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Archiv "Merkwürdige Begleitumstände des Kampfes gegen Metamizol" (01.10.1986)

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

DER KOMMENTAR

EG-Ärzte

kussion — eine Definition des Be- griffes „ambulante ärztliche Ver- sorgung", die für die Ärzteschaf- ten aller EG-Länder annehmbar wäre, gibt es aber deshalb noch lange nicht.

Einige weitere Akzente setzte der Präsident der gastgebenden Bun- desärztekammer, Dr. Karsten Vil- mar, in seinem Schlußwort. Dr. Vil- mar warnte vor Utopien und un- realistischen Diskussionen ohne gesicherte medizinische Grundla- gen. Wenn man die Politiker nicht ständig ermahne, bei ihren Ent- scheidungen und Planungen ärzt- lichen Sachverstand hinzuzuzie- hen, so komme es sogar zu gänz- lich falschen Beurteilungen. So müsse man immer wieder darauf hinweisen, daß die Zunahme der chronischen Erkrankungen nicht ein Mißerfolg, sondern ein Erfolg der Medizin sei (Professor Dr.

Horst Bourmer hatte in seinem für die deutsche Delegation abgege- benen Statement die Dialyse als Beispiel angeführt): der Erfolg liegt in der höheren Lebenserwar- tung chronisch Kranker bei gleich- zeitig verbesserter Lebensqualität.

Dies müsse auch bei politischen Entscheidungen über die Gesund- heitsausgaben viel mehr berück- sichtigt werden; mehrere Dele- gierte hatten auf den Widerspruch aufmerksam gemacht, der zwi- schen dem WHO-Ziel „Gesundheit für alle" und den Kürzungen der Gesundheitsausgaben in etlichen

Ländern besteht.

Dem Patienten verpflichtet

Grundsätzlich werde man, kündig- te Vilmar an, in Wien die gesamt- gesellschaftliche Verantwortung der Ärzte keineswegs in Abrede stellen. Man werde aber betonen, daß im freiheitlichen Westeuropa, für dessen Ärzteschaften der Stän- dige Ausschuß spricht, der Arzt in erster Linie seinem Patienten und allen Kranken verpflichtet ist; poli- tische Überzeugungen, welcher Richtung auch immer, müssen da- hinter zurücktreten. gb

G

egner von Novalgin und ande- ren metamizolhaltigen Präpa- raten fordern, daß Metamizol unter Rezeptpflicht gestellt oder—

so manche — ganz verboten wird wegen angeblich schwerwiegen- der Nebenwirkungen. Gemeint ist hiermit in erster Linie die Agranu- lozytose. Frühere Studien haben jedoch keine zuverlässigen Zahlen über die Häufigkeit von Agranulo- zytose durch Metamizol erbracht, da sie von gemeldeten Fällen aus- gingen, mit geschätzten Dunkel- ziffern arbeiteten und da es an ad- äquaten Bezugsgrößen fehlte. So wartete man mit Spannung auf den 3. Weltkongreß für klinische Pharmakologie (vom 27. Juli bis 1.

August in Stockholm), bei dem erstmals Ergebnisse der „Interna- tional Agranulocytosis and Apla- stic Anemia Study" (IAAA-Studie, inzwischen häufig als „Bostonstu- die" zitiert) vorgetragen werden sollten.

Aufgabe und Ergebnisse der Fall-Kontroll-Studie

In dieser Fall-Kontroll-Studie geht es um den Zusammenhang zwi- schen Schmerzmitteln, Antibiotika sowie Antithyreotika und Agranu- lozytose, bzw. aplastischer An- ämie. Während rund vier Jahren wurden von acht Zentren systema- tisch alle Fälle von Agranulozytose und aplastischer Anämie erfaßt, die in ihren Einzugsgebieten mit einer Gesamtbevölkerung von 22,3 Mill. hospitalisiert waren. Ein Ergebnis dieser mit sehr differen- zierter Methodik durchgeführten Studie war: das absolute Risiko, durch Metamizol an einer Agranu- lozytose zu erkranken, ist sehr ge- ring, und zwar um Zehnerpoten- zen niedriger als in den früheren Studien geschätzt wurde. Absolu- tes Risiko, auch Exzeßrisiko ge- nannt, ist die Wahrscheinlichkeit, mit der man durch die Einnahme von Metamizol an Agranulozytose erkrankt, bezogen auf die Zahl de- rer, die Metamizol einnehmen.

