• Keine Ergebnisse gefunden

Anzeige von ›Drittes Reich‹ und Soziologie

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Anzeige von ›Drittes Reich‹ und Soziologie"

Copied!
9
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

›Drittes Reich‹ und Soziologie

Was kann die Soziologie zum Verständnis der nationalsozialistischen Führerdiktatur beitragen?

1

Maurizio Bach

In ihrem Essay über das vermeintliche Schweigen der (west-)deutschen Nachkriegssoziologie zum Nationalsozialismus kritisiert Michaela Christ eine Reihe von »Entschuldungsnarrativen« und »Exkulpationsstrategien« (Christ 2011: 418), die lange Zeit eine nüchterne Historisierung und soziologische Analyse der NS-Vergangenheit verhindert hätten. Hierzu zählt sie nicht nur die gängige Dämonisierung des Hitler-Regimes in der unmittelbaren Nach- kriegszeit, sondern auch die, prominent von Leopold von Wiese vorgetra- gene Verortung der Nazi-Barbarei »außerhalb der Gesellschaft« (ebd.: 413).

Christ geht jedoch noch einen Schritt weiter und vertritt ein ziemlich radikale Position: Sie unterstellt eine im theoretisch-konzeptionellen Grundverstän- dnis der Soziologie verankerte epistemologische Blockierung gegenüber dem Phänomen des Nationalsozialismus. Sie sieht »die wesentlichen Ursachen für das Schweigen der Soziologie in den Paradigmen der Soziologie selbst: Er- stens in der jahrzehntelangen Dominanz der Modernisierungstheorie, zwei- tens im soziologischen Rationalitätsmodell und drittens in einem Gewalt- verständnis, das Gewalt in erster Linie als abweichendes Verhalten zu ana- lysieren sucht.« (ebd.: 420) Im Grunde läuft Christs Argumentation darauf hinaus, dass der Soziologie die Deutung und Erklärung von extremen Formen staatlicher und parastaatlicher Gewalt, wie etwa der Massenmord

——————

1 Kommentar zu Michaela Christ, Die Soziologie und das ›Dritte Reich‹. Weshalb Holo- caust und Nationalsozialismus in der Soziologie ein Schattendasein führen. Soziologie, Heft 4, 2011, 407-431.

(2)

an den Juden, aus systematischen Gründen schwer falle. Diese vermeint- liche grundsätzliche »Inkommensurabilität von Soziologie und National- sozialismus« (ebd.: 419f.) verhindere ein angemessenes soziologisches Ver- ständnis der nationalsozialistischen Gesellschaft. Christ stellt damit die fa- schistische Gewalt in toto außerhalb des Gesellschaftlichen und betrachtet sie nicht als sozialen Tatbestand, sondern letztlich als »sinnfremdes Han- deln« (Max Weber), das der soziologischen Hermeneutik prinzipiell ver- schlossen bleiben müsse. Es ist zwar richtig, dass sich immer auch Gren- zen sinnhaften Handelns zeigen, beispielsweise bei tradierten Gewohnhei- ten oder spontanen kollektiven Reaktionen. Sinnfremde Vorgänge und Ge- gebenheiten im engeren Sinne würde man aber zu den Naturtatsachen zählen, wie beispielsweise der Ablauf psycho-physiologischer Erscheinungen oder plötzlich hereinbrechende Naturkatastrophen (vgl. Weber 1976: 3).

Bemerkenswerterweise begeht Christ in ihrer Argumentation damit densel- ben Denkfehler, den sie zuvor bei Leopold von Wiese zu Recht kritisiert hat.

Mit Bezug auf die Gewalt ist das naturalisierende Argument leicht zu widerlegen. In allen ihren zweifellos vielfältigen Spielarten ist zwischen- menschliche physische Gewalt nicht nur eine Beziehungshandlung par excel- lence, weil sie immer Interaktion und meist auch irgendeine Form von Kommunikation voraussetzt, weil sie die Opfer bedroht und demütigt, verletzt und tötet. Sie findet auch immer in der Gesellschaft statt, als sozia- les und sinnhaftes Handeln und Erleben. Hinzu kommt, dass Gewalt ein allgegenwärtiges – teils verdecktes, teils toleriertes, teils skandalisiertes – gesellschaftliches Phänomen und somit ein genuiner sozialer Tatbestand ist, und dies selbstverständlich auch in der modernen Gesellschaft. Man begegnet ihr etwa in kriminellen Milieus, bei Jugendbanden, in sogenann- ten totalen Institutionen wie Haftanstalten, aber auch in Familien, Schulen und in der Kirche. Politischen und insbesondere staatlichen Verbänden kommt nun, wie eine lange Denktradition seit Machiavelli und Hobbes bis Max Weber, Norbert Elias und Heinrich Popitz eindringlich belegt, die Be- sonderheit zu, dass physische Gewaltsamkeit zu ihren Definiens zählt.

