1980 aus Philadelphia zurückkam, nicht gerade begeistert. Sie fanden diese Arbeit zu zeitaufwendig, so tief in die Leidensgeschichte einer Familie einzutauchen. Der familienbiographische Ansatz wurde abgewertet.

Man hat es mir aber zugestanden, in den Kursen auch Familienrekonstruktionen zu zeigen. In Auswertungen über den Gewinn des Lernerfolgs wurde sehr häufig die Aufarbeitung der

Familiengeschichte als wichtigster Anteil her vorgehoben. Und so bin ich recht froh darüber, dass auch nach meinem Ausscheiden aus der Lehre vor 7 Jahren immer 3 bis 4 Teams dieses Thema im

Weiterbildungskonzept anbieten. Aus dem Curriculum der Sozial- und Familientherapie ist dieser Anteil, sich als Teil der eigenen Herkunftsfamilie zu begreifen, nicht mehr wegzudenken. Sehr oft höre ich, ich kann danach vorurteilsfreier, ohne Beschuldigungen und Entwertungen nach familiengeschichtlichen Zusammenhängen fragen. Ich bin mutiger und konfrontativer geworden ohne Angst, das Vertrauen der Familie zu verlieren. Natürlich sind nicht alle Familiengeschichten in Deutschland von den

Geschehnissen des 2. Weltkrieges geprägt worden, aber doch überdurchschnittlich viele führen zurück auf Erlebnisse an der Front, in der Gefangenschaft, während des Treks auf der Flucht oder in die Bombennächte der Großstädte. Und dieses Phänomen trifft Ost- und Westdeutschland gleichermaßen.

Beim Verfolgen der Familiengeschichten von Sozialarbeitern (und dies gilbt sicher auch für Angehörige anderer helfender Berufe wie z.B. für Ärzte und Theologen) drängt sich einem auf, dass die

Ermnnerungsbilder aus dem 2. Weltkrieg so grauenhaft waren, dass sie, um weiterleben zu können, verdrängt werden mussten. Ich meine damit Bilder, über lange Zeit gewaltsamen Tod, gewaltsames Sterben miterleben zu müssen. Einzelne aus den nachfolgenden Generationen nehmen den Faden der Erinnerung wieder auf, sie verfolgen die Geschichte zurück, sie entdecken die intensiven Gefühle, die damit verbunden sind und kleiden sie in Worte. Sie können allmählich die Angst und die Scham überwinden. Wir begegnen hier psychischen Traumata, die — so glauben wir — in der Familie weiterleben, bis das begangene oder erlittene Unrecht zu Sprache gekommen und gewürdigt worden

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9 ist. Wir haben inzwischen gelernt, dass traumatische Ereignisse die normalen Anpassungsmechanismen des Menschen überfordern, wir kennen seither die psychiatrische Diagnose : posttraumatisches Stress- Syndrom. Judith Herrman berichtet in ihrem Buch: Narben der Gewalt (deutsche Übersetzung von 1993) von amerikanischen Untersuchungen über das Leben von Vietnamveteranen einerseits sowie von Frauen, die in ihrer Kindheit und Jugend Inzestopfer wurden. Bei beiden Gruppen konnte man das posttraumatische Stress-Syndrom feststellen.

Es ist schwere, mühsame seelische Arbeit, traumatische Erfahrungen in das eigene Leben danach zu integrieren. Oft erleben wir eine eigenartige Erstarrung bei den Überlebenden. Angehörige der 2. und 3. Nachkriegsgeneration in Deutschland berichten von ihren Vätern und Großvätern, wie die

Erinnerungen an den Krieg zu Geschichten gerinnen, die wieder und wieder erzählt werden, mit denselben stereotypen Worten und Gesten, so daß die Zuhörer sagen: ,,ich konnte es nicht mehr hören!“ Die Reaktion des Betroffenen führt dann häufig zu einem Rückzug aus zwischenmenschlichen Beziehungen und zu emotionaler Verarmung. Zuweilen hilft der Alkohol, die psychische Erstarrung auch nur einigermaßen erträglich zu machen. Durch die Einschränkung des Bewusstseins werden

schmerzhafte Erinnerungen ausgeblendet. Ich möchte das Gesagte an zwei Beispielen, das erste aus einer westdeutschen, das 2. aus einer ostdeutschen mittelgroßen Stadt verdeutlichen.

