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Perspektiven kritischer Sozialer Arbeit

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Academic year: 2022

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Roland Anhorn · Frank Bettinger · Johannes Stehr (Hrsg.)

Foucaults Machtanalytik und Soziale Arbeit

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Perspektiven kritischer Sozialer ArbeitBand 1 Herausgegeben von:Roland AnhornFrank BettingerHenning Schmidt-SemischJohannes Stehr

Roland Anhorn · Fr ank Bettinger Johannes Stehr (Hrsg.) Foucaults Machtanalytik und Soziale Arbeit

Eine kritische Einführung und Bestandsaufnahme

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1.Auflage 2007

Alle Rechte vorbehalten©VSVerlag für Sozialwissenschaften | GWVFachverlage GmbH,Wiesbaden 2007

Lektorat:Stefanie Laux

Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media.www.vs-verlag.de

Das Werkeinschlilichallerseiner Teile ist urheberrechtlich gesctzt.JedeVerwertung aerhalb der engen Grenzen des UrheberrechtsgesetzesistohneZustimmungdes Verlags unzulässig und strafbar.Das gilt insbesondere fürVervielfältigungen,Übersetzungen,Mikroverfilmungen und die Einspeicherungund Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen,Handelsnamen,Warenbezeichnungen usw.indiesem Werkberechtigtauchohnebesondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme,dass solche Namen imSinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und dahervon jedermann benutzt werden dürften.

Umschlaggestaltung:KünkelLopka Medienentwicklung,HeidelbergDruck und buchbinderische Verarbeitung:Krips b.v.,MeppelGedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem PapierPrinted in the Netherlands

ISBN 978-3-531-15020-8 Bibliografische Information Der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über<http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Inhalt

ROLAND

ANHORN, FRANK BETTINGER UND JOHANNES STEHRVorwort ...9

1 Einführung PETRA GEHRINGSprengkraft von Archivarbeit - oder: Was ist so reizvoll an Foucault?...15

JOHANNES STEHRNormierungs- und Normalisierungsschübe - Zur Aktualität des Foucaultschen Disziplinbegriffs ...29

SVEN OPITZEine Topologie des Außen - Foucault als Theoretiker der Inklusion/Exklusion ...41

ANDREA D. BÜHRMANNSoziale Arbeit und die (Trans-)Formierung moderner Subjektivierungsweisen ...59

FRANK BETTINGERDiskurse – Konstitutionsbedingung des Sozialen ...75

2 Dimensionen der Foucaultschen Analytik der Macht MARIANNE PIEPERArmutsbekämpfung als Selbsttechnologie. Konturen einer Analytik der Regierung von Armut ...93

ANGELIKA MAGIROSFoucaults Beitrag zur Sozialen Arbeit gegen Rassismus ... 109

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6 Inhalt Mit Foucault „(Nicht-)Behinderung“ neu denken ... 119 Die Macht der Normalität: ANNE WALDSCHMIDT

ANTKE ENGEL UND NINA SCHUSTERDie Denaturalisierung von Geschlecht und Sexualität. Queer/feministische Auseinandersetzungen mit Foucault ... 135

SUSANNE KRASMANNVon der Disziplin zur Sicherheit. Foucault und die Kriminologie ... 155

REGINA BRUNNETTFoucaults Beitrag zur Analyse der neuen Kultur von Gesundheit ... 169

JENNY LÜDERSSoziale Arbeit und „Bildung“. Ein foucaultscher Blick auf ein umstrittenes Konzept ... 185

3 Foucaults Analytik der Macht und Soziale Arbeit FABIAN KESSLWozu Studien zur Gouvernementalität in der Sozialen Arbeit?Von der Etablierung einer Forschungsperspektive ... 203

INES LANGEMEYERWo Handlungsfähigkeit ist, ist nicht immer schon Unterwerfung. Fünf Probleme des Gouvernementalitätsansatzes ... 227

CORNELIS HORLACHERWessen Kunst, wie nicht regiert zu werden?Zur Rezeption Foucaults und insbesondere des Begriffs „Regieren“ im Kontext kritischer Reflexion Sozialer Arbeit ... 245

STEFANIE DUTTWEILERBeratung als Ort neoliberaler Subjektivierung ... 261

SABINE STÖVESANDDoppelter Einsatz: Gemeinwesenarbeit und Gouvernementalität ... 277 Inhalt 7 CORA HERRMANNZur Transformation der Vorstellung von „guter Arbeit“ - Aneignungsweisen der Qualitätsdebatte in der stationären Kinder- und Jugendhilfe ... 295

