Zum Buch
Wien in den Jahren 1910/11 und 1923 bis 1925. Im Mittelpunkt des Geschehens steht der Amtsrat und Major a. D. Melzer, dessen Leben irgendwie immer an ihm vorbeiläuft, bis er endlich doch zu sich selbst findet. Die Strudlhofstiege ist Heimito von Doderers bekanntestes und beliebtestes Werk. Mit diesem vielschichtigen, von souveränem Humor erfüllten "Roman einer Epoche" hat sich Doderer einen unbestrittenen Platz in der deutschen Literatur geschaffen. Doderers wahrhaftig phänomenaler Roman ist mehr als eine minutiös echte, bezaubernde und sublim-amüsante Schilderung der vielschichtigen Wiener Gesellschaft jener Jahre. Die Strudlhofstiege ist ein raffinierter, psychologischer, durch und durch moderner Roman. Doderer erweist sich als geradezu virtuoser Regisseur seiner so zahlreichen Akteure;
wie er sie immer wieder zur symbolisch-schicksalhaften Strudlhofstiege zu lotsen weiß, ist eine kompositionelle Meisterleistung.
Über den Autor
Heimito von Doderer (1896–1966) gilt seit der Veröffentlichung seiner beiden großen Wiener Romane Die Strudlhofstiege (1951) und Die Dämonen (1956) als einer der bedeutendsten österreichischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts.
«Doderer ist ein ganz erstaunlicher Schriftsteller. Sehr berühmt und doch immer noch zu entdecken.»
Daniel Kehlmann
«Rätselhaft, daß wir es uns leisten, über diesen großen Autor hinwegzugehen.»
Walter Kempowski
HEIMITO VON DODERER
Die Strudlhofstiege
oder
Melzer und die Tiefe der Jahre Roman
VERLAG C. H. BECK
IN
MEMORIAM JOHANNIS
TH.JÆGER SENATORIS VIENNENSIS
QUI SCALAMCONSTRUXIT
CUIUS
NOMENLIBELLO
INSCRIBITUR
AUF DIE
STRUDLHOFSTIEGE
ZU WIEN
Wenn
die Blätter auf den Stufen liegen herbstlich atmet aus den alten Stiegen was vor Zeiten über sie gegangen.Mond darin sich zweie dicht umfangen hielten, leichte Schuh und schwere Tritte, die bemooste Vase in der Mitte
überdauert Jahre zwischen Kriegen.
Viel ist hingesunken uns zur Trauer und das Schöne zeigt die kleinste Dauer.
ERSTER TEIL
Als
MaryK.s
Gatte noch lebte, Oskar hießer, und sie
selbst noch auf zwei sehr schönen Beinen ging (das rechte hat ihr, unweit ihrer Wohnung,am 21.
September 1925die
Straßenbahn über demKnie
abgefahren), tauchteein
gewis- ser Doktor Negria auf,ein
junger rumänischer Arzt, der hierzu
Wienan
der berühmten Fakultät sich fortbildeteund im
Allgemeinen Krankenhaus seine Jahre machte. Solche Rumä-nen und
Bulgarenhat es zu
Wien immer gegeben, meistim
Umkreise der Universität oder der Musik-Akademie. Man war
sie
gewohnt: ihreArt zu
sprechen,die
immer mehrmit dem
Österreichischen sich durchsetzte, ihre dicken Haarwirbel über der Stirn, ihre Gewohnheit, stetsin
den besten Villen- viertelnzu
wohnen, denn alle diese jungen Herrenaus
Buka- rest oder Sofia waren wohlhabend oder hatten wohlhabende Väter.Sie
blieben durchaus Fremde (denen ausder
Heimat andauernd ungeheure Paketemit
ihren nationalen Lecker- bissen zugingen), nichtso
konsolidiert fremdwie
die Nord- deutschen zwar, sondern mehr eine sozusagen hiesigeEin-
richtung, dennoch eben ‚Balkaneser‘,
weil auchbei
ihnen sich das Spezifische ihres Sprechtonesnie
ganz verlor. Damenin
Wien, welcheein
oder zwei Zimmer ihrer Wohnung oder ihrer Villazu
vermieten gedachten, suchten sich dazu einen‚bulgarischen oder rumänischen Studenten
‘
und wurden dannvon
diesen untereinander weiterempfohlen. Dennin
den zahl- reichen Cafésum
die Universität oderum die
Kliniken herum bestandein
connationaler Zusammenhang.Der
Doktor Negria nahm Anstoßan
MarysEhe. Er
konnte nicht glauben,er
vermochtees
einfach nichtzu
glauben, daß Marys Gattinnentreue zulängliche Grundlagen habe,er
ärgerte sich maßlos über diese Treue,und
dieser Ärger war9
mindestens gleichzeitig
da
mit dem ersten Affekte der Begehr- lichkeit. (Der Schriftsteller Kajetanvon S.
hätte hier zwei- fellos geschrieben„er
begehrtesie
aus abgründiger Bos- heit“ –
undbei
Leuten seinerArt
mages ja
solcheim
Grunde harmlose, auf groteske Manier zurechtfrisierte Dummheiten wirklich geben.) Das Verflixte bei dem Angelhaken, den der Doktor Negria verschluckt hatte, war jedoch, daß jene un- tadelige Frau keineswegs unbewußt eine treue Frau war. Sie warzu
wenig einfältig, ihrem Herzen waren schonin
der Mädchenzeit–
während welcher sie durchaus als Frau fühlte, schonmit
vierzehn–
verschiedene Falten bewußt geworden, undso
hatte sie sich denn später auf jener Ebene entfaltet und reifend geglättet, welche zuständig wird für alle, die ihre Lebensbahn nicht zwischen fugenlosen Mauern der Unschuld wandeln, eine Straße ohne Ausblick wie dievom
alten Athenzum
Piräus. Maryist
aber unberührtin die Ehe mit
ihrem Oskar getreten. Andererseits, wenn sie hier treu war,so
bliebes
auch nicht deshalb dabei, weil ein stabiler Gleich- gewichtszustandbei ihr
entstanden wäre aus einerArt von
unwiderruflicher Entscheidungund
gewissermaßen Bekeh- rungzu
ihren Aufgaben als Gattin und Mutter, als Mutter eines hübschen Kinderpaares, Mädelund
Bub, jenes röt- lichblond nach dem Vater, dieser dunkel-tizianrotwie sie
selbst.Zwischen den angedeuteten Grundlinien stellte sich die Sache dem Doktor Negria (nicht der Frau Mary) dar, und die Konstruktion, welche
er da
einem sich darbietenden Sachver- halt unterschob, stimmteim
großen und ganzen. Auf diesem untergezogenen Rost–
der aberam
unentschiedenen Dahin- leben des Gegenstandes durchaus nichtszu
ändern ver- mochte–
brieter
seinen Ärger.Es
gibt eine Treue, die nichts anderesist
als Habsuchtin
Bezug auf Qualitäten, Qualitäts-Geiz, der, waser an
Besitz- Titeln hat,an
sich halten will. Eine solche Treuevon
gewisser- maßen nur meritorischer Natur–
aber meritum heißt auch das Verdienst–
bildetein
bequemes Stieglein zur Hoffartund
mangewöhnt sich daran, gerne
da
hinaufzu
tretenwie an
einen Fensterplatzim
Erker,von wo aus man auf die
gewöhnlichen Straßenpassanten herabblicken kann.Eine
solche Treueist
nicht stabilim
Gleichgewichtund
verdient eigentlich nicht ihren Namen,sie
meritiertihn
nicht, eben weilsie nur
meri- torisch ist, abersie
wird unter Umständen sehr schwer auf- gegeben,und
wenn diese Umständeals
unsichtbare Mauern,die
aber gleichwohlden
Ausblick verengen,als
lange Mauern durchdie
Jahreden Weg
begleiten, dann bleibtes
beimge-
dachten meritum.Das
brachteden
Doktor Negria auf,und
hierzum
Durchbruchezu
gelangen– er war
durchaus immerein
Durch- Brecher–
wurdeihm
zum Vorsatz, dener
ohne jede kritische Erwägung festin
sich einbaute.Eine
fordernde, eine postu- lierende, eine fuchtelnde Natur,ein
Interventionist, Einer, der kurz beiseitezu
schieben versuchte, wasihn
störteund
empörtals
unerhört empfand,was ihn
bremsen wollte.Mit
jenem ‚Interventionismus‘
hängtes
zusammen, daßder
Namedes
Doktors späterin
einemnah
benachbarten Kreise sozusagen sprichwörtlich oder schlagwörtlich wurde– und so
ist es zu
jener ‚Organisation Negria‘
gekommen, welche ihre Tatenam
Endemit
der Aktion gegen den Berliner Auto-Ver- treter Helmut Biese gekrönt hat (aber das gehörtnun
wirklich nicht hierher!), letzteres unterder
Leitung Höpfners, eines Reklame-Dichters oder Versifikators,der
MaryK.s
rumäni- schen Adorateur übrigens noch persönlich gekannt hat.Und
wen
hat Höpfner nicht gekannt?Er
warein
Adreßbuch, eine komplette geschäftlich-gesellschaftliche Topographievon
Wien (eine seinermit
dem Rittmeistervon
Eulenfeld gemeinsamen Eigenschaften).Zur
kritischen Zeit hat der Doktor Negria einmalbei
Höpfner oben– mit
kurzem Zugriffvon
Zeitzu
Zeitein
Glas Sliwowitz leerend (dazwischen liefer
aufgeregtim
Zimmer herum)–
geäußert:„Daß
diese Spinnesie
ein- gefangen hat,ist
einefür
mich unerträgliche Vorstellung.“
Die
‚Spinne‘ war
Oskar, Marys Gatte. Manchmal nannteer
ihn
auch‚Die
Zecke Oskar‘.
