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Demographischer Wandel

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E-Book-Sonderausgabe

Perspektiven

Demographischer Wandel

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Demographischer Wandel

Perspektiven

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Band Demographischer Wandel – Perspektiven E-Book zum Magazin change Ausgabe 1/2011

© 2011 E-Book-Ausgabe

Verlag Bertelsmann Stiftung, Gütersloh Verantwortlich: Christiane Raffel

Umschlaggestaltung: Bertelsmann Stiftung Umschlagabbildung: iStockphoto, Renee Keith ISBN 978-3-86793-375-9 (PDF)

www.bertelsmann-stiftung.de/verlag

www.bertelsmann-stiftung.de/ebooks

www.change-magazin.de

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Inhalt

Vorwort

Familie. Bildung. Vielfalt. (Leseprobe)

Eine Schicksalsfrage, aber kein Schicksal

Alter neu denken (Leseprobe)

Demographiesche Entwicklung und gesellschaftliches Altern Alter und sozialer Wandel

Initiieren – Planen – Umsetzen (Leseprobe)

Seniorenpolitik in Kommunen – die Grundlagen Die vielen Gesichter des Alters

Demographie konkret – Kommunale Familienpolitik neu gestalten (Leseprobe) Familie vor Ort – Potenziale, Herausforderungen, Zukunft

Familie in Stadt und Land

Familie. Bildung. Vielfalt. (Leseprobe)

»Generation ’90«: Herausforderungen an eine Jugend Weniger Kinder – Bildungspotenziale besser nutzen Leben heißt Lernen

Alter neu denken (Leseprobe)

Bildung: Lebenslanges Recht, lebenslange Verpflichtung

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Vorwort

Der demographische Wandel wird viele Lebensbereiche unserer Gesellschaft in den nächsten Jahrzehnten grundsätzlich verändern. Auswirkungen auf die sozialen Sicherungssysteme sind ebenso absehbar wie auf politische Entscheidungen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Betroffen davon sind alle Bevölkerungsgruppen, ob alt oder jung. Die Entwicklungstrends des demographischen Wandels, ihre Folgen und mögliche Handlungskonzepte sind deshalb wichtige Themen in der Projektarbeit der Bertelsmann Stiftung.

Der E-Book-Reader ergänzt die Schwerpunktausgabe „Demographischer Wandel“ unseres Magazins change im März 2011. Sie finden hier Auszüge aus Büchern des Verlags Bertelsmann Stiftung. Weitere Informationen dazu unter www.bertelsmann-stiftung.de/verlag.

Dieser Reader enthält eine Sammlung einführender und allgemeiner Texte zum demographischen Wandel sowie einige Beiträge zum Lern- und Bildungsprozess im gesamten Lebenslauf, Stichwort: Lebenslanges Lernen.

Wir freuen uns über Ihr Interesse und wünschen Ihnen eine anregende Lektüre.

Karin Schlautmann

Leiterin Kommunikation

der Bertelsmann Stiftung

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Familie. Bildung. Vielfalt. (Leseprobe)

Auszug aus:

Bertelsmann Stiftung, Bundespräsidialamt (Hrsg.) Familie. Bildung. Vielfalt.

Den demographischen Wandel gestalten Gütersloh 2009

ISBN 978-3-86793-043-7

© Verlag Bertelsmann Stiftung, Gütersloh

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Eine Schicksalsfrage, aber kein Schicksal

Christian Schwägerl

Das demographische Tabu

Jeder war dabei, jeder hat sie erlebt, auf der Straße, am Arbeits- platz, in der Schule und in der Familie: Die fast vier Jahrzehnte, in denen in Deutschland die Kinder immer weniger, die Älteren immer älter und die Ortschaften von Menschen aus aller Welt bevölkert wurden, haben tiefe Spuren in der Gesellschaft hinter- lassen. Diese demographischen Veränderungen werden das Zusam- menleben auf lange Zeit bestimmen und prägend für die Zukunft Deutschlands sein. Doch fast keiner hat sie bemerkt. Zumindest bis vor einigen Jahren.

