Über der Diskussion um die Bedro- hung durch Karzinom und Throm- bose bei hormonaler Empfängnis- verhütung hat man die weniger lau- ten, dafür gesellschaftlich viel be- deutungsvolleren Gefahren der „Pil- le" übersehen, obwohl für deren Existenz seit zehn Jahren untrügli- che Beweise vorliegen. Gemeint sind die unerwünschten und hinder- lichen „Neben"-Wirkungen psycho- vegetativer, innerseelischer und zwi- schenmenschlicher Art. Nach den schon seit drei Dezennien vorliegen- den Ergebnissen der endokrinologi- schen Psychiatrie (M. Bleuler) über das feine Wechselspiel zwischen hormonalen, seelischen und sozia- len Prozessen, sind derartige Verän- derungen auch zu erwarten gewe- sen; denn die künstliche Zufuhr auch verhältnismäßig geringer Hor- mondosen führte schon immer zu seelischen Gleichgewichtsstöru n- gen, die in ähnlicher Art bei endokri- nen und metabolischen Krankheiten zu finden sind. Es sind das Verände- rungen der Stimmung, des Antriebs und der elementaren Triebe. Si- gusch (1974) charakterisiert die Pil- lenwirkung ganz zutreffend als „mit- telschwere bis schwere therapeuti- sche Gewalt".
1975 ist mit Förderung des Bundes- ministeriums für Forschung und Technologie eine großangelegte, für die deutsche Bevölkerung repräsen- tative Studie über „Nebenwirkungen oraler Kontrazeptiva" angelaufen (15)*), deren erste Ergebnisse aus den Voruntersuchungen jetzt vorlie- gen. Danach nahmen 1975 40 Pro-
zent aller Frauen im gebärfähigen Alter die Pille; geht man vom Pillen- konsum bei jungen Frauen aus, so nehmen heute 90 Prozent aller Frau- en mit dem 20. Lebensjahr begin- nend die Pille oder haben sie ge- nommen. Laut dieser Repräsentativ- untersuchung ist die Pille ein ausge- sprochener Konsumartikel, nicht je- doch wird sie als Medikament ange- sehen. Unter anderem kommen die Autoren zu dem Schluß: „Da die be- deutenderen Nebenwirkungen der Pille erst im höheren Alter auftreten, ist zu erwarten, daß die Probleme der Nebenwirkungen erst in fünf bis zehn Jahren voll auf die gesamte weibliche Bevölkerung zukommen, da dann nahezu alle Frauen die Pille eine gewisse Zeit genommen haben werden, gegenüber derzeit etwa 60 Prozent im gefährdeten Alter."
Wie die Qualität seelischer Verände- rungen bei hormonaler Empfängnis- verhütung ist, und wie stark sich die seelischen Veränderungen häufen, das ist anhand von Detailstudien mehrfach aufgezeigt worden (10, 12, 13, 5, 4, 9, 6); die jüngste Übersicht dazu gibt M. Mall-Haefeli (7).
Entscheidend für diese Befunde ist die Untersuchungssituation: einer- seits wird nur der psychopatholo- gisch und psychiatrisch geschulte Untersucher seelische Veränderun- gen mit geeigneter Interviewtechnik zu hören bekommen; andererseits müssen die Frauen hinreichend mo- tiviert und interessiert werden. Bei einer Fragebogenuntersuchung bei- spielsweise, die durch einen psy-
Methodisch genaue psychia- trisch-psychologische Unter- suchungen haben bewiesen, daß seelische Störungen in unmittelbarem Zusammen- hang mit der hormonalen Kontrazeption viel häufiger sind als allgemein bekannt ist.
Diese seelischen Veränderun- gen im Sinne des endokrinen Psychosyndroms erscheinen als feine Störungen der Stim- mung, des Antriebs und der elementaren Triebe. Sie ha- ben nicht zuletzt deshalb all- gemeine psychohygienische und volkswirtschaftliche Be- deutung, weil im Zusammen- hang mit ihnen auch die menschliche Aktivität und Spontaneität, zuletzt auch die Arbeitsfähigkeit gestört sind.
chopathologisch ungeschulten Un- tersucher ohne hinreichendes per- sönliches Interesse der Frauen und ohne Befragung der Partner durch- geführt wird, werden in der Regel überhaupt keine oder nur grobe see- lische Auffälligkeiten zutage kom- men. Wie wirksam die Motivation der untersuchten Klientel ist, das be- weist eine katamnestische Studie bei Männern nach Vasektomie: in- nerhalb der gleichen Untersu- chungsgruppe gaben zehnmal mehr Männer partnerschaftliche Störun- gen im Gefolge dieser Operation an, nachdem ihnen anstelle einer neu- tralen Fragebogen-Katamnese eine hilfreiche Beratung angeboten wur- de (Wolfers 1970).