Seine Verbindung
mit
der FamilieK.
war auf einem der Tennisplätzeim
josephinisch-blassen Augarten entstandenund
weiterhin durch die Kinderkrankheiten des Mäderlsund
des Buben eine häuslichere geworden; Negria befand sicham
All- gemeinen Krankenhausein
einer solchen Abteilungund
wollte selbst merkwürdigerweise durchausnur
Kinderarzt werden.Bei
seinem berühmten Chef stand der Rumänein
Ansehenund
Schätzung,so
daß jener sogar einmalzu
Frau Mary hin- aufkam,um die
Kleinenin
ihrem Krankenzimmerzu
besich- tigen.Von da ab
erschien Negria dann besuchsweise. Sein Klingeln klang kurzund
scharf,als
schlügeman
eine Scheibeein
oder als würde man aus dem Elf-Meter-Raum einen Fuß- ball hartins Tor
schießen.Mary war beim Teetisch gesessen, den Blick draußen
in
der kaum beginnenden Dämmerung eines Nachsommer-Abends.Man
sah hier eine Gasse entlangund
dann über den Donau- Kanal (der kein Kanal ist, sondernein
erheblicher, breiterund
tiefer, rasch fließenderTeil
des Stromes) hinüberans
andere Ufer.Von
der Straße kam das Rufender
Buben beim Spielbis
hier heraufin den
dritten Stock,ein
allabendliches Geräusch, das durch den ganzen Sommer geleitete, soweit manihn
nichtin
Pörtschach oder Millstatt verbracht hatte,ein
Geräusch,das am
Abend nachder
Rückkehrvom
Lande einen begrüßteals ein
verläßlich dagebliebenes, zur Jahreszeit gehöriges,und das
jetzt noch durch Wochen anhielt, dennes
blieb warm, wenn auch gemäßigter:das
beste Tenniswetter,wie
Oskar sagte, der ‚Indianersommer‘.
Oskar wirdin
einer halben Stunde kommen.Sie
denkt plötzlichan den
Leutnant Melzer.Daß er
recht dumm war, wußtesie
damals als ganz junges Mädchen genau.Es
warin
Ischl gewesen,muß
der Sommer 1908 oder 1909 gewesen sein,um
diese Zeit war irgendeine politische Spannungmit
Serbien.Daß
der Leutnant Melzer sich aber, mitsamt seiner Dummheit,ihr am
Ende entzog, hatte gewissermaßen diese Dummheitund
damit ihre eigene Überlegenheit wieder aufgehoben, wenngleichsie gar
nicht ahnungslos warin
bezug aufdie
Hintergründe seines Rückzugesund seines Verschwindens
in
irgendeine Garnison dortin
Bosnien unten,wo es
noch Bären gab,wie er
wiederholt erzählt hatte;er
wollte selbst auch auf die Bärenjagd gehen.„Bringen
Sie mir
dann das Fell, Herr Melzer,von
dem Bären, denSie mir
aufgebunden haben.“ Es
waren seitdemnun
bei- läufig vierzehn Jahre vergangen.Ihr
Vater hattein
Ischlge-
legentlich geäußert, daß Melzer den Dienst quittieren müsse, wenner
sie heiraten wolle. Aber:er
hättesie
doch haben können, damals, ohne Zweifel.Er ist ein
sehr, sehr herziger Bursch gewesen, immer ganz gleichmäßig fröhlichund
kor- rekt. Sorgen hater ja
keine gehabt. Später hättesie ihn
betrogen, auch das wußtesie
heute. Wegen seiner Gleich- mäßigkeit.Es gab am Ende der
Gasse, welche Maryvon
ihrem Fauteuil aus entlang blicken konnte, einen fixen Autostandplatz. Diese Mietautos pflegtenin
einer langen Reihein
der Quergassepo-
stiertzu
sein, linksund
rechts hinter der Ecke,so
daß linker Hand der vordere, rechter Hand noch der rückwärtigeTeil je
eines Wagens stetszu
sehen waren.Die
Polizeivorschrift verlangte damals, daßbei
Bedarf immer der erste Wagenin der
ganzen Reihe genommen werde;und da
sowohl Anfangwie
Ende der Kolonnean
gewisse Grenzen gebunden blieben,so
rückte jene nach, wenn einer abgefahren war; die Wieder- kehrenden schlossen dannam
Endean. Das
ergabein von
Zeitzu
Zeit erfolgendes langsames Überrollendes
Fahr- dammes durch einen oder mehrere Wagenund
zuletzt blieb rechts immer einer stehen,von
dem man nicht viel mehr als die Hinterräder noch sehen konnte, während linker Hand ebenfallsein
Wagenum die Ecke
hervorkam, abernur
mit dem vorderen Fahrgestell.Es
gehörte dieses gleichmäßige Abfädelnder
Wagen dortam
Ende der Gassefür
Maryzu
den Selbstverständlichkeiten und Unbegreiflichkeiten dieser Wohnung hier durch all die Jahre.Es
war eine Erscheinung zutiefst verwandt den Trop-fen
einer Wasserleitung oder den fallenden Perlen eines Rosenkranzes.Und
weildie
Gassebis zu
dem Standplatz derWagen
und
zum ‚Kanal‘
hinunter eine beträchtliche Länge hatte,so
blieb das Knurren der Motorenbei
geschlossenen Fenstern völlig unhörbar.Die
Erscheinungwar
lautlosund
das machteihr
Wesen aus;sie
war lautlos, völlig gleichmäßig, ruhig;sie
warvon
monumentaler Langweiligkeitund
Mono- tonie;und
das machte jetzt auch,in
Marys gleitendenVor-
stellungen,die
Beziehung dieses Bildeszu den
Erinnerungenan
den Leutnant Melzer aus.Der
hatte allerdings doch sehr, sehr lieb lachen können.Das
Klingeln des Doktor Negriariß ein
paar sprühende Sternchenins
Bild, nichtso
ganzun-
verwandt jenen, die einer sieht, den man aufs Aug’
haut. Negria schien heute besonders energischzu
klingeln.Das
Mädchen öffnetevor ihm die
Türe, aberer
trat nicht ein, sonderner
drangins
Zimmer, verbeugte sich tief, küßtedie
Hand, war dabei schonin
Vormarschund
Offensive,und
das blieb penetrant, auch angesichts seiner zeremoniösenGe-
messenheit der Bewegungen, Handküsse, Kratzfüße.Er
sah sichim
Zimmerum,
musterte alles etwas aufgebrachtund
hatte lautlos sogleich viele Worte gesprochen oderin
fluidi- scherArt
ausgestoßen:Nun
also. Alles beim Alten, noch immer.Bei der
alten Zecke.Bin
neugierig,wie
langSie so
noch werden weiterleben wollen. Sinnlose Existenz das, ver- säumtes Leben. Vorurteile sind Trägheit, weiter nichts, Träg- heitist
eine Sünde gegen das Leben.Ein
Gegenstandmit
Eigenbeweglichkeit, also ein lebendes Wesen zum Unterschiedvon
einem Ding, darf sich der Trägheit nicht überlassen.Die
Zecke glaubeich
Ihnen aufgar
keinen Fall. Gibt’s
nicht!Laut hatte
er
nur, schondie
Teetassein der
Hand, mitgeteilt, daßdie
Zerkowitz-Kinder jetztdie
Schafblattern hättenund
daßes ihm
heute zum erstenMal
gelungen sei, den polnischen Legationsrat dortim
Tennisklub (ein Herrvon
Semski)im
Single, allerdings ganz knapp,zu
schlagen.Im
übrigen saher
aus, der Doktor Negria,wie
