• Keine Ergebnisse gefunden

Chronische Schmerzen von Kiefer bis Kopf nicht immer liegt s an den Zähnen

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Chronische Schmerzen von Kiefer bis Kopf nicht immer liegt s an den Zähnen"

Copied!
6
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

Chronische Schmerzen von Kiefer bis

Kopf – nicht immer liegt‘s an den Zähnen

Chronische Schmerzen sind ein häufiges Problem in der Bevölkerung. Etwa die Hälfte der Patienten mit chronischen Kiefer-, Gesichts- und Kopfschmerzen suchen anfänglich einen Zahnarzt auf [10].

Dieser steht vor der differenzialdiagnostischen Herausforderung, neben den erlernten und bewährten Behandlungsgrundsätzen des odontogenen Schmerzes die wichtigsten Ursachen des nichtodontogenen orofazialen Schmerzes zu erkennen und somit langwierige Fehlbehandlungen zu vermeiden.

Dr. Dr. Volker Thieme // Bremen

S

chmerz wird als „eine unangenehme sensorische und emoti- onale Erfahrung, die mit aktueller oder potenzieller Gewebe- schädigung verbunden ist oder in Begriffen einer solchen Schä- digung beschrieben wird“, definiert (Internationale Vereini- gung zum Studium des Schmerzes, IASP [8]). Noch bis in das 20. Jahrhundert herrschte die Annahme vor, dass Schmerzemp- findungen als direkte Reizantwort auf die Erregung von Nozi- zeptoren – ähnlich wie ein Klingelzugmechanismus – entstehen, wobei die erlebte Schmerzintensität dem Umfang der Gewe- beschädigung entspricht. Diese mechanistische Betrachtungs- weise – peripherer Reiz – zentrales Signal – Schmerz – wurde erstmals von René Descartes 1662 in dem Essay „De homine“

beschrieben [3]. Schmerzempfindungen, die in der klinischen Beobachtung dieser Annahme nicht entsprachen, wurden – und werden zuweilen auch heute noch – als „psychisch“ klassifiziert [12]. Erst seit Ende der 1950er Jahre kam es zu einem grundsätz- lichen Umdenken im Schmerzverständnis [7]. Dem Schmerz liegt eine komplexe Reizverarbeitung auf kognitiver, emotiona-

ler und affektiv-motivationaler Ebene zugrunde. Dabei spielen neuronale Hemmsysteme und Erregungsmechanismen eine ent- scheidende Rolle (inhibitorische und exzitatorische Modulation der Schmerzempfindung).

Von akut zu chronisch

Schmerz besitzt sowohl eine physiologische, als auch eine psy- chologische Dimension. Beide Faktoren interagieren als eine funktionelle Einheit. Grundsätzlich wird zwischen akutem und chronischem Schmerz unterschieden. Akutschmerz erfüllt eine biologische Funktion als Warnsignal zum Schutz der körper- lichen Integrität. Die Bedeutung dieser Warnfunktion wird in Fällen der sehr seltenen angeborenen Analgesie deutlich. Bei den betroffenen Kindern kommt es zu häufigen Bissverletzungen von Zunge und Lippen, zu rezidivierenden Schleimhautulze- rationen, narbiger Mikrostomie, vorzeitigem Zahnverlust und Kieferosteomyelitiden. Darüber hinaus führen Hornhauttrübun- gen und multiple Extremitätenverletzungen zu schweren Beein- trächtigungen.

Von chronischem Schmerz ist dann die Rede, wenn der Schmerz mehr als drei Monate (an 50% der Tage über min- destens zwei Stunden) nach Abheilung der primären Gewebe- schädigung persistiert. Die IASP erarbeitete eine pragmatische Klassifikation des chronischen Schmerzes unter Berücksich- tigung der Ätiologie, der Lokalisation, des primären patho- physiologischen Mechanismus und des betroffenen Organs.