ANDREAS HANSESProfessionalisierung in der Sozialen Arbeit - Zwischen Positionierung, Macht und Ermöglichung ... 309

ROLAND ANHORN„...wir schmieden alle unsere Ketten von inwendig und verschmähen die, so man von außen anlegt.“ - Johann Hinrich Wicherns Sozialpädagogik des Rauhen Hauses und die Macht der Individualisierung ... 321

4 Konturen einer kritischen Sozialwissenschaft im Anschluss an Foucault HANS-HERBERT KÖGLERDie Macht der Interpretation. Kritische Sozialwissenschaft im Anschluss an Foucault ... 347

Autorinnen/Autoren ... 365

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Für Felix

Vorwort

Im Rahmen des Projektes einer kritischen Theorie und Praxis Sozialer Arbeit ist der vorlie-gende Sammelband Teil des Versuchs einer systematischen Vergewisserung ihrer theoreti-schen Grundlagen, ihres Gegenstandsbereichs, ihres Begriffs- und Kategoriensystems und ih-rer außerdisziplinären Bezugs- und Anknüpfungspunkte. Während mit „Kritische Kriminolo-gie und Soziale Arbeit“ (Anhorn/Bettinger 2002) der Versuch verbunden war, zum einen die relativ isolierten Diskurse der kritischen Kriminologie und der Sozialen Arbeit (wieder) näher zusammenzuführen und zum anderen die kritische Kriminologie als „Wahlverwandte“ auf ih-ren möglichen Beitrag zu einer kritischen Sozialen Arbeit hin zu befragen, und in der Folge mit „Sozialer Ausschluss und Soziale Arbeit“ (Anhorn/Bettinger 2005) der Anspruch verbun-den war, Soziale Arbeit unter einer macht- und herrschaftskritischen Perspektive auf soziale Ausschließungsverhältnisse als ihrem zentralen Gegenstand in Theorie und Praxis zu (re-)fokussieren, setzt sich der vorliegende Band zum Ziel, mit Michel Foucault (1926-1984) die theoretischen, historischen und zeitdiagnostischen Beiträge eines einzelnen Denkers auf den Prüfstand zu stellen, um ihr Potenzial für eine macht- und herrschaftstheoretisch begründete kritische Soziale Arbeit auszuschöpfen und nutzbar zu machen. Die Gründe, die es gerechtfertigt erscheinen lassen, gerade Michel Foucault im Rahmen eines Projekts kritischer Sozialer Arbeit zum Gegenstand einer differenzierten Analyse und umfassenden Bestandsaufnahme zu machen, sind vielfältig. Auf zwei der für unseren Zu-sammenhang wichtigsten wollen wir kurz eingehen: 1. Foucault stellt fraglos einen der pro-duktivsten und aktuell weltweit maßgebenden Denker dar, dessen wissenschaftliche Bedeu-tung und intellektuelle Prägekraft seit den 1970er Jahren stetig gewachsen ist. Über das ge-samte Spektrum der Sozial- und Human-, der Kultur- und Geisteswissenschaften hinweg - in der Philosophie, der Soziologie und Politologie, in den Sprachwissenschaften, der Geo-graphie, der Theologie, der Medizin, der Psychiatrie und Psychologie usw. usf. - haben mittlerweile Foucault’sche Begriffe und Kategorien wie „Archäologie“, „Genealogie“, „Diskurs“, „Gouvernementalität“ etc. - wenn auch teilweise in banalisierter Form - Eingang in den Kanon wissenschaftlicher Analyseinstrumente gefunden. Allerdings zählt Foucault gleichzeitig auch zu den irritierendsten und umstrittensten Denkern der letzten Jahrzehnte. Die Einschätzungen reichen dabei von einer durch Foucault vollzogenen wissenschaftli-chen Revolution, einem unwiderruflichen Paradigmenwechsel im wissenschaftlichen und philosophischen Denken der westlichen Moderne bis hin zum Vorwurf eines irrlichternden Obskurantismus, der sich der Maßstäbe einer rationalen Argumentation und wissenschaftli-chen Kritik entzogen und den emazipatorischen Anspruch der europäischen Aufklärung vollends verabschiedet habe. Angesichts dieser Ausgangslage kommt eine - erst recht eine mit kritischem Anspruch auftretende - Soziale Arbeit nicht umhin, sich mit den durch Fou-cault gestellten Herausforderungen auseinander zu setzen. 2. Michel Foucault hat mit sei-nen Untersuchungen zur Psychiatrie und Medizin, zu Strafvollzug und Kriminalität und zur Sexualität (die wiederum die Rolle der Pädagogik, der Medizin, der Kriminologie, der Psy-chiatrie und Psychologie thematisieren) und den damit verbundenen Fragen der Normalität und Abweichung, der Disziplinierung und Individualisierung, der Hilfe und Kontrolle, der 10 Vorwort

