S
o waren aus der CSU deutli- che Zweifel daran zu hören, daß ein Mann im Rollstuhl Kanzler sein könne. In Mün- chen hieß es, zwar sei nicht die „Be- hinderung an sich“ das Problem, son- dern ihre praktischen Auswirkun- gen. Dabei beruft sich die CSU wohl- weislich auf CDU-Politiker. Diese ließen immer wieder durchblicken, daß Schäuble durchdie Querschnittläh- mung gesundheitlich anfälliger sei als ande- re. Sein Immunsystem sei geschwächt, so daß er relativ häufig unter Fieber und Erkäl- tungskrankheiten lei- de. Dies belaste ihn zum Beispiel bei Rei- sen über mehrere Zeitzonen.
Tabu-Bruch in Bayern
Der Tabubruch der bayerischen Uni- onspartei veranlaßte die Münchener „Abend- zeitung“ zu der zwei- deutig sarkastischen Schlagzeile: „Schäubleals Kanzler? CSU fühlt sich über- rollt.“ Ursprünglich hatte das Blatt nach Angaben aus CSU-Kreisen so- gar den Aufmacher im Sinn: „CSU will keinen Krüppel als Kanzler.“ Die für Offenheit bekannte Berliner „ta- geszeitung“ entschied sich für eine ähnliche Aussage – nur ohne das Reizwort „Krüppel“ – und titelte:
„CSU will keinen Kanzler im Roll-
stuhl.“ Die Behauptung, ein Mann im Rollstuhl könne nicht Regierungschef werden, war vor einiger Zeit schon einmal Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber nachgesagt worden, der selbst Ambitionen auf das Kanz- leramt hegt. Der CSU-Vize hatte den Satz jedoch vehement bestritten.
Schäuble hatte Anfang des Jah- res in einem „Stern“-Interview seine
Behinderung selbst problematisiert – und dabei selbst gefragt: „Ein Krüp- pel als Kanzler? Ja, die Frage muß man stellen.“ Nach Ansicht des Eth- nologen Wolfgang Kaschuba von der Humboldt-Universität in Berlin ent- sprang dies der taktischen Einschät- zung, Schäuble könne in der Offensi- ve eher gewinnen; denn bei seiner möglichen Kanzlerkandidatur wäre
das Thema ohnehin nicht zu vermei- den. Schäuble habe mit seiner Behin- derung zwei Handicaps zu überwin- den. Zum einen verlange die politi- sche Kultur effiziente, belastbare und leistungsfähige Menschen, und zwei- tens gehöre es zum Männlichkeits- bild, daß Männer weniger hilfsbedürf- tig sein dürften.
Positive Wirkung für Behinderte
Für Kaschuba steht aber auch fest, daß prominente Fälle auch zur Enttabuierung von Themen beitragen könnten, wie das Beispiel AIDS ge- zeigt habe. Auch der Psychologe Bernd Gasch von der Universität Dortmund glaubt, daß Schäuble als Kanzler mit seiner ständigen Me- dienpräsenz eine positive Wirkung für Behinderte haben könnte, da seine Behinderung schlichtweg stärker wahrgenommen wür- de: „Auf den Grup- penbildern nach Gip- feltreffen würde dann nicht mehr Kohl mit seiner Größe auffal- len, sondern Schäuble, der als einziger nicht steht.“
Solche positiven Auswirkungen erwar- tet Andreas Jürgens vom Behinderten- verband „Interessen- vertretung Selbst- bestimmt Leben Deutschland“ (ISL) in Kassel allerdings eher nicht. „Schließlich än- dert die Tatsache, daß Schäuble im Rollstuhl sitzt, nichts daran, daß die Bundesregierung eine krude, behinder- tenfeindliche Politik macht.“ Jürgens fällt es schwer zu sa- gen, ob der CDU-Politiker, wenn er sich zur Wahl stellte, trotz oder wegen seiner Behinderung gewählt würde.
Vielleicht würde Schäuble von einem Mitleidseffekt profitieren. Es könnte aber auch sein, daß sich viele Wähler von unbewußten Ressen- timents gegen Behinderte leiten ließen. Kerstin Reisdorf/afp A-2961
P O L I T I K AKTUELL
Deutsches Ärzteblatt 94,Heft 45, 7. November 1997 (17)
Schäuble
Ein Tabu wird gebrochen
Politiker und Medien thematisieren offen die Behinderung Die Tatsache, daß Wolfgang Schäuble seit einem Attentat 1990 im Rollstuhl sitzt, wurde bislang kaum thematisiert. Seit Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) Schäuble als seinen Nachfolger ins Spiel gebracht hat, bröckelt dieses Tabu jedoch.
Am Rednerpult: CDU/CSU-Fraktionsvorsitzender Wolfgang Schäuble Foto: Bundesbildstelle Bonn, Reineke