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Moralischer Realismus

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FRANZ V. KUTSCHERA

Moralischer Realismus

I

n der Ethik stehen sich heute zwei Positionen gegenüber, die sich schon in der Konzeption dieser Disziplin grundlegend unterscheiden: Realis- mus und Subjektivismus. Der Realismus ist die traditionelle Auffassung, die heute aber nur von wenigen Autoren vertreten wird. Nach ihm drük- ken wahre moralische Aussagen objektiv bestehende Tatsachen aus. Der Subjektivismus ist die offizielle Doktrin unserer Tage. Nach ihm handeln moralische Aussagen von subjektiven Interessen, bzw. von sozialen Ver- haltenskonventionen.1 Ich will im folgenden etwas zur Verteidigung des Realismus sagen, möchte aber gleich eingangs betonen, daß ich die Kon- troverse für rein argumentativ nicht entscheidbar halte.

U m die gegensätzlichen Thesen einigermaßen präzise beschreiben und diskutieren zu können, muß ich zunächst daran erinnern, daß es in der Ethik zwei Ansätze gibt, deren Unterschied unabhängig von jenem zwischen realistischen und subjektivistischen Positionen ist. Für Pflicht-

ethiken oder deontologischen Ethiken ist der moralische Grundbegriff jener der Pflicht oder des Gebotenseins einer Handlung. Die Grundidee ist

hier, daß es in der Ethik primär um Regeln des Umgangs miteinander geht. Moralisches Verhalten wird so begriffen, daß es aus einer Einstel- lung gegenüber anderen hervorgeht, in der wir sie als Subjekte gleichen Rechts anerkennen, als Personen, die denselben Anspruch auf Würde, auf Leben und freie Selbstentfaltung haben wie wir selbst. Personen werden als Träger unverliehener Rechte angesehen, von elementaren Freiheits- rechten zunächst, und diese Rechte sind Ansprüche gegenüber anderen, in ihrer Ausübung nicht behindert zu werden, bzw. sofern man in ihrer Wahrnehmung beeinträchtigt ist und sich selbst nicht aus dieser Notlage

i Zum Subjektivismus rechnet man auch oft den Nichtkognitivismus. Von ihm werde ich im folgenden absehen, da er heute praktisch keine Rolle mehr spielt - selbst Richard Hare vertritt inzwischen einen Utilitarismus.

LOGOS, N . F . I (1994) 241-258

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befreien kann, auch auf Hilfe von anderen. Diesen Rechten entsprechen Pflichten der anderen, Pflichten, uns zu geben, worauf wir ein Recht haben, was sie uns schulden. Nicht alle moralischen Pflichten ergeben sich aus elementaren Freiheitsrechten, sie können auch aus Verträgen oder Konventionen resultieren, die den einzelnen zusätzliche Rechte übertra- gen. Aber die Idee ist, daß sich alle anderen Rechte aus den elementaren ergeben auf dem Weg über das fundamentale Recht, an der Ausgestaltung der sozialen und politischen Ordnung beteiligt zu werden, unter der man lebt.

Für Wertethiken oder honsequentialistische Ethiken sind hingegen Wert- begriffe fundamental. Man geht davon aus, daß Sachverhalte unter be-

stimmten moralischen Aspekten gut, schlecht oder indifferent sind, bzw.

besser oder schlechter als andere. In der Regel nimmt man idealisierend an, daß sich die verschiedenen Aspekte gewichten und in eine umfassende Wertordnung integrieren lassen. Die moralische Qualität einer Handlung bemißt sich dann nach dem Wert ihrer unmittelbaren und mittelbaren Folgen, und wo diese unsicher sind, nach dem zu erwartenden Wert ihrer Folgen. Die Grundidee ist, daß wir verpflichtet sind in jeder Situation so zu handeln, wie das im Blick auf die Folgen sämtlicher möglicher Hand- lungsalternativen optimal ist. Man ist also z. B. nicht generell verpflichtet, ein gegebenes Versprechen einzuhalten, egal wie die Umstände aussehen, sondern primär geht es darum, im konkreten Fall Gutes zu bewirken, und dabei sind nicht nur die Anliegen dessen relevant, dem wir etwas verspro- chen haben, sondern auch jene dritter. Bedarf also z.B. ein dritter drin- gend meiner Hilfe, so ist es besser, daß ich sie ihm leiste, als daß ich mit dem Freund, wie verabredet, ins K i n o gehe.

Beide Ansätze haben ihre Berechtigung in der Ethik und keiner vermag allein allen moralischen Phänomenen gerecht zu werden. Ich will aber hier nicht näher auf ihre Grenzen und das Problem ihrer Verbindung in einer einheitlichen Ethik eingehen. Es ging mir nur um den Hinweis, daß wir es mit zwei verschiedenen Klassen moralischer Aussagen zu tun

haben: M i t Wertaussagen und mit normativen Aussagen über Gebote, Ver- bote, Erlaubnisse, Rechte und Pflichten.

Ich will nun die Kontroverse zwischen Realismus und Subjektivis- mus zunächst bzgl. der Wertaussagen diskutieren. Generell geht man davon aus, daß Wertaussagen sich auf Werterfahrungen stützen. Nicht die Existenz von Werterfahrungen ist zwischen beiden Positionen strittig, sondern ihre Deutung. Die Existenz von Werterfahrung wird eigentlich nur von denjenigen geleugnet* die sie als Erfahrung abstrakter Entitäten deuten, etwa in dem Sinn, in dem Piaton von der Schau des Guten oder

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Schönen redet. Es ist natürlich fragwürdig, von der Eigenschaft, gut zu sein, zum Guten als einer Art Gegenstand überzugehen, und die A n - schauung solch eines Objekts wäre sicher keine Erfahrung im normalen Sinn, sondern eine intellektuelle Anschauung. Im üblichen Sinn ist Wert- erfahrung aber keine Erfahrung abstrakter Entitäten, kein Erleben des Guten als solchen, sondern eine Erfahrung des Inhalts, daß etwas - z. B.

eine Handlung - gut ist. In diesem Sinn wollen wir die Rede von »Werter- fahrung» im folgenden verstehen. Als Wertsachverhalt bezeichnen wir einen Sachverhalt des Inhalts, daß etwas eine positive oder negative Wert- qualität hat, unter einem Wertaspekt indifferent ist oder einer anderen Sache unter diesem Aspekt vorzuziehen ist. Solche Wertsachverhaltc wer- den von »natürlichen« Sachverhalten unterschieden, die sich ohne die Verwendung von Wertbegriffen ausdrücken lassen.