Familie Hess 4)

In einem Seminar am Ende der Grundausbildung zur Sozialarbeit zum Thema ,,Familienarbeit mit Ausländern“ wurden wir überraschend mit folgender Thematik konfrontiert: Die Teilnehmer, im Alter von Anfang bis Mitte Zwanzig, fragten sich, wie können wir Ausländern frei und offen begegnen, wenn wir nicht wissen, was deutsch ist? Ich war nicht gerade auf diese Wendung des Seminarthemas gefasst, schlug aber vor, dass wir am Schluß einige Familiengeschichten etwas genauer betrachten wollten, um der Frage nach der eigenen nationalen Identität nachzugehen. Davon fühlte sich Uta, eine zarte, etwas schmächtige Studentin aus dem Studienschwerpunkt Resozialisierung offensichtlich angesprochen. In diesem Zusammenhang stellte sie uns ihre Familie vor. Mit leiser Stimme und so, als ob sie einen ihr fremden Sachverhalt vortrug, konfrontierte sie uns mit einem unaufgeklärten Mordfall in ihrer Familie.

Sie berichtete von ihren Vorfahren bäuerlicher Herkunft aus dem Westerwald. Ihr Großvater Philipp väterlicherseits hatte zusammen mit Altersgenossen, darunter auch seinem Schwager Friedrich, einem angeheirateten Großonkel von Uta, die Ortsgruppe der NSDAP aufgebaut. Die Männer hatten unter anderem in einem während des Nazi-Regimes neu gegründeten Dorf Allmendfeld die Gruppe der Fremdarbeiter und Kriegsgefangenen zu bewachen. Dabei ist es auch zu Misshandlungen der

Ausländer gekommen. Gegen Ende des Krieges schaltete sich Urgroßvater Hermann ein und bat seine beiden Schwiegersöhne doch menschlicher mit den Ausländern umzugehen, da sich das Blatt nun wende. Während einer solchen Auseinandersetzung um eine veränderte Haltung entwickelte sich ein hitziger Wortwechsel. Die immer noch überzeugten Anhänger der NSIdeologie wandten sich gegen die Warnungen des damals 8ljährigen Mannes, und Friedrich erschoß seinen Schwiegervater mit der Dienstpistole im Beisein der Familie. Die Männer halfen, den Toten fortzuschaffen. Nach außen gaben sie an, dass die plündernden, jetzt freigelassenen Kriegsgefangenen Urgroßvater Hermann erschossen hätten.

Über dieses Ereignis ist bis heute strenges Stillschweigen bewahrt worden. Es war niemand da, der die Täter des Mordes angeklagt hätte. Uta ist die einzige der jüngeren Generation, die jetzt, zum Zeitpunkt der geplanten Familienrekonstruktion, diesen Teil der Familiengeschichte kennt. Ihr Vater hatte unter Tränen und mit großer Mühe den wirklichen Hergang zur Vorbereitung für dieses Seminar gestanden.

Er hatte sich auch nur durch die hartnäckigen Fragen seiner Tochter bereit erklärt. Uta hatte das Bedürfnis, etwas mehr über die Familiengeschichte zu erfahren, erstens, weil bei den üblichen

Familienfeiern ihrer Meinung nach immer eine merkwürdig gedrückte, unerklärliche Stimmung aufkam,

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10 und zweitens, weil Großmutter Maria, Mutter des Vaters, ihre Enkeln nach dem Tod des Großvaters

Philipp ,,Mörderin“ nannte.