Nach Weber, dem Theoretiker des staatlichen Gewaltmonopols, sind alle politischen Gebilde »Gewaltgebilde«, die sich nur nach »Art und Maß der Anwendung und Androhung von Gewalt« unterscheiden (Weber 1976:

520; vgl. Anter 1995: 36). Politisch motivierte Gewalt, und eine solche war natürlich auch der Genozid an den Juden im Nationalsozialismus, ihren Ge- sellschaftscharakter abzusprechen und gerade auf diesem Gebiet der hand- lungstheoretischen Soziologie analytisch-hermeneutisches Unvermögen zu

(3)

unterstellen, vermag nicht zu überzeugen. Die Soziologie ist sehr wohl in der Lage, auch faschistische Gewalt und Gewaltverhältnisse zum Gegen- stand ihrer Analyse zu erheben, wie ich im Folgenden, wenn auch nur skiz- zenhaft und exemplarisch, zeigen möchte.2

Dies richtig wahrzunehmen, setzt freilich voraus, Gewalt und Gewalt- erleben nicht losgelöst von Machtprozessen zu betrachten. Niemand hat das klarer gesehen als Heinrich Popitz:

»Gewalt meint eine Machtaktion, die zur absichtlichen körperlichen Verletzung anderer führt, gleichgültig, ob sie für den Agierenden ihren Sinn im Vollzug selbst hat (als bloße Aktionsmacht) oder, in Drohungen umgesetzt, zu einer dauerhaften Unterwerfung (als bindende Aktionsmacht) führen soll.« (Popitz 1992: 48, Hervor- hebung hinzugefügt) »Bedenkt man, was Menschen anderen gewaltsam antun, prägt sich als erstes und grundlegendes Charakteristikum die Entgrenzung des menschlichen Gewaltverhältnisses ein.« (Popitz 1992: 48; Hervorhebung im Original)

Und weiter schreibt Popitz:

»Der Mensch muß nie, kann aber immer gewaltsam handeln, er muß nie, kann aber immer töten – einzeln oder kollektiv – gemeinsam oder arbeitsteilig – in allen Situ- ationen, kämpfend oder Feste feiernd – in verschiedenen Gemütszuständen, im Zorn, ohne Zorn, mit Lust ohne Lust, schreiend oder schweigend (in Todesstille) – für alle denkbaren Zwecke – jedermann.« (Popitz 1992: 50)

Selbst scheinbar »sinnlose Gewalttaten« sind also sinnhaft und sozial er- fahrbar; damit sind sie einem soziologischen Verständnis keineswegs ver- schlossen – ganz im Gegenteil!

Christs Analyse greift aber vor allem auch deshalb zu kurz, weil sie die falsche Analyseebene anvisiert. In der Tat ist es schwierig, überzeugende soziologische Analysen des Dritten Reiches zu finden, wenn man allgemein die »deutsche Gesellschaft« jener Zeit in den Blick nimmt. Methodisch kann es für die soziologische Beobachtung von Gesellschaft im Allgemei- nen nur um spezifische Problemstellungen gehen. Das erfordert eine Iso- lation geeigneter Handlungs- und Beziehungsebenen. Wichtig ist dann ein

——————

2Zu berücksichtigen wären dabei auch Beiträge, die aus der Feder von Nichtsoziologen stammen, aber nach Problemstellung und Analyseansatz einem soziologischen Verständ- nis verpflichtet oder jedenfalls mit einem solchen kompatibel sind. Exemplarisch sind dafür die einschlägigen Arbeiten Friedrich Neumanns, Ernst Fraenkels oder auch für manche Aspekte diejenigen Carl Schmitts.

(4)

tragfähiger theoretisch-konzeptioneller Bezugsrahmen. Die entscheidende Frage lautete auch im Hinblick auf den Nationalsozialismus: Mit welchen spezifischen Problemstellungen kann sich ein soziologisches Forschungs- programm analytisch und empirisch entfalten und bewähren?