Es war wie bei einem Menschen, den man täglich sieht. Ver- änderungen, die sich wie in Zeitlupe vollziehen, sind schwer zu bemerken. Doch zusätzlich haben die Deutschen es vermieden, sich überhaupt ins Gesicht zu schauen. Sie debattierten über Gott und die Welt, über die Kernenergie, das Waldsterben, die Stasi und das Internet, aber nicht darüber, wie sie sich als Gruppe von Menschen zwischen Ostsee und Alpen verändern, nach Alter, Zahl und Herkunft. Und was das für ihre Zukunft bedeutet.

Was da passiert, hätten ihnen Bevölkerungswissenschaftler sagen können. Die erforderlichen Daten ruhten in den Rechnern, waren mit wenigen Handgriffen abrufbar. Doch fast niemand hat sie nachgefragt. Als die Westdeutschen 1987 bei einer Volkszäh-

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lung statistisch durchleuchtet wurden, war der Widerstand gegen die staatliche Datensammlung so groß wie anschließend das Des- interesse an den Ergebnissen. Selbst die Wiedervereinigung wurde nicht als Chance einer demographischen Selbstbetrachtung genutzt.

Bis vor wenigen Jahren war »Demographie« nicht mehr als ein Fremdwort, leicht verwechselbar und oft verwechselt mit der De- moskopie. Die Demographen waren eine kleine verschworene Ge- meinschaft, die sich auf wenige Lehrstühle und Elfenbeintürme zurückgezogen hatte. Dort wurden sie selten von Besuch gestört.

Ihre Erkenntnisse blieben für die Gesellschaft weitgehend unsicht- bar.

Ein ganzer Stapel von Wahrnehmungsfiltern hatte sich zwischen die Deutschen und ihr demographisches Spiegelbild geschoben.

Diese Filter und Tabus waren vor allem durch die Verbrechen der Nationalsozialisten entstanden. Hitler-Deutschland hatte die De- mographie als Gebrauchsanleitung zum Rassenwahn und zum Massenmord missbraucht. Dies schlug nach dem Krieg in eine mehr als berechtigte Scheu vor jeder Art von Bevölkerungspolitik um und wandte sich auch gegen die Bevölkerungswissenschaft.

Das war es aber nicht allein, was den Blick in den Demogra- phiespiegel verhinderte. Hinzu kamen die unterschiedlichsten kul- turellen Einflüsse der Nachkriegszeit, die zu einer Abgrenzung zu Kinder-, Familien-, Alten- und Ausländerfragen führten. Es wirk- ten, beinahe beliebig kombinierbar: der im Wirtschaftswunder genährte Glaube an eine Art Wohlstandsgarantie, die Familien- feindlichkeit der Achtundsechziger, die Weltzerstörungsängste der 80er Jahre, die Fremdenfeindlichkeit der frühen 90er Jahre, der Jugendwahn und das Flexibilitäts- und Mobilitätsdogma der Jahr- tausendwende. Und über allem lag die Scheu, unangenehme Er- kenntnisse allzu nah an sich herankommen zu lassen. Auf jeweils eigene Art verhinderten die Tabus und Wahrnehmungsfilter es, dass Medien, Politiker und Manager einen nüchternen Blick auf die demographischen Fakten warfen.

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Es war zum Beispiel provokant zu sagen, dass es in Deutsch- land zu wenige Kinder gebe. »Wollen Sie etwa wieder Mutterkreuze verleihen wie die Nazis?«, war eine Replik, oder auch: »In diese kaputte Umwelt kann man doch sowieso keine Kinder setzen.«

Man vermied es, über den phänomenalen Anstieg der Lebenserwar- tung zu reden, die vielen Menschen, die 80, 90 Jahre alt werden.

»Bis ich alt bin, dauert es noch lange«, war die Antwort der vie- len, die Alter und alles, was damit einhergeht, einfach verdräng- ten.

Dass in vielen Schulen die Kinder von Zuwanderern in die Mehrzahl kamen, durfte einfach nicht sein. »Deutschland ist kein Einwanderungsland«, hatte es 16 Jahre lang von oberster Regie- rungsstelle geheißen. In beiden Denkweisen – der offiziellen wie der multikulturellen – waren Spracherwerb oder Integration kein Thema.