Auf dem Hintergrund dieser ent- scheidenden methodischen Fragen muß man die scheinbare Wider- sprüchlichkeit von Befunden lesen, wonach die Häufigkeit seelischer Pillen-Nebenwirkungen zwischen 0 und 46 Prozent bei verschiedenen Studien schwankt.
In einer sehr genauen psycholo- gisch-psychiatrischen Untersu-
*) Die in Klammern gesetzten Ziffern bezie- hen sich auf das Literaturverzeichnis des Sonderdrucks.
Seelische Veränderungen bei hormonaler Kontrazeption der Frau
Peter Petersen
Aus der medizinischen Hochschule Hannover,
Arbeitsgruppe für Gruppenarbeit und Psychotherapie
Symptome Gynäko- Vegetative Affektive Trieb- total logische Symptome Symptome änderungen
Symptome
Darstellung 1: Verteilung der Symptomhäufigkeit unter oraler Kontrazeption N = 215), abgestuft nach Symptomanzahl
23 X26
62
17
Coitus- frequenz
Befriedigung Bedürfnis ("Libido")
Orgasmus Schwängerungs- angst
Darsteilung 2: Sexuelles Verhalten unter oralen Kontrazeptiva (N = 215)
Psychische Nebenwirkungen der „Pille"
chung der Jahre 1967/68 an den Be- ratungsstellen für Familienplanung der Universitäts-Frauenklinik Zürich und Basel (10) ist eine zunächst überraschend hohe Beschwerderate zutage gefördert worden; bei Sach- kenntnis allerdings erscheint die Häufung dieser Beschwerden im Vergleich zu anderen Untersuchun- gen ähnlicher Genauigkeit keines- wegs extrem. Unter vegetativen
Symptomen (Darstellung 1) sind zu verstehen: Gewichtszunahme, Nau- sea, Kopfschmerz, Schwitzen, Schwindelgefühl, Erbrechen, ga- strointestinale Beschwerden, Herz- sensationen, Ödeme (in der Reihen- folge der Häufigkeit); unter Trieb- änderungen (Darstellung 1): gestei- gerter Appetit, gesteigertes oder vermindertes sexuelles Bedürfnis („Libido"), größeres Schlafbedürf-
nis, veränderte Appetitrichtung, stärkeres Wärmebedürfnis, vermin- derter Appetit, vermindertes Schlaf- bedürfnis, geringeres Wärmebedürf- nis. Demnach lassen sich quantitati- ve wie qualitative Triebänderungen unterscheiden: Zunahme und Ab- nahme, Steigerung und Minderung der Triebbedürfnisse einerseits, an- dererseits ändert sich die Qualität des Triebinteresses (zum Beispiel Appetit auf Saures statt auf Süßes;
Vergnügen an neuen sexuellen Um- gangsformen).
Absichtlich heben wir die Fülle der verschiedenartigen Triebänderun- gen hervor; gemeinhin achtet man ausschließlich auf die Wandlungen des Sexualverhaltens. Wie Darstel- lung 2 lehrt, steigert sich das sexuel- le Verhalten ebenso wie es sich auch abschwächt; betrachtet man die se- xuellen Verhaltensänderungen ge- nauer (Darstellung 3), so ergeben sich gar keine statistisch abgesi- cherten Veränderungen in der einen oder anderen Richtung: es gehört zu den großen Irrtümern und Fehlinfor- mationen, von „befreiter" oder „ge- steigerter" Sexualität unter der Pille zu sprechen, wie oberflächliche Be- trachter das tun. Aus sozialphiloso-
phisch-sozialpsychologischen Überlegungen und Erfahrungen kommt Sigusch (14) zu einem ähnli- chen Schluß: Die Pille hat bei jungen Mädchen zwar zu einer Vorverlage- rung der ersten Sexualerfahrungen, nicht aber zur sexuellen Emanzipa- tion im Sinne einer sozialen und per- sönlichen Reifung geführt.