Nicht die Gesellschaft im Allgemeinen ist nach meinem Dafürhalten eine geeignete Bezugsebene für die Analyse des Nationalsozialismus. Das Hitler-Regime war zuvörderst ein politisches Gebilde, und zwar eines der besonderen Art; und es unterschied sich von der vorausgegangenen Wei- marer Republik sowie von den nachfolgenden demokratisch-parlamenta- rischen Systemen insbesondere, um noch einmal Max Weber zu zitieren:

»nach Art und Maß der Anwendung und Androhung von Gewalt« (Weber 1976: 520). Eine Soziologie des Nationalsozialismus muss daher primär die spezifischen Herrschaftsverhältnisse und Machtprozesse im Hitler-Regime in den Fokus nehmen, also die Strukturbedingungen und Entwicklungs- prozesse politischer Herrschaft. Es liegt auf der Hand, dass dabei die ge- sellschaftlichen Voraussetzungen, wie etwa die Strukturbedingungen sozia- ler Ungleichheit, insbesondere die Klassen- und Schichtenstruktur der deutschen Gesellschaft (vgl. Wehler 2003: 715–751) oder die kulturellen Voraussetzungen antisemitischer Vorurteilssyndrome (vgl. Ziege 2002), und deren Wirkungen mit in den Blick zu nehmen sind. Darauf konzen- trierten sich bisher auch die Hauptströmungen der soziologischen For- schung zum Nationalsozialismus. Soziologische Faschismusforschung ist infolgedessen, neben der zu Schichten- und Klassenanalyse, primär Herr- schaftssoziologie.

Was aber kann die Herrschaftssoziologie zur Analyse des historischen Nationalsozialismus beitragen, was zum Beispiel die Geschichtswissen- schaft oder die politische Philosophie nicht ohne weiteres zu leisten ver- mögen? Worin besteht die spezifische Mehrleistung eines entsprechenden soziologischen Forschungsprogramms? Nimmt man hier nur die deutsch- sprachige Nationalsozialismus- und Faschismusforschung der Nachkriegs- zeit in den Blick,3 dann ragen Studien heraus, die sich besonders um eine systematische Anwendung der Herrschaftssoziologie Max Webers zur Deutung und Erklärung des Faschismus verdient gemacht haben. Sieht

——————

3 Umfassender über Fragestellungen, Hauptthesen und wichtigste Befunde der internatio- nalen, insbesondere der italienischen und angelsächsischen soziologischen Faschismus- forschung informieren Bach, Breuer 2010: 7-16.

(5)

man von vereinzelten Ansätzen in den 1970er Jahren ab, so hat besonders dieser Strang der soziologischen Forschung der vergleichenden Faschis- musforschung nachhaltig neue Impulse verliehen (z. B. Sauer 1974). Bahn- brechende Bedeutung kam hierbei einem Aufsatz von M. Rainer Lepsius (1990; zuerst auf Englisch 1986) zu, der überzeugend darlegte, wie sich die in der geschichtswissenschaftlichen Forschung dominierenden kontrover- sen Deutungen des NS-Regimes als Monokratie oder Polykratie bzw. der Stellung Hitlers als »schwacher« oder »starker Diktator« mithilfe des Mo- dells charismatischer Herrschaft vermitteln ließen. Auch die ältere »Dop- pelstaatsthese« Ernst Fraenkels (1984; zuerst auf Englisch 1941), lässt sich mit Webers Charisma-Modell soziologisch neu deuten. Sie gründet auf dem Befund, dass von zwei parallel existierenden Herrschaftsräumen im NS-Regime auszugehen ist: einerseits dem Bereich des »Normenstaates«, in dem die reguläre staatliche Rechts- und Verfahrensordnung aufrechter- halten blieb, andererseits dem Bereich des »Maßnahmestaates«, in dem sich ein Herrschaftssystem der unbeschränkten Willkür und Gewalt etablieren konnte, das zwar charismatisch legitimiert, aber durch keinerlei rechtliche Garantien eingeschränkt war.