Es wurde auch das relative Risiko berechnet, ausgedrückt durch die

Merkwürdige Begleitumstände

.. des Kampfes gegen

«

Metamizol

Zahl, mit der das normale Erkran- kungsrisiko durch Metamizolein- nahme multipliziert wird. Hier er- gab sich die größte Überraschung der Studie: Für Metamizol zeigten sich enorme geographische Un- terschiede im relativen Risiko. Am unteren Ende der Skala waren Bu- dapest und Israel, in denen Meta- mizol zu keiner Vermehrung der Erkrankungshäufigkeit führte, am oberen Ende befanden sich Barce- lona, Berlin und Ulm mit einem durchschnittlichen relativen Risi- ko von 23,7.

Eine Erklärung für diese Differen- zen konnte nicht gefunden wer- den, so Prof. Samuel Shapiro, Drug Epidemiology Unit, Boston, der mit seinen Mitarbeitern die Studie koordiniert und die Daten analysiert. An methologischen Fehlern habe es jedenfalls nicht gelegen. Möglicherweise führt Metamizol nur zusammen mit ei- nem oder mehreren anderen Fak- toren zu einer Agranulozytose, Faktoren, die in verschiedenen Regionen unterschiedlich häufig vorkommen. Doch selbst in der Gruppe mit dem höchsten relati- ven Risiko betrug das absolute Ri- siko nur 1,1 auf 1 Million Perso- nen, die ein bis sieben Tage lang Metamizol eingenommen hatten.

Die jährliche lnzidenz der Agranu- lozytose war 6,4 pro 1 Million mit einer Letalität von neun Prozent.

So sahen die lang erwarteten Zah- len aus.

Manche Leute haben aber nicht gewartet: So konnte man bereits am 29. Juli, d. h. zwei Tage bevor erstmals Ergebnisse der Studie vorgetragen wurden, in einer Pres- semitteilung lesen, das Risiko, an 2670 (22) Heft 40 vom 1. Oktober 1986 83. Jahrgang Ausgabe A

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Merkwürdige Begleitumstände

einer durch Metamizol ausgelö- sten Agranulozytose zu erkranken, sei mehr als doppelt so hoch als bisher angenommen. Unter der Mitteilung fand sich der Name Dr.

med. U. M. Moebius — bekannt durch sein „arznei-telegramm".

Nun wartete man natürlich ge- spannt auf die wissenschaftliche Debatte, die sich nach den Refera- ten von Shapiro und anderen For- schern der IAAA-Studie zwischen diesen und Moebius entwickeln würde, da Moebius offenbar über detaillierte Kenntnisse dieser Stu- die verfügte, deren Ergebnisse erst am 3. Oktober veröffentlicht werden.

„Professionelle" Kritiker:

nur polemische Einwürfe

Doch man wurde enttäuscht—was von den Kritikern kam, waren po- lemische Einwürfe wie: ohne Durchsuchung der Medikamen- tenschränke der Befragten seien Angaben über den Medikamenten- verbrauch eigentlich nicht zuver- lässig; das war ebenso wenig wis- senschaftlich wie die Vermutung, Todesfälle an Agranulozytose sei- en in einem solchen Umfang nicht erkannt worden, daß dies die Er- gebnisse verfälscht habe. Shapiro betonte, daß für eine rationale Nutzen-Risiko-Beurteilung das ganze Spektrum der Nebenwir- kungen berücksichtigt werden müsse und daß beim vollständigen Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko von Schmerzmitteln Gastrointesti- nalblutungen eine wesentliche Rolle spielten.

Dies konterte ein Diskussionsred- ner mit der Bemerkung, eine Agra- nulozytose sei für den Patienten ein viel dramatischeres Ereignis als eine Gastrointestinalblutung und habe deshalb ein größeres Gewicht. (Man möchte freilich meinen, daß Sterben immer ein

„dramatisches Ereignis" ist für den Betroffenen, sei die Ursache nun eine Agranulozytose oder ei- ne Gastrointestinalblutung.) Ernstzunehmende Kritik an der Studie wurde in diesem wissen-

schaftlichen Forum also nicht ge- äußert. Die große Überraschung kam am folgenden Tag in einer Pressekonferenz, in der sich Prof.