Die genauere Analyse der affektiven Veränderungen (Darstellung 4) läßt vor allem dysphorische Verstim- mungen und Antriebsminderung er- kennen: Die Frauen sind reizbar, launisch, explosibel, leicht gespannt und zugleich lustlos, ohne Initiative, der normale Spannungsbogen er- schlafft. Eine seelisch gesunde Nachtschwester zum Beispiel klagt darüber, daß sie regelmäßig wäh- rend der Nachtwachen einschläft, solange sie die Pille nimmt — dage- gen während der Pillenpausen ihre Wache ohne Mühe durchziehen kann. Die Antriebsstörung kann, psychoanalytisch gesprochen, fei-
OK
während
34 30
kein
/ 34
1
36 14keine 36
gering während
15
27
OK
während 10 X13
kein 23 zuwenig
62 61
richtig
6 zu viel
selten
36
immer
OK
während
88 vor- MV
handen 94
12 nicht vor- handen vor vor
16
50
4 30
gut
OK OK
58
Frequenz Geschlechts- verkehr
Befriedigung Schwängerungsangst
p.<0,001 Bedürfnis ("Libido") Orgasmus
vor vor
während 46 135
selten vor
28 mittel
ff
18 häufig8 sehr häufig
ee,
Darstellung 3: Sexuelles Verhalten vor und während oraler Kontrazeption (N = 215)
Darstellung 4: Affektivität vor und während oraler Kontrazeption
(N =
215); Antrieb und Dysphorie sind stärker signifikant unterschieden als Depression und AffektlabilitätDepression p.0,025
OK OK
während
OK
während vor vor während
vor
% % 23 17
83 77
X, c
89 79
66
Dysphorie p*<0,001 Affektlabilität p#0,05
21 2 9
Antrieb !Die< 0,0005 2
32 35 13
87
65
nere Strukturen des Ich angreifen.
Eine in der psychologischen Beob- achtung gut geschulte, seelisch aus- gewogene und beruflich erfolgrei- che Kollegin erzählt, sie sei wie un- ter einer ganz dünnen, hauchartigen Glasglocke. Der Antrieb sei gelähmt, zwar nur leicht, 'aber deutlich er- kennbar. Sie könne nicht mehr und voll mit der gleichen Selbstverständ- lichkeit wie sonst über ihre norma- len Fähigkeiten verfügen. Sie spüre
zwar weiterhin die gleichen seeli- schen Fähigkeiten wie sonst, sie sei auch nicht müder, aber sie sei in ihrer eigensten Initiative leicht ge- lähmt. Sie sei froh gewesen, als sie die Pille nicht mehr nahm — danach fühlte sie sich wieder „als sie selbst". Sie fügte hinzu, daß diese feine Selbstbeobachtung nur von wenigen Frauen wiedergegeben werden könne — die meisten fühlten sich nur „irgendwie" anders oder
sprächen über die bekannten seeli- schen oder körperlichen Beschwer- den.
Dagegen sind depressive Verstim- mungen und Affektlabilität seltener;
Ängstlichkeit wird gar nicht regi- striert, möglicherweise deshalb, weil die Entlastung von der Schwänge- rungsangst (Darstellungen 2 und 3) stark im Vordergrund steht. Ange- sichts dieser Nebenwirkungen im1
vor reduziert
■
normal
OK
% während % 5 24 94
74
OK
vor % während % 23 20 gestört
77 80 ausgeglichen
verstärkt Irmemme 1 2
Arbeitsfähigkeit p=<0,001 Partnerbeziehung
Darstellung 5: Auswirkungen der oralen Kontrazeption auf das soziale Verhal- ten (N = 215)
Psychische Nebenwirkungen der „Pille"
vegetativen, triebhaften und affekti- ven Bereich ist es nicht verwunder- lich, wenn die Arbeitsfähigkeit ver- mindert ist (Darstellung 5); dieser Befund wird auch durch die deut- sche Repräsentativstudie (15) bestä- tigt: Arbeitsunfähigkeit lag bei den Frauen mit Pille zu 25 Prozent vor, während Frauen ohne Pille nur zu 15 Prozent betroffen waren. Diese hohe Quote von Arbeitsunfähigkeit bei pillennehmenden Frauen kann durch diese psychologischen Be- funde eine wohlfundierte Erklärung finden.