Versteht man Charisma mit Max Weber als einen sozialen Prozess der Zu- schreibung oder Projektion außeralltäglicher Eigenschaften auf eine Person, dann erfolgte die Herausbildung des rechtsenthobenen Herrschaftsbereichs des

»Maßnahmestaates« vor allem mittels der Personalisierung von Herrschafts- funktionen. Das wiederum bewirkte in der Konsequenz eine Entinstitutiona- lisierung, namentlich der bürokratisch-legalen, aber auch der traditionalen Herrschaftsformen (vgl. Lepsius 2011). Weber verstand die Idealtypen Charisma und Bürokratie grundsätzlich als systematische Gegenbegriffe, mit denen sich ein insbesondere den politisch-staatlichen Verhältnissen der Moderne innewohnendes Spannungsverhältnis ausdrücken und soziologisch- analytisch fruchtbar machen lässt: Hier die rational-legale Institutionen- ordnung der Verwaltungsroutinen und der alltäglichen Interessenverfolgung in geregelten Bahnen; dort die irrationalen Kräfte des Außeralltäglichen, Sakralen, der Metánoia, des Dezisionismus und des Ausnahmezustandes. In seiner genuinen Form wirkt das Charisma, wie Weber hervorhebt, als »die spezifisch ›schöpferische‹ revolutionäre Macht der Geschichte« (Weber 1976:

658). Es bricht mit Tradition, Ratio, geltendem Recht und bürokratischer Ordnung, indem es Herrschaftsfunktionen personalisiert.

Dementsprechend stehen bei der herrschaftssoziologischen Analyse der nationalsozialistischen Führerdiktatur nicht vermeintlich besondere Per-

(6)

sönlichkeitsmerkmale Hitlers im Vordergrund, sondern vor allem dessen herausragende Machtfülle in einem dem Recht potentiell in allen Bereichen enthobenen Herrschaftssystem und ihre weitreichenden destruktiven Wir- kungen. Entinstitutionalisierung bedeutete im Falle des »persönlichen Re- giments« Hitlers (Carl Schmitt) eben nicht nur oberflächliche Irritation, sondern nachhaltige Zerstörung sowie Auflösung aller herkömmlichen und traditionellen und/oder bürokratisch-formalen institutionalisierten Regie- rungskonventionen. Hitler regierte vorzugsweise per »Führererlass« oder

»Führerbefehl«. Bei Hitler lag die oberste, von keinen Zuständigkeiten oder rechtlichen Regelungen eingeengte Entscheidungsmacht. Eine explizite mündliche oder schriftliche Anweisung, die Äußerung (oft auch nur die Unterstellung) eines Wunsches in einem Gespräch mit Befehlshabern, die einen unmittelbaren Zugang zu Hitler hatten,4 konnte weitreichende, oft geradezu katastrophale Wirkungen haben. Der Aufbau von Sonderstäben, die in Hitlers direktem Auftrag arbeiteten, wie der ganze Komplex der SS, die Propagandamaschinerie unter Goebbels oder auch Speers Rüstungsor- ganisation, um hier nur einige Beispiele zu nennen, gehen letztlich auf persönliche Aufträge Hitlers zurück oder wurden mit solchen persönlichen Willenserklärungen des »Führers« gerechtfertigt (vgl. Bach, Breuer 2010:

205ff.). Auch die meisten desaströsen Folgen militärischer Entscheidungen Hitlers, der sich 1938 selbst de facto zum Oberbefehlshaber der Wehrmacht erhoben hatte, wie das Rückzugsverbot für die in Stalingrad eingeschlos- sene 6. Armee unter Generalfeldmarschall Paulus, gehören dazu. Wenige Tage nach Hitlers Befehl: »Verbiete Kapitulation!« war die Truppe zer- sprengt, fast 100.000 Soldaten gingen in russische Gefangenschaft; nur ein paar Tausend davon kehrten Jahre später zurück nach Deutschland (vgl.

Fest 1987: 909). Unter diesen Bedingungen führerunmittelbarer Herr- schaftspraxis, die jede Form kollektiver Entscheidungsprozesse unterband, eröffneten sich für Hitler, aber auch für dessen unmittelbare Entourage, für die Himmlers, Görings, Goebbels, Bormanns und zahllose weitere in- direkt charismatisch legitimierte Paladine mehr, ungeahnte Willkürräume, die das gesamte Staatsgefüge in eine Polykratie und ein zuvor nie dagewe- senes Verwaltungschaos stürzten. Durch den Aufbau von bürokratie-unab-

——————

4 Zum Problem des Zugangs zum Machthaber siehe Schmitt 2008 [1954]; Bach, Breuer 2010: 246ff.

(7)

hängigen Parallelstrukturen und ad hoc gebildeten Sonderstäben mit unbe- grenzter Macht und nahezu unbeschränkter Ressourcenverfügbarkeit, die sich sämtlich aus der charismatischen Spitzenfiguration herleiteten, konn- ten allfällige Widerstände im regulären Beamtenapparat überwunden bzw.

umgangen werden. Dadurch konnten sich die Exzesse der Brutalität, wie zum Beispiel in den Konzentrationslagern,5 zu einem beispiellosen poli- tischen und sozialen Gewaltsystem verdichten – zu einer »Gesellschaft des Terrors« (Neurath). Diese Dynamik steht nicht im Widerspruch zum cha- rismatischen Modell, sondern ist das Ergebnis der sukzessiven Charismati- sierung des Deutschen Reiches nach Hitlers Machtergreifung.

Der Idealtypus der charismatischen Herrschaft eignet sich somit her- vorragend dazu, die auf die Machtergreifung Hitlers folgenden Prozesse der Entinstitutionalisierung der staatlichen Ordnung im expansiven »Maßnah- mestaat« gerade in ihren soziologischen Aspekten besser zu verstehen. We- der wird die Person Adolf Hitlers dadurch nachträglich zu einem »großen Diktator« aufgewertet, noch die Bedeutung der manipulativen politischen Propaganda im Dritten Reich unterschätzt, noch gar der Gewaltcharakter des Regimes geleugnet. Im Gegenteil, das Charismamodell ermöglicht eine überzeugende soziologische Erklärung gerade auch der sozialen Voraus- setzungen und Ermöglichung extremer Gewaltpraktiken, die den National- sozialismus charakterisierten.

Fazit

Von einem Schweigen der Soziologie zum Nationalsozialismus und zur faschistischen Gewalt, wie dies Christ in ihrem Beitrag behauptet, kann bei näherer Betrachtung der einschlägigen Literatur keine Rede sein. Freilich, die etablierte Soziologie begann sich erst relativ spät systematisch mit dem Dritten Reich und dem nationalsozialistischen Terror zu beschäftigen. Die Ursachen dafür liegen nach meinem Dafürhalten nicht in den theoreti- schen Prämissen der Soziologie, wie ich am exemplarischen Beispiel der Gewaltfrage skizzenhaft zu zeigen versucht habe. Überzeugender finde ich

——————

5 Für soziologische Analysen des Terrors und der sozialen Strukturen in den Konzentra- tionslagern aufschlussreich: Sofsky 1993; Neurath 2004 [1951].

(8)

dagegen den auch in Christs Beitrag angesprochenen wissenschaftsge- schichtlichen Aspekt, dass in der unmittelbaren Nachkriegszeit für manche gerade mit einer Hinwendung zur empirischen, gegenwartsdiagnostischen und an Modernisierungsprozessen interessierten Soziologie sich die Zäsur mit der NS-Zeit auch biographisch am überzeugendsten vollziehen und ein radikaler geistiger Neuanfang erreichen ließ.6 Im Übrigen ist zu berücksich- tigen, dass die wissenschaftliche Aufarbeitung des Nationalsozialismus be- greiflicherweise zunächst der Zeitgeschichtsforschung überlassen blieb und bleiben musste. Jede wissenschaftliche Betrachtung der Vergangenheit be- darf solider empirischer Daten, auf welche natürlich auch eine ernstzuneh- mende Soziologie des Nationalsozialismus nicht verzichten kann, will sie nicht einem sterilen sozial-moralischen Diskurs verhaftet bleiben. Die wis- senschaftliche Auseinandersetzung mit dem ›Dritten Reich‹ wird auch heute noch hauptsächlich im Rahmen der Geschichtswissenschaft betrie- ben.7 Die Soziologie vermag letztlich nur mit den ihr eigenen Fragestel- lungen und theoretischen Modellen das von der Geschichtswissenschaft aufgearbeitete »Material« zu re-interpretieren. Die Faschismus- und Natio- nalsozialismusforschung muss deshalb komparativ und interdisziplinär an- gelegt sein. Sie kann auf die Quellenforschung der historischen Wissen- schaften nicht verzichten.

——————

6Dazu aufschlussreich die Sammlungen von Erinnerungen westdeutscher Soziologen der Nachkriegsgeneration in: Fleck 1996 und Bolte, Neidhardt 1998.

7 Das hatte im Übrigen immer auch erhebliche professionsstrategische Konsequenzen:

Für Soziologinnen und Soziologen bedeutet es stets ein beträchtliches berufliches Risi- ko, sich der Nationalsozialismusforschung zuzuwenden, weil eine historisch orientierte Soziologie an den deutschen Universitäten kaum vertreten ist, und es deshalb auch so gut wie keine Professuren mit entsprechender Denomination gibt.

(9)

Literatur

Anter, A. 1995: Max Webers Theorie des modernen Staates. Herkunft, Struktur und Bedeutung. Berlin: Duncker & Humblot.

Bach, M., Breuer, S. 2010: Faschismus als Bewegung und Regime. Italien und Deutschland im Vergleich. Wiesbaden: VS.

Bolte, K. M., Neidhardt, F. (Hg.) 1998: Soziologie als Beruf. Erinnerungen west- deutscher Hochschulprofessoren der Nachkriegsgeneration. Baden-Baden:

Nomos (Soziale Welt. Sonderband 11).

Christ, M. 2011: Die Soziologie und das ›Dritte Reich‹. Weshalb Holocaust und Nationalsozialismus in der Soziologie ein Schattendasein führen. Soziologie, 40. Jg., Heft 4, 407–431.

Fest, J. 1987: Hitler. Eine Biographie. Berlin: Ullstein.

Fleck, C. (Hg.) 1996: Wege zur Soziologie nach 1945. Biographische Notizen. Op- laden: Leske + Budrich.

Lepsius, M. R. 1993: Das Modell charismatischer Herrschaft und seine Anwend- barkeit auf den »Führerstaat« Adolf Hitlers. In M. R. Lepsius, Demokratie in Deutschland. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 95–118.

Lepsius, M. R. 2011: Max Weber, Charisma und Hitler. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24. 08. 2011, Nr. 196, N3.

Neurath, P. M. 2004 [1951]: Die Gesellschaft des Terrors. Innenansichten der Konzentrationslager Dachau und Buchenwald. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Popitz, H. 1992: Phänomene der Macht. Tübingen: Mohr.

Sauer, W. 1974: Die Mobilmachung der Gewalt. In K.-D. Bracher, W. Sauer, G.

Schulz (Hg.), Die nationalsozialistische Machtergreifung. Band III. Frankfurt am Main: Ullstein.

Sofsky, W. 1993: Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationslager. Frankfurt am Main: Fischer.

Weber, M. 1976: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Tübingen: Mohr.

Wehler, H.-U. 2003: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. 1914-1949. München:

Beck.

Ziege, E.-M. 2002: Mythische Kohärenz. Diskursanalyse des völkischen Antisemi- tismus. Konstanz: UVK.

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Für mich stellt sich auch nicht so sehr die Frage, ob es eine public sociology oder noch andere Soziologien gibt.. Die meisten von uns arbeiten an öffentlich

Also jene Phäno- menbereiche, die durch Wissen kategorial nicht oder – auch vermeintlich – nur unzureichend erfasst werden, aber wesentlich für die lebensweltliche Orientierung

Sie begründet die These, es habe keine Soziologie im NS gegeben mit der Unter- scheidung zwischen einer soziologischen Wissenschaft, die mit faschistischer Ideologie kompatibel

Die Soziologie sollte für Erfahrung, auch die individuellen Erfahrungen der Sozialwissenschaftler, offen sein, Neugierde ermöglichen, sich nichts verbieten lassen, nicht zum

Vor diesem Hintergrund war die Gründung und Fortführung einer Deutschen Gesellschaft für Soziologie von Beginn an fragwürdig und belastet durch die schon bald eintretende Ge-

Die Kritik, die gegenwärtige Soziologie fragmentiere mit der Beschäfti- gung von gegenwartsbezogenen Einzelstudien zur Bedeutungslosigkeit und professionelles Selbstbewusstsein sei

Ludwig von Friedeburgs Lebenswerk widerlegt eklatant zwei zentrale Ge- rüchte, die über Kritische Theorie verbreitet wurden und heute gängiges Vorurteil sind: das Gerücht,

Er lässt sich nicht einer Kategorie zuordnen: Er ist Soziologe, aber auch Historiker, Wissen- schaftler, aber auch begnadeter Essayist; er kombiniert Ernsthaftigkeit und