Mit Ausnahme der sogenannten »Asylantenschwemme« galten andere Themen mit demographischer Dimension in der Bundes- hauptstadt und auch in vielen Landeshauptstädten als »weich«

und deshalb unwichtig. Noch 1998 war es möglich, die Aufgaben des Ministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend als

»Gedöns« zu bezeichnen und in der Rentenformel den eben erst eingeführten »demographischen Faktor« wieder zu streichen.

Der demographische Wandel war zu diesem Zeitpunkt schon 30 Jahre in vollem Gang. Dann erst setzte ein Wandel im Umgang mit der Demographie ein.

Beitragszahler-Blues

Es ist nicht unbedingt schmeichelhaft für uns Deutsche, warum sich um die Jahrhundertwende die Haltung zur Demographie end- lich verändert hat. Nicht, weil den Menschen das Kinderlachen auf den Straßen gefehlt hätte, weil sie sich um das Wohlbefinden

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der uralten Heimbewohner gesorgt oder die neue kulturelle Viel- falt des Landes als besondere Aufgabe der Integration begriffen hätten. Vielmehr kam die Einsicht aus einer subjektiv empfunde- nen ökonomischen Not, sofern man das bei einem der reichsten Länder der Erde überhaupt sagen kann: aus der Diagnose, dass den Sozialversicherungen die Beitragszahler ausgehen, während die Zahl derer zunimmt, die Leistungen oder Ansprüche geltend machen.

Den Kindermangel entdeckten die Deutschen also nicht auf den Spielplätzen, sondern indirekt, über die Rubrik »Lohnneben- kosten« auf ihren Gehaltszetteln. Zwar stecken weder Kinder- mangel noch Überalterung hinter den Lohnnebenkosten von heute, im Gegenteil stehen die deutschen Babyboomer gerade mit- ten im Erwerbsleben. Doch als die Arbeitslosigkeit sehr hoch lag, die Hightech-Spekulationsblase der 90er Jahre geplatzt war und neue Wirtschaftsmächte wie China zur ernsthaften Konkurrenz für deutsche Firmen wurden, richtete sich der Blick auf die Nach- haltigkeit des deutschen Sozialstaates.

In dieser Zeit der allgemeinen Lösungssuche, gekennzeichnet vom inflationären Gebrauch des Wortes »Reform«, rückte ins Vi- sier, dass in Zukunft alles noch schlimmer werden könnte, wenn die Kinder fehlen und die Alten immer mehr werden.

In dieser Situation gelang es einer ebenso kleinen wie mutigen Gruppe von Wissenschaftlern und Publizisten, die geballten Er- kenntnisse der Demographie endlich im öffentlichen Raum zu platzieren. Die Beitragszahlerfrage bildete das Fundament, auf dem größere Wahrheiten und Herausforderungen ihren Platz finden sollten.

Die Plötzlichkeit, mit der die Demographie im politischen Raum auftauchte, erinnert ein wenig an den großen, schwarzen, blank geputzten Stein, der in Stanley Kubricks Science-Fiction-Meister- werk »2001: Odyssee im Weltraum« wie aus dem Nichts erscheint und zuerst Urmenschen verblüfft, dann Millionen Jahre später

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moderne Astronauten. Keiner wagt es zunächst, ihn anzufassen, so fremd wirkt das Gebilde. Dann setzen Furcht und Panik ein.

Und schließlich geht von dem Monolithen eine Bewusstseinsver- änderung aus.

Seine stärkste Wirkung übt der geheimnisvolle Stein auf einen Astronauten aus, der gen Jupiter reist, Dave Bowman. Als Einziger überlebt er die Reise. Für Bowman wird der Monolith zur Ein- trittspforte einer Expedition in seine eigene Innenwelt, während der er in kürzester Zeit zum Greis altert. Mit seiner Verwandlung kommt der Astronaut kaum mit. Die totale Verblüffung beim Blick in den Spiegel ist eine Schlüsselszene des Films – und eine Schlüsselszene, mit der die deutsche Demographiedebatte ihren An- fang nahm.

Was also hat sich verändert in den über 30 Jahren, in denen immer andere Fragen wichtiger gewesen waren – und was bedeu- tet das für die Zukunft? Die Deutschen sind ein anderes Volk geworden, und das keineswegs nur wegen der Wiedervereinigung.