Homervom
unzuverlässigen Lümmel Ares sagt: prangendvon
Kraftund
Gesundheit.Es
ist natürlich ganz unmöglich, daß die Entflammung, welchesie da
hervorgerufen hatte, auf Mary selbst ohne jede14
Rückwirkung blieb: mindestens mußte sie ihrer eigenen weiblichen Potenzen noch deutlicher inne werden, und das bedeutete schon die Einladung
zu
einem Spiel, zur Betätigung frei spielender Kraft.Vor
Negria fürchtete sie sich nichtim
mindesten, denn sie hielt ihn fürim
Grunde noch viel dümmer als den Leutnant Melzer der Jugendzeit.Und sie dachte nicht
im
entferntesten daran,von
diesem schön geebneten oberen Wege abzubiegen,von wo
aus man den Blick allezeit hinuntersenken konntein
die Klamm drang- voller Umstände undin
des Lebens ungleichmäßig sich durch- zwängende Wasser, bald zwischen Blöcken gepreßt hervor- schießend, bald wieder einmalin
einem tiefen blaugrünen Forellenbecken gesammelt undan
dessen Rundin
geheimnis- vollen Höhlen die überhangende und unterwaschene Wand bespülend.Der
Blick dort hinab tat sehr wohl und der Um- gang mit einem gleichsam hier herauf gelangten und domesti- zierten Stückchen solcher Wildheit erhöhte das Behagen, ver- trieb zugleich des Behagens Gift, die Langeweile.Als
Negria hörte, daß Oskarin
einer halben Stunde kommen werde, klappten seine Augenliderin
mißmutiger Zustimmung und damit drückteer
ungefähr aus, daßer
dies ohnehin an- genommenund gar
nicht besser erwartet habe.Was
seivon
ihr schonzu
erwarten, eine ganz banale Person!Aber die Banalität einer Frau hatte den Doktor Negria noch nie ernstlich behindert; und
so
ginger
bald zu neuem Vor- stoß über.Er
besaß seit einiger Zeit ein Ruderboot, nicht für sportliche Zwecke gebaut, also hinlänglich breit, aber doch ein elegantes hübsches Fahrzeug.Es
lag bei der Abzweigung des sogenannten Donaukanales oberhalb der Stadtin
Nuß- dorf. Wenn ein rumänischer oder serbischer Dampfer mit Schleppzügen stromauf kam, dann wußtees
Negria,in
seiner Sprache oder serbisch redend, leichtzu
erreichen, daßihm
ein Tau
zugeworfen ward,und so kam er bis
Greifensteinund
Tulln und noch viel weiter und gondelte sodann wohlgelaunt stromab, nicht ohnevor
dem Losmachen des Taus noch ein Päckchen österreichischer Zigaretten mit vielem Dank aufden hohen
Bord
des Schleppkahns hinaufzuwerfen.Mit
der Zeit kames
auf solcheArt zu
Bekanntschaften mit Schiffs- leutenund ein
oderdem
anderen Dampferkapitän, auchauf
dem ‚Kanal‘,
den Negria ebenfalls befahren hatte, durchs Herz der Stadt hindurchund bis
zum sogenannten ‚Prater- spitz‘, wo
derArm
unterhalb der Stadt wiederin
den Haupt- strom mündet.Dabei mußte
er nun
freilichin
nächster Nähevon
Marys Wohnung vorbeikommen,und so
entstandbei ihm
derVor-
satz, Frau Mary
zu
einer Kahnfahrt einzuladen, wobei man vorherin
Nußdorf zum Wein gehen konnte,bei
einem der verschwiegenen ‚Heurigen‘,
die Negriaso
ziemlich alle schon kannte.Er
war sich klar darüber, daßes um
einen Titelfür ein
Rendezvousmit ihr
außer Hause ging, welcheser ja vor
allem anstrebte, zugleich den Boden weiter hinaus vorberei- tend durch gelegentliche Bemerkungen bezüglich kleiner Mißstände
in
seiner schönen Junggesellenwohnung,die
eines sachverständigen Auges bedürftig waren (auch ließer
bei- läufig einiges fallen über rumänische Bauernstickereienund
andere nationale Altertümer, dieer
besaß,und
brachte eine herrliche Arbeit dieserArt
Frau Mary zum Geschenke).Im
Vorbeigleiten auf dem ‚Kanal‘
hatte Negria einenbe-
quemen Landungsplatz entdeckt und, das Boot zum Ufer treibend, sogar einen Ring, derihm
erlaubte, sein Schiffmit
Ketteund
Schloß festzumachen.Das
war nunin
allernächster Nähe jenes Standplatzes der Autotaxis, die dort gleichmäßig den Fahrdamm überrollend durchdie
Jahre fädelten.Oskar
K.
war nach einer halben Stunde gekommenund
erfreute sich des anwesenden Gastesin
einer stillenund
nicht eben durchsichtigenArt. Er
gehörtezu
jenen Leuten, deren Sein etwas Konkaves, Hohlspiegelartigesan
sich hat.Man ist da
immer geneigt, Brennpunkte des Geisteszu
ver- muten,bis
nicht das Gegenteil evident wird.Wer
viel schweigt, hört und sieht viel, ohne Zweifel. Aber daß solche Zurück-haltung einfach einem erstaunlichen Mangel
an
Feuer ent- springen könne, nimmt zunächst niemandan. Daß
stille Was- ser tief sind,ist
eine Grundüberzeugung, die jeder hat; und mindestens sind diese Wasser unheimlich. Aber man hat sich auch schon aufmerksam über welche gebeugt,die in
kaum Handtiefenur
gewöhnliche Kieselam
Grunde sehen ließen.Das
Gesicht des Mannes, der sich eben hieram
Teetisch niedergelassen hat, gehört einer seltenenArt
an, die aberbei
jüdischen Männern eher noch gefunden werden kann alsbei
anderen, wenngleich solchein
Antlitz eine ganz allgemeine physiognomische Möglichkeit verwirklicht.Es ist
ein nicht ganz zustande gekommenes Gesicht, oder wenn manso
lieber will,der
Schau-und
Bauplatz höchst unverträglicher Materia- lien, die sich schonin
den Ahnen nicht haben einigen lassen, jetzt aberin
Zerknallund
Zerfall geraten sind,wie
nach einer Explosion. Hiedurch entsteht eine außerordentliche Häßlich- keit, dieum so
profunderist
als sie nichtan
einem Nasenerker, einer Kinnlade, einem verkniffenen Aug’
oder sonstan
ein- zelnen Bauteilen sich verhaftet zeigt, sondern demgegenüber sozusagenin
zwischendinglicher Schwebe bleibt,ein in
der Luft hängendes Band (denn dasist es
eben doch!), welches das Disparate nicht bindetund
die Dissonanz immerfort stehen läßt. Solchein
Gesicht sieht aus, als trüge dieser Menschan
einer auferlegten Bußefür ihm
unbekannte Schuld.Kein Zweifel, daß
er
hier die Stärke und die Schwäche seiner Position genau erkannte, soweitvon
Genauigkeit die Rede sein kann,bei
den schwebendenund wie
Nebel ver- änderlichen Empfindungen, die manin
solchen Sachen hat. Aber seine Frau glaubte Oskar zumindest besserzu
verstehen als sie sich selbst verstand.In
dieserEhe
waren jetzt noch,bei