Sie unterscheidet sieben Erkrankungsgruppen: 1. chronischer primärer (idiopathischer) Schmerz, 2. chronischer Tumor- schmerz, 3. chronischer posttraumatischer und postchirur- gischer Schmerz, 4. chronischer neuropathischer Schmerz, 5. chronischer Kopfschmerz und orofazialer Schmerz, 6. chro- nischer viszeraler Schmerz und 7. chronischer muskuloskelet- taler Schmerz [1]). In Tabelle 1 werden die Gruppen mit ihren signifikanten Merkmalen aufgeführt. Überschneidungen sind als Kreuzreferenz vermerkt.

Chronische Schmerzen können in nozizeptive und neuro- pathische Schmerzen differenziert werden. Im Falle nozizep- tiver Schmerzen sind Funktion und Struktur neuronaler Sys- teme erhalten. Nach kausaler Therapie gelten diese Schmerzen als reversibel. Odontogene Schmerzen und muskuloskelettale Schmerzen bei Myoarthropathien der Kiefergelenke werden dieser Schmerzkategorie zugerechnet.

Abb. 1 // Schematische Darstellung des N. trigeminus. Je nach betroffenem Ast kommt es zu den typischen Schmerzen.

© Henrie / stock.adobe.com

10 der junge zahnarzt 04 | 2021

(2)

Neuropathische Schmerzen entstehen durch Erkrankun- gen oder Läsionen eines oder mehrerer Nerven (Mono- bzw.

Polyneuropathie). In diesen Fällen kommt es zu irreversiblen pathophysiologischen, biochemischen und morphologischen Veränderungen des somatosensorischen Systems. Chronische neuropathische Schmerzen sind somit nicht mehr Symptome (Warnsignal) einer übergeordneten Krankheit, sondern stel- len selbst eine eigenständige Krankheitsentität dar. Unter den orofazialen Schmerzkrankheiten betrifft dies zum Beispiel die traumatische Trigeminusneuropathie, den anhaltenden idiopa- thischen Gesichtsschmerz (AIGS) bzw. die atypische Odontal- gie. Sie können in der Regel durch eine monokausale, alleini- ge zahnärztliche Behandlung der primären Läsion nicht mehr erfolgreich therapiert werden.

Die Internationale Kopfschmerzgesellschaft (IHS) stellte 2018 die dritte Auflage der Internationalen Klassifikation der Kopf- schmerzerkrankungen (ICHD-3) vor [5]. Grundsätzlich wird zwischen primären und sekundären Kopfschmerzen und einer dritten Gruppe, der schmerzhaften Läsionen der Hirnnerven und anderen kraniellen Gesichtsschmerzen, die sich nicht in dieses Schema einordnen lassen (Sonderformen), unterschieden.

Tabelle 2 enthält einen gekürzten Auszug der zahnärztlich-dif- ferenzialdiagnostisch wichtigen Kopfschmerzerkrankungen.

Per definitionem sind primäre Kopfschmerzen nicht auf eine andere Erkrankung zurückzuführen. Dieser Gruppe sind die Migräneformen, Kopfschmerzen vom Spannungstyp, trigemino- autonome Kopfschmerzen (zum Beispiel Clusterkopfschmerz) und einige seltene Krankheitsbilder zugeordnet. Sekundäre Kopf- schmerzen werden auf organische und psychiatrische Primärer- krankungen zurückgeführt. Für den Zahnarzt von besonderem Interesse sind Erkrankungen der Organe und Gewebe des Kopfes und Halses, insbesondere der Zähne, der Zunge und Schleim- häute, der Kieferknochen, Kiefergelenke, der Speicheldrüsen, des Nasen- und Nasennebenhöhlensystems sowie Traumen des Kopfes und der Halswirbelsäule (HWS). In zunehmenden Maße begegnet der Zahnarzt auch chronischen Schmerzver- läufen unter dem Bild einer Somatisierungsstörung. In diesen Fällen ist eine psychosomatisch-psychiatrische Expertise ratsam.