Nach realistischer Auffassung sind nun Werterfahrungen Erfahrun- gen objektiv bestehender Wertsachverhalte. Die erste, ontologische These des Realismus ist damit:

1) Es gibt objektive Werttatsachen, d.h. solche, die unabhängig von unserem subjek- tiven Fürwahrhalten und unseren subjektiven Präferenzen bestehen.

Es gibt sie ebenso wie objektive natürliche Tatsachen, etwa die, daß der Mond rund ist. Auch Wertaussagen beschreiben daher die Realitität, wenn auch unter anderen Aspekten als etwa die Aussagen der Physik. Wie diese sind sie Behauptungssätze; sie sind wahr oder falsch im Sinn des gleichen realistischen, d.h. korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriffs. Sie haben einen sachlichen Gehalt, einen kognitiven Sinn. Wertfragen ent- scheiden sich an objektiven Tatsachen, nicht an unseren Meinungen oder Interessen.

Die zweite, erkenntnistheorethische These des Realismus ist dann:

2) Wir können Werttatsachen, jedenfalls teilweise, erkennen, und Werterfahrungen bilden die Grundlage unserer Werterkenntnis.

Werterfahrungen sind also kognitiv relevant, in ihnen erfassen wir Aspekte der Realität. Der Realismus behauptet hingegen nicht, daß Wert- erfahrungen untrüglich sind, daß wir nur tatsächlich Wertvolles als wert- voll erleben, daß das, was uns aufgrund unserer Werterfahrungen als wertvoll erscheint, auch wirklich wertvoll ist. Das Insistieren auf der Objektivität der Wertsachverhalte schließt das gefade aus. Wie im Fall natürlicher Sachverhalte können wir in unseren Urteilen über ihr Beste- hen grundsätzlich immer irren.

Die realistische Deutung betont so die Paralellen zwischen der Erfah- rung im Bereich der Werte und dem natürlichen Sachverhalte, zwischen Wertaussagen wie »Diese Handlung ist gut« und natürlichen Aussagen

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wie »Diese Handlung hat eine bestimmte Wirkung«. Das heißt freilich nicht, daß der Unterschied zwischen beiden Formen der Erfahrung völlig verwischt würde.

Bei der Charakterisierung der subjektivistischen Deutung der Wert- erfahrung will ich mich auf die Projektionstheorie beschränken. Ihre für die neuzeitliche Philosophie maßgebliche Formulierung hat sie schon bei David Hume gefunden. Danach ist Werterfahrung nicht die Erfahrung objektiver Werttatsachen, sondern die Erfahrung natürlicher Sachverhalte im Licht unserer eigenen Präferenzen. E r spricht davon, daß wir die natürlichen Objekte vergolden oder schwärzen mit Farben, die wir unse- ren Gefühlen und inneren Einstellungen entnehmen.

Die erste, ontologische Grundthese des Subjektivismus ist also:

1) Es gibt keine objektiven Sachverhalte. Die objektive Realität ist wertfrei.

Danach haben Wertaussagen keine kognitive Relevanz, genauer gesagt:

keine Relevanz für die Erkenntnis der Außenwelt, der objektiven Realität.

Sie stellen vielmehr Aussagen über Einstellungen zur Sache dar, über ihren Wert relativ zu den subjektiven Präferenzen, den Interessen, Nei- gungen oder Zielen einer oder mehrerer Personen. In diesem Sinn ist etwas gut immer nur für Personen, im Sinne ihrer jeweiligen Präferenzen.

Eine Handlung ist nicht als solche gut oder schlecht, sondern man kann nur sagen: Sie liegt im Interesse gewisser Leute bzw. sie liegt nicht in ihrem Interesse. Wenn also Wertaussagen wahr oder falsch sind, sind sie als psychologische Aussagen zu deuten.

Die zweite, erkenntnistheoretische These des Subjektivismus ergibt sich daraus:

2) Werterfahrung läßt sich nicht als Erfahrung von Werttatsachen verstehen, denn die gibt es nicht, sondern als ein positiv oder negativ gefärbtes Erleben natürlicher

Tatsachen.

Der Fehler der realistischen Deutung besteht danach darin, daß Eigen- schaften des Erlebnisakts als Eigenschaften der erlebten Sache aufgefaßt werden, daß Erfahrungen von Tatsachen, die für mich gut oder schlecht sind, als Erfahrungen guter oder schlechter Tatsachen mißgedeutet wer- den, daß man also die eigene Einstellung auf die Sache selbst projiziert.

Es gibt verschiedene Varianten des Realismus wie des Subjektivis- mus. A u f sie kann ich hier nicht eingehen. Ich will nur betonen, daß man in der Regel nicht von einem »moralischen Realismus« redet, wenn Wert- begriffe im Sinn einer naturalistischen Definition gedeutet, also durch natürliche Begriffe definiert werden. Als »moralischen Realismus« be- zeichnet man im engeren Sinn nur nichtnaturalistische Positionen, für die es neben natürlichen auch eigenständige moralische Fakten gibt. Der

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Subjektivismus tritt hingegen oft als Naturalismus auf, nach dem sich Wertaussagen in Aussagen über subjektive Präferenzen übersetzen lassen.

Ihrer sprachlichen Gestalt nach unterscheiden sich Wertaussagen nicht grundsätzlich von nichtnormativen Aussagen. Im Satz »Diese Rose ist schön« fungiert das Adjektiv »schön« ebenso wie das Wort »rot« in

»Die Rose ist rot«. Es gibt auch kein sprachliches Indiz dafür, daß »schön«

im Gegensatz zu »rot« eine verborgene Subjektabhängigkeit enthielte.

Wir unterscheiden »schön sein« sehr wohl von »als schön empfunden werden« und schreiben Wertqualitäten ebenso wie nichtnormative den Dingen selbst zu. Auch die Phänomenologie der Werterfahrung spricht für eine realistische Deutung. Wir reden davon, daß jemand die Schönheit eines Gemäldes oder die Gerechtigkeit einer Handlung erkennt, und sagen normalerweise, daß wir die Rose als schön erleben, weil sie schön ist, eine Handlung schätzen, weil sie moralisch gut ist, und nicht umge- kehrt. Das ist zwar noch kein stichhaltiges Argument für den Realismus, denn das normale Verständnis der Werterfahrung, das auch unserer Spra- che zugrunde liegt, könnte sich ja als falsch erweisen. Die normale Spra- che und die übliche Sicht der Dinge sind nicht eo ipso zutreffend. Immer- hin könnte man sagen, daß die Beweislast bei den Subjektivisten liegt.