Ganz andere, tiefgehende Umwälzungen sind in Gang geraten:

Kindermangel, Alterung, veränderte Familienstrukturen, ethnische Diversifizierung. Diese Umwälzungen werfen erhebliche Probleme auf und stellen die gesamte Gesellschaft vor schwierige Aufgaben – sie bergen aber auch Chancen.

Der Blick in den Spiegel Leere Schulen

Am stärksten verändert es unser Land, dass die Kinder immer weniger werden. Für junge Erwachsene ist es schon seit Langem nicht mehr selbstverständlich, große Familien zu gründen. Allein zwischen 1996 und 2006 ist die Zahl der Familien in Deutschland um fast 800.000 auf 12,4 Millionen gesunken.

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1947, in bitterer Nachkriegsnot, kamen eine Million Kinder zur Welt. 1967, beim Höhepunkt des Babybooms, waren es 1,3 Mil- lionen. Von 1970 an setzte ein starker Rückgang ein: 1987 waren nur rund 813.000 Geburten zu verzeichnen. Der Jahrgang 2007 besteht nur noch aus rund 685.000 Babys. In 40 Jahren hat sich die Zahl der Neugeborenen also glatt halbiert. Seit 1971 sterben in Deutschland jedes Jahr mehr Menschen, als geboren werden.

Inzwischen sind die Jahrgänge potenzieller Eltern so klein, dass eine echte Trendwende immer schwerer wird.

Die Chinesen müssen erheblichen Zwang ausüben, um die Zahl ihrer Bürger auf ein kleines Maß zu bringen; die Deutschen haben diesen Weg meist freiwillig gesucht, aus unterschiedlichsten Motiven und Gründen. Ins Gewicht fällt besonders, dass Frauen immer später ihr erstes Kind bekommen. Das limitiert die Zahl weiterer Kinder fast automatisch.

Es ist auch das Nein zu einem dritten oder gar vierten Kind, das den deutschen Kindermangel ausmacht. Familien mit drei Kin- dern genießen heute einen ähnlichen Seltenheitswert wie der Weißstorch.

Inzwischen ist die Lage so prekär, dass die Politik schon eine Steigerung der Geburtenrate pro Frau von 1,33 auf 1,37 im ver- gangenen Jahr feiert, obwohl es sich dabei durchaus um statisti- sches Rauschen handeln kann und nicht um die allseits ersehnte große Trendwende. Neidvoll geht der Blick in die wenigen Indus- triestaaten, die nicht auf Schrumpfungskurs sind, sondern ihre Bevölkerung mindestens stabil halten: Amerika (2,1), Frankreich (2,0), Irland (2,1). Besonders in Süd- und Osteuropa stellt sich die Lage hingegen ähnlich dramatisch dar wie in Deutschland.

Obwohl der Geburtenrückgang so früh eingesetzt hat und der Krisengesang schon eine Weile anhält, lebt Deutschland aber noch immer in demographisch goldenen Zeiten. Denn im Moment stehen die geburtenstarken Jahrgänge voll im Saft. Sie erarbeiten an allen Arbeits- und Schaltstellen des Landes den Wohlstand tag-

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täglich neu, sie bieten Arbeitgebern ein Überangebot an Arbeits- kräften, sie zahlen nach Kräften in die Sozialversicherungen ein.

Das wird sich aber von 2015 an ändern, wenn der Jahrgang 1950 das Pensionsalter erreicht und darauf wartet, dass die nachwach- senden Jahrgänge seine Rentenansprüche erwirtschaften.

In diesem Jahr werden sich Ausbildungsleiter in großen und kleinen Betrieben verwundert die Augen reiben: Bisher haben sie jedes Jahr aus einer Fülle von Bewerbern auswählen können, doch nun werden sie um deutlich weniger junge Menschen wer- ben und um sie mit anderen Unternehmen konkurrieren müssen.

Der Kindermangel erreicht nach Abschluss der Schulen dann mit immer größerer Wucht den Arbeitsmarkt.

Das ist freilich nur eine Facette dessen, was der Kindermangel auslöst. Die Zeit schwindet, das Land vorzubereiten auf einen kombinierten Alterungs- und Schrumpfungsprozess, für den es in der Moderne kein Vorbild gibt. Die Bevölkerung könnte von heute 82 Millionen auf bis zu 67 Millionen Menschen im Jahr 2050 zu- rückgehen – mit einem Durchschnittsalter von dann 50 Jahren.