Die väterlichen Großeltern Maria und Philipp unternahmen 1972 einen Urlaub im Schwarzwald.

Großvater Philipp rief am Vorabend der Heimkehr von einer Telefonzelle aus zuhause an, um

mitzuteilen, dass sie am nächsten Tag per Bahn nach Haus kommen und abgeholt werden wollten. Uta war am Telefon und sollte die Nachricht ausrichten. Auf dem Heimweg in die Pension wurde Philipp von einem jungen Motorradfahrer tödlich überfahren. Daraufhin machte Oma Maria die für alle anscheinend irrationale Bemerkung, Uta sei die Mörderin ihres Großvaters. Niemand sagte etwas dazu. Oma Maria benannte das Familienthema, aber die Aussage blieb ohne Kommentar im Raum stehen. Utaberichtete uns weiter, dass sie bis jetzt ihre Familie nie um Aufidärung oder Richtigstellung dieser merkwürdigen Zuschreibung gebeten habe. Irgend etwas in der Atmosphäre der Familie legte es ihr nahe, lieber zu schweigen. Damals blieb der Familienmythos noch unangetastet, und Uta halt durch ihr Schweigen bzw. durch ihre Loyalität den Verdrängungsprozeß zu verstärken.

Uta ist diejenige in der Familie, die sich über ihre Eltern und die weitere Familie sehr viele Gedanken macht. Offenbar ist sie die Person in der Familie, die einerseits das Tabu des Schweigens über den Mord bricht und andererseits die Rolle der ,,Rettern“ übernimmt. Es fällt ihr jedoch sehr schwer, sich die Zusammenhänge bewusst zu machen.

Sie berichtete: Großonkel Friedrich wurde nach dem Krieg ein beruflich recht erfolgreicher Polizist.

Einige seiner Söhne wurden Gefängnisaufseher. Uta hatte sich zuhause als Mädchen mühsam durchsetzen müssen, um vom Dorf aus auf die Oberschule gehen zu dürfen. Sie wollte Sozialarbeit studieren, um Bewährungshelferin zu werden. Sie nahm wahr, dass ihre Eltern Loni und Edwin, seit 1945 zuerst in einer selbständig betriebenen Gärtnerei, später im Handel mit Gärtnereizubehör schwer arbeiteten, ohne auf einen ,,grünen Zweig“ zu kommen. Sie wollten so gerne Haus und Betrieb den Kindern einmal ,,schuldenfrei“ hinterlassen und schaffien sich doch durch ihre geschäftlichen

Fehlentscheidungen immer tiefer in die roten Zahlen hinein. Anfangs konnten sie ihr Geschäft noch mit dem Verkauf von Schnittrosen halten; als aber die Konkurrenz aus Israel und Holland zu groß wurde, warf Vater Edwin die wertvollen Rosenstöcke von zwei großen Äckern auf einen Haufen und zündete sie an.

Uta berichtete ferner, dass ihre Eltern sich vor Krankheit und Tod fürchteten. Es scheint, als hätten sie große Angst vor dem Sterben, täten ab er nichts für ihre ärztliche Versorgung. Ihre Einstellung gegenüber Ausländern sei immer noch sehr abschätzig.

Judith Herrman sagt in "Narben der Gewalt“: Traumatische Ereignisse vernichten die Vorstellungen des Opfers von Geborgenheit, das Bewusstsein seines eigenen Wertes und die Uberzeugung, dass der Schöpfung eine sinnvolle Ordnung zugrunde liegt.“ Mir scheint, dass wir diese Aussage auch auf die Nachkommen der Täter beziehen . Das Bewußtsein seines eigenen Wertes und die Uberzeugung, dass der Schöpfung eine sinnvolle Ordnung zugrunde liegt.“ Mir scheint, dass wir diese Aussage auch auf die Nachkommen der Täter beziehen können. Dies wird deutlich am Lebenskampf von Loni und Edwin, Uta‘s Eltern. Erst Uta versucht, durch ihren Einsatz in der Bewährungshilfe zumindest für sich selber wieder eine sinnvolle Ordnung herzustellen. Aus ihrer Familiengeschichte verstehen wir auch ihre Motivation für diesen speziellen Zweig der Sozialarbeit.