Integration und Ausschließung und des Verhältnisses von Wissen/Wahrheit, Macht und Subjektivität spezifische Ausschnitte gesellschaftlicher Funktionszusammenhänge und in-stitutioneller Praktiken zum Gegenstand seiner Analysen gemacht, die eine besondere the-matische Nähe und unverkennbare Parallelitäten zur Sozialen Arbeit aufweisen. Gleich-wohl ist Foucault bis in die jüngste Vergangenheit hinein in der Theorie und Praxis der deutschsprachigen Sozialen Arbeit - von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen – eine über weite Strecken außer Acht gelassene und z.T. - so drängt sich der Eindruck auf - ge-zielt ignorierte Randfigur geblieben.1 Nahezu keine der in den beiden maßgeblichen Hand-büchern der Sozialen Arbeit verhandelten und damit in den Kanon der relevanten zeitge-nössischen Theorieentwürfe eingereihten Theorien Sozialer Arbeit ist durch einen systema-tischen Bezug zu Foucault ausgewiesen (vgl. Otto/Thiersch 2001; Thole 2002). Wenn-gleich gerade in jüngster Zeit vor allem im Anschluss an Foucaults Konzept der Gouver-nementalität sich in dieser Hinsicht einiges verändert hat - der vorliegende umfangreiche Sammelband ist sinnfälliger Ausdruck dieses Wandels -, so bleibt dennoch die lange wäh-rende und beharrliche Ignoranz Foucaults seit den 1970er Jahren ein erklärungsbedürftiges Phänomen. Erklärungsbedürftig bleibt dies vor allem deshalb, weil Foucault mit „Überwa-chen und Strafen“ (1977, franz. 1975) und „Der Wille zum Wissen“ (1983, franz. 1976) zwei der bedeutendsten Gesellschaftsanalysen der letzten Jahrzehnte vorgelegt hat, die sich im Rahmen einer detailversessenen Untersuchung wissensbasierter (Mikro-)Praktiken der Macht auf einen Gegenstandsbereich bezogen, dem - auch und gerade für die Theorie und Praxis Sozialer Arbeit - zentrale Bedeutung zukommt. Wir möchten zur Erklärung dieses Phänomens zwei begründete Vermutungen äußern. 1. Aus Foucaults in „Überwachen und Strafen“ und „Der Wille zum Wissen“ entfalte-ten Analysen der in den Kontext von Institutionen (z.B. Gefängnisse, Kliniken, Erzie-hungsheime) und Human- und Sozialwissenschaften (z.B. Medizin, Pädagogik, Soziale Arbeit) eingebundenen Wissens-/Machtpraktiken ließ sich wohl eine fundamentale Kritikder Sozialen Arbeit ableiten, nicht aber - so jedenfalls eine der gängigen Rezeptionsweisen Foucaults - eine positive (und sei es auch kritisch gewendete) Begründung der SozialenArbeit. Dieser vermeintliche oder tatsächliche Mangel eines „konstruktiven“ Elements in Foucaults Machtanalytik Mitte der 1970er Jahre (die ja in der Folgezeit bestimmend für ih-re Wahrnehmung war), erklärt zumindest z. T. die Rezeptionssperren innerhalb der Sozia-len Arbeit.2 2. Ein zweiter möglicher Grund für die lange währende deutliche Zurückhaltung bei der Rezeption Foucaults innerhalb der Sozialen Arbeit dürfte mit dem spezifischen Gegen-standsbereich, dem Zugang und der Ebene seiner Analysen zu tun haben. Foucault ging es im Rahmen seiner Machtanalytik nicht um die Frage, was Macht ist, sondernwie Macht -und zwar in ihren vermeintlich geringfügigsten Details und weitläufigsten Verästelungen - funktioniert, d.h. „in welchen Formen, durch welche Kanäle und entlang welcher Diskurse die Macht es schafft, bis in die winzigsten und individuellsten Verhaltensweisen vorzu-dringen.“ (Foucault 1983, S. 21) Mit dieser mikrophysikalischen Analyse von Machtprak-