heranwachsenden Kindern
und
einer Dauer des Zusammen- lebens von bald vierzehn Jahren, die Nächte eine Angel, welcheim
Dunkel eingepflanzt, jeden hellenTag um
sich schwingen ließ und seinen Kreislauf von sich abhängig hielt.Hier,
im
Kerngehäuse seiner Lebensumstände, hatte Oskar17
ein Beben beobachtet, dessen Nachschwingen
in
helleren, demTage
angehörenden kleinen Umständenihm
als not- wendig und selbstverständlich erschien.Die
seit einiger Zeit gesteigerte Hingabe seiner Gattin und die unausbleibliche Wechselwirkung davon aufihn
selbst und auf sie selbst wie- der zurück– so
daß dem GottEros
schonvon
beiden Seitenher
gesteigert gespendet ward–
legteum
die Frau eine knisternde Aura, welchenur
einem völlig Stumpfen hätte entgehen können,nie
aber demjenigen, dessen Begehrlichkeit ohnehin schon aus ihren Handgelenken, aus den Schläfen, Schultern und dem Rocksaume lange Funken zog, kaumzu
verbergende. Freilich, sie wußte das,sie
dämpftees
zugleich durch das völlige Fehlenlassen jeder Koketterieund
benebelte hundertfach stärkernur
durch das Flui- dische, dasvon ihr
ausging,und
peitschte zugleich eine offene Wunde durch ihre Ehrbarkeit.Eine
Wunde,vor
welchersie
profund,aus
einem ganz gewissen Wissen, jede Achtung weigerte.Aber
sie
betonte sonst nichts.Sie
schärfte nicht etwain
Negrias Gegenwart die Züge eines besonders guten ehelichen Einvernehmens heraus.Die
kleine Gesellschaftam
Teetisch wurde durch keinerlei Demonstrationenin
Unruhe versetzt.Diese blieben
so
weitab,
daß manes
sogar fertig brachte, sich gutzu
unterhalten–
Negria unterhielt sich meistens gutmit
Oskar, dem ‚Spinnerich‘,
der ‚Zecke‘,
ohne daßihm
dabeiso
was wie eine Gesinnungslumperei zumBe-
wußtsein gekommen wäre. Man kann sagen, daßer
diesen Mann verhältnismäßig leicht ertrug, zwar bei Höpfner oben schimpfend, jedoch ohne die wesentlichen Qualen der Eifer- sucht, womit für uns Marys geringschätzende Anschauungs- weise über die Natur der gewissen Wunde nahezu bestätigt erscheint.Alle diese feinen Spinnenfäden
–
feiner nochals der
Alt- weibersommer, welcher nun bald die Wangen wieder geister- haft berühren würde–
waren für den Spinnerich manifest und evident, eben weiler ein
Spinnerich war.Im
Augarten aber,bei den Tennisplätzen,
in
einer Sonne,die
zusammenmit den
Wasserdünstender
Donaudie
Luft mildeund
milchig erfüllte– so
daß man, den Obstgeschmack des Herbstesim
Munde, die vergehende Zeit fast sinnlich spüren konnte, weilsie
langsamer wurdeund
nahezu stand– im
Augarten gelangte Oskar,am
Ende sogar durch wiederholtes Experiment,zu
einem Ergebnisam
hellichtenTag und in der
äußeren Welt, dasihn
nahezuso
befremdend anrührtewie
das Bebender
Angelim
innersten Kerngehäus seines Lebenskreises. Dabei bezog sich jenes Ergebnis nur auf eine scherzhafte Gepflogen- heit zwischen seiner Frauund ihm –
hier eigentlichauf das
Ausbleiben dieser Gepflogenheit,ja, wie es
schien, dieUn-
möglichkeit, sie wiederzu
beleben, obwohles ein
gewohnter Spaß war,den sie
schonin
ihrer Brautzeit gekannt hatten.Sie
pflegten nämlich– und
besonders gern nach dem Tennis- spiel–
zum Scheine miteinander Streit anzufangen, alleAn-
wesenden dabei irgendwie beteiligend (sei
es, daß
diese sich einmischten oderin
Bestürzung gerieten),um
dann unver- mitteltArm in Arm und
ganz zärtlich-vergnügtzu
entschreiten.Es
zeigte sich nun, daß Mary auf dieses Spiel schon seit länge-rer
Zeit durchaus nicht mehr einging.Freilich, man könnte
zu
solchen Spielen schon was bemer- ken. Mindestens dieses: daßsie die
Exhibitionvon
etwas Selbstverständlichem darstellten, nämlichder
Eintracht zwi- schen einem Paare.Die
Kinder warenzur
Schule gegangen,der
Mannins Ge-
schäft, Maryins
Badezimmer. Währendsie
unter dem heißen Wasserspiegelin
der Wannelag und
gleichgültig ihrenKör-
per betrachtete, dessen Wirkung hier ausblieb, zwischenge-
kachelten Wändenund
vernickelten Hähnen unter dem bläu- lichen Wasser,wie ein
Schuß, den man wohl abfeuern sieht, aber dessen Knall man nicht hört, klopftees.
Mary nahm sich zurück aus dem Gerinnsel ihrer Vorstellungenund
viertel oder halben Gedankenund
sagte ihrer treuen, stetsum
siesorgenden Marie, daß sie nicht hier frühstücken wolle, sondern drinnen
am
Teetisch.Gemütlicher
war das
Wohnzimmer wohlim
Winter, wennder in
Form eines Kamines gebaute große Koksofen seine Glut gleichmäßig durchdie
Glimmerscheiben leuchten ließ. Jetzt blieb eine gewisse Leere fühlbar; der Teetisch stand aber wintersund
sommersan der
selben Stelle. Indessen fühlteman
sich jetzt sozusagen weniger eingeschlossen. Marie hatte das Fen- ster gegendie
lange Gasse zum Kanal hinunter zwar zu- gemacht, damit kein Staub hereinfliegeund
sich auf die Poli- turen der Möbel lege; aber draußen lehnteein
warmer Spät- sommermorgenan
den Scheiben,ein
freundliches und ge- lindes Geöffnetsein allen Umkreises, leicht wasserdunstigund
milchig neblig nochvon
der Morgenfrüheam
Kanal her,ein
Wettermit
viel Raum, offenem Hohlraumder
Erwartung;und in
der Mitte solchen Umkreises, der gedämpftdie Ge-
räusche städtischen Lebens ausbreitete,saß nun
Frau Mary hinter ihrer Teetasse;das war die
Hauptsache, denndas
übrige Frühstück wurdemit
großer Mäßigung dosiert. Nein,sie ge-
hörte nichtzu
jenenmit
schlechtem Gewissen viel Schlagobers einnehmenden Gestaltenin
dem großen Café weiter untenam
Donaukanal, das den wenigen Lesern einer späterhin nochzu
erwähnenden sektionsrätlich Geyrenhoff’
schen handschrift- lichen Chronik genauer bekannt gewordenist.
Ohne weiteres
ist
klar, daß die K.’
sche Wohnung denselben Grundriß haben mußte,wie die
darunter liegende Sieben- schein’
sche: alle Räume lagenin
einer Achse–
vier großeund
ein
kleiner Raum,was
keinen üblen Prospekt ergab– bis
auf das besonders ausgedehnte Schlafzimmer (bei Siebenscheins Gesellschaftsraum)und ein
Kabinettvon
bescheidenen Maßen (unten des Doktors Arbeitszimmer).Die
K.’