Die Methusalem-Republik

Der zweite demographische Großtrend ist grundsätzlich ein An- lass zur Freude: Die Deutschen leben immer länger. In manchen Ländern ist die Lebenserwartung in den vergangenen Jahren durch Seuchen und andere negative Faktoren gesunken – bei- spielsweise in der Zentralafrikanischen Republik von 49 Jahren auf 43 Jahre, bei russischen Männern von 65 Jahren 1987 auf 59 Jahre heute. In Deutschland dagegen schlägt es sich in zusätzli- chen Lebensjahren nieder, dass die Menschen auf hohem Niveau medizinisch versorgt werden (besonders die Sofortrettung nach Herzinfarkten ist zu nennen), dass sie sich trotz Fast Food gesün- der ernähren als früher und dass immer mehr Menschen im Büro

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oder in modernen Fabriken arbeiten statt Knochenjobs nachzuge- hen.

1970 hatte ein 60 Jahre alter Mann durchschnittlich noch 15,3 Jahre zu leben. Heute sind es 20,75 zusätzliche Lebensjahre. Eine 60 Jahre alte Frau von heute hat eine Lebenserwartung von 84,6 Jahren.

Den Prognosen des Statistischen Bundesamts zufolge setzt sich die Lebensverlängerung ungebrochen fort, sofern keine Katastro- phen, Kriege oder Übergewichtsprobleme einen Strich durch die Rechnung machen. Die sieht beeindruckend aus: Die Lebens- erwartung von Neugeborenen steigt den Prognosen zufolge bis 2050 jeden Tag um rund vier Stunden, die der jeweils 60-Jährigen täglich um rund drei Stunden. Das sind keine Druckfehler, son- dern einfach unglaubliche Werte! 2050 würde die Lebenserwar- tung neugeborener Mädchen demnach bei rund 89 Jahren liegen, die von dann 60-jährigen Männern bei rund 86 Jahren. Es handelt sich dabei um Durchschnittswerte. Es wird sehr viele Menschen geben, die deutlich älter werden.

Schon heute sind die über 80-Jährigen die am schnellsten wach- sende Bevölkerungsgruppe. In gar nicht so ferner Zukunft wird jeder zehnte Deutsche diese Altersmarke, die früher wenigen Men- schen vorbehalten war, erreichen. Wir werden zu einer Republik von Methusalems, wie Frank Schirrmacher geschrieben hat.

Der Trend ist rundweg gut für die Menschen im »dritten Le- bensalter«, von dem Deutschlands bedeutendster Alternsforscher, der 2006 verstorbene Paul B. Baltes, gesprochen hat. Die sogenann- ten »jungen Alten« profitieren davon, dass sich mit der Lebens- erwartung auch die Spanne gesunden Alters verlängert. Die »Gene- ration Silber« fällt schon heute auf: Menschen von 65 oder 75 Jahren, die so auftreten und so aktiv wie gesund sind, als wären sie zehn oder 20 Jahre jünger. Das »dritte Lebensalter« gehört zu den größten Geschenken, die unser energie- und ressourceninten- sives Gesellschaftssystem seinen »Mitgliedern« zu bieten hat.

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Das gesetzliche Renteneintrittsalter markiert nicht, wie zu Bis- marcks Zeiten, den Zeitpunkt, an dem die Produktivkraft erschöpft ist, sondern ist die Pforte zu einer Phase neuer Aktivität. Doch das immer längere Leben hat auch eine Schattenseite: Gegen viele Krankheiten des »vierten Lebensalters«, das Mitte 70 beginnt und von körperlichem und geistigem Abbau geprägt ist, finden Wis- senschaftler, Ärzte und Pharmaunternehmen keine Mittel.

Das gilt besonders für Demenzkrankheiten. Das Auftreten etwa von Morbus Alzheimer hat sich im Lebensverlauf nicht wie das anderer Krankheiten nach hinten verschoben – doch die Men- schen, die an Demenz erkranken, gehen körperlich robuster in die Phase geistigen Verfalls. Im schlimmsten Fall verlängert sich so die Leidenszeit für Betroffene und Angehörige erheblich. Wie hilf- los die Gesellschaft im Umgang mit Demenzkranken ist, zeigt die Tatsache, dass in Deutschland rund 100.000 von ihnen über eine Magensonde ernährt werden – oftmals gegen ihren Willen oder den der Familien.