1 Im angelsächsischen Raum hat eine systematische Rezeption Foucaults in der Sozialen Arbeit sehr viel früher eingesetzt (vgl. z.B. Chambon/Irving/Epstein 1999), so dass Foucault hier mittlerweile zu einem festen Bezugspunkt in der Theoriebildung der Sozialen Arbeit geworden ist. 2 Foucaults Konzept der Gouvernementalität, von ihm gegen Ende der 1970er Jahre eingehrt als Diffe-renzierung und Ausweg aus einer als Sackgasse wahrgenommenen Machtanalytik in „Überwachen und Strafen“ und „Der Wille zum Wissen“, scheint hier im Sinne einer Begründungsfähigkeit Sozialer Ar-beit anschlussfähiger zu sein. Ob um den Preis einer (fundamentalen) Kritik der Sozialen Arbeit bleibt abzuwarten.

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Vorwort 11 tiken macht Foucault Verfahren und Techniken, Prozesse und Abläufe, Kommunikations- und Interaktionsformen und institutionelle Arrangements zum Gegenstand seiner Untersu-chungen, die unmittelbar imAlltag einer sozialarbeiterisch-sozialpädagogischen Praxis an-gesiedelt und fester Bestandteil im Selbstverständnis und den eingespielten Routinen einer - auch „aufgeklärten“, „progressiven“ - Fachlichkeit sind. Diese Nähe zur Alltagspraxis der Sozialen Arbeit und der damit verbundene, an konkrete Erfahrungen anknüpfende „Wie-dererkennungswert“ der Analysen Foucaults nötigt nicht nur zu einer radikalen (Selbst-)Kritik der Sozialen Arbeit (mit allen Folgen eines desillusionierenden Verlustes von Ge-wissheiten). Foucaults mikrophysikalische Machtanalytik reicht noch weiter. Indem er mit seinen Untersuchungen - z.B. zu den säkularisierten Formen der „Beicht- und Bekenntnis-praxis“ in der Beratung, in der Therapie etc. - auf vertraute, erfahrbare und tagtäglich er-fahrene Alltagsrealitäten und die in diese eingesponnene Machtpraktiken zielt, gehen die „individuellen Entlastungseffekte“ einer strukturellen Erklärung, wie sie z.B. kapitalismus-kritische oder feministische Ansätze mit ihrer Kritik des Patriarchats formulieren, parado-xerweise bei der Auseinandersetzung mit Foucaults Mikrophysik der Macht verloren. 1 Der konkrete Erfahrungsgehalt alltäglicher Praxis wird mit Foucaults Analysen zu präsent, umVeränderungen lediglich zu einer Frage der Transformation relativ alltagsferner und abs-trakter gesellschaftlicher Strukturen werden zu lassen. Foucaults Zumutungen einer akribi-schen Aufklärung über die Unscheinbarkeit alltäglicher, gewohnheitsmäßiger (Macht-)Praktiken dürften gewiss einer der maßgeblichen Gründe für die Rezeptionsbarrieren sei-ner Untersuchungen in der Sozialen Arbeit gewesen sein.2