Mit einer weiteren Familiengeschichte bin ich durch einen Vortrag von Frau Bieback-Diel auf dem letzten familientherapeutischen Kongress der DAF bzw. DGST in Berührung gekommen. Durch eine Veröffentlichung von Norman M. Naimark: Die Russen in Deutschland, die sowjetische Besatzungszone 1945-1049 (Propyläenverlag Berlin 1997), wurde ein Tabu des Schweigens durchbrochen. Naimark ist ein amerikanischer Historiker. Zum ersten Mal wurde durch ihn in einer Veröffentlichung außerhalb Deutschlands publik gemacht, was die Angehörigen der sowjetischen Armee der Zivilbevölkerung, insbesondere Frauen und Mädchen, in der Zeit zwischen 1945-1949 angetan haben.

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11 Familie Grigoleit

(Ich berichte hier auszugsweise aus Frau Bieback-Diels Vortrag. Die Namen sind fiktiv)

Es handelt sich um eine Familie aus Ostpreußen. Sie bestand aus folgenden Personen: Peter Grigoleit, geboren 1906, gestorben 1990, Bauarbeiter, und Erna Grigoleit, geboren 1916, gestorben 1989, Hausfrau. Beide heiraten 1934 und leben auf dem Bauernhof von Ernas Eltern. Erna hat eine nichtehelich geborene Tochter Waltraud mit in die Ehe gebracht, die ebenfalls auf dem Bauernhof aufwächst, aber von Ernas Schwester aufgezogen wird. Dem Ehepaar werden drei Kinder geboren: eine Tochter (1936-1945), ein Sohn, geboren 1938, ebenfalls Bauarbeiter, verheiratet, ein Sohn Peter, sowie einen Sohn, geboren 1945, Bauarbeiter, verheiratet, kinderlos. Nach der Wende arbeitslos. Zu Beginn des Krieges wird Peter Grigoleit, der Kommunist und Widerstandskämpfer ist, verhaftet und in ein Konzentrationslager eingewiesen. Er soll 1945 aus dem KZ Ravensbrück befreit worden sein.

1944/1945 flieht die Mutter mit den Kindern vor der sowjetischen Armee nach Westen. Auf der Flucht wird die Mutter durch Angehörige der sowjetischen Armee vergewaltigt und bringt im Dezember 1945 einen Sohn zur Welt. Auf der Flucht stirbt ihre Tochter an Typhus. Die Familie findet wieder zusammen und lässt sich in einer Kleinstadt in Sachsen nieder. Die nichteheliche Tochter der Frau Grigoleit bleibt bei ihrer Schwester in Mecklenburg. Es besteht offenbar kein Kontakt zur übrigen Familie bis zum Jahr 2000.

Peter und Erna Grigoleit werden Mitglieder der SED, haben als Antifaschisten Privilegien und erfahren sehr viel Anerkennung. Sie engagieren sich auch politisch. Peter Grigoleit ist bis zu seiner Verrentung 1971 als Bauarbeiter tätig, seine Frau ist Hausfrau. Obwohl Mitglied der SED ist es Peter Grigoleit möglich, auch während seines Erwerbslebens seine Schwester in Westdeutschland zu besuchen.

Aufgrund seiner Erfahrungen und Erlebnisse während seiner Besuche wendet er sich innerlich spätestens seit den 60er Jahren von der Politik der SED ab. Er schließt sich im Wohnzimmer ein und hört westdeutsche Sender, Westfernsehen konnte in seiner Gegend nicht empfangen werden. Peter Grigoleit trinkt regelmäßig, nach Meinung seines Enkels kann man von Alkoholmissbrauch sprechen.