sche Wohnungwar
also sehr groß („ist als
sehr groß anzusehen“ – so
hätteder
Amtsrat Julius Zihal des Zentral-Tax-und
Gebühren- bemessungsamtesin
dienstpragmatischer Sprache gesagt), denn unten hatte der Doktor Siebenscheinja
auch sein Rechts- anwaltsbüro samt Wartezimmer untergebracht;und
hierbei
K.s
gabes
dafürnur um
eine Person mehr (seitder
HeiratTiti
Siebenscheins– bis
dahin war manim
unteren Stock- werkeja
auchzu
viert gewesen).Das
möbelhafte polierte Schweigen wurdenur von
dem kleinen Geklapper Marys unterbrochen.Was sie wie am
Grunde eines flachen Beckens,wie in
einer Muschelund
gleichsam präsentiert hier sitzen ließ,das war der
Umstand, daßsie
heute rein gar nichtsvor
hatte,ein
seltener Fall.Der Tag
hatte zudem,in
beinah tendenziöser Weisevor ihr
zurück- weichend, noch obendrein Platz gemacht: Oskar solltemit
Geschäftsfreundenin
der Stadtzu
Mittag essen,und
dieKin- der
warenvon
Verwandtenzum
Essen gleich nachder
Schuleund für
den Nachmittag gebeten worden,in
eine Villain
Döbling,ein
Hausmit
hervorragend schönem Park.Es
gehörte dem Besitzer einer großen Bierbrauerei.Die
K.-Kinder galtenals
gebildeter Umgang, welchen man den eigenen Bubenund
Mädeln gern zuführte;und
wirklich wa-ren
diese beiden Kinder einigermaßen über dem Durchschnitt.Es
bliebnur
die Kahnfahrtmit
Negria. Mary warfür
den frühen Nachmittagin
Nußdorfmit ihm so
gutwie
verabredet.Dann würde
es
allerdingszu
spätfür
das Tennis werden.Oskar seinerseits pflegte jetzt höchstens
bis
sechsUhr
aufdem
Platzezu
bleiben, wohiner an
Tennistagenim
Spät- sommer gleichvom Büro aus
nach kurzer Nachmittagsruhe sich begab.Sie
hielt sich heute frei.Sie
lehntees
lächelndab, die
Verein- barungmit
Negriafür
bindendzu
halten.Er
konnte ebenso-gut
allein fahren:und
dann würdeer
wohl unweigerlich hieram
Kanal anlegen oder, ganz seemännisch, ‚festmachen‘, und
heraufkommen,um zu
sehen,wo sie
denn geblieben sei.Er
würdean
Marie vorbeiins
Zimmer eindringen.Mary lachte.
Eben
kamen die Taxisin
Bewegung, fädelten nacheinander quer über den Fahrdamm.Der
letzte Wagen, dermit
den Hinterrädern sichtbar blieb, erzitterte nochein
wenig,und
ebenso der erste,von
welchem mannur die
Vorderräderund
die
Haubedes
Kühlers sehen konnte. Damitwar die
lautlose Bewegung wiederzur
Ruhe erstarrt.Aber
all
diese glaszartund
gespannt wartende Dämonieder
ruhenden Umgebung kam Frau Mary unter solchem Namen freilich nicht zum Bewußtsein. Jedochals
Frau besaßsie ge- nug
Tiefe, wenn schon nichtdes
Geistes,so
dochdes Ge-
weids,
um ihr
Exponiertseinzu
fühlenin
dieservon
allen Seiten heranstehenden Gegenwart, gleichsam auf diesem Präsentierteller sitzend,der als
hell angestrahltes Scheibchen zwischen den Dunkelheiten des Vergangenenund
desZu-
künftigen dahin wandelte.Ein
Blick aufihr
kleines goldnes Uhrarmband sagte ihr, daßsie
schon eine ganz ungewöhnlich lange Zeit hiervor dem
fast geleerten Teegeschirr sitze. Marie war wohl noch einmal dies oder jenes einzukaufen gegangen.Es
rührte sich nichts, auchsie
selbst blieb still.Und nun war
eine gute Stunde vergangen, seit sie hieram
Frühstückstisch sich niedergelassenund
unter andereman den
Leutnant Melzer gedacht hatte.Etwas
von der
Sprödigkeitdes
Lebenswar
heutein
ihr, alsein
Wissen und eine Eigenschaft zugleich: wie doch allesso
leicht springt,sie
wußtees
jetzt,das
heißtsie
hattees in den
Gliedern, dies Heikle, diese Bologneser-Fläschchen-Natur jeder guten Stunde,die da
fälltund zu
Staub wird.Sie
wollte heute nichts anrühren.Ein ihr
ganz fremdes Verhalten,sie
rührte sonst immerwas an
oder rückte irgend etwas zurecht.Und
eben jetzt hätte sie dastun
sollen.Als die
gespannte Stille platzteund mit
Geklirrund
Geklapper eine neue Situa- tionaus ihr
hervorsprang,da
erkanntesie es.
Ganz gleich- zeitig erkanntesie es mit
ihrem Aufstehen,das
nichtvom
Kopfe beschlossen worden war, sondernals
eine unvermutete Eigenmächtigkeit ihrerKnie und
Beinewie
eine Wellevon
untenher
durch ihren Körper lief, welcheauf
halbem Wegees
fertig brachte, die Teekanne aus rotemTon
mitzunehmen, weil sichdie
Fransen eines Seidentuches,das
Maryum die
Schultern trug,in dem aus
Bambusstäbchen geflochtenen Henkel verhängt hatten, wodurch aber auchdie
Tasse fiel22
und das ganze Tablett samt der silbernen Zuckerdose
an
den Rand der gleichen Möglichkeit geriet. Und, zum Resultat be- ruhigt, ergab der Tumult: auf dem Teppich lag die Tasse mit der Untertasse, anscheinend unzerbrochen, der Löffel hatte einen weiten Satz seitab getan; auf Marys Kleid war kein Tröpfchen des Teerestesin
der Kanne geraten und der dunkel gezogeneTee
hatte also keine Gelegenheit gefunden, hier eine nachhaltige Wirkungzu tun:
aberer
strebte danach, dennan
den Fransen von Marys Seidentuch hing jetzt das Gefäßso
sehr geneigt, daß die dunkle Flüssigkeit beinah den Rander-
reichte. Mary sah das alles.Sie
hörte zugleichvon
draußen,vom
Vorzimmer her, den Schlüsselin
der Wohnungstüre um- drehen,und so
riefsie
denn, ohne sichzu
rührenund
vor- gebeugtso
gutsie
konnte,um
ihren seltsamen Umhangvon
sich abzuhalten: Marie! Marie!Das
Herbeieilen erfolgte, ein Erschrecken,ein
Lachen,ein
vorsichtiges Zugreifenund am
Endeein
immerhin merkwürdiges Ergebnis: nichts war zer- brochen, nichts war befleckt, nichts war beschädigt.Aber
die
Substanz des Lebens gehorchte diesmalin
Mary keineswegs einer scherzhaften Deklaration, unter welchersie
untergebracht werden sollte,sie
weigerte sich dessen. Allein dasist
der wahre Grund gewesen, warum Maryan
diesem Vormittag nichtim
schönen Liechtensteinpark spazieren ging, obwohl sie gerade das nocham
Frühstückstisch sich gewünscht hatte, angesichts der vielen freienund
verfügbaren Zeit. Jetzt indessen–
wolltesie
das gar nicht mehr riskieren. Hätte sie dies nunso
bewußt undin
Worten gedacht, sie wäre wahr- scheinlich aus vernünftigem Widerspruch doch gegangen.Aber
so
weit kames
nicht.Sie
blieb daheim, nicht aus einer Unlust oder Furchtsamkeit des Geistes, sondern aus einer Hemmungin
den Gliedern.Es
war auch schön hier daheim.Ihr
gepflegter Haushalt umgab sie und durchdrang sie von allen Seiten.Es
war ein vernünftig geleitetes Haus,wo
nichts verschwendet und nichtan
der falschen Stelle gespart wurde, dort,wo
mit geringen Mitteln ein starker Effekt des Behagens erzielt werden kann:der
Fünf-Uhr-Teetisch etwa zeigte immer zweierlei Getränk auf dem hübschen gläsernen Wagen, Kaffee oderTee, je
nachdem,wie
eines grad gelaunt war,und
ebenso Butter,wie Jam,
weißesund
schwarzes Gebäck; aufdie
Sorgfalt der Kinder konnte sich Frau Mary bereits verlassenund so
bliebein
schönes Serviceim
Gebrauche.Kam
jemand unvermutet, dann stander
unter dem Eindrucke, gastlich erwartet wordenzu
sein.Man
erwäge,ob
sich der geringe Aufwand solcher- maßen nichtin
dem oder jenem Fall reichlich bezahlt machte.(Oskar erwog solche Sachen.)