Bemerkenswerter Weise sind die Frauen und ebenso ihre Männer trotz dieser hohen Rate von Neben- wirkungen mit der Pille zufrieden;
diese gespaltene Wahrnehmung (kognitive Dissonanz) ist auch von Untersuchungen über die endgülti- ge Kontrazeption (freiwillige Sterili- sation) des Mannes und der Frau bekannt. Die Klienten verleugnen dann einen Zusammenhang mit der kontrazeptiven Maßnahme und be- tonen ihre Zufriedenheit um so stär- ker: Es ist eine Art „Rechtferti- gungszufriedenheit". Zum Durch- schlag kommt die Nebenwirkungs- rate um so stärker in der Anzahl der Abbrecher: die Hälfte (1) bis ein Drit-
tel der Frauen (15) gibt die orale Kontrazeption bald nach Beginn wieder auf.
Wie sind diese beängstigenden Ne- benwirkungen verursacht? Unser modernes medizin-psychologisches Wissen läßt uns vermuten, daß diese unerwünschten Nebenwirkungen durch seelische oder Placebofakto- ren bedingt seien. Tatsächlich • läßt sich durch geeignete statistische Verfahren auch nachweisen, daß Frauen mit Störungen der Persön- lichkeit und der Partnerschaft sowie bei Belastung und Hypochondrie gehäuft seelische Nebenwirkungen entwickeln. Daß zweifellos seelische und psychosoziale Gründe für das Zustandekommen dieser Nebenwir- kungen auch verantwortlich zu ma- chen sind, das legt Nijs (9) in seiner Studie über die psychotherapeuti- sche Beratung bei Frauen mit hormonaler Empfängnisverhütung dar.
Daß auch eine ambivalente Motiva- tion, also unentschiedene, zwiespäl- tige Haltung gegenüber der Kontra- zeption, nachteilige Auswirkungen auf die Verträglichkeit haben kann, darauf deutet die Untersuchung von Hauswirth (6) (Darstellung 6):
60 Frauen, von denen jeweils 30 fünf Jahre lang die Pille nahmen bezie- hungsweise sich fünf Jahre zuvor ei- ner operativen Kontrazeption unter- zogen hatten, wurden psychiatrisch in einer prospektiven Studie genau untersucht. Dabei hatten die Pillen- frauen eine deutlich ausgeprägtere Ambivalenz gegenüber der Kontra- zeption (gekennzeichnet als vieldeu- tige Motivation) als die operierten Frauen; entsprechend war die Wir- kung auf Affektivität und Eheleben bei den Pillenfrauen weitaus ungün- stiger.
Es wäre jedoch einseitig und wis- senschaftlich ungerechtfertigt, woll- te man die seelischen Nebenwirkun- gen nur seelischen und sozialen Störfaktoren anlasten. Die endokri- ne Gleichgewichtsstörung selbst verursacht zum guten Teil diese see- lischen Veränderungen; dafür gibt es inzwischen genügend Hinweise und Beweise. Hinweis ist die ge- nannte Vergleichsstudie von Haus- wirth (6) mit der auffallend hohen Rate von Störungen der Affektivität (Darstellung 6); Hinweis ist auch ei- ne Vergleichsstudie mit 20 Frauen, die aus Gründen der Dysmenorrhö die gleiche Substanz unter anderem Präparat nahmen, wie sie in der Pille enthalten sind. Diese Dysmenorrhö- Frauen zeigten die gleiche Rate von Nebenwirkungen wie die Frauen mit kontrazeptiver Motivation (10). Der experimentelle Beweis für die hor- monelle Ursache ließe sich erbrin- gen, wenn man die unterschiedli- chen Dosierungsverhältnisse genau berücksichtigte: einerseits die Ge- stagen-Ostrogen-Relation und an- dererseits die rhythmische Anwen- dung der Hormone.