Frau Grigoleit wird nach Meinung ihres Enkels überwiegend als leidend auf dem Sofa liegend erlebt.

Über die erfahrenen Traumata aller Familienmitglieder — KZ-Aufenthalt, Flucht und Vertrteibung, Verlust der Heimat und des Besitzes, Tod der ältesten Tochter, die Vergewaltigung, die Zersplitterung der Familie und der Verlust der kommunistischen Vision von einer besseren Welt für alle, wird auch auf Nachfragen des Enkel nicht gesprochen. Die Existenz der ältesten Tochter, die bei der Tante lebt, wird ebenfalls verschwiegen. 1989 stirbt Erna Grigleit im Alter von 73 Jahren. Ein Jahr später stirbt ihr Mann mit 84 Jahren. Erst dann wird den Familienmitgliedern bekannt, dass der 1945 geborene Sohn aus einer Vergewaltigung stammt. Der ältere Sohn weiß von der Existenz der in Mecklenburg

zurückgelassenen Halbschwester, er hat auch einen russischen ,,Freund“ der Mutter erlebt.

Beide Söhne sind — wie ihr Vater — Bauarbeiter. Sie sind apolitisch, beide Alkoholiker, wobei der jüngere offenbar der Kränkere ist. Der sich nie ganz von seinen Eltern lösen konnte. Beide Brüder haben im nüchternen Zustand eine sehr problematische Beziehung zueinander, wenn sie jedoch miteinander trinken, sind sie sich zunächst sehr nahe, aber mit zunehmendem Alkoholgenuß fangen sie an zu streiten, sie werden aggressiv und unberechenbar. Beide Ehefrauen sind hilflos dem

Alkoholkonsum ihrer Männer gegenüber. Spricht der Enkel seinen Vater darauf an, leugnet dieser den Alkoholkonsum, nimmt es ihm übel, danach zu fragen. Die gesamte Familie leidet darunter.

Weder Peter Grigoleit noch seine Söhne machen von den Bildungs-und Aufstiegsmöglichkeiten, die das politische System insbesondere den SED-Mitgliedern, aber auch Arbeiter- und Bauernkindern und Widerstandskämpfern bot, Gebrauch. Betrachtet man diese Familiengeschichte, so füllt auf, dass offenbar der hohe Alkoholkonsum dazu diente, die erlebten Traumata zu verdrängen und das

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12 Bewahren der Familiengeheimnisse zu ermöglichen. Peter Grigoleit verhält sich nach außen angepasst

an das politische System der DDR, ist loyal seiner Partei gegenüber und selbstverständlich ein Freund der Sowjetunion. Im Binnenraum der Familie hört er jedoch Westfunk und zeigt damit, dass er sich von den Idealen seiner Jugend gelöst hat. Möglich ist auch, dass er von dem Verhalten der Sowjets nach dem Kriege enttäuscht war, aber Gefühle von Enttäuschung, Wut Wir und Trauer nicht äußern wollte und konnte. Wir wissen nichts über seine seelischen Verletzungen im KZ. Widerstandskämpfer galten als Helden. Helden sind stark und unverwundbar.

Auch Frau Grigoleit ist offenbar stark traumatisiert und vielleicht leidet sie auch unter Schuld- und Schamgefühlen, die ihr das Sprechen unmöglich machen. Aus den Erzählungen des Enkels hat man den Eindruck, dass die Eheleute nicht glücklich miteinander sind, was möglicherweise mit der Vergewaltigung zusammenhängt. Als gute Sozialistin wird sie auch nicht gewagt haben, ihre

traumatischen Erlebnisse irgend jemand mitzuteilen. Ihr ältester Sohn hat als einziger neben der Mutter die Ereignisse, die sich während der Flucht und dem Aufenthalt in Mecklenburg abgespielt haben, miterlebt. Er weiß um die Familiengeheimnisse‘ über die er sich erst nach dem Tode seiner Eltern äußern kann. Dies muss eine große Belastung für ihn gewesen sein.