Es
waren kluge Menschen, sie lebten offenen Sinnes nach allen Seiten, darum hörtenund
sahen sie was,und
sie sperrten sich auch nicht gegen Gesehenes und Gehörtes, undes
gab nicht (wiein
gewissen ganz anderen Familien) ver- worrene Knäuel der Verstrickungin
gehüteten finsteren Ecken.Und
Grete Siebenscheinkam
gerneauf
einen Sprung heraufund
vertraute sich Maryin
vieleman und war für
deren Meinungund Rat
sehr geöffnetund
hörte aufmerksamzu.
Es lag
nach alledem nahe, sichan
diesem freien Vormittage einmal ruhigans
Klavierzu
setzen. Mary hatte unter Gretes Leitungim
Laufedes
letzten Jahres drei Chopin’
sche Etudenund
einigesvon
Schumann studiert.Da
sitztsie
alsoam
Klavier, diese seit heute Morgen eigentlich recht einsame Frauund
läßt die silbernen Medi- tationen erklingen;die
Umgebung ordnet sich,es
kommtein
Systemin
diese Einsamkeit,von
welchem man beinahe glauben könnte,daß es
sogarin die
chaotische Stadtmasse ringsum auszustrahlen vermöchte, mindestens aber die nahen Dämonenzu
bändigen durch die orphische Macht der Töne.Es ist
möglich, jemandem fundamentalzu
raten. Niemals fast kannein
solcherRat
angenommen werden. Denn einmalso
weit gekommen, daßdie
Lage eines Rates bedarf,ist
mei- stens auch schon das eine oder andereRad
oder Rädchenim
Getriebe locker,und
derin ihm
befangene Mensch starrtgebannt
in
diese nun ganz bewußt herausgeleuchtete gestörte Apparaturdes
Lebens,das ihm
jetztvon ihr
abzuhängen scheint, statt umgekehrt, was eigentlich normal wäre. Daher kannder Rat
lediglich mehrin
bezugauf den
Apparat gegeben werden– nur ein
unbefangenes Neu-Herantretenan
diesen vermöchte seine bloß relative Wichtigkeitzu
enthüllen– und so
mußes bei
einem kleinenRat
bleiben, einem Rätlein, einem Rätchenin
bezug auf die Rädchen, welche sichwie
toll drehen, weilsie nun
einmalaus dem
Ganzenzu
sehr herausgelockert worden sind.Ein
kleiner Rat,ein
Kniff. Dilatorische oder palliative Mittelchen.Mit
allerlei Abwechslung,je
nach der Situation: als deren Produkte, und nicht als nur einevon
den kleinen Wellen aus gleichbleibenden fundamentalen Quellen.Auch der Ratende hat die Richtung verloren;
und
das Steuer schongar und
längst.Seit dem Sommer des Jahres 1921 hatte Frau Mary der Grete Siebenschein
im
Grunde anderes kaum mehrzu
bieten.Das
heißt also, seit dem Endevon
Gretes halber Verlobung mit dem kleinenE. P. und
dem Beginne ihres engen Verhält- nisseszu
René Stangeler.Den
ersten kannte Mary, denn Grete hatteihn ein
oder das andere Mal heraufgebracht; den zweiten hattesie
auch schon gesehen, aber eben nur dies, auf der Stiege, auf der Straße neben Grete; zusammengenommenmit
dem, was sievon
dieser überihn
sonst noch erfuhrund
wasihr
Gretes nicht selten fast verzweifelte Verfassung sagte, schiener ihr
durchausder
geeignete Mannzu
sein,um die
junge Freundinmit
Sicherheit vollkommen unglücklichzu
machen.Immerhin, Grete Siebenschein hatte
an
dem Punkte,wo wir
jetzt halten, nämlichim
Nachsommer 1923, das acht- undzwanzigste Lebensjahr schon überschritten.Nein,
er
gefiel Frau Mary nicht, der ungefähr gleichaltrige René,und sie
wünschte auch nicht,ihn
kennenzulernen:als
hofftesie
hintergründig noch immer, daß diese Verbindungin
absehbarer Zeit sich wieder lösen würde, als wollte sieda
nicht durch ihre eigene Person eine Klammer mehr nochbilden: genug, daß Stangeler schon unten
bei
Siebenscheins zeitweise einund
aus gingund
daß sich allmählich bereits das Gewicht des Familiären auf Greteund
ihren Liebhaberzu
legen begann,die
beiden gleichsam noch enger aneinander pressend. Nein,er
gefielihr
wirklich nicht! Seine Augen stan- den etwas schräg unddie
Backenknochen waren irgendwie magyarisch oder zigeunerisch. Einmal hattesie ihn
unten auf dem Platzevor
dem Bahnhof gesehen, offenbar auf Grete wartend:er
lümmeltemit dem
Rücken gegenden
Sockeldes
Uhrtürmchens, die Beine gekreuzt,die
Händein
den Taschen, denHut im
Genicke.So
auf offener Straße.Es lag
Heraus- forderungin
seiner Haltung.Sie
erschien Mary keineswegs nachlässigund
natürlich, sondern betont.Und
dieswar
lächer- lich, unsolid, wenig Vertrauen erweckend.Ihr
eigener Bub, damalsein
kleiner Untergymnasiast, hätte sich nichtso
hin- gestellt: jener aber näherte sichden
Dreißig.Ein
Burschaus
gutem Hause obendrein,wie es
hieß.Ein
erwachsener Mensch.Ihr
Mann warmit
achtundzwanzig längstin
einer selb- ständigen Lebensstellung gewesen.Von
Stangeler hieß es, daßer
noch studiere–
allerdings erklärte sich das auch aus dem Mili- tärdienstim
Kriegeund
einer vierjährigen Kriegsgefangen- schaft. Danach aber wärees
auch naheliegender gewesen, sogleich etwas Vernünftigesund
Brauchbares anzufangen.Nun: Jeder
wie er
kann (beschränktim
gewöhnlichen Sinnewar sie gar
nicht,die
Frau Mary!), aber sein Verhalten Grete gegenüber hättevon
vornhereinein
ganz andereszu
seinge-
habt: über alles übrige ließe sichja
noch reden– ob
jetzt heiraten oder nicht heiraten, oder erst später,ob
einen prak- tischen Beruf ergreifen oder weiterstudieren,und
dergleichen.An
allem war der kleineE. P.
eigentlich selbst schuld.Er war es, der
Gretemit
René Stangeler zusammengeführt hatte, wenigstensvon
Frau Maryher
sah dasso
aus. Denn wasvon ihr bei
allen diese Sache betreffenden Überlegungenund
Vorstellungennie in
Anschlag gebracht worden warund
gebracht wurde, etwas, das sie gleichsam nicht mitdachte oder kaummit
dem gehörigen Nachdruck: das war die doch26
ganz unleugbare Tatsache,
daß
Grete Siebenscheinden
kleinenE. P. nie
geliebt hatte.Und
dochlag
gerade dieswie
aufder
flachen Hand.
Ein
blinder Fleckfür
Mary. Hattesie
ihren Oskar geliebt?Ja –
nein. Jetzt liebtesie
ihn.Es
erschienihr als
etwas,das
sich ergeben hatte, nichtals
eine Grund-und
Vorbedingung.In
ihrem tiefsten Innern sahsie
darin nichts Entscheidendes, woraufman
geradezu losgehen konnte,was man
direktins
Augezu
fassen hatte.Kein
Bedingnis, sondernein
Bedingtes. Etwas Unselbständiges, das dann wohl hin- zukommen würdeund
überhauptnur
hinzugegeben werden konnte;nie
also konntees
den Ausgangspunktvon
Handelnund
Raison bilden.(So
etwa käm’s
heraus, wenn man aus- spräche,was
Mary diesbezüglichmit
sich führteals ein so
sehr Selbstverständliches,daß sie es als ihr
eigentümlich nicht mehr erkannte.)Aber, daß hier
von
seiten der ganz anders gearteten Grete Siebenschein jene Neigung nicht bestand, die man schlechthin Liebe nennt–
Primzahldes
Lebens, keiner Analyse bedürftig oder zugänglich–
daslag
ebenso klarwie
dervon
dem kleinenE. P.
gemachte Fehler, welcher damit alsgar
keiner mehr sich darstellt. Sonst wäre Grete nach dem Kriege nichtvon ihm weg
überJahr und Tag ins
Ausland gefahren, mochtees
auchso
gebotenwie
immer erscheinen. Dennihr
Vater, der Doktor Ferry Siebenschein, gehörtezu
jenen Leuten, deren Anständigkeitso
weitzu
gehen vermag, daßdie Fa-
milie dabei verhungert.In
der ersten Zeit nach dem Kriege,ja, vor
1918 schon, wär’s
baldan
dem gewesen.Es
dürfte dieser Fall unter den Inhabern gutgehender Rechtsanwalts- kanzleienzu
Wien während jener Zeit beinahe einzig da- stehend sein. Denn gerade dieser Berufsgruppe vermochtendie mit
ihrer Tätigkeit unweigerlich verbundenen zahlreichen Beziehungenzu
anderen Menschen,ein
maßvoller Austauschvon
Gefälligkeiten,ein an
sich harmloser Handel unter der Hand, das Allernötigste immer wiederzu
verschaffen, wenn nichtvon
Monatzu
Monat,so
dochvon
Wochezu
Woche.In
alledem erwies sich unser Doktor, Gretes Vater,als
fastmonströses Untalent,
ja
beinahals ein Bock mit
unabänder- licher Vorliebefür
die Richtung des größten Widerstandes.Grete liebte ihren Vater unter anderem auch deshalb sehr.