Jüngste Modellrechnungen des Statistischen Bundesamtes haben ergeben, dass der demographische Wandel in Deutschland bis 2030 zu einem Anstieg der Zahl der Pflegebedürftigen um etwa 58 Pro- zent und der Krankenhausbehandlungen um zwölf Prozent führen dürfte. Die Zahl der Pflegebedürftigen würde demnach von heute 2,1 Millionen auf 3,4 Millionen steigen und die in Krankenhäusern behandelten Fälle von 17 Millionen auf 19 Millionen jährlich.

Was das für ein Gesundheitssystem bedeutet, das schon unter den vergleichsweise günstigen Umständen von heute erhebliche Verteilungsprobleme hat, liegt auf der Hand. Deshalb nimmt sich nun auch der Deutsche Ethikrat der Frage an, ob und wie unter diesen demographischen Vorzeichen eine gerechte und angemes- sene Versorgung von Kranken und Pflegebedürftigen überhaupt noch möglich ist.

Wie die Älteren mit ihren neuen Kräften umgehen und wie die Gesellschaft ihre hilfebedürftigen Alten behandelt, zählt zu den

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zivilisatorischen Schlüsselfragen dieses Jahrhunderts, eines welt- weiten Jahrhunderts der Alten.

Zuwanderer auf dem Weg zur Mehrheit

Der dritte demographische Großtrend steht schon länger im Ram- penlicht. Wie viele Menschen aus anderen Ländern und Kulturen nach Deutschland einwandern wollen und dürfen, bewegt die Gemüter seit Jahrzehnten. Im Wirtschaftswunder begrüßte man die »Gastarbeiter«, deren Name schon zum Ausdruck brachte, dass Deutschland ihnen nicht als Heimat zugedacht war. Später konzentrierten sich die politischen Mühen darauf, die Hürden für eine Einwanderung möglichst hoch zu legen.

Doch was auch immer gewollt war, das Ergebnis sieht ganz an- ders aus: Nur die deutliche Zuwanderung nach Deutschland hat verhindert, dass die Bevölkerung schon lange schrumpft.

Etwa jeder fünfte Mensch in Deutschland hat heute einen »Mi- grationshintergrund«: Er selbst oder seine Vorfahren sind nach 1950 eingewandert. Das sind heute rund 15 Millionen Menschen, von denen etwa die Hälfte eine ausländische Staatsbürgerschaft besitzt, die andere Hälfte die deutsche. Die Einwanderer kommen aus Europa, ja der ganzen Welt, aber hauptsächlich aus Ländern südlich und östlich der deutschen Landesgrenzen, also etwa aus der Türkei, Russland und Polen.

Wie sehr die Zuwanderung Deutschland verändert, wird an den Kindern deutlich: In Deutschland stammt jedes dritte Kind unter fünf Jahren aus einer Zuwandererfamilie, in vielen Bal- lungsgebieten stellen Kinder mit Migrationshintergrund die Mehr- heit.

Der Kontrast zu der früheren Formel, Deutschland sei kein Ein- wanderungsland, könnte größer nicht sein. Doch diese Lebens- lüge wirkte tief in die Gesellschaft hinein – und förderte weder die

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Integrationsbereitschaft der neuen Landesbewohner noch die In- tegrationsfähigkeit der Deutschen und ihrer Bildungsinstitutionen.

Über eine »Einwanderung ins Sozialsystem« wurde und wird viel geklagt. Bei Hilfen zur »Einwanderung ins Bildungssystem«

haben Schulen und Schulpolitiker bisher nicht die erforderlichen Erfolge erzielt. Die Zahl von jungen Menschen, die ohne Schul- abschluss, ohne Ausbildungsplatz oder ohne Arbeitsstelle leben, ist unter Zuwandererkindern deutlich erhöht.

Es muss gelingen, diesen Kindern und Jugendlichen aus Zu- wandererfamilien gleiche Bildungschancen zu vermitteln und glei- che Bildungserfolge zu ermöglichen wie allen anderen Kindern.