Auch das ist aber so nicht richtig: Unsere heutige Konzeption der Wirk- lichkeit ist weithin durch die Naturwissenschaften geprägt, und für die ist die Realität wertfrei. Die herrschende ontologische Doktrin ist heute der Materialismus. So sagt z. B. David Lewis, einer der bedeutendsten analyti- schen Philosophen unserer Tage, ganz selbstverständlich: »Die Welt ist so, wie uns das die Physik sagt, und mehr gibt es nicht zu sagen.« In dieser Realität haben Werttatsachen keinen Platz, und daher ist heute eher der moralische Realist in der Lage dessen, der eine ungewöhnliche Konzep- tion vertritt. E r ist es, dem heute meist die Beweislast zugeschoben wird.

Ein Hin- und Herschieben der Beweislast ist jedoch wenig fruchtbar, und daher wollen wir uns den Argumenten der beiden Positionen zuwenden.

Ich gehe zuerst auf die Argumente der Antirealisten ein. Die beiden wichtigsten sind folgende:

/) Das Relativitätsargument

Das ist eines der ältesten Argumente, das schon die Sophisten verwendet haben. Es besagt: Gäbe es moralische Tatsachen, so wäre es unverständ- lich, wieso derselbe Sachverhalt von verschiedenen Menschen, und insbe- sondere auch in verschiedenen Kulturen moralisch unterschiedlich beur-

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teilt wird. E i n Wandel der Ansichten findet sich zwar auch sonst, in den Naturwissenschaften ebenso wie in der Geschichtsschreibung, aber er betrifft doch kaum einfache, direkter Beobachtung zugängliche Sachver- halte. Gäbe es objektive, erkennbare moralische Tatsachen, so könnten moralische Urteile jedenfalls in einfachen Fällen nicht so stark divergieren, wie sie das tatsächlich tun. In der Wissenschaftstheorie redet man zwar heute von einer Theoriebeladenheit der Beobachtungen - das heißt: be- obachtungsmäßige Feststellungen erfolgen im Licht vorgängiger Annah- men, Erwartungen oder enthalten theoriegeleitete Deutungen - , aber es gibt doch keine Theorie, in deren Licht man beobachten würde, daß Pferde nur drei Beine haben. Werterfahrungen sind dagegen auch in einfachen Fällen Beobachtungen im Licht vorgängiger Wertungen. Daß z.B. einem Dieb zur Strafe die Hand abgehackt wird, würden wir heute als brutal und unverhältnismäßig erfahren, im Mittelalter war das aber durchaus gängig und wurde als angemessene Vergeltung erlebt. Es ist auch nicht zu übersehen, daß viele Werte kulturabhängig sind. Die Kate- gorie ritterlichen Verhaltens hatte z.B. ihren Sitz in einer vergangenen Kultur; heute wissen wir damit wenig mehr anzufangen. Farben-, Form- oder Materialbegriffe sind hingegen nicht in diesem Maße kulturabhän- gig. Die beste Erklärung für die Varianz in den Werturteilen ist, daß sie von subjektiven Präferenzen abhängen, denn die unterscheiden sich von Person zu Person und wandeln sich mit der Kultur.

Nun ist einerseits klar, daß wir in Werturteilen deutlich stärker diver- gieren als in nichtnormativen Urteilen. Kontrovers ist aber erstens die Frage, wie stark die Divergenzen tatsächlich sind. Es gibt auch kulturelle Invarianten in moralischen Urteilen: Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit, Zuver- lässigkeit, Tapferkeit gelten wohl in allen Kulturen als Werte. Zweitens hängen Werturteile immer von nichtnormativen Urteilen ab. Es ist z.B.

keine rein moralische Frage, ob ein Gesetz zu einer gerechten Lastenver- teilung führt, dazu muß man die konkreten Auswirkungen der Vorschrift zunächst einmal untersuchen. Unterschiedliche Annahmen über die nicht- normativen Folgen können auch dann zu unterschiedlichen Urteilen füh- ren, wenn man von den gleichen Wertvorstellungen ausgeht. Drittens sind Ansichten über eine Sache immer subjektiv. Daraus folgt aber nicht, daß die Sache selbst subjektiv ist. Auch der Realist wird endlich anerken- nen, daß unsere Werturteile oft von unseren Interessen gefärbt sind.

Moralische Urteile sind für unser Handeln direkt relevant, und das ist nach Hobbes der Grund, daß Fragen der Moral und des Rechts ständig umstritten sind, »sowohl mit der Feder wie mit dem Schwert«, während z. B. die Fragen der Geometrie dem Streit entrückt sind. Es ist den Leuten

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egal, welche geometrischen Lehrsätze gelten, weil das keine Sache ist, die ihrem Ehrgeiz, Profit oder Lustgewinn im Wege steht. »Ich zweifle nicht«, sagt Hobbes, »daß der Satz, daß die Winkelsumme im Dreieck zwei Rechte beträgt, ebenso angegriffen würde wie ethische Prinzipien, wenn er unseren Interessen widerspräche«.

Das Relativitätsargument hat also zwar Gewicht, entscheidend ist es aber nicht.

2) Das Argument der praktischen Effektivität

Erkenne ich, daß von zwei Handlungsalternativen, die ich habe, die eine moralisch richtig ist, die andere dagegen moralisch falsch, so ist das für mich ein Anlaß, ein Motiv, die erste zu wählen. Es kann sein, daß ich das trotzdem nicht tue, z.B. weil massive Eigeninteressen dem entgegenste- hen, oder aus Willensschwäche. Die Reaktion: »Ich sehe schon ein, daß es moralisch richtig wäre, so zu handeln, aber warum sollte ich moralisch sein?« wäre jedoch unsinnig. E i n Wert ist etwas, das uns zum Handeln bewegt. N u n wird aber unser Handeln durch unsere Präferenzen geleitet.

Die praktische Kraft moralischer Einsichten läßt sich daher nur so verste- hen, daß Wertungen etwas mit Präferenzen zu tun haben, wie das der Subjektivismus annimmt. Für den Realisten sind hingegen moralische Urteile Feststellungen über das Bestehen objektiver Sachverhalte, die ohne direkte Verbindung mit unserer praktischen Motivation bleiben, ebenso wie Urteile über die physische Natur einer Sache. Für den Reali- sten ist die Frage »Warum moralisch sein?« nicht absurd, sondern durch- aus sinnvoll, und damit verfehlt er die Bedeutung und die spezifische Funktion von Werturteilen.

N u n gehört die praktische Effektivität von Werturteilen zweifellos zu ihrer Natur. Trotzdem ist der Vorwurf an den Realisten nicht gerechtfer- tigt. Wir reden davon, daß man sich eine Ansicht oder ein Urteil zu eigen macht. Im Gegensatz zu den Thesen der heute viel diskutierten kausalen Theorie der Erkenntnis bewirken Wahrnehmungen keine Überzeugun- gen, sondern wir bilden uns unsere Überzeugungen selbst. Die Stoiker sprachen von einem A k t der Synkatathesis, der Zustimmung, durch den aus einem sinnlichen Eindruck erst das Urteil hervorgeht: »So ist es«.