Zur dritten Gruppe der Kopfschmerzformen werden kranielle Neuralgien wie die Trigeminusneuralgie, die Trigeminusneuro- pathie und die Glossopharyngeusneuralgie gezählt. Der andau- ernde idiopathische Gesichtsschmerz (AIGS) und das Syndrom Schmerzerkrankung Signifikantes Merkmal Kreuzreferenz Beispiele

1. Primär chroni- scher Schmerz

Ungeklärte Ätiologie Chron. OFS, AIGS BMS, Fibromyalgie u.a.

2. Chronischer Tumorschmerz

Direkter Tumor- Schmerz, Therapie- bedingter Schmerz (Operation, Radiatio, Zytostatika)

chron. viszeraler, chron. muskuloskelettaler, chron. neuropathischer Schmerz, mixed pain

3. Chronischer post- chirurgischer u.

posttraumatischer Schmerz

Operation, Trauma Nicht enthalten:

Infektion, Tumor, PCS

30% chron. neuro- pathischer Schmerz

4. Chronischer neuropathischer Schmerz

Läsion /Erkran- kung des somato - sensorischen Systems (peripherer/zentraler Schmerz)

chron.postchir./traumat., chron. OFS

chron.Tumorschmerz, mixed pain

5. Chronischer Kopfschmerz und chronischer orofa- zialer Schmerz

Chron. primärer und chron. sekundärer KS und OFS. Mehr als 3 Monate an 50% der Tage über mindestens 2 Stunden andauernd.

PCS,

chron. neuropathischer, chron. muskuloskelettaler, chron. viszeraler Schmerz

6. Chronisch viszeraler Schmerz

Chron.Schmerz ausge- hend von Kopf-, Hals-, Thorax-, Abdominal- u. Beckenorganen

PCS,

chron. Tumorschmerz, chron. OFS

7. Chronisch muskuloskettaler Schmerz

Nozizeptiver Schmerz ausgehend von Knochen, Gelenken, Sehnen, Muskeln, Weichgeweben des Bewegungsapparates

chron. OFS,

chron. postchir./traumat.

Schmerz

PCS – Primär chronischer Schmerz; KS – Kopfschmerz; AIGS – Andauernder idiopathischer Gesichtsschmerz; BMS – Burning Mouth Syndrom, OFS - Orofazialer Schmerz

Tabelle 1 // Übersicht zur Klassifikation des chronischen Schmerzes (IASP[13]);

Überschneidungen sind als Kreuzreferenz vermerkt.

Teil 1 Primäre Kopfschmerzen

1. Migräne und klinische Varianten

2. Kopfschmerz vom Spannungstyp – episodisch - chronisch 3. Trigemino-autonome Kopfschmerztypen (TAK) 3.1 Clusterkopfschmerz – episodisch - chronisch Teil 2 Sekundäre Kopf- und Gesichtsschmerzen

5. Kopfschmerz zurückzuführen auf eine Verletzung oder ein Trauma des Kopfes und/oder der HWS

11. Kopf- oder Gesichtsschmerz zurückzuführen auf Erkrankungen des Schädels sowie von Hals, Auge, Ohren, Nase, Nebenhöhlen, Zähnen, Mund und anderen Gesichts- oder Schädelstrukturen 11.5.1 Kopfschmerz zurückzuführen auf eine akute Rhinosinusitis 11.5.2 Kopfschmerz zurückzuführen auf

eine chron. oder rezidiv. Rhinosinusitis

11.6. Kopfschmerz zurückzuführen auf Erkrankungen der Zähne 11.7 Kopfschmerz zurückzuführen auf Erkrankungen des Kiefergelenks 11.8. Kopfschmerz zurückzuführen auf Entzündungen

des Ligamentum stylohyoideum

12 Kopfschmerz zurückzuführen auf psychiatrische Störungen 12.1 Kopfschmerz zurückzuführen auf eine Somatisierungsstörung Teil 3 Kraniale Neuralgien und andere Gesichts- und Kopfschmerzen 13.1.1. Trigeminusneuralgie

13.1.2.3. Schmerzhafte posttraumatische Trigeminusneuropathie 13.2.1. Glossopharyngeusneuralgie

13.11 Syndrom des brennenden Mundes (Burning Mouth Syndrome) 13.12 Anhaltender idiopathischer Gesichtsschmerz

(Persisted idiopathic facial pain)