Für die viel beschworene »Wissensgesellschaft« wäre es angesichts der demographischen Herausforderung eine existenzielle Gefahr, ein Drittel ihrer Kinder zurückzulassen.

Ebenso katastrophal wäre es, wenn Deutschland nicht attrak- tiv für eine besondere Form von Einwanderung wäre: den Zuzug von akademischen Spitzenkräften im Rahmen der internationalen

»Gehirn-Zirkulation«. Da jedes Jahr Zehntausende hoch qualifi- zierte Deutsche ihrer Heimat den Rücken kehren, ist es wichtig, dass hoch qualifizierte Akademiker aus anderen Ländern ebenso zahlreich zu uns kommen. Sonst droht der berüchtigte »brain drain« sich auszuweiten.

Die Schwächen der Demographiedebatte

Zu lange haben die Deutschen den demographischen Wandel ignoriert und tabuisiert. Als das Land den großen Block harter Fakten dann vor einigen Jahren vor sich sah, setzte große Auf- regung ein. In dem Maß, in dem man die Trends bisher ignoriert hatte, wurden sie nun zur Schablone für regelrechte Untergangs- szenarien. Das Pendel schlug in die andere Richtung aus, und das mit Wucht und großem Tempo.

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Die Deutschen sterben aus, hieß es. Das ZDF zeigte in einem Demographie-Thriller, wie weniger wohlhabende Alte aus Deutsch- land in ferne Todeslager verfrachtet werden. Nach allen Regeln der Inszenierkunst wurden strukturschwache Regionen zu demo- graphischen Sperrgebieten umgedeutet, deren Bewohnern nur noch die Flucht als Ausweg bleibt. Und plötzlich hatte jeder ein Rezept, wie alles besser zu machen sei: meistens so, wie man es in der eigenen Biographie erlebt hat. Ein Verständnis für das Tempo des Wandels und die Vielfalt von Lebensläufen musste sich erst noch entwickeln.

James Vaupel, Direktor am Max-Planck-Institut für demogra- phische Forschung in Rostock und amerikanischer Staatsbürger, sah sich bemüßigt, die Deutschen zu etwas mehr Mäßigung zu mahnen. Zu den Überalterungsszenarien sagte er: »Es braucht immer noch 80 Jahre, bis jemand 80 Jahre alt ist.«

Zusätzlich zum Katastrophismus setzte leider auch ein mit- unter schludriger Umgang mit dem umfangreichen Zahlenmate- rial ein, das Demographen und Statistiker aufgehäuft hatten. So dominierte in der Debatte lange Zeit die Behauptung, 40 Prozent der deutschen Akademikerinnen seien kinderlos. Zur berechtigten Sorge darum, ob die Karrierebedingungen für die Elite in Wissen- schaft und Wirtschaft überhaupt noch Platz dafür lassen, eine Familie zu gründen, kam ein gefährlicher und historisch belasteter Unterton hinzu. Vielfach wurde getrennt zwischen »guten«, gesell- schaftlich erwünschten Akademikerkindern und »weniger guten«

Kindern etwa aus Arbeiterfamilien.

Die Unfähigkeit des deutschen Bildungswesens, Kindern unter- schiedlicher sozialer Herkunft ähnliche Aufstiegschancen zu bie- ten, fand in dieser Debatte ein merkwürdiges Echo. Bis sich, dank einer Recherche von Wissenschaftlern am Bundesinstitut für Be- völkerungsfragen, 2005 herausstellte, dass die Kinderlosigkeit von Akademikerinnen bei höchstens 30 Prozent liegt und damit deut- lich näher an der Kinderlosigkeit in der Gesamtbevölkerung.

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Eine »Sondererhebung« des Statistischen Bundesamts aus dem Jahr 2007 erbrachte noch genauere – und niedrigere – Werte: Von den untersuchten Frauen im Alter zwischen 35 und 75 Jahren wa- ren 14 Prozent mit »niedrigem« Bildungsstand kinderlos, 18 Pro- zent mit mittlerem Bildungsstand und 24 Prozent mit hohem Bil- dungsstand.