Mit dem vorliegenden Sammelband ist ein dreifacher Anspruch verbunden: Er soll 1. eine Einführung in bzw. Heranführung an das Denken Foucaults allgemein, 2. eine kriti-sche Bestandsaufnahme der spezifischen Kategorien und theoretischen Zugänge Foucaults im Hinblick auf die Soziale Arbeit und 3. ein Beitrag zur Weiterentwicklung in der Theo-riebildung der Sozialen Arbeit sein. Darüber hinaus war es Zielsetzung, den „ganzen“ Fou-cault für dieses Anliegen auszuschöpfen, d.h. eine Beschränkung auf das Gouvernemental-titätskonzept zu vermeiden, wiewohl dieses im vorliegenden Band relativ breiten Raumeinnimmt (was angesichts der Tatsache, dass das Gouvernementalitätskonzept gewisserma-ßen als „Türöffner“ Foucaults in die Soziale Arbeit gewirkt und in den Kultur- und Sozial- 1 Paradox ist das insofern, als mit Foucaults Mikrophysik der Macht zwar ein Bereich zum Gegenstandder Analyse gemacht wird, der in seiner Alltäglichkeit unter der Hand einen Bezug zu subjektiven prak-tischen Erfahrungen (in der Schulpädagogik, der Medizin, der Psychiatrie - und eben auch der Sozialen Arbeit) herstellt. Foucault wird aber gleichzeitig nicht müde, darauf hinzuweisen, dass seinen Untersu-chungen ein depersonalisiertes Verständnis von Macht zugrunde liegt. Macht als Kräfteverhältnis ist zwar intentional, insofern diese auf die Realisierung von „Absichten und Zielsetzungen“ gerichtet ist. Sie ist gleichzeitig aber auch nicht-subjektiv, insofern ihre Wirkungen nicht das Ergebnis der „Wahl oder Entscheidung eines individuellen Subjekts“ oder eines Planungsstabs der Macht sind (Foucault 1983, S. 166). 2 Während die auf (Alltags-)Praktiken gerichtete Mikroanalyse der Macht in „Überwachen und Strafenund „Der Wille zum Wissen“ gerade in ihrer Detailversessenheit ein starkes Moment der Aufklärung und Kritik beinhaltet, ist diese im Zuge der Gouvernementalitätsstudien weitgehend wieder verloren gegangen. Stattdessen dominiert die Analyse von Rationalitäten, wie sie in spezifischen Programmati-ken (z.B. des Neoliberalismus) zum Ausdruck kommen. Eine Kritik von Programmatiken liefert aber noch keine Anhaltspunkte für eine kritisch-reflexive Sicht auf Alltagspraktiken. Die Kritik neoliberaler Programmatik kann durchaus einhergehen mit einem Reflexionsverzicht auf der Ebene von Alltags-praktiken, wie sie es prinzipiell auch erlaubt, das Foucaultsche Machtkonzept affirmativ zu wenden und die Macht, die in den sozialarbeiterischen/sozialpädagogischen Praktiken zur Wirkung kommt, positiv zu bewerten (vgl. Healy 2000). 12 Vorwort

wissenschaften insgesamt aktuell Hochkonjunktur hat, nicht weiter verwundern kann). Dennoch scheint uns die Bedeutung Foucaults für das Projekt einer kritischen Sozialen Ar-beit und die Bandbreite seiner theoretischen Einsätze und Zugänge zu groß, um ihn auf ein- irritierenderweise im Rückblick häufig als Kulminationspunkt seiner theoretischen Ent-wicklung interpretiertes - spezifisches Konzept zu reduzieren. - Ob die vielfältigen Ansprü-che von den Herausgebern und den AutorInnen eingelöst worden sind, mögen die LeserIn-nen entscheiden. Der Aufbau des Bandes gliedert sich in insgesamt vier Teile. Im ersten Teil werden nach einem in Foucault einführenden Beitrag (Petra Gehring) mit Disziplin (Johannes Stehr), Ausschließung (Sven Opitz), Subjektivierung (Andrea D. Bührmann) undDiskurs(Frank Bettinger) vier Kategorien thematisiert, denen sowohl in den Untersuchungen Fou-caults wie in der Sozialen Arbeit zentrale Bedeutung zukommt. Der zweite Teil fokussiert auf der Basis von und in Auseinandersetzung mit Foucault auf spezifische gesellschaftliche Konfliktfelder, denen in der Sozialen Arbeit besondere Relevanz zukommt bzw. zuge-schrieben wird: Armut (Marianne Pieper), Rassismus (Angelika Magiros), Behinderung(Anne Waldschmidt), Geschlecht/Sexualität (Antke Engel/Nina Schuster), Kriminalität(Susanne Krasmann) und Bildung (Jenny Lüders). Der Beitrag „Soziale Arbeit und ‚Bil-dung’“ von Jenny Lüders bildet gewissermaßen die Brücke zum dritten und umfangreichs-ten Teil. Dieser vereint eine relativ heterogene und im engeren Sinne auf die Soziale Arbeit bezogene Auswahl von Beiträgen, deren Spektrum von der Etablierung des Foucault’schen Gouvernementalitätsansatzes als Forschungsperspektive in der Sozialen Arbeit (Fabian Kessl), einer grundsätzlichen Kritik des Gouvernementalitätsansatzes (Ines Langemeyer), die Rezeptionsweisen Foucaults in der Sozialen Arbeit (Cornelis Horlacher) über dieGe-meinwesenarbeit (Sabine Stövesand) undBeratung (Stefanie Duttweiler), die Qualitäts-(Cora Herrmann) und Professionalisierungsdiskurse (Andreas Hanses) bis hin zur Ge-schichte Sozialer Arbeit am Beispiel von Johann Hinrich Wicherns Sozialpädagogik des Rauhen Hauses (Roland Anhorn) reicht. Abschlossen wird der Band in einem vierten Teil von einem methodologischen Beitrag zu den Konturen einer kritischen Sozialwissenschaftim Anschluss an Foucault (Hans-Herbert Kögler).