Tabelle 2 // Gekürzter Auszug aus der Internationalen Klassifikation der Kopfschmerzkrankheiten, ICHD-3, 2018 [5]

(3)

des brennenden Mundes („burning mouth syndrome”) erfordern als Ausschlussdiagnosen je nach Lage des Falles eine multidiszi- plinäre Diagnostik und Therapie unter spezieller Einbeziehung von MKG-Chirurgie, HNO-Heilkunde, Schmerztherapie, Phy- siotherapie, psychiatrisch-psychosomatischen und allgemein- medizinischen Fachdisziplinen.

Im Folgenden sollen einige charakteristische Krankheitsbil- der des chronischen orofazialen Schmerzes, denen der Zahnarzt in der täglichen Praxis begegnet, in Kürze dargestellt werden.

Trigeminusneuralgie (TN)

Typisch ist ein intensiver, blitzartig einschießender Gesichts- schmerz von kurzer Dauer (Sekunden bis zu zwei Minuten). Ein hoher Leidensdruck kann bis zur Suizidalität führen. Die Inzi- denz steigt mit dem fünften Dezennium. Am häufigsten sind der zweite und dritte Trigeminusast betroffen (Abb. 1). Die Schmerz- attacken werden durch Triggerfaktoren wie Sprechen, Kauen, Zähneputzen, Gesichtwaschen ausgelöst. Die Frequenz reicht von 2 bis 3 Anfällen/Tag bis zu salvenartigen „Explosionen“. Die Äti- opathogenese ist nicht ganz geklärt. Bei der klassischen Form der TN wird ursächlich eine Kompression des Nerven an seiner Eintrittsstelle in den Hirnstamm durch ein pulsierendes Gefäß (A. cerebelli superior) angenommen. Als sekundäre Ursachen kommen unter anderem multiple Sklerose, Tumoren oder Gefäß- anomalien infrage. Die Aufgabe des Zahnarztes ist es, in der- artigen Fällen mögliche odontogene Ursachen neuralgiformer Schmerzen auszuschließen und die Patienten rechtzeitig einer neurologischen Diagnostik und Therapie zuzuführen [11].

Die Diagnose wird durch das charakteristische klinische Bild, den magnetresonanztomographischen Nachweis des Gefäß-Ner- ven-Kontaktes und den Ausschluss sekundärer Ursachen gesi-

chert. Die Erstbehandlung erfolgt medikamentös unter Einsatz von Antikonvulsiva wie Carbamazepin, Oxcarbazepin, Gaba- pentin und Pregabalin. Bei unzureichendem medikamentösem Ansprechen sind neurochirurgische Interventionen wie die mik- rovaskuläre Dekompression nach Jannetta (MVD) indiziert.

Dabei wird das komprimierende Gefäß über eine retroauriku- läre Trepanation aufgesucht, vom Nerven gelöst und durch ein Interponat (Teflon u. a.) unterpolstert. Die Erfolgsquote wird mit 80 bis 90% angegeben. Mit der Thermokoagulation des Gangli- on Gasseri steht ein Verfahren mit geringer Allgemeinbelastung zu Verfügung, das bei Risikopatienten eingesetzt werden kann.

Wirkprinzip ist die kurzfristige Erhitzung des Ganglion Gasseri auf 65 bis 70°C mit Hilfe einer Koagulationsnadel.

Schmerzhafte Trigeminusneuropathie

Die Ätiologie der Erkrankung ist zumeist auf eine mechani- sche, thermische oder chemische Schädigung eines der Äste des N. trigeminus zurückzuführen, wobei ein zeitlicher Zusammen- hang zwischen Trauma und Schmerzmanifestation nachweis- bar ist (Abb. 2). Darüber hinaus können auch zentrale und sys- temische Erkrankungen eine Rolle spielen. Die Symptomatik ist durch eine variable Kombination von neurologischen Posi- tiv- und Negativsymptomen gekennzeichnet. Im Vordergrund stehen sehr belastende, dumpfe Brennschmerzen und einschie- ßende Schmerzattacken. Weitere Positivsymptome wie Kribbeln (Parästhesie, Dysästhesie), gesteigerte Schmerzempfindlichkeit (Hyperalgesie) und Schmerzempfindung auf nichtschmerzhafte Berührungen (Allodynie) sind häufig nachweisbar. Zu den Nega- tivsymptomen des betroffenen Nervenastes zählen herabgesetzte Sensibilität auf Berührung (Taubheitsgefühl, Hypästhesie) und herabgesetzte Schmerzempfindlichkeit (Hypalgesie).