Die
Mutter Siebenschein aber geriet aus allen Zuständenin
alle Zustände, nämlichin
immer anders geartete, wozues
nicht einmal solcher Zeitverhältnisse bedurft hätte, denndie
kleine, bewegliche Dame warvon
dämonischer Erfindungskraft auf dem Gebiete der Krankheiten,und
wenn schon ihre Produk- tivität hier einmal nachließ, dann wurdedie
Lücke durchdie
ungewöhnlichsten Zwischenfälle geschlossen:sie
brach oder verrenkte sich irgendein
kleines Glied, eine Zeheam
linkenFuß
oder den Ringfinger der rechten Handund
verstandes
damit, auchin den
Pausen ihrer eigentlichen Hervorbringun-gen –
Schlaflosigkeit, Schüttelfröste, Geschwülste, oder ein- fach,um mit
Johann Nestroyzu
reden, ‚Beklemmungmit
Entzündung‘ – die
Aufmerksamkeit der Familiebei
ihrer Personzu
halten.Daß
der Doktor Ferry Siebenschein kein Arzt war, wirkte hier förderlichund
ließ jedes neue patho- logische Ereignisin
voller Frische auftreten. Ärzte verhalten sich solchem Unwesen gegenüber bekanntlich kaltwie
die Eiszapfen;und
der Obermedizinalrat Schedik, dessen Patientin Frau Siebenschein allerdings viel später, nämlich 1927 gewor- den ist, pflegte, wenner
ein Mitglied der Familie traf, nichtzu
fragen, „wie
geht’s
der Mama?“,
sondern ganz nebenbei„und was fehlt der Mama jetzt?
“.
Denn freilich, seit deren vorgestrigerund
letzter Anwesenheitin
seinem Ordinations- zimmer konnte immer nochein
ganz neues Krankheitsbild aufgetreten sein. Schedik, der nicht wenige Patientenvon
solcherArt um
sich hatte, behandelte diesemit
dem besten Erfolge rein psychologisch fast unter gänzlicher Beiseite- lassung jederKur und
Rezeptur, ohne daßvon
diesen Herr- schaften jemals sich jemanddie
Frage vorgelegt hätte,wo-
durchsie
eigentlich immerso
raschund so
viele Maleim Jahr
bei dem
Obermedizinalrat Schedikvon oft
ganz verschiedenen hintereinander auftretenden Leiden genasen.Sie
hieltenihn
für
einen außerordentlichen Arzt.Und
das warer
auch.Zudem
ein
hervorragender Schwiegervater: leider des schon genannten Herrn Kajetanvon S.
Einervon
seinen Hochschul- lehrern, der den Doktor Schedik kannte, hat Kajetan gegen- über nach dessen Ehescheidung beiläufigund
nachdenklich bemerkt: „Wissen Sie, Herrvon S.,
auf die Frauist
allenfalls nochzu
verzichten; aber der Schwiegervater bedeutet einen unersetzlichen Verlust.“
Vom
Vater Siebenschein aber,von
jener Mutter,von
der jüngeren SchwesterTiti
(welches Häkchen damals schon die Krümmung künftiger Bahn zeigte) trennte sich nicht lange nach dem ersten Weltkriege unsere Grete (ebenholzschwar- zen Haarsund
klassisch geordneter Züge): nicht zuletzt auch,um
den Ernährer der Familiezu
entlasten, waser gar
nicht wollte. Jedoch bildete sicher auch der periodische und pathologische mütterliche Festkalenderein
treibendes Motiv:dem
als
retardierendesein E. P. mit zu
geringem Gewicht entgegenwirkte.So
kam Grete nach Norwegen.Die im
Kriege neutralge-
bliebenen Staaten nahmen junge Österreicherinnen auf.Sie hat
sich redlich durchgebissen dort,und
dabei tratzum
erstenMal
ihre Persönlichkeit plastischer hervor, zeigte sich das Eigentümlicheund
Differenzierte ihres Wesens,da es an
einer ganz anderen,an
einer fremdenund
verhältnismäßig graden Umwelt sich maß.Sie
bliebihr
gewachsen: wasum-
somehr heißen will, als sie aus einem zerrüttetenund
verarmtenin ein
geordnetesund
vergleichsweise wohlhabendes Land gekommen war.Eine
Deklassiertheit ganz allgemeinerArt
drohte dortin
der Fremde sozusagen täglichin
eine spezielle, persönliche auszuarten;und
dasum so
mehr,als
Grete nicht durchgehendsund
immerso
ganzin
dem Berufe, dem Stande und Charakterzu
bleiben vermochte, unter welchemsie da
zunächst aufgetreten oder angetreten war:
als
Musik-Akade- mikerin (sie hattein
Wien absolviert). Aberes
konnte beim rein Pädagogischen nicht bleiben, die Möglichkeiten hiezu warenso
dicht nicht gebotenund die
Ruhevon
Wartenund
Wahl noch weniger. Grete spielte auchin
einem Sporthotelzum Tanzen auf. Freie Station, geringer Lohn.
Sie
saß hinter dem Klaviere, die Damenund
Herren (oder wassie
schon gewesen sein mögen) unterhielten sichund
tanzten.In
nörd- lichen Ländern, solang’
man nicht trinkt,ist
die Oberfläche des Benehmensund der
Erscheinung gleichmäßig gepflegter, die Rillenund
Runzeln, welche die Stände trennen, liegenfür
den Fremden aus dem Süden nicht sogleichzu
Tage,und
wenn dazudie
Sprache noch nicht oder erst mangelhaft beherrscht wird,so
fehlen auchdie
Orientierungs-Markendes
Bildungs- mäßigen, dasja
sonst, wenn auch kaum greifbar, dochein
international ergossenes Fluidum darstellt, nicht unverwandtder
Bratensaucein den
Speisewagender
großen Expreß-Züge, die vorlängst zwischen Biarritzund
Paris, Bregenzund
Wien, Mandschuriaund
Wladiwostok verdächtige Analogien zeigte,so daß man auf die
unsinnige Vorstellung verfallen konnte,sie
werdein
Röhrensystemen entlang der Strecken geleitet.So
auch die Bildung. Spricht man jedoch nur wenige Worte nor- wegisch,so
kann man auf dem Holmenkollen davon keine Probe nehmen. Aber Grete wurdein die
Geselligkeit bald hineingezogen; man setzte irgendwen auf ihren Platzam
Kla- vier, derda
irgendwas irgendwie spielte (ein weniger heikler Punkt dort,zu
jener Zeit jedenfalls noch).Es
zeigte sich, daß Greteals
Personund
unmittelbar mehrzur
Wirkung gelangen konnteals
durch ihre pianistischen Mittel, die vielleichtbei
einem Wiener Walzer zwischendurch einmal zogen, sonst aberin den
damals allen Tanz beherrschenden Trottsund
Steps ver- hämmert wurden. Freilich,sie war gut
gekleidet.Und auf
eineArt, die
sich hier dochso
ganz noch nicht durchgesetzt hatte, zudemin
Einzelheitenwie
auchin
der Gesamt-Linie vielleicht überhaupt ihrer Vaterstadt verhaftet blieb.Es ist
überdiesfür das
ganze Leben eines Menschenein
entscheidenderTon im
Eröffnungs-Akkord, wenner aus
einem berühmtenOrte
stammt, den jeder auf der weiten Welt kennt.Für
hübsche Frauen sindda
Paris oder Wienvon
besonderer Bedeutungund
müheloser Folien-Wirkung; aber auchfür ein
Mannsbild kannes
nicht gleichgültig sein,ob
Paris oder Landes-de-30
Bussac, Wien oder Groß-Gerungs, Moskau oder Kansk- Jenisseisk.