Micha Levi, Jerusalem, Chairman der Studie, und Shapiro den Fra- gen von Journalisten stellten, Sha- piro gegen seine sonstigen Ge- wohnheiten, wie er ausdrücklich betonte. Eine solche Studie sollte nach seiner Überzeugung von kompetenten Fachleuten ausführ- lich und kritisch diskutiert werden, ehe man mit ihren Ergebnissen vor die Presse gehe. Er sei jedoch bereit, Verständnisfragen zu be- antworten, die sich auf die Refera- te des Vortages bezögen.

Nun befanden sich unter den Jour- nalisten allerdings mindestens zwei Personen, die eigentlich nicht als Journalisten an dieser Pressekonferenz teilnahmen, was freilich nur der wußte, der sie von Angesicht kannte, die Namens- schilder waren nicht einsehbar.

Und einer von ihnen war Moebius, der in der wissenschaftlichen Dis- kussion des Vortages so erstaun- lich wenig gesagt hatte. Die Ein- wände gegen die Studie, die nun von ihm und seinem Kollegen ge- äußert wurden, waren verblüffend:

Fehler könnten dadurch entstan- den sein, so hieß es, daß in ver- schiedenen Ländern die Qualität der Systeme für spontane Meldun- gen (von Medikamentennebenwir- kungen) ganz unterschiedlich sei, was die geographischen Unter- schiede im relativen Risiko erklä- ren würde — die Studie basierte al- lerdings gar nicht auf spontanen Meldungen, sondern auf einer sy- stematischen Erhebung.

Weiter wurde unterstellt, das in der Studie errechnete Risiko sei zu niedrig, weil nur die „Spitze des Eisbergs" erfaßt wurde; was denn mit den Fällen unter Wasser sei — bei der Berechnung der Inzidenz- rate waren jedoch alle Fälle be- rücksichtigt worden, „unter Was- ser" gab es keine mehr. Es folgte der Rechentrick, aus jeder Mill.

täglicher Dosierungen von ver- kauftem Metamizol einen hier- durch verursachten Agranulozyto-

sefall abzuleiten, verblüffend, wenn auch kaum seriös. Die Häu- figkeitsangaben der älteren Stu- dien wurden als zuverlässiger dar- gestellt — etwa weil sie höher wa- ren? —, die Zahlenangaben der IAAA-Studie dagegen ins Zwielicht gezogen mit dem Hinweis, die Ein- wohnerwohl von Ulm liege näher an 1 Million als an 5,3 Millionen — soviele Personen leben im Ein- zugsbereich des Ulmer Zentrums

— durch eine zu groß angesetzte Bevölkerung werde das Risiko ver- kleinert.

Spektakulärer „Verriß"

in der Pressekonferenz

Dieses Feuerwerk einer Kritik, die mit inadäquaten Argumenten die Studie zu disqualifizieren suchte, dominierte die Pressekonferenz.

Warum? Daß die beiden Mediziner diese Fragen stellten, weil sie die Referate des Vortages nicht ver- standen hatten — siehe die Frage nach den spontanen Meldungen — ist schwer vorstellbar. Sollte viel- leicht vor Journalisten als Multipli- katoren von Meinungen — keines- wegs alle hatten die Vorträge ge- hört — die Studie so verrissen wer- den, daß die ab Oktober zu erwar- tende wissenschaftliche Diskus- sion die gesundheitpolitischen Entscheidungen bezüglich Meta- mizol ebenso wenig wird beein- flussen können wie die bis dahin bereits verfestigte öffentliche Mei- nung?

Der Einsatz von Medikamenten mit schweren Nebenwirkungen sollte eingeschränkt oder ganz un- terbunden werden, wenn es Prä- parate mit derselben Wirkung gibt, die risikoärmer sind. Niemand wird bestreiten, daß das notwen- dig ist zum Schutz der Patienten.

Welches solche Medikamente sind, kann jedoch nur durch die wissenschaftlich korrekte Analyse aller Nebenwirkungen ermittelt werden. — Man verließ die Presse- konferenz mit dem unguten Ge- fühl, hier sei versucht worden, Meinung zu manipulieren — unter dem Vorwand des Wohls der Pa- tienten. Elisabeth Pflanz Ausgabe A 83. Jahrgang Heft 40 vom 1. Oktober 1986 (23) 2671

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