Ebenso gehen moralische Urteile aus einem A k t der Synkatathesis hervor.

Dabei bedeutet »Zustimmung« nun aber keine bloß intellektuelle Aner- kennung, keine Erweiterung oder Modifikation unserer bisherigen theo- retischen Annahmen, sondern eine Bestätigung oder Veränderung unse-

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rer Präferenzen, unserer Wertungen. Wenn wir etwas als wertvoll erken- nen, gewinnt es auch einen Wert für uns. Man kann nicht einsehen, daß etwas objektiv wertvoll ist, ohne ihm auch subjektiv einen Wert zuzuord- nen, ebensowenig wie man etwas als objektives Faktum anerkennen, es aber nicht glauben kann. Wie unsere Annahmen sind auch unsere Präfe- renzen offen gegenüber neuen Erfahrungen.

Das ist nun eine wichtige Ergänzung unserer Bestimmung des mora- lischen Realismus, ohne die er tatsächlich inadäquat wäre. M i t ihr kann der Realist dem Phänomen der praktischen Effektivität moralischer Ur- teile aber besser gerecht werden als der Subjektivist. Für diesen gibt es ja Werterkenntnis nur als Innewerden eigener, vorgängiger Präferenzen am Objekt. Es ist aber durchaus problematisch, ob man von zunächst unbe- wußten Präferenzen sprechen kann, die erst angesichts der Gegenstände deutlich werden, auf die sie sich beziehen. Darüber, welche Präferenzen man hat, kann man sich ebensowenig täuschen wie darüber, welche Über- zeugungen man hat; unbewußte Präferenzen gibt es so wenig wie unbe- wußte Meinungen. Erkenntnis im üblichen Sinn existiert im moralischen Feld nur für den Realisten, nur ihn können also solche Einsichten zum Handeln bewegen. Nur er kann verstehen, warum wir angesichts konkre- ter Erfahrungen unsere Präferenzen oft ändern, manchmal sogar radikal.

Das sind die beiden wichtigsten antirealistischen Argumente. Ich will aber noch kurz zwei weitere erwähnen, da sie heute in der Literatur eine erhebliche Rolle spielen:

}) Das Supervenien^argument

Schreibt man im Sinn der üblichen Redeweise, und damit im Sinn des Realismus, Werteigenschaften den Dingen selbst zu, so gehört es zum Sinn solcher Wertaussagen, daß z. B. zwei Handlungen, die sich in ihren natürlichen Eigenschaften nicht unterscheiden, auch in ihren Wertqualitä- ten nicht differieren. In diesem Sinn sagt man: Werteigenschaften sind supervenient bzgl. natürlicher. Daraus ergibt sich aber, daß sich Wertunter- schiede durch nichtnormative Unterschiede charakterisieren, Wertbegriffe also durch natürliche Begriffe definieren lassen. Die Grundidee des Realis- mus führt so zu einem Naturalismus, so daß der nichtnaturalistische Rea- lismus, wie er hier betrachtet wird, unhaltbar ist.

Dieses Argument, das sich u.a. bei John Mackie in seinem Buch

»Ethics - Inventing Right and Wrong« findet, ist aber logisch unhaltbar:

Eine schwache Supervenienz von Werteigenschaften bzgl. natürlicher E i -

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genschaften ist zwar anzunehmen, schon aus dem Grund, daß natürliche Sachverhalte, die in allen natürlichen Eigenschaften übereinstimmen, identisch sind, also auch dieselben Werteigenschaften haben. Man brauchte aber für die Schlußfolgerung zumindest die starke Supervenienz, nach der z.B. zwei Handlungen, die in verschiedenen naturgesetzlich möglichen Welten vollzogen werden, und dieselben natürlichen Eigen- schaften haben, auch dieselben normativen Eigenschaften haben. Das allein ist schon wenig plausibel, denn die Handlungen können ja in ver- schiedenen Welten in ganz unterschiedlichen sozialen Kontexten stehen und daher unterschiedlich zu bewerten sein. Ferner folgt selbst aus einer starken Supervenienz normativer bzgl. natürlicher Eigenschaften nicht die Definierbarkeit der ersteren durch die letzteren. Unter gewissen Z u - satzannahmen kann man nur sagen: Z u jeder normativen Eigenschaft gibt es eine natürliche, die mit ihr nomologisch extensionsgleich ist, d.h. in allen naturgesetzlich möglichen Welten auf genau dieselben Objekte (z. B.

auf dieselben Handlungen) zutrifft. Der Beweis dieses Satzes zeigt jedoch, daß die korrespondierende natürliche Eigenschaft so komplex ist, daß sie sich nur in einer Sprache ausdrücken läßt, die über sehr starke logische Ausdrucksmittel verfügt. Sie wird zudem durch die fragliche normative Eigenschaft bestimmt, so daß eine Definition dieser durch jene zirkulär wäre.

4) Harmans Argument

Gilbert Harman hat im 1. Kapitel seines Buches »The Nature of Morality«

behauptet, Werterfahrungen ließen sich ohne die Annahme (objektiver) Werttatsachen rein psychologisch erklären. Während sich physikalische Beobachtungen wie die eines Protons in einer Nebelkammer, nur durch die Realität der beobachteten Sachverhalte - im Beispiel also durch das tatsächliche Vorhandensein eines Protons - erklären lassen, genüge für die Werterfahrung der Rekurs auf die Einstellungen und das Wertesystem der betreffenden Person. Natürliche Wahrnehmungen sind Wirkungen von realen Vorgängen in unserer Umwelt, moralische Tatsachen können hin- gegen nicht auf unseren Wahrnehmungsapparat einwirken; sie sind kausal ineffektiv. Lassen sich aber Beobachtungen ohne Bezugnahme auf das Beobachtete erklären, so können sie keine Theorie über die beobachteten Phänomene bestätigen.