Darmstadt/Bremen, im Mai 2007 Roland Anhorn/Frank Bettinger/Johannes Stehr

Literatur

Anhorn, R./Bettinger, F. (Hg.) (2002), Kritische Kriminologie und soziale Arbeit. Impulse für professionel-les Selbstverständnis und kritisch-reflexive Handlungskompetenz, Weinheim/München. Anhorn, R./Bettinger, F. (Hg.) (2005), Sozialer Ausschluss und Soziale Arbeit. Positionsbestimmungen ei-ner kritischen Theorie und Praxis Sozialer Arbeit, Wiesbaden. Chambon, A.S./Irving, A./Epstein, L. (Hg.), (1999), Reading Foucault for Social Work, New York. Foucault, M. (1973), Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt/M., (franz. 1961). Foucault, M. (1977), Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/M., (franz. 1975). Foucault, M. (1983), Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt/M., (franz. 1976). Foucault, M. (1988), Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, Frankfurt/M., (franz. 1963). Healy, K. (2000), Social Work Practices. Contemporary Perspectives on Change, London, Thousand Oaks/ New Delhi. Otto, H.-U./Thiersch, H., (Hg.) (2001), Handbuch Sozialarbeit - Sozialpädagogik, Neuwied/Kriftel. Thole, W. (Hg.) (2002), Grundriss Soziale Arbeit, Opladen.

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1 Einführung

Petra Gehring

Sprengkraft von Archivarbeit - oder: Was ist so reizvoll an Foucault?

„Ich bin ein Experimentator und kein Theoretiker.“Michel Foucault1

Um die Texte Foucaults herrscht keine Ruhe. Weder sind sie vergessen, noch sind sie als „verstanden“ abgelegt. Stichworte und Überlegungen Foucaults gehören ihrer Entstehungs-zeit nach zum Theoriebestand der 1960er bis 1980er Jahre. Mehrere Bücher – Die Ordnung der Dinge, Überwachen und Strafen, Der Wille zum Wissen (Foucault 1974; Foucault1976; Foucault 1983) – sind gleichwohl schnell so etwas wie Klassiker geworden. Man liest sie im Studium, man arbeitet mit ihnen in fast allen sozial- und kulturwissenschaftli-chen Disziplinen2, und man findet sie auch außerhalb der Wissenschaft überwältigend oft erwähnt oder zitiert. Gleichwohl: Es gibt keine Foucault-Schule, keine eindeutige Schubla-de, in die Foucault gehören würde, und keinen eigenen Ismus, der sich auf die Foucault-Förmigkeit eines Denkens bezieht. Das Werk liegt seit mehr als zwei Jahrzehnten vor, aber es ist nicht ausgelesen. Es fesselt noch - während überdies sein Umfang durch die schriftli-che Herausgabe der Vorlesungen kontinuierlich wächst. Was ist so reizvoll an Foucault? Ich möchte diese Frage aufteilen und in drei Schritten beantworten. Das ist zum einen die Ebene der Theorieinhalte selbst: Für welche Thesensteht dieser Theoretiker, was sagt die Foucaultsche Theorie? Dann ist da zweitens die vonFoucault ausdrücklich als Archivarbeit charakterisierte Methode: Wie arbeitet Foucault ei-gentlich? Und schließlich ist da die Beobachtung, dass bis heute und vielleicht sogar in steigendem Maße verschiedene Disziplinen - nicht nur Universitätswissenschaften, sondern auch praktische Disziplinen wie die Soziale Arbeit - Foucaults Denken brisant und wichtig finden. Dafür mag es auf der Ebene der Inhalte wie auf der Ebene des methodischen Vor-gehens Gründe geben. Daher eine dritte Frage: Wie wirkt Foucaults Theoriearbeit und wor-in liegt ihre eigentümliche Kraft?Im Folgenden werde ich also (1.) einige wichtige Punkte des Foucaultschen Ansatzes und Gesamtwerks vorstellen, ich nenne sie „Thesenkomplexe“ und ordne sie systematisch, also quer durch zentrale Werke hindurch und nicht gemäß einer Chronologie; (2.) werde ich Foucaults Methoden oder vielleicht vorsichtiger: seine Verfahrensweisen skizzieren – mit einem besonderen Blick auf den engen Zusammenhang zwischen dem Was und dem Wie; (3.) stelle ich einige Vermutungen zur Diskussion, sie betreffen die „Sprengkraft“ der Foucaultschen Texte und den spezifischen Reiz seiner theoriepraktischen Verfahrenswei-sen. 1 Foucault 2005, S. 52. 2 Vgl. zur deutschsprachigen Rezeption neuerdings Kammler/Parr 2006, als Einschätzung zur internatio-nalen Rezeption in den 1990er Jahren Eribon 1998, S. 29-31.