Grete Siebenschein wurde
in
die Geselligkeit hineingezogen, aber nicht ganz ohneihr
Zutun.Zu
Oslo (das damals noch nicht langeso
genannt wurde),in
der Familie eines Zahn- arztes,wo sie
eine Zeit lang Musikstunden gegeben hatte,war ihr
abgeraten worden, sich auf das Engagementin dem
Sport- hotel einzulassen:es
verkehrten dort,so
hieß es,nur
Jobber, oder Schieber,wie man bei uns zu
sagen pflegt. Aberein
Patient des Dentisten stellteihr die
Sache als gewissermaßen aufpulvernde Abwechslung dar.Und
Gretehat
sichals
junge Person eigentlichvor
nichtsund vor
niemand gefürchtet.Sie war
mutigund
biederund von
allzuviel Phantasie nichtge-
plagt,die bei den
mutigen Menschen meistens schwachist.
Zudem lebte
in ihr
etwas,das man den
Forschungstrieb nen-nen
könnte. Wann immersie im
Auslande war, auch später- hin,hat sie
stets viel gesehen, ohnemit
ihren eigenen Sym- pathienund
Antipathien dabei Federlesenszu
machen. Viel- leicht waren diese ebenfalls schwach.Sie
paßte sich sogleichan. Sie
trug sehr bald kein Körnchen mehrvon
der Erde des Vaterlandesan
den Sohlen. Geringe Vorstellungskraftbe-
fördert das Aussetzen des Gedächtnisses.Man
hat nicht da- hintenim
Vergangenen leuchtendeund
kaum berührte Örter, Altärchen einer sozusagen privaten Religion, kleine Hakenim
Herzenmit
weit zurückreichenden Fäden daran,so
daß irgend- eine Vorstellungs-Verbindung oder etwas,was man
gerade sieht, empfindlichenZug
ausüben kann.Das ist der
Objektivi-tät
nicht förderlich. Gretewar
sehr objektivund nur
gelegent- lich sentimental:das
letztere wußtesie
dannund
hielt zugleich schützend eine kleine Randkluftvon
Ironie zwischen sichund
ihren Gefühlen offen.Ihre
Verfassungwar
derjenigen einer Dame aus dem achtzehnten Jahrhunderte verwandt–
nichts liebtesie
mehr als den Espritund
etwas davon eigneteihr
selbst–und
darum hatsie
dennoft
auch wirklichso
ausgesehen.Ein
klares, mitunter fast scharf dreinblickendes Aug’,
der lange Hals,die
fragile Schlankheit einer keineswegs Mageren–
faussemaigre nennen das
die
Franzosen– man
wurde nicht seltenbei
solchem Anblickan
jene Gräfin Lieven erinnert, die Frau des russischen Botschaftersin
London,‚la
maigre Lieven‘ ge-
nannt, durch zwei Jahrzehnte die Geliebte des Staatskanzlers Clemensvon
Metternich;nur
wardie
Gräfin eine Blondine gewesen. René Stangeler, der innerhalb des ganzen Gali- mathias, dener
auf der Universität,von Gier
geritten,in
sich hineinstudierte, auch der österreichischen Geschichte beflissen war,hat die
Lieven selbstverständlich gekannt,ja
übersie
sogarein
größeres Referat halten müssen. Jedocher
vermiedes
sorgfältig, Grete jemalsvon
dieser Persönlichkeit etwaszu
erzählen, obwohl jene sich gewiß dafür lebhaft interessiert hätte.„Ich
wollte sie“ (so
hater
sich später einmal dem Kaje- tan gegenüber geäußert) „auf diesen ihren Archetypus nicht noch geradezu hinweisen.“ Man
kann’s
verstehen.Er
hatt’ es
auchso
nicht eben leicht.Nun,
wir
sagten früher, „man setzte irgendwen auf ihren Platzam
Klavier“, und
„sie wurdein
die Geselligkeit bald hineingezogen“. Am
Anfang aber–
setztesie
selbst (nämlich jemand anderen ans Klavier)und sie
wurdein
jene Gesellschaft nichtso
sehr hineingezogen, als daßsie
selbstin
diese eintrat.Damit setzte
sie
zugleich auch einen sehr bezeichnenden Akt, ganz bewußt,und
vollführte eineder
vielen Gegenbewegun-gen vom
Deklassiertwerden weg, welche ihre norwegischen Jahre stets begleiteten (ja,zum
gutenTeil
ausfüllten),so wie
das Wassertreten unaufhörlich ausgeführt werden muß, wennman
sich stehendund
aufrecht oben halten will. Greteist
eigentlichihr
ganzes Leben hindurchmit
Wassertretenin
die- sem Sinne beschäftigt gewesenund
auch ihre hochgespannte Empfindlichkeit den Familien-Angehörigen jenes Herrnvon und zu
René gegenüber erklärt sich zumTeil von
daher. Hierim
Sporthotel aber ginges
zunächst nur darum, das Gesichtzu
wahren,mit zu
dieser Gesellschaft (oder wases
schonge-
wesen sein mag)
zu
gehören, nicht aber als Bar-Pianistinund
Tappeuse gänzlich hinters Klavier verbanntzu
sein.Da man
sie alsbald zum Tanzen aufforderteund sie
dieses vollendet32
beherrschte, konnte
sie
eine zweite gleich anschließende Auf- forderung annehmen, eine dritte schonmit dem
Hinweis aufdas
unzulänglich besetzte Klavier ablehnenund
sich befriedigtund
wirklich leichteren Herzens wieder hinter das Instrument zurückziehen.Aber, solche dosierte
und
vernünftige Mittelund
Anstal-ten
(unsereiner hätte vielleicht fünf Stunden hinter dem Stutz- flügelvor
sichhin
geblödetund
seine Trotts gepaukt ohne sichum wen
oderwas zu
scheren) wurden,wie so oft bei
Grete,von
Eruptionen ganz andererArt
durchkreuzt. Denn plötzlich, innerhalb weniger Minuten, hattesie
sichbis
über beide Ohren verliebt.Das
konntebei ihr
leichtund
schnell geschehen,und
das erste Eigenschaftswort ist auchim
Sinne einer Gewichtsbezeich- nungzu
verstehen:es
fiel nicht schwer auf sie,es
fiel sie nur heftigan.
Aberdie
Randkluft blieb offen.Eine
gewisseRe-
serve gesichert. Dieser hintergründige Umstand– man
möchte fast sagen: als hättesie
vermöge ihres langen Hálses sich immer noch fähig gefühlt, die Lagezu
überblicken–
ließ Grete sehr weit gehen,bei
ungeminderter elementarer Echtheit der Sensationen, welchesie
empfand.Es ist
derartiges auch wäh- rend der ersten zwei oder drei Jahre ihrer Verbindung mit dem René Stangeler noch wiederholt vorgekommen, welch letzterer, durch Gretes Anderssein eingeschüchtert undin
maßlose Bewunderung versponnen, darüberin
theatralisch großzügiger Weise vermeint hat, hinweggehenzu
müssen.Aber die Steine, welche
er da
müheloszu
schlucken vorgab, lagen dann doch unverdaulichim
sozusagen psychologischen Magenund am
Ende lief seine heroische Geste recht trivial darauf hinaus, daßer
Gleiches mit Gleichem vergalt.Zum
Unglückfür
Grete Siebenschein gerade dann, als die bewährte Randkluft sich bei ihr, wenn auch nicht ganz,so
doch beinahe schließen wollte.Jetzt also, wieder hinter dem Klavier, erblickte sie Einen erst recht, den sie schon flüchtig gesehen hatte
und von
dem sie auch bereits wußte, werer sei:
ein Mann der damalsin
33