Auch dieses Argument ist unbrauchbar. Zunächst ist die kausale Theorie der Wahrnehmung nicht haltbar. Der Vorgang in der Nebelkam-

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mer allein bewirkt noch nicht, daß jemand ihn als Durchgang eines Pro- tons erkennt, dazu bedarf es spezieller Kenntnisse und einer gründlichen Ausbildung. Ferner erklären wir auch naturwissenschaftliche Beobachtun- gen, sofern sie zu Urteilen führen, die wir für falsch halten, psychologisch - wie z.B. Experimente zur Phlogistontheorie. Andererseits lassen wir Phänomene als Erklärungen für ihre Beobachtung zu, wenn wir sie für real ansehen. Das Argument von Harman ist also insofern zirkulär, als er schon von der Nichtexistenz moralischer Tatsachen ausgeht. Erst dann sind angebliche moralische Wahrnehmungen als Illusionen anzusehen, und es stellt sich die Aufgabe, sie psychologisch zu erklären. Läßt man die Existenz moralischer Tatsachen hingegen zunächst einmal offen, so ist die beste Erklärung für Werterfahrungen oft die Annahme, daß bestimmte moralische Tatsachen bestehen. Die einfachste Erklärung dafür, daß je- mand einen Ak t willkürlicher Tierquälerei als moralisch verwerflich er- fährt, ist zweifellos, daß dieser A k t tatsächlich verwerflich ist, und diese Erklärung wird erst dann zweifelhaft, wenn man aus anderen Gründen keine moralischen Fakten anerkennt. Wir erklären häufig auch natürliche Sachverhalte, z.B. Handlungen, mit moralischen Prämissen, etwa mit Charaktereigenschaften wie Tapferkeit, Großmut, etc. und das sind wer- tende Bestimmungen. Harmans These, die Annahme moralischer Fakten leiste nichts für die Erklärung der physischen Natur, ist zwar richtig, aber irrelevant. Erstens gilt auch das Umgekehrte, und zweitens leisten Annah- men über mentale Zustände und Akte ebenfalls nichts für die Erklärung der physischen Welt, ohne daß wir sie deswegen als irreal ansehen.

Das beste Argument für den Antirealismus, kommt in der Literatur eigentlich kaum explizit zur Sprache, sondern steht eher im Hintergrund.

Ich sagte schon, daß unsere heutige Konzeption von der Realität durch die Naturwissenschaften geprägt ist, insbesondere durch den Materialis- mus, der sich am Weltbild der Physik orientiert. Danach ist die Physik die fundamentale und prinzipiell auch umfassende Realwissenschaft. D a in ihr keine Werttatsachen vorkommen, haben wir keinen Grund, solche Tatsa- chen anzunehmen. Ihre Anerkennung würde darüber hinaus eine radikale Änderung unserer Ontologie bedeuten und wir wüßten überhaupt nicht, wie eine kohärente und modernen Präzisionsansprüchen genügende A l - ternative aussehen sollte. Wie kommen Werttatsachen zustande, welche Gesetze gelten für sie, wie hängen sie mit natürlichen Sachverhalten zusammen, welche positive Funktion sollte ihre Annahmen für die Erklä- rung der Welt haben?

Dieses Argument hat zwar Gewicht, es ist aber auch nicht überzeu- gend. Der Materialismus scheitert schon am Problem der seelisch-geisti-

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gen Phänomene. Ich kann darauf hier nicht eingehen, meine Behauptung also auch nicht begründen.2 Statt dessen will ich nur auf die Wandlungen des Materialismus hinweisen: E r begann seine Karriere in der analytischen Philosophie als »logischer Physikalismus«, als These von der Übersetzbar- keit aller Wissenschaftssprachen in die der Physik, zog sich dann auf die Behauptung einer Reduzierbarkeit der anderen Wissenschaften auf die Physik zurück, und heute wird auch die kaum mehr vertreten, sondern man redet von einem »nicht-reduktiven Materialismus«, der vor allem auf der These einer Supervenienz - in dem einen oder anderen Sinn - aller Eigenschaften bzgl. der physikalischen beruht. Diese These ist aber in manchen Versionen unhaltbar, in anderen ist sie trivial und impliziert keine der ursprünglichen Annahmen des Materialismus. Faktisch ist es dem Materialismus ähnlich wie dem Empirismus gegangen: Die ernst zu nehmenden Leute, die sich noch als »Empiristen« oder »Materialisten«

bezeichnen sind so etwas wie post-sozialistische »Sozialisten«; sie verwen- den diese Bezeichnungen noch als Etiketten, obwohl sie längst ihren ursprünglichen Inhalt verloren haben. Wir brauchen also ohnehin eine komplexere Ontologie als die des Materialismus.

Die antirealistischen Argumente, die ich besprochen habe, bleiben also ohne Beweiskraft, und das gilt auch für weitere Einwände gegen den moralischen Realismus. Damit könnten sich die Realisten nun zufrieden geben, wie sie das meist auch tun, wenn es legitim wäre, den Antirealisten die Beweislast zuzuschieben und sich darauf zu berufen, daß die eigene Position jene ist, die im Einklang mit der normalen Sprache und unserem normalen Verständnis von Werterfahrung steht. Ich habe aber schon be- tont, daß das nicht genügt. Es reicht im Blick auf die heute maßgebliche Realitätskonzeption nicht aus, Argumente gegen den Realismus zu wider- legen, denn daraus folgt ja noch nicht, daß er richtig ist. U m das zu zeigen, bedarf es positiver Argumente für den Realismus oder gegen antirealistische Positionen. Wenn man sich nun diesbzgl. in der Literatur umsieht, findet man wenig - die positiven Argumente sind fast aus- schließlich Appelle an die normale Sprache und Auffassungen. Das beste Argument für den Realismus besteht wohl darin, daß im Rahmen des Subjektivismus die Aufgabe der Ethik unlösbar wird, die sie nach tradi- tionellem Verständnis lösen soll.

Aufgabe der Ethik ist es, in den Worten Kants, uns zu sagen, oder besser: einsichtig zu machen, was wir tun sollen. Sollen ist, wie Kant betont hat, grundsätzlich etwas anderes als Wollen. Für den Subjektivis-