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16Petra Gehring 1 Was sagt Foucault?

1.1 Erster Thesenkomplex: Ausschließung, Einsperrung, Normalisierung

Michel Foucault wurde in Frankreich wie auch in Deutschland in den 1960er Jahren zu-nächst mit zwei eng aufeinanderfolgenden, materialreichen Untersuchungen zur Psychiat-rie- und Medizingeschichte als Psychiatrie-Kritiker bekannt: Durch eine groß angelegte historische Untersuchung über die Geschichte des Wahnsinns von 1961, in deutscher Spra-che in gekürzter Form erschienen unter dem Titel Wahnsinn und Gesellschaft, und durch das Buch Die Geburt der Klinik von 1963 mit dem Untertitel: Eine Archäologie des – wie Foucault dann zeigen wird: „anatomischen“ – ärztlichen Blicks (Foucault 1969; Foucault 1988). Parallel erschienen eine Anzahl zunächst weniger beachteter Aufsätze zu literari-schen Texten von Bataille, Blanchot, Roussel, die sich durchaus unter einem ähnlichen Blickwinkel lesen lassen. Zu diesem Thema soll ein kurzer Hinweis genügen, es wäre ein Gegenstand für sich: Auch Foucaults Schriften zur Literatur thematisieren die Grenzen der Vernunft, die Grenzen des Normalen und allgemeiner: die Normalisierung von Erfahrung – und die Frage danach, inwieweit es einem radikalen literarischen Schreiben gelingen kann, an diese Grenzen zu rühren (vgl. Foucault 2001, Foucault 2002). Noch ein weiteres Buch lässt sich aber zum Zusammenhang von Ausschließen, Einsperren und Normalisieren nen-nen: Überwachen und Strafen, erschienen 1975 und wahrscheinlich Foucaults bekanntestes Buch. Es befasst sich nicht mit einer medizinischen Institution, aber ebenfalls mit der Ge-schichte des Normalmachens von Individuen durch Einsperrung, nämlich mit dem Wandel der Strafsysteme vom späten Mittelalter bis heute und insbesondere mit der Geschichte des Gefängnisses. Gemeinsam ist den genannten Arbeiten, dass sie ein düsteres Schattenbild der Funkti-onsweise uns vertrauter moderner Institutionen zeichnen. Foucault schildert die Entste-hungsgeschichte von Institutionen, die wir erstens für unverzichtbar halten und die wir zweitens gewohnt sind, als mehr oder weniger positive, humane „Errungenschaften“ zu be-trachten: Eine medizinische Psychiatrie, die psychisch Kranke nicht allein lässt, sondern aufnimmt und therapiert, eine Medizin, die sich im Körper immer genauer auskennt und ihn deshalb immer besser behandelt, ein Strafvollzug, der „human“ ist, weil er auf grausa-me Körperstrafen verzichtet und statt dessen biographische Defizite als Hintergrund vonVerbrechen ins Auge fasst sowie versucht, Delinquenten im Gefängnis zu sozialisieren. Der Wahnsinn ist nun aber - das weist Foucault in einem großen historischen Bogen auf - keineswegs dasjenige, was wir vielleicht denken: ein ur-menschliches Problem, mit demGesellschaften immer schon zu tun hatten. Er ist vielmehr eine im Spätmittelalter begin-nende und in Aufklärung und Moderne dann konsequent vollzogene Ausbürgerung der Ir-ren. Die Klassifizierung der Irren als so etwas wie „Fremde“ im Reich der Vernunft ist nichts anderes als eine Begleiterscheinung eben jener Vernunft, die in der frühen Neuzeit als eine Art Hochleistungsvernunft erst entsteht. Und eben diese in Europa in einer be-stimmten Epoche erst entstehende Vernunft stellt sich auf ihre eigenen Füße, indem sie eine so schroffe neue Grenze gegenüber „dem Wahnsinn“ errichtet. Der Wahn ist das Andereder Vernunft und die Vernunft ist etwas, das ein Anderes hat. Der Wahnsinn entsteht also gleichsam als das Abfallprodukt einer modernen Vernunft, die in Gegenteilen denkt und über ihre Gegenteile triumphieren will. Auf diese Weise wird jenes Gespenst namens Wahnsinn dann zunächst zur unnützen Störung, zum Gegner, und schließlich zur patholo-gischen Gefahr, vor der die Ordnung der vernünftigen Menschen und Dinge sich schützen Sprengkraft von Archivarbeit 17