Dieses Krankheitsbild ist für den Zahnarzt und MKG-Chir- urgen von besonderer Bedeutung, da viele oralchirurgische Ein- griffe unter Nutzung rotierender Instrumente in nervnahen Regi- onen durchgeführt werden. Die Schonung gefährdeter Nerven Abb. 2 // Weichteilnarben in der Region des irreversibel geschä-

digten N. mentalis links mit Brennschmerzen, Taubheitsgefühl und Allodynie nach multiplen oralchirurgischen Eingriffen

Abb. 3 // Lingua plicata mit ausgeprägter Mundtrockenheit und Zungenbrennen

12 der junge zahnarzt 04 | 2021

(4)

wie des N. mentalis, N. alveolaris inferior und N. infraorbitalis hat unbedingt Vorrang. Die Therapie dieses Krankheitsbildes ist schwierig, langwierig und nur eingeschränkt erfolgreich. Im Vordergrund stehen die medikamentöse Anwendung von Anti- konvulsiva und Antidepressiva sowie der Einsatz psychothera- peutischer edukativer Methoden der verbesserten Schmerzbe- wältigung. Herkömmliche Akutschmerzanalgetika und Opioide sind wenig wirksam [1].

Anhaltender idiopathischer Gesichtsschmerz (AIGS) und atypische Odontalgie

Die klinische Symptomatik wird durch einen quälenden, bren- nenden, tief sitzenden, schlecht lokalisierbaren Gesichtsschmerz charakterisiert, der nicht an anatomische Grenzen gebunden ist und sich über die Ursprungsregion in weitere Gesichtsarea- le, auch über die Mittellinie und in den Gegenkiefer ausbreiten kann. Der Schmerz tritt spontan auf, kann aber auch durch ein Trauma im MKG-Bereich oder im Bereich der Nase und des Nasennebenhöhlensystems ausgelöst werden. Die Ätiologie des AIGS ist nicht geklärt. Die Diagnose „AIGS“ ist per definitionem als Ausschlussdiagnose zu verstehen. Einige Autoren nehmen ein Kontinuum heterogener neuropathischer Entitäten bis hin zur posttraumatischen Trigeminusneuropathie an [4]. Zwangsläufig ergeben sich differenzialdiagnostische Überschneidungen. Eine Sonderform des AIGS stellt die atypische Odontalgie dar, die als persistierender Zahnschmerz ohne krankhaften klinischen oder röntgenologischen Befund beschrieben wurde [14]. Ausgangs- punkt ist die endodontische Behandlung oder Extraktion eines Zahnes oder einer Zahngruppe. Trotz abgeschlossener Heilung entwickelt sich eine Symptomatik, die nach Ausbreitung über ein größeres Areal nicht vom AIGS zu unterscheiden ist. Die Inzidenz nach endodontischen Behandlungen wird mit 3–6%

angegeben [6].

Mundbrennen – Burning-Mouth-Syndrom (BMS)

Die Symptomatik ist durch ein täglich auftretendes, brennendes Prickeln und Stechen der Zunge, Mundschleimhaut und Gingiva gekennzeichnet. Nicht selten wird gleichzeitig über Mundtro- ckenheit (Xerostomie) und/oder Geschmacksstörungen (Dys- geusie) geklagt. Die Beschwerden können die gesamte Mund- höhle einschließlich Rachenraum einbeziehen (Stomatodynie).

Zumeist wird jedoch nur isoliert die Zunge bzw. die Zungen- spitze angegeben (Glossodynie). Bei vielen betroffenen Patien- ten besteht eine unterschwellige Kanzerophobie. In 41–71% der Betroffenen wurden Depressionen und Angststörungen nach- gewiesen [2].