2 Vgl. da2u Kutschera (1993).

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mus sind nun individuelle Präferenzen die einzige Grundlage für Wertaus- sagen. Aus meinen eigenen Präferenzen ergeben sich aber für mich keine Verpflichtungen. Möchte ich ein Bier trinken oder Spazierengehen, so folgt daraus nicht, daß ich das tun soll. Wenn nichts entgegensteht, werde ich es ohnehin tun, so daß eine solche Norm leer laufen würde, und grundsätzlich sind meine Präferenzen kein Maßstab für das, was ich tun soll. Präferenzen bilden nur die Grundlage für hypothetische Imperative, Imperative der Klugheit, wie Kant sagt: Wenn ich ein Glas Bier trinken möchte, sollte ich in den Goldenen Hirschen gehen, weil das unter den gegebenen Umständen - mein Kühlschrank ist leer - der einfachste und beste Weg ist, meinen Wunsch zu erfüllen. Wenn nun schon meine eige- nen Präferenzen mich zu nichts verpflichten, so erst recht nicht die ande- rer Leute. Eine der verbreitetetsten subjekti vis tischen Theorien ist der Utilitarismus. Danach ist ein Zustand x (z. B. eine soziale Regelung, eine Verteilung von Gütern etc.) moralisch besser als ein anderer Zustand j , wenn die durchschnittliche Interessenbefriedigung aller Beteiligten in x höher ist als inj. Dieses Prinzip hat - ungeachtet seiner Probleme, auf die ich hier nicht einzugehen brauche - einen deutlich moralischen Charakter, fordert es doch von mir, in dem, was ich tue, die Interessen anderer zu berücksichtigen. Aber wie soll das utilitaristische Prinzip subjektivistisch begründet werden? Man kann nicht - im Sinn eines naturalistischen Sub- jektivismus - behaupten, dieses Prinzip gelte analytisch, denn die Frage, ob es richtig ist, ist durchaus sinnvoll.3 Im Sinn des Prinzips zu handeln wird ferner oft nicht in meinem Interesse liegen, und es mag sogar im Interesse von keinem einzigen der Beteiligten liegen - jeder würde für sich etwas anderes vorziehen. Daß die Leute gewisse Präferenzen haben, ist ein natürliches Faktum, und daraus folgt im Sinne des Humeschen Gesetzes keine normative Aussage.4 Das utilitaristische Prinzip ist eine Aussage über eine normative Wertordnung, nicht über subjektive Präfe- renzen. Es gilt unabhängig von den faktischen Präferenzen und drückt eine moralische Tatsache aus, die es für den Subjektivisten nicht geben kann. Das einzige konsequent subjektivistische Prinzip ist letztlich das des aufgeklärten Egoismus: »Tue, was auf längere Sicht deinen Interessen am besten dient«, und das ist kein moralisches Prinzip, sondern eine Klug- heitsregel.

Die Behauptung, eine Ethik im Sinn ihrer traditionellen Aufgaben- stellung sei nur im Rahmen des moralischen Realismus möglich, erfordert

3 Vgl. da2u G . Moores Argument der offenen Frage in Moore (1903).

4 Z u m Humeschen Gesetz vgl. Kutschera (1982), 1.5 sowie ausführlicher Kut- schera (1977).

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ein Eingehen auch auf den Ansatz der Pflichtethik. In diesem Fall behaup- tet der Realismus, daß es objektive normative Tatsachen gibt - hier:

objektive Rechte und Pflichten, insbesondere unverliehene Rechte, die jeder als Person hat. Für den Subjektivismus ergeben sich Rechte und Pflichten hingegen allein aus sozialen Konventionen und Gesetzen. Der Standpunkt des moralischen Realismus entspricht hier dem der Natur- rechtslehre, jener des Antirealismus hingegen dem des Rechtspositivis- mus. Im positivistischen Sinn hat jemand ein Recht, wenn er einer Ge- meinschaft angehört, in der eine Regelung gilt, die ihm dieses Recht einräumt. »Gelten« heißt dabei nicht mehr, als daß die Regelung von den meisten Mitgliedern der Gemeinschaft meistens befolgt wird und Ver- stöße gegen sie durch Sanktionen geahndet werden. N u n ergibt sich aber aus dem Faktum, daß eine soziale Konvention oder gesetzliche Vorschrift in diesem Sinn gilt, noch keine moralische Verpflichtung, sich daran zu halten. Aus Fakten folgen nach dem Humeschen Gesetz keine Normen.

Für jede Rechtsvorschrift ist die Frage sinnvoll, ob sie auch rechtens ist in einem moralischen Sinn dieses Wortes, ob sie uns auch moralisch ver- pflichtet. Diese Frage ist aber für den Positivisten sinnlos: Über die fakti- sche Geltung hinaus gibt es für ihn keine rechtliche oder moralische Geltung; die einzige Grundlage von Pflichten sind bestehende Gesetze und Konventionen. E r kann daher z.B. nicht sagen, daß gewisse Vor- schriften, die im nationalsozialistischen Staat in Kraft waren, schon da- mals nicht rechtens waren. Vom Standpunkt der Moral aus gibt es hinge- gen Kriterien, nach denen sich beurteilen läßt, ob Gesetze und Konven- tionen verpflichtend sind; ihr Anspruch auf Befolgung bedarf selbst der Begründung, sie können also nicht die einzige Grundlage moralischer und rechtlicher Geltung sein.

Auch für den deontologischen Ansatz hängt also die Möglichkeit einer Ethik, die uns einsichtig macht, was wir tun sollen, an der Existenz, moralischer Tatsachen, die unabhängig von uns bestehen. Es ist nun wieder heftig umstritten, ob es objektive, von positiven Regelungen un- abhängige Rechte und Pflichten gibt. Die Würde einer Person ist keine empirisch feststellbare Tatsache. Sie kommt in den Wissenschaften vom Menschen nicht vor, und daher werden von Biologen wie B. F. Skinner oder R. Dawkins Menschenrechte abgelehnt.5 Was sich empirisch feststel- len läßt, ist nur die biologische Natur des Menschen, und die unterschei- det sich nur graduell von der anderer Lebewesen. Wir teilen z.B. 99 % unserer Gene mit den Schimpansen. Es gibt daher keine wissenschaftliche

5 Vgl. dazu Skinner (1971) und Dawkins (1986).

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Berechtigung, Menschen fundamentale Rechte zuzusprechen, sie höheren Tieren aber vorzuenthalten. Auch die prinzipielle Gleichberechtigung aller Menschen, unabhängig von ihren Fähigkeiten, Leistungen und Zie- len, ist empirisch zumindest fragwürdig. Das demokratische Recht auf Mitbestimmung der politischen Ordnung, in der man lebt, empfiehlt sich nicht durch Zweckmäßigkeiten. Demokratien sind weder besonders stabil - unzählige von ihnen sind in der Geschichte kläglich gescheitert - , noch ist einzusehen, warum es für das Gemeinwohl nützlich sein sollte, auch jenen ein Stimmrecht zu geben, die von politischen und ökonomischen Dingen keine Ahnung haben und sich nicht einmal die Mühe machen, sich ausreichend zu informieren. Wer trotzdem für Demokratie eintritt, kann das letztlich nur mit moralischen Gesichtspunkten begründen, durch eine Bezugnahme auf objektive Rechte. Der Eindruck einer objektiven Verpflichtung entsteht nach dem Subjektivismus aber allein dadurch, daß manche soziale Konventionen vom einzelnen durch Erziehung und Ge- wöhnung so internalisiert werden, daß ihm ein Verhalten in ihrem Sinn als schlechthin und unbedingt richtig erscheint. Die Überzeugung eines Verpflichtetseins wird so als Illusion »entlarvt«, und dann stellt sich für jeden nur mehr die Frage, ob es im Sinn seiner persönlichen Interessen zweckmäßig ist, sich an die Konventionen zu halten.