Wir wissen inzwischen, dass Erna Grigoleit ihr Schicksal mit ca. zwei Millionen deutscher Frauen als Opfer sowjetischer Soldaten teilt. Man vermutet insgesamt 300 000 Schwangerschaften. 90 % der Frauen ließen abtreiben, dennoch sind ca. 30000 Säuglinge geboren worden, viele von ihnen starben in den ersten Jahren an Unterernährung, schlechter Pflege und Vernachlässigung. Aber Uwe Grigoleit aus unserem Beispiel überlebt. (Die Daten stammen aus: Der Spiegel, Nr.

28, 1995, S.56).

Den Frauen in der DDR wurde geraten, sich dem Fortschritt nicht entgegenzustellen und Heilung im Aufbau des Landes zu suchen. Jede Kritik an der Haltung der sowjetischen Armee wurde unterdrückt.

Schließlich haben die Deutschen den Krieg verursacht. Die Heilung wurde also auf der

politisch/gesellschaftlichen Ebene empfohlen, persönlich und menschlich blieben die Betroffenen allein.

Hier wird spürbar, was Alexander Mitscherlich gemeint hat mit seinem Titel ,,Die Unfähigkeit zu Trauern“, aber auch mit seinem zweiten Titel ,,Die vaterlose Gesellschaft“. Peter Grigoleit konnte seinen beiden Söhnen im Nachkriegsdeutschland kein hilfreicher Vater sein, obwohl die beiden Jungen dies für ihre eigene Sinnfindung bitter nötig gehabt hätten.

Wenn wir diese Familiengeschichte als Familienberaterinnen hören und auf uns wirken lassen, können wir vielleicht darauf schließen, dass Peter und Erna Grigoleit nach dem Krieg, nach der

Wiederzusammenfindung nach Flucht, Vergewaltigung, Tod der ältesten Tochter, Befreiung aus dem KZ nie mehr wirklich miteinander gesprochen haben. Die Probleme des materiellen Überlebens standen 1945-1949 für alle gleichermaßen im Vordergrund. Die traumatischen Erfahrungen der Eheleute, die jeder auf seine Weise machen musste, konnten nie wirklich miteinander geteilt werden.

Die sexuelle Erfahrung mit dem russischen Soldaten, ob durch Gewalt oder, dass Frau Grigoleit selbst eine Wahl getroffen hat, damit die extreme Form von Gewalt körperlich von sich abzuwenden, stand möglicherweise lebenslang zwischen dem Paar. Sie hat nie mehr zu einer Aussprache bzw. zu einer Versöhnung geführt. Wir wünschten uns hier die Hilfe durch einfühlsame, verständnisvolle Gespräche, die dem Paar über die Entfremdung hinweggeholfen und zu einem Neubeginn geführt hätten.

Das ungleiche Brüderpaar Jürgen (1938) und Uwe (1945) streitet stellvertretend einen Streit, der unter den Eltern nie ausgetragen und seelisch zur Ruhe gekommen ist. Sie brauchen wie ihr Vater den Alkohol, um das unausgesprochene, tabuisierte Thema ihrer Identität aus dem Bewusstsein zu

verbannen. Auch hier wünschte man sich die Hilfe durch begleitende Gespräche. Diese beiden Jungen

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13 wachsen mit dem gleichen Namen in ein und derselben Familie auf. Gemeinsam ist beiden, dass ihre

Väter für ein kommunistisches System gekämpft haben. Der eine ist Deutscher, der andere Russe. Der eine ist ehelich, der andere nichtehelich geboren. Möglicherweise wirft der Vater der Mutter eheliche Untreue vor. Es ist sicher bezeichnend, dass Jürgen nur einen Sohn hat, der dann Sozialarbeiter geworden ist und sich mit Schuldnerberatung befasst, während Uwe kinderlos bleibt, wohl aus dem Gefühl heraus, so viel Leid nicht weitertragen zu wollen, bzw. eigentlich familiär rechtlos zu sein.