Ätiologisch ist die idiopathische Form von einer symptomati- schen, multifaktoriell verursachten Variante („burning mouth-li- ke symptoms”) streng zu trennen. Die Pathogenese der idiopa- thischen Form ist nicht geklärt. Sie wird auf unterschiedliche periphere und zentrale neuropathische Mechanismen zurückge- führt [9]. Analog zum AIGS ist die BMS als Ausschlussdiagnose aufzufassen. So muss eine Reihe lokaler pathologischer Prozesse, systemischer Erkrankungen und Nebenwirkungen zahlreicher Medikamente ausgeschlossen werden.

→ Lokale Faktoren des symptomatischen Mundschleimhaut- brennens: Zungenveränderungen (Lingua plicata, Abb. 3; Lingua geographica u. a.) und Schleimhauterkrankungen, mechanische, chemische, galvanische Irritationen, man- gelhafte Mundhygiene, Kontaktallergien und Prothesenun-

(5)

verträglichkeiten, Mundwässer, Alkohol, Tabak, orofazi- ale Parafunktionen wie Zungenpressen und Bruxismus, Zustand nach Bestrahlung.

→ Systemische Faktoren des symptomatischen Mundschleim- hautbrennens: Anämien, Diabetes mellitus, Vitaminman- gelzustände (B1, B2, B6, B12), Erkrankungen des Gast- rointestinaltraktes und des rheumatischen Formenkreises, Speicheldrüsenerkrankungen.

Zahlreiche Medikamente rufen Mundtrockenheit hervor und können mit Mundschleimhautbrennen assoziiert sein. Dies betrifft Antihypertonika, Neuroleptika, Antidepressiva, Ben- zodiazepine, Antikonvulsiva, Antiparkinsonika, L-Thyroxin, Zytostatika.

Die medikamentöse Therapie des BMS ist bisher unbefriedi- gend. Für die Effektivität von Antidepressiva oder Antikonvul- siva besteht eine schwache Evidenz. Eine Hormonsubstitution zur Therapie des BMS ist nutzlos. Oft trägt der ärztliche Hinweis, dass es sich um ein quoad vitam harmloses Leiden handelt, zur Beruhigung der Patienten bei.

Anhaltende somatoforme Schmerzstörung

Das moderne biopsychosoziale Verständnis des chronischen Schmerzes basiert auf dem neurobiologisch gesicherten Zusam- menhang von psychisch-emotionalem und somatischem Schmerz. Ängste und Depressionen können zu körperlich emp- fundenen Schmerzen führen und diese verstärken. Prägend wir- ken sich lebensgeschichtlich belastende Ereignisse, Verlusterleb- nisse, Misshandlungen, sexuelle Traumata und Deprivationen in der Kindheit aus. Andererseits führen chronische Schmerzer- lebnisse selbst zu Depression und Angststörungen. Unter Soma- tisierung wird die Präsentation von Körpersymptomen ohne

nachweisbare organische Ursache und die damit zusammenhän- gende Inanspruchnahme medizinischer Leistungen verstanden.

Anhaltende somatoforme Schmerzstörungen sind durch auffällig hartnäckige, quälende Schmerzen gekennzeichnet, die in zeitli- cher Koinzidenz mit emotionalen Konflikten oder psychosozialen Belastungen auftreten und weder durch klinische noch röntge- nologische Befunde hinreichend erklärbar sind. Der Zahnarzt wird in derartig gelagerten Fällen nicht selten zu überflüssigen Eingriffen genötigt, die das Schmerzgeschehen eher verstärken und zur Chronifizierung beitragen.