Die Möglichkeit einer Ethik, die uns sagt, was wir tun sollen, hängt also auch bei einem deontologischen Ansatz am Realismus: Entweder man ist Realist, oder es gibt keine moralischen Pflichten - und damit auch:

keine moralischen Rechte. Das ist natürlich kein Argument, das den Anti- realisten überzeugen wird, denn er wird sagen, eine Ethik im traditionel- len Sinn sei eben tatsächlich unmöglich. Der Wert des Arguments liegt aber darin, daß es die Implikationen des Subjektivismus deutlich macht, und damit zeigt, was bei der Kontroverse auf dem Spiel steht; daß die Entscheidung für jede der beiden Alternativen weitreichende praktische Konsequenzen hat, daß es nicht nur um esoterische ontologische und epistemologische Spitzfindigkeiten geht, die dem sprichwörtlichen Mann auf der Straße herzlich gleichgültig sein können. Für menschlichen Z u - sammenleben ist es eben nicht gleichgültig, ob es objektive Pflichten gibt oder nur subjektive Interessen, deren Verfolgung allein durch äußere Hindernisse begrenzt ist, insbesondere durch die zu gewärtigenden Sank- tionen bei Verstößen gegen gesellschaftliche oder rechtliche Regeln. Es macht einen Unterschied, ob man elementare Menschenrechte anerkennt, die unabhängig von ihrer rechtlichen Garantie bestehen, oder nicht.

Wir stehen so vor der Situation, daß keiner der beiden Kontrahenten, weder Realismus noch Subjektivismus, Argumente vorzubringen hat, die

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für den anderen überzeugend wären. Der letzte Grund für den Antirealis- mus ist, daß wir über keine ausgearbeitete Ontologie verfügen, die Wert- tatsachen umfaßt, die ultima ratio des Realismus ist der Hinweis, daß in der Welt des Antirealisten die Ethik heimatlos wird. Die Differenzen zwischen beiden Positionen gehen so tief, daß es keine gemeinsame Basis gibt, von der aus sich die Frage argumentativ entscheiden ließe. Es han- delt sich, in der Sprechweise Thomas Kuhns um zwei Paradigmen, zwei unterschiedliche Sichten der Wirklichkeit.

Kuhn redet nur von theoretischen Paradigmen.6 E i n Paradigma im umfassenden Sinn des Wortes ist für ihn ein System von fundamentalen Theorien, Methoden, Begründungsverfahren, Rationalitätsstandards und Erkenntniszielen. Man kann aber auch von praktischen Paradigmen spre- chen, die neben theoretischen Annahmen - dazu würde insbesondere ein Menschenbild gehören - auch Verhaltensnormen enthalten, Wertordnun- gen und Ideale menschlichen Lebens. Auch für ein solches Paradigma gibt es dann keine Letztbegründung im Sinn des fundamentalistischen Er- kenntnisideals. Es rechtfertigt sich vielmehr nur dadurch, daß es sich bewährt. Im praktischen Fall ist das eine Bewährung im Leben, die sich darin zeigt, daß sich unser Leben, wenn es sich daran orientiert, positiv entfaltet. Wir reden ja auch von einer Bewährung von Gesetzen oder Sitten in der Praxis, und die besteht darin, daß sie eine gedeihliche soziale Ordnung ergeben. N u n hat Kuhn im theoretischen Fall mit dem Hinweis auf die Theoriebeladenheit der Beobachtungen Kritik am Bewährungsbe- griff Poppers geübt, und behauptet, daß man von Bewährung wie von Begründungen nur innerhalb eines Paradigmas reden kann. Obwohl seine Kritik grundsätzlich berechtigt ist, ist sie in diesem Punkt doch überzo- gen. Ohne eine Rechtfertigung, die es nicht immer schon voraussetzt, wäre die Wahl eines Paradigmas oder das Festhalten an ihm eine völlig irrationale Entscheidung. Theoriebeladenheit der Erfahrung bedeutet nicht, daß die Beobachtungen, die wir im Licht einer Theorie machen, schon immer durch diese determiniert sind, sie also immer nur bestätigen.

Man kann i m Sinn Poppers sagen: Eine Theorie hat nur dann einen empirischen Gehalt, sie sagt nur dann etwas über die Wirklichkeit aus, wenn sie an Erfahrungen scheitern kann. Würde ein Paradigma nur solche Erfahrungen ermöglichen, die es bestätigen, so hätte es also keinen empi- rischen Gehalt. Es ist aber unsinnig anzunehmen, daß z. B. unsere physi- kalischen Theorien nicht an der Erfahrung scheitern könnten. Im Fall

6 Z u m Paradigmenbegriff vgl. Kuhn (1962), zum Fundamentalismus Kutschera (1993), Kap. 5.

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praktischer Paradigmen ist die Theoriebeladenheit der Erfahrung beson- ders stark: Die Erfahrungen, an denen sie sich bewähren sollen, die Beob- achtungen, ob sich das Leben in dieser Form positiv gestaltet, sind Wert- erfahrungen, und die erfolgen im Licht der Wertvorstellungen des Para- digmas selbst. Dennoch kann man auch hier nicht davon reden, daß die vorgängigen Annahmen des Paradigmas die Erfahrungen determinieren.

Aussagen, wie gut eine Lebensform sich bewährt, mögen besonders schwierig sein, aber Bewährung bleibt auch hier ein echter Test. Selbst das theoretisch wie praktisch geschlossene System des Kommunismus konnte scheitern; es konnte sich im Lauf der Jahre in ihm selbst die Einsicht durchsetzen, daß es sich im Leben eben nicht bewährt.