Die rhythmische Applikation (mittels sogenannter Sequenspräparate, et- wa vom Typ „Ovanon") ließ im Ver- gleich zur konstanten Anwendung (sogenannte Kombinationspräpara- te vom Typ „Eugynon") eine unter- schiedliche Häufung von affektiven Nebenwirkungen erkennen; Se- quenspräparate riefen weniger Ne- benwirkungen hervor als Kombina- tionspräparate (10). Cullberg (4) stu- dierte die unterschiedliche Proge- stagen-Ostrogen-Balance an drei
vor Kontrazeption kontrazeptive Motivation
ck % 10 37
o %
10 70
c 0
ck nach fünf Jahren Kontrazeption
subjektive Beurteilung
ck Wg.g.Z4g 3
9
7 37 ok
56
Affektivität Ehe und
Sexualität
medizinisch A vieldeutig
eindeutig
unzufrieden ambivalent
MMUM
zufriedenp <1% p<1%
p<1%
p< 5%
1
unverändert verschlechtertIM:
ä.:MigebessertDarstellung 6: Chirurgische Kontrazeption (ck) versus orale Kontrazeption (ok einer 5-Jahres-Studie (60 Frauen, nach Hauswirth, 1975)
Gruppen von Frauen mit Hormon- präparaten und an einer vierten Gruppe mit Placebo (Darstellung 7):
die erste Gruppe erhielt ein Gesta- gen-dominantes, die zweite ein
Östrogen-Gestagen-ausgegliche- nes, die dritte Gruppe ein Östrogen- dominantes Präparat. Im Vergleich zur Placebo-Gruppe sind die hormo- nell behandelten Frauen stärker mit dysphorischer Verstimmung bela- stet. Die feinere Differenzierung ließ noch außerdem gehäufte depressive und ängstliche Verstimmungen bei jenen Frauen erkennen, die ein Östrogen-betontes Präparat einnah- men (Gruppe III).
Die Vielschichtigkeit des psychobio- logischen Geschehens in Verbin- dung mit diesen Hormongaben zeigt die weitere Differenzierung der Cull- bergschen Studie. Cullberg bildete weitere Untergruppen von Frauen mit und ohne vorbestehende prä- menstruelle Reizbarkeit (Darstellung 8); dabei reagierten Frauen mit Reiz- barkeit, die zugleich auch stärker
mit Neurosen belastet waren, unter dem Östrogen-dominanten Präparat ausgeprägter mit Dysphorie als Frauen unter dem Gestagen-beton- ten oder dem Östrogen-Gestagen- ausgeglichenen Präparat. Dieses gesamte Reaktionsmuster kehrte sich um bei Frauen ohne Reizbar- keit, die auch eine geringere Neuro- senbelastung aufwiesen (Darstel- lung 8).
Eine Spezifität der Hormonwirkung möchte ich mit dieser Darstellung der Cullbergschen Befunde nicht demonstrieren; denn die spezifische Wirkung von Östrogenen und Gesta- genen auf seelisches Erleben wird seit den bahnbrechenden psycho- analytischen Arbeiten Therese Be- nedeks (1939) diskutiert, ohne daß man dabei bisher zu einer eindeuti- gen und endgültigen Meinung ge- kommen ist. Vielmehr möchte ich dargelegt haben:
a) an einer unmittelbaren hormonel- len Wirkung auf seelische Verände-
rungen als solcher besteht kein Zweifel
b) unterschiedliche Hormonkombi- nationen rufen verschiedene seeli- sche Zustände hervor
c) die verschiedenen seelischen Zu- stände sind außerdem abhängig von der unterschiedlichen psycho-biolo- gischen Ausgangslage.
Alle diese vorstehenden Untersu- chungen beziehen sich auf Hormon- präparate mit sogenannter konven- tioneller Dosierung, wie sie seit etwa 20 Jahren gebraucht werden. Die neuerdings eingeführte „Mini-Pille"
(zum Beispiel Präparat „Exluton") mit ausschließlichem Gestagenge- halt (also fehlendem Östrogen) er- weckt den Eindruck, als ob uner- wünschte Nebenwirkungen insge- samt und ebenso seelische Verän- derungen geringer seien (8); umfas- sende und systematische Untersu- chungen über seelische Störungen bei hormoneller Kontrazeption mit >
1
Ng=1,0 mg Ng= 0,5 mg Ng= 0,06 mg Eo = 0,05 mg Eo= 0,05 mg Eo. 0,05 mg
N=76
rnrr
IIIII
SMID
IV
placebo 100—
%
50—
0 Gruppe
82
18
N = Anzahl Patientinnen
Ng= Norgestrel Eo= Ethinylcestradiol
keine oder positive Stimmungsänderung negative Stimmungsänderung
Darstellung 7: Stimmungsänderung unter Hormongaben in Abhängigkeit von der Östrogen-Gestagen-Relation des Präparates (Cullberg 1972, nach Mali- Haefeli 1974)
N=77 N=74
68 68 64
36
32 32
Hin 11111 11111
um 11111 11111
N=72
Psychische Nebenwirkungen der „Pille"
diesen neuen Präparaten fehlen je- doch noch, so daß eine vorsichtige Beurteilung am Platze ist.