muss. Auf die Ausgrenzung der Einfältigen, der Wirren, der Irren - man vertreibt sie aus der Stadt, man lässt sie auf sogenannten Narrenschiffen flussabwärts treiben - folgt ihre Einsperrung in Asyle, dann in Anstalten, wo eine lange Reihe von Versuchen der Nutz-barmachung und der psychiatrischen „Humanisierung“ beginnt. Foucault erzählt die Ge-schichte des Wahnsinns als eine grausame Geschichte, in der die Vernunft einerseits immer weniger vom Anderen ihrer selbst zu begreifen vermag und in der andererseits eine exklu-sive Vernunftform - zuerst über den Körper, dann im Namen der „Psyche“ und der „psy-chischen Natur“ - immer gezielter und immer tiefer in diejenigen Individuen hineindringt, die anders als die anderen sind. Der anatomische, nämlich der am sichtbaren Innenleben der aufgeschnittenen Leiche sein Maß nehmende Blick auf die Körper von Kranken ganz generell entsteht im Laufe des 18. Jahrhunderts. Für die Krankenbehandlung des 19. und 20. Jahrhunderts ist dieser auf das geöffnete Körperinnere angelegte Zuschnitt der modernen Medizin ganz selbstverständlich. Auch er etabliert sich jedoch erst vor zweieinhalb Jahrhunderten und seine Entstehungsge-schichte weist mit der Geschichte der Psychiatrisierung der Irren durchaus Berührungs-punkte auf. Auch mit der Klinik schließt sich um die Individuen eine sich zunehmend spe-zialisierende, auf Abtrennung, Beobachtung und bessernde Behandlung zielende Instituti-on. Foucault erzählt zur Charakterisierung der Realität der Klinik zum einen die Geschichte der „invasiven“ Verfahren zur Behandlung lebender Kranker. Vormoderne Medizin war weitgehend eine Medizin des Blicks auf die Außenseite der Menschen. Das Innere des Körpers sah man nur an der Leiche - von der man zwar Rückschlüsse zog, jedoch nicht, umden Körper eines kranken Menschen zum Zweck der Behandlung in derselben Manier wie den eines Toten zu öffnen. Dies ändert sich mit der Verwissenschaftlichung und damit ein-hergehend auch Ver-Experimentalisierung einer Medizin, die bereits den lebendigen Kör-per als Naturobjekt analysiert und auchin der Krankenbehandlung einemquasi-mechanischen Kausalschema folgt. Zunehmend wird nicht mehr ein Übel behandelt, son-dern die „Ursache“ von Krankheiten im Inneren des Körpers gesucht - gesucht und gefun-den. Behandelt wird der geöffnete Körper und nicht mehr der Patient - und schließlich gilt die Behandlung auch nicht mehr wirklich der Krankheit. Nicht mehr eine Erkrankung wird vertrieben, sondern am Körper wird „Gesundheit“ hergestellt: ein bestimmter Normalzu-stand, unabhängig davon, ob der Kranke sich überhaupt schlecht oder leidend fühlt. Neben diesem zunehmend nicht Krankheit abwehrenden, sondern Gesundheit produzierenden Vorgehen der Medizin skizziert Foucault die Genese der Klinik als Anstalt und als Experi-mentierstätte. In der Moderne ist sie Ort nicht nur der Krankenbehandlung, sondern der Gewinnung von „Wissen“ über die Produktion von Gesundheit, der Forschung am Men-schen und des Menschenversuchs. Dann das Gefängnis. Auch Überwachen und Strafen erzählt die Genese einer Anstalt, nämlich der Strafanstalt, die durchaus verwandte Züge mit der Irrenanstalt und der Kran-kenanstalt aufweist. Historisch gesehen verhält es sich so, dass die Körperstrafen des Mit-telalters im Zuge des 18. Jahrhunderts verschwinden, und zwar offenkundig nicht, weil man sich etwa in der Aufklärung entschlossen hätte, um der Menschlichkeit willen „mil-der“ zu strafen. Foucault arbeitet diesen Punkt mit großer Sorgfalt heraus: Die Abschaffung der Körperstrafen ist Bestandteil eines tiefgehenden Umbruchs, der