Kasuistik

Ein typischer Fall wird mit Abb. 4 dokumentiert. Die zur Erst- vorstellung 49-jährige Patientin stellte sich mit einer mehrjäh- rigen Schmerzanamnese vor. Auffällig ist im Röntgenbild die Häufung endodontischer Behandlungen (Abb.4a). Nach aus- führlicher Anamneseerhebung wurde die Diagnose „somato- forme Schmerzstörung“ gestellt und ein schmerztherapeutisches Behandlungskonzept erläutert. Die Patientin beharrte auf einer rein somatischen Erklärung ihrer Schmerzen und lehnte den Behandlungsvorschlag ab. Sie stellte sich erst ein Jahr später wie- der vor. In der Zwischenzeit hatte sie sich alio loco 13 Zähne in verschiedenen Praxen extrahieren lassen, ohne dass eine Besse- rung erreicht wurde. Psychosomatische Risikofaktoren waren:

Medikamentenabusus, chronische private Konfliktsituation, sozial ungesicherte Lebensumstände.

Fazit für die Praxis

Chronische orofaziale Schmerzen konfrontieren den Zahnarzt und MKG-Chirurgen nicht selten mit differenzialdiagnostischen Unsicherheiten und Fehlinterpretationen. Da sich nach langen, erfolglosen Behandlungsverläufen oft nur geringe klinische und röntgenologische Lokalbefunde nachweisen lassen, gewinnen die Anamnese, die Aufklärung der Schmerzgenese und die Berück- sichtigung psychosomatischer Risikofaktoren vorrangige Bedeu- tung. Eine Schmerzlinderung ist bei chronischen neuropathi- schen Schmerzen in der Regel mit zahnärztlichen und chirurgi- schen Behandlungsmethoden allein nicht zu erreichen. In diesen Fällen sollte ein interdisziplinär abgestimmtes, medikamentös und psychosomatisch orientiertes (multimodales) Behandlungs- konzept unter Einbeziehung des Schmerztherapeuten, der neu- rologisch-psychiatrischen Fachdisziplinen, der relevanten Nach- bardisziplinen und der Allgemeinmedizin angestrebt werden.

Literatur beim Verlag (djz@springernature.com) oder online im Beitrag (www.springermedizin/derjungezahnarzt)

Abb. 4 // a Befund zur Erstvorstellung einer 49-jährigen Patientin mit mehrjähriger Schmerzanamnese. b Befund zur Zweitvorstel- lung nach einem Jahr, Zustand nach Extraktion von 13 Zähnen ohne Besserung des chronischen Schmerzes

Dr. Dr. Volker Thieme //

Justus-Liebig-Str. 56 28357 Bremen

14 der junge zahnarzt 04 | 2021

(6)

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Auf einen förmlichen Kaufvertrag wurde in beiderseiti- gem Einverständnis verzichtet, AF wies Svenja aber darauf hin, dass der Kaufvertrag nur unter der Bedingung gelten solle,

Das Kopf-Hals-Tu- morzentrum am Klinikum Bremen-Mitte bietet als Zusammenschluss der Kliniken für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde sowie Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie ei-

Online-Veranstaltung in Kooperation mit dem Bayerischen Zentrum für Krebsforschung (BZKF) und dem Comprehensive Cancer Center (CCC) Erlangen-EMN.. Hals-Nasen-Ohren-Klinik, Kopf- und

Es ist angesichts dieser Gesamtlage schwer nachvollziehbar, warum für eine Stärkung europäischer Sicher- heits- und Verteidigungspolitik nicht auch außerhalb des GSVP-Rahmens

Was man nicht sieht Wie Kopf- schmerzen, Gleichgewichtsprobleme und die anderen vielfältigen Phäno- mene genau zustande kommen, ist nicht geklärt und wird häufig als di-

Rhinosinusitis Ein banaler Schnup- fen, der durch eine Entzündung der Nasenschleimhaut (Rhinitis) ausge- löst wird, kann sich im weiteren Ver- lauf der Atemwegsinfektion schnell

an bereits parodontal gelockerten Zähnen, wer- den nach ausreichender Infiltrations- oder Lei- tungsanästhesie zunächst die Sharpey`schen Fasern mittels eines Desmotoms, einer

Die parasympathische Innervation der Glandula sublingualis erfolgt genauso wie die der Glandula submandibularis über das Ganglion submandibulare (N.. Ursprung ist dabei eben- falls