In dieser Familie wäre es wichtig gewesen, das Familiengeheimnis offen zu machen, die

zeitgeschichtliche Schicksalhaftigkeit bewusst zu machen, und jedem Kind auf irgendeine Weise ein Existenzrecht zu gewähren, um einfach zu begreifen, was nach dem Ende der Kriegswirren geschehen ist, und bewusst und gemeinsam einen Neuanfang zu wagen. Hierfür gab es natürlich in der ersten Zeit keine Hilfe und kein Verständnis. Man kann sich vorstellen, dass Uwe sich nie wirklichzugehörig gefühlt hat, dass er sich womöglich sogar stellvertretend für seinen biologischen Vater schuldig gefühlt hat für das Leid, dass er seiner Mutter angetan hat. Sein sozialer Vater ist ihm vermutlich immer irgendwie fremd geblieben. Und so fechten die Brüder zeitlebens einen Kampf aus, der den Hauptteil ihrer Energien Verschlingt und ihnen keinen Raum für persönlichen Erfolg und Lebensfreude gewährt.Auch das Gespräch zwischen den Generationen ist in dieser Atmosphäre des ,,unauflöslichen Schicksals“

erstickt. Die Eltern, selber nicht fähig, einen Schlussstrich unter die eigenen persönlichen und

gesellschaftlichen Verletzungen und Enttäuschungen zu ziehen, wagen es nicht, sich mit ihren Söhnen auseinander zu setzen und offen mit ihnen über das, was während der NS-Zeit und während der sowjetischen Besatzungszeit geschah, zu reden. Das gesellschaftliche Tabu der DDR-Zeit hat solche Offenlegung in vieler Hinsicht auch ideologisch unmöglich gemacht.

Erst nach dem Tod der Eltern und durch die beharrlichen Nachfragen des Enkels Peter kommen die Themen der Vergangenheit an die Oberfläche, und es wird zumindest der Versuch gemacht, die ausgegrenzte Tochter Waltr4aud, die in Mecklenburg bei der Tante geblieben ist, wieder

einzubeziehen. Man könnte sich Rituale vorstellen, um Schmerzen und Verluste der Vergangenheit zu würdigen und ein geschwisterlich-familiäres Weiterleben ohne gegenseitige Paralysierung und Erstarrung anzubahnen. So oft erleben wir nur über bizarre, unerklärliche Symptome, dass dahinter unaufgelöste Familientraumata verborgen liegen.

Und viele solcher Familien wissen nicht, dass Hilfe möglich wäre, dass ihr Leid kein Einzelschicksal ist.

Oft muss man im Gespräch dann sozusagen zwischen den Zeilen lesen und hören. Ich habe mir angewöhnt, so wie die feministischen Familientherapeutmnnen bei einem Erstgespräch immer auch fragen: ,,Gab es Übergriffe in der Familie oder evtl. Missbrauch?“ So frage ich: ,,Wie hat Ihre Familie den Krieg überlebt? Hat sie das Ende der Naziherrschaft als Befreiung oder als Zusammenbruch erlebt? Konnten Sie umdenken? Wie wird heute über Ausländer gesprochen etc.?

Cloe Madanes, wie gesagt aus der Schule der strategischen Familientherapie, unterscheidet in ihrem familientherapeutischen Konzept zwischen vier Kategorien von sozialen Ungerechtigkeiten, die zu Traumata in der Familie führen können.

Manipulation

Zurückweisung (rejection) Missbrauch

Gesellschaftliche Unterdrückung.