Um der Vollständigkeit willen seien noch einige psychiatrische Kompli- kationen erwähnt, die jedoch sehr selten vorkommen oder nicht als un- mittelbare Folge der Hormongabe aufzufassen sind. Zu den Seltenhei- ten gehören psycho-pathologische Zustände im Sinne eines akuten exogenen Reaktionstypus (mit ver- wirrter, paranoid-halluzinatorischer, agitierter und depressiv-apathischer Psychose) bei solchen Frauen, die in der Vorgeschichte eine Wochen- bettspsychose aufweisen. Ebenso ist zu warnen vor hormoneller Kon- trazeption bei Frauen mit zerebralen Anfallsleiden: Diese Krankheit kann exazerbieren.
Weniger selten sind und nur in indi- rektem Zusammenhang mit der Hor-
monpille stehen mannigfache und recht häufige seelische Krisen. Nijs (9) beschreibt Angstphänomene, se- xuelle Funktionsstörungen und neu- rotische Anpassungsschwierigkei- ten; Molinski (1967) hatte sich als Psychotherapeut mit tiefgehenden Krisen zu beschäftigen, die sich um die weibliche Identität gruppierten.
Partner- und Ehekonflikte, die bis dahin im Verborgenen schlummer- ten, werden unter der Kontrazeption geweckt, und sie melden sich schär- fer zur Diskussion. Wenn sie zur Klä- rung kommen, so kann das eine rei- nigende Wirkung für beide Partner haben — jedoch hat es den Anschein, als ob solche durchaus erwünschten Klärungen bei der operativen Fruchtbarkeitsregelung respektive Sterilisation häufiger sind (6, 11) als bei der Pille.
Insgesamt ist angesichts dieser Un- tersuchungen alles andere als Eu-
phorie über die Pille als das beste Kontrazeptivum am Platze. Offenbar ist sie ein gesundheitliches und volkswirtschaftliches Risiko, das nur wegen der Hintergründigkeit seiner Wirkung bisher verschleiert war und nicht beachtet wurde. Ärzte sollten ihre Patientinnen nachdrücklich auf diese Nebenwirkungen hinweisen und den Verlauf der hormonalen Kontrazeption genauer kontrollie- ren. Die „Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft" hat die deutschen Ärzte bisher nicht vor diesen Gefahren der Pille gewarnt, obwohl dieses Gremium darüber wohl informiert ist.
Die hormonelle Kontrazeption wird nur eine Übergangslösung sein, und die Pille sollte auf schnellstem Wege durch andere, ebenso wirksame Kontrazeptiva ersetzt werden. Für die temporäre Fruchtbarkeitsrege- lung sollte der Arzt auch die soge- nannten traditionellen Kontrazeptiva (Präservative, Pessar, Vaginalcreme) empfehlen, die bei Kombination (zum Beispiel , von mechanischen und chemischen Mitteln) den glei- chen Sicherheitsgrad haben wie die Pille, oder er sollte auf die intrauteri- ne Spirale übergehen. Besonders bei jungen Frauen und bei Mädchen ist den mechanischen Kontrazeptiva der Vorzug zu geben (14). Für die endgültige Kontrazeption ist bei ein- deutiger Entscheidung der Paare die operative Fruchtbarkeitsverhütung beim Mann oder bei der Frau vorzu- ziehen (11).