Der Grund für den 40-Prozent-Fehler war banal: Man hatte sich demographischer Daten bedient, in denen die Kinder spät gebärender Mütter aus methodischen Gründen noch nicht erfasst waren. Doch gerade unter Akademikerinnen geht der Trend hin zur ersten Geburt deutlich nach dem 30. Geburtstag. Die Faszina- tion über die vermeintliche Schreckenszahl war freilich groß, weil sie in vorgefasste Konzepte passte.

Aus ähnlichen Gründen verlief die Debatte um die demogra- phische Zukunft Ostdeutschlands schief. Dass dort die soge- nannte »zusammengefasste Geburtenziffer« nach der Wende zeit- weilig unter die Kinderzahl von eins rutschte, lag nicht daran, dass Ostdeutsche besonders wenig Kinder bekommen würden.

Vielmehr verschoben viele junge Frauen in dieser aufregenden Zeit, in der sich ungeahnte Möglichkeiten zu Fortbildung und beruflichen Veränderungen, aber auch viele Unsicherheiten auf- taten, die Familiengründung auf einen späteren Zeitpunkt. Nach- dem in der DDR das durchschnittliche Alter bei der Erstgeburt besonders niedrig gelegen hatte, gab es dafür – biographisch gese- hen – genügend Raum.

Doch das vermeintliche Kindervakuum passte zur Lesart jener, die dem Osten einen generellen Hang zur Kinderfeindlichkeit unterstellen und dies gegen eine umfassende und frühzeitige Kin- derbetreuung außerhalb der Familie einsetzen wollten, wie es sie aufgrund der ausgeprägten Erwerbstätigkeit von Frauen bereits in der DDR gegeben hatte. Seht her, hieß es, wenn man schon zwei- jährige Kinder »fremdbetreuen« lässt, führt dies zu Kinderfeind- lichkeit, letztlich Kinderlosigkeit.

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Die Forschungsarbeiten von Michaela Kreyenfeld am Max- Planck-Institut in Rostock und die Sondererhebung »Geburten in Deutschland« des Statistischen Bundesamts haben aber ergeben, dass Kinderlosigkeit im Westen Deutschlands weiter verbreitet ist als im Osten. Die statistische Auswertung zeigte, dass von den Frauen, die zum Untersuchungszeitpunkt 2006 zwischen 35 und 49 Jahre alt waren, im Osten nur elf Prozent kinderlos waren, im Westen dagegen 25 Prozent.

Ideologisch gefärbte Auseinandersetzungen schlugen sich sogar in der Diskussion darüber nieder, welche Daten im Rahmen des

»Mikrozensus« erfasst werden. Der »Mikrozensus« ist das detail- schärfste Instrument, mit dem Statistiker ein realistisches Bild vom Leben in Deutschland entwerfen können. Jährlich werden 800.000 Haushalte mit einer langen Liste von Fragen konfron- tiert. Diese Liste muss der Gesetzgeber vorher absegnen.

Schon lange haben es sich Statistiker und Demographen ge- wünscht, über den Mikrozensus verlässliche Zahlen darüber zu be- kommen, wie viele Kinder deutsche Frauen im Durchschnitt haben.

Aussagekräftiger als die Schätzwerte der »zusammengefassten Geburtenziffer« sind nämlich Statistiken, die erfassen, wie viele Kinder Frauen bis zum Beginn der Wechseljahre tatsächlich be- kommen haben. Doch im Bundesrat gab es lange Zeit beharrlich Widerstände dagegen, die Gesamtzahl von Kindern beim »Mikro- zensus« abzufragen. Kinder, die aus einer anderen Beziehung oder einer früheren Ehe stammten, die nicht im Haushalt der Mutter lebten oder bereits ausgezogen waren, durften nicht erfasst wer- den. Dahinter steckte weniger die Sorge um die Privatsphäre der Befragten als wiederum die Haltung, dass nicht sein kann, was nicht sein darf: nämlich außereheliche Kinder oder Scheidungs- kinder. Erst im September 2007 hat der Bundesrat den Weg für ein modernisiertes Mikrozensusgesetz freigemacht.

Wie schwach ausgerechnet in Deutschland, dessen Bewohnern aus dem Ausland eine bis in den Kontrollwahn ausartende Akri-

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