Mit dem Begriff gesellschaftlicher Unterdrückung kann man wohl das Trauma in diesen beiden Familien umschreiben. Sie sind tabuisiert, fühlen sich diskriminiert. Sie haben eine geringe Selbstachtung. Oft geht dies zusammen mit physischen Krankheiten.

(14)

14 Hier geht es in der Aufarbeitung darum, das Selbstwertgefühl zu stärken. Wenn die Gesellschaft nicht

bereit ist, die Tabus zu durchbrechen, und die begangenen Ungerechtigkeiten beim Namen zu nennen, müssen wir mit unserer Einfühlsamkeit uns mit dem Schicksal unzähliger Menschen, die Ahnliches erlebt haben, identifizieren und versuchen, so etwas wie soziale und gesellschaftliche Gerechtigkeit in der Beratung herzustellen. Das soll nicht heißen, dass wirklich begangenes Unrecht und die daraus resultierenden Schuldgefühle verhannlost oder negiert werden sollen. Wir wollen nur dazu beitragen, dass Uta in der vierten Generation und Peter in der dritten Generation ein Leben leben können, in dem sie sich allmählich von der Last der Vergangenheit und von den Traumata ihrer Eltern und Großeltern befreien können.

Heute stehen wir möglicherweise an der Schwelle eines dritten Weltkriegs. Wir bangen darum, dass Vernunft, gesunder Menschenverstand und Diplomatie ihn noch verhindern können. Es steht zu

befürchten, dass sich ein dritter Weltkrieg noch vernichtender auswirken wird, als alles bisher Erfahrene.

Viele kleine, auch sehr grausame Kriege sind bereits im Gange und richten sich auch wieder gegen die Zivilbevölkerung. Und immer noch sind wir mit der seelischen Aufarbeitung der Traumata und der möglichen Sühne des geschehenen Unrechts aus dem zweiten Weltkrieg beschäftigt. Es hat den Anschein, als habe die Menschheit noch nicht genug gelernt aus diesen Erfahrungen. Ich wünsche uns allen, dass wir immer wieder kreativ genug sein werden, um konstruktive Konfliktlösungen zu finden, so dass wir unsere Energien zur Hilfe und zum Aufbau neuer sinnstiftender Muster nutzen können, anstatt wieder ein bis zwei Generationen nur mit dem materiellen Uberleben zu kämpfen, ohne ein

smnnerfülltes, von guten Beziehungen ausgefülltes Leben leben zu können.

Familienstammbäume, alte Photos, das Aufsuchen von Orten der Kindheit, Gespräche mit Verwandten, Freunden und Nachbarn der Eltern sind Möglichkeiten, die Amnesie in einigen dieser Geschichten zu überwinden, und zu verschütteten, heilenden Erinnerungen vorzudringen. ,Durch das Erzählen ihrer Geschichte würden sich die Betroffenen die Welt zurückerobern, die sie verloren haben. Es geht dann nicht mehr um Scham und Demütigung, sondern um Würde und Mut“, so Judith Herman in ,,Narben der Gewalt“. Dazu sollten auch wir in unserer sozialarbeiterischen Praxis, wo immer es möglich ist, durch unsere Offenheit, unser Mitgefühl und unser geschichtliches Verständnis ermutigen und unseren professionellen Beitrag leisten.

Literatur

Liselotte Bieback-Diel Politische Tabus in der DDR ihre Auswirkungen

auf Familien in den den neuen Bundesländern in: Zeitschrift für system. Therapie Heft 3, Juli 2002 Judith Lewis Herman Die Narben der Gewalt (Engl.: Trauma and Recovery)

Kindler, München 1994

Satuila Stierlin "Ich brannte vor Neugier!"

Familiengeschichten bedeutender Familientherapeutinnen und Familientherapeuten, Carl-Auer-Systeme, Heidelberg 2001

Referenzen

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