Bisher wurde die Pille mit dem be- stechenden Argument propagiert, sie sei ein hervorragendes Mittel, um die (legale und illegale) Abtreibung ohne gesundheitliches Risiko einzu- dämmen und zu verhindern. Nicht zuletzt angesichts der psychischen und psychovegetativen Störungen im Gefolge der hormonalen Kontra- zeption erscheint dieses Argument zunehmend fragwürdiger, zumal es bisher unbewiesen ist — und wohl auch unbeweisbar bleibt —, ob die Abtreibungsquote mit der Verbrei- tung der Pille tatsächlich zurück- ging, denn dann müßte man zum Beispiel die Abtreibungsquote im Jahre 1975 als niedriger erkennen >
N=36 N=38 N=32
61 79
61 75 N=43
39
1 positive oder keine Änderung negative Änderung
0 Gruppe 1
Ng=1,0 mg Ng=0,5 mg Ngr-0,06 mg Eo=0,05 mg Eo=0,05 mg Eo =0,05 mg N = Anzahl Patientinnen
Ng=
Norgestrel Eo= Ethinylcestradiol 1 positive oder keine Änderung
negative Änderung 39
21
placeba
1 II
0 Gruppe 100 —
%
50—
N=33 N=39
79 56 85
44
21
15
100 -
O
50 —
Darstellung 8: Stimmungsände- rung unter hormonaler Kontra- zeption bei Variation des Östro- gen-Gestagen-Gehaltes der Pille und der psychobiologischen Be- reitschaft der Frauen (Cullberg 1972, nach Mall-Haefeli 1974)
als im Jahre 1927 - einer Zeit ver- gleichbarer wirtschaftlicher Prospe- rität, jedoch traditioneller Kontra- zeptiva.
Literatur
Blättler, J. K., Blättler, W., Hauser, G. A.: Ver- träglichkeit der Ovulationshemmer (Studie über Nebenerscheinungen an 1570 Frauen, 17 027 Zyklen, 11 Präparaten während 10 Jahren) Bern/Stuttgart/Wien: Huber 1976 — Bleuler, M.: Endokrinologische Psychiatrie; in:
K. P. Kisker et al (Hrsgb). Psychiatrie der Gegenwart, Bd. I, 2. Aufl. Heidelberg: Springer Verlag 1978 — Hauswirth, R., Battegay, R., Hal I- Haefeli, M., und Pfund, Th.: Psychische Verar- beitung der Sterilisation bei Frauen und der Langzeiteinnahme von Ovulationshemmern im Rahmen der Familienplanung, vergleichend katamnestischer Untersuchungen, Praxis (Bern) 64 (1975) 526-532 — Mall-Haefeli, M.: Die hormonale Antikonzeption und ihre Auswir- kungen auf die Psyche, Schweiz. Med. Wschr.
104 (1974) 878-886 — Nijs, P.: Psycho- somatische Aspekte der oralen Antikonzep- tion, Beiträge zur Sexualforschung, Bd. 50 Stuttgart: Enke Verlag 1972 — Petersen, P.:
Psychiatrische und psychologische Aspekte der Familienplanung bei oraler Kontrazeption (Eine psychiatrisch-endokrinologische und sozialpsychologische Untersuchung), Stutt- gart: Thieme Verlag 1969 — Petersen, P.:
Seelische Folgen nach endgültiger Kontrazep- tion (Ergebnisse internationaler Studien über die freiwillige Sterilisation des Mannes und der Frau aus Gründen der Familienplanung, Dtsch.
Ärztebl. 75 (1978) 695-701 — Prill, H. J.: Psy- chosomatische Auswirkungen nach der Ein- nahme von Ovulationshemmern, Geburtsh.
Frauenheilkunde 30 (1970) 212 — Sigusch, V.:
Sexualwissenschaftliche Aspekte der hor- monalen Kontrazeption bei jungen Mädchen (in: R. Kepp et al., Ed., Kontrazeption trotz Geburtenrückgang?) Stuttgart: Thieme Verlag 1975 — Überla, K., u. a.: Nebenwirkungen oraler Kontrazeption (Materialien Band 3) 1976, Studie des Instituts f. Medizinische Infor- mationsverarbeitung, Universität München gefördert vom Bundesministerium Forschung und Technologie Nr. MJ 0268
Anschrift des Verfassers:
Professor Dr. med. Peter Petersen Medizinische Hochschule Hannover Arbeitsgruppe für Gruppenarbeit und Psychotherapie
Pasteuerallee 5 3000 Hannover 51