Wenn nun im Fall der Realismus-Antirealismus-Kontroverse eine Basis gemeinsamer Überzeugungen fehlt, von der aus sich argumentativ begründen ließe, daß eine der beiden Alternativen falsch ist, bleibt nichts anderes übrig, als auf ihre Bewährung zu rekurrieren. N u n ist jedoch in diesem Fall eine neutrale Beurteilung der Bewährungsgrade beider Posi- tionen kaum möglich, denn für den Realisten heißt Bewährung insbeson- dere auch: Bewährung an Werterfahrungen in seinem Sinn, und die er- kennt der Antirealist nicht an. Es könnte ja z.B. sein, daß ein Realist Normen vertritt, die bzgl. der Verfolgung persönlicher Interessen eher restriktiv sind, vom einzelnen Askese und Verzicht verlangen, daß er aber meint, die Erfahrung zeige, daß auf diese Weise das individuelle wie das gemeinsame Handeln eine höhere Chance zur Verwirklichung objektiver Werte, und damit zur Sinnerfüllung in einem objektiven Sinn hätte. Für den Subjektivisten wären das hingegen bloße Illusionen. Der Realist kann also weder seine Überzeugung, es gebe objektive Werttatsachen, dem Antirealisten demonstrieren, denn er kann dafür ja naturgemäß nur auf die Erfahrung solcher Tatsachen verweisen, und solche Hinweise erkennt der Antirealist nicht an. Noch kann der Realist darauf verweisen, seine Konzeption - in substantielle Normen umgesetzt - bewähre sich gut, denn hier wird ihm wieder der für ihn wesentliche Teil der Erfahrung, auf die er sich dabei stützt, vom Subjektivisten in Frage gestellt.

Angesichts dieser Situation muß die Diskussion abbrechen, weil ihr die Geschäftsgrundlage entzogen ist, d.h. einschlägige gemeinsame Über- zeugungen. Es kann für den Realisten dann nur mehr darum gehen, seine eigene Position für sich selbst kritisch zu überdenken. E r kann sich einge- stehen, daß der Antirealist zweifellos die einfächere und geschlossenere Ontologie für sich hat, und daß manche seiner eigenen Werterfahrungen dem Verdacht einer naiven Projektion seiner Neigungen oder vorgängi- gen Wertvorstellungen ausgesetzt sind. D a die Frage theoretisch nicht

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entscheidbar ist, wird er sich dann erstens - im Bewußtsein zwar, daß das keine leicht zu beurteilende Sache ist - auf die Bewährung seines Paradig- mas in seinen Lebenserfahrungen verlassen müssen und er wird zweitens seine Entscheidung, an seinem Paradigma festzuhalten, angesichts der weitreichenden praktischen Implikationen beider Positionen fallen.

Ein solcher Rückzug auf eine persönliche Entscheidung ist nichts Irrationales, kein bloßer Dezisionismus.. Erstens findet dieser Rückzug in einer Situation statt, in der es keine Grundlage für eine argumentative Verteidigung der eigenen Position mehr gibt. Zweitens kommt man um Entscheidungen ohnehin nicht herum, auch nicht im theoretischen Feld und auch nicht gegenüber Argumenten. Ich haben oben von dem A k t einer Synkatathesis gesprochen, aus dem Urteile und Annahmen hervor- gehen. Man muß die Prämissen eines Arguments als richtig akzeptieren, bevor es Überzeugungskraft gewinnt. Und wir müssen auch unseren natürlichen Erfahrungen vertrauen, sie als Erfahrung objektiver Tatsa- chen anerkennen, damit wir aus ihnen etwas über die Außenwelt entneh- men können. E i n Idealist, der bestreitet, daß sich uns eine äußere Realität in unseren Erfahrungen zeigt, und die Existenz einer solchen Außenwelt infrage stellt, ist ebensowenig argumentativ widerlegbar wie der Subjekti- vist, der Wertidealist. Drittens ist die Entscheidung für eine Lebensform nicht willkürlich. Gibt es keine neutralen, allgemein anerkannten Gründe, so heißt das nicht, daß es gar keine Gründe gibt. Die Entscheidung für oder gegen eine Orientierung an objektiven Werten ist, wie ich betont habe, gerade nichts, was man ebenso gut so wie auch anders vollziehen könnte. Dazu sind die Implikationen viel zu gravierend. Es geht nicht um eine blinde, sondern um eine reflektierte Entscheidung. Viertens können Normen mein Handeln nur dann bestimmen, wenn ich mit meiner eige- nen, wohlüberlegten Entscheidung dahinter stehe.

M i r scheint also eine argumentative Entscheidung der Kontroverse, die ich hier besprochen habe, angesichts der tiefgreifenden Unterschiede im Ansatz nicht möglich zu sein. In dieser Situation empfiehlt es sich für die Ethik, sich am theoretischen Bruder, an den neueren erkenntnistheo- retischen und wissenschaftstheoretischen Konzeptionen zu orientieren.

Die Einsicht, daß das fundamentalistische Erkenntnisideal dort nicht halt- bar ist, sollte der Anlaß sein, auch im praktischen Feld davon abzukom- men, und nicht von der Ethik zu verlangen, was schon in den Wissen- schaften nicht möglich ist: Eine systematische Begründung, von den er- sten Prinzipien an bis hin zu den konkreten Details. Unsere Theorien sind in beiden Fällen kreative Entwürfe, die sich als Ganze bewähren müssen.

Man sollte auch die Existenz konkurrierender Paradigmen nicht bloß als

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Mangel sehen, sondern als Chance für den Erkenntnisfortschritt. Alterna- tiven zwingen zum Nachdenken über das, was man bisher für selbstver- ständlich hielt, zu einer Klärung und Überprüfung der eigenen Position.

Die Entscheidung für ein Paradigma ist immer ein Wagnis, denn man kann damit an der Erfahrung scheitern, und ein Scheitern hat im Fall von Normen des Verhaltens, von Lebensidealen und Wertungen, an denen man sich bisher orientiert hat, besonders tiefgreifende Folgen. Wir müs- sen uns hier, wie auch sonst vielfach im Leben, in einer Situation unzurei- chender Kenntnis entscheiden, aber eben nicht blind, sondern im Blick auf die bereits absehbaren Folgen der verschiedenen Alternativen.

Zusammenfassung

Seit den Anfängen der Ethik ist umstritten, ob man für moralische Normen eine objektive Gültigkeit beanspruchen kann oder ob sie nur Konventionen sind, deren Geltung von gesellschaftlicher Zustimmung abhängt. Daher stellt sich die Frage, ob eine argumentative Entscheidung dieser Kontroverse überhaupt möglich ist. Die Über- legungen dazu fuhren zu einer neuen Sicht von den Grundlagen der Ethik.

Literatur

Dawkins, R.: The Blind Watchmaker, New York 1986 Harmann, G.: The Nature of Morality, Oxford 1977

Kuhn, T. S.: The Structure of Scientific Revolution, Chicago 1962, ^970

Kutschera, F. v.: Das Humesche Gesetz, Gramer Philosophische Studien 4 (1977), 1-14 Kutschera, F. v.: Grundlagen der Ethik, Berlin 1982

Kutschera, F. v.: Die falsche Objektivität, Berlin 1993

Mackie, J.: Ethics - Inventing Right and Wrong, Harmonsworth 1977 Moore, G . E.: Principia Ethica, Cambridge 1903

Skinner, B. F.: Beyond Freedom and Dignity, New York 1971.

Referenzen

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