# 228967
I 075/2005 POM 1. Juni 2005 46 C
Interpellation
1825 Zuber, Moutier (PSA)
Weitere Unterschriften: 0 Eingereicht am: 13.04.2005
Verfassungsmässigkeit der kantonalen Asylpolitik
Vor einigen Wochen hat die höchste Gerichtsinstanz unseres Landes mindestens zweimal gewisse asylpolitische Massnahmen (in Bezug auf Nichteintretensentscheide), die von den Bundesbehörden angeordnet und von den Kantonsbehörden vollzogen wurden, für verfassungswidrig erklärt.
1. Welche Lehren zieht der Regierungsrat aus diesen jüngsten Bundesgerichtsentscheiden?
2. Welche konkreten und unmittelbaren Konsequenzen werden diese BGE auf die Asylpolitik des Kantons Bern haben?
3. Bei ihrer Vereidigung haben die Mitglieder des Regierungsrats und des Grossen Rats gelobt oder geschworen, «die Rechte und Freiheiten des Volkes und der Bürgerinnen und Bürger zu achten sowie die Verfassung und die verfassungsmässigen Gesetze streng zu befolgen». Begehen die Behördenmitglieder nicht einen Meineid, wenn sie Massnahmen anwenden oder beantragen, die offensichtlich gegen die verfassungsmässigen Bestimmungen verstossen?
4. Stehen einem Bürger oder einem anerkannten Verband Rechtsmittel zur Verfügung, um gerichtlich gegen eine gewählte Person (Bundesrat, Regierungsrat, Parlamentarier) vorzugehen, die gegen die Bundes- oder Kantonsverfassung verstösst? Erlaubt es die parlamentarische Immunität, willentlich die Verfassung zu verletzen, ohne bestraft zu werden?
Es wird Dringlichkeit verlangt. Gewährt: 21.04.2005
Antwort des Regierungsrates
Einleitung
Das Bundesgericht hat am 18. März 2005 einen Grundsatzentscheid gefällt, wonach es nicht mit der Bundesverfassung vereinbar sei, dass der Kanton Solothurn einem ausreisepflichtigen Asyl Suchenden die Nothilfe verweigert hatte. Es hat damit in der Sache einen Entscheid des Berner Verwaltungsgerichtes vom 15. November 2004 bestätigt, wonach die Verweigerung der Nothilfe durch den Migrationsdienst nicht rechtens gewesen war. Der Regierungsrat hatte im Vorfeld der Umsetzung des Entlastungsprogramms 03 im Rahmen der dringlichen Erlassverfahren die Nothilfeverordnung (BSG 866.13) verabschiedet, nach deren Art. 7 die Nothilfe bei mangelnder Kooperation verweigert werden konnte. Nach dem genannten
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Verwaltungsgerichtsentscheid hat der Migrationsdienst diese Bestimmung nicht mehr angewendet und richtet seither jeder bedürftigen Person auf Gesuch hin die Nothilfe aus.
Die Änderung der Verordnung ist eingeleitet. Mit der Überführung der Nothilfeverordnung in ordentliches Gesetzesrecht wurde aus Effizienzgründen zugewartet, weil aufgrund der laufenden Asylgesetzrevision auf Bundesebene absehbar ist, dass weitere Anpassungen auf Gesetzesstufe notwendig sein werden.
Zu Frage 1
Für den Kanton Bern bedeuten die jüngsten Entscheide des Bundesgerichts keine Neuorientierung, handhabt der Kanton die Gewährung der Nothilfe doch bereits seit dem genannten Verwaltungsgerichtsurteil vom November 04 verfassungskonform. Gestützt auf die vom Grossen Rat überwiesene Standesinitiative hat der Regierungsrat des Kantons Bern die Bundesversammlung allerdings auf den gesetzgeberischen Regelungsbedarf auf Bundesebene hingewiesen.
Zu Frage 2
Die beiden Entscheide des Bundesgerichts haben keine unmittelbaren, konkreten Auswirkungen auf die Praxis des Kantons Bern.
Zu Frage 3
Die nötige Klarheit in der Frage der Unzulässigkeit der Verweigerung von Nothilfe wurde im Kanton Bern erst durch das genannte Verwaltungsgerichtsurteil vom November 04 geschaffen. Es war nie die Absicht des Regierungsrates oder der ausführenden Behörde, die Bundesverfassung zu verletzen. Die Tatsache, dass zwei kantonale Verwaltungsgerichte (Bern und Solothurn) in der Beurteilung der gleichen Frage zu unterschiedlichen Ergebnissen kamen und auch der Entscheid des Bundesgerichts nicht einstimmig war, beweist, dass die Umsetzung gesetzlicher Normen immer auch eine Ermessensfrage ist. Durch die Beurteilung des Verwaltungsgerichts ergab sich erst, dass die angewandte Praxis mit dem von der Bundesverfassung garantierten Recht auf Hilfe in Notlagen nicht vereinbar ist. In der Folge wurde die Praxis sofort geändert. Von einem bewussten Verfassungsbruch oder einem Meineid kann keine Rede sein.
Zu Frage 4
Die Mitglieder des Grossen Rates wie auch diejenigen des Regierungsrats sind auf Amtszeit gewählt und tragen in erster Linie eine politische Verantwortung. Grossräte können gemäss Art. 6 des Grossratsgesetzes (BSG 151.21) für die im Rat gemachten Äusserungen nicht belangt werden. Für Regierungsratsmitglieder besteht gemäss Art. 18 des Organisationsgesetzes ein Verfolgungsprivileg, welches nur der Grosse Rat aufheben kann. Wie ausgeführt liegt jedoch im vorliegenden Zusammenhang gar kein Verfassungsbruch vor, so dass sich die Frage der Aufhebung der Immunität oder der Verfolgung von gewählten Personen aktuell gar nicht stellt.
An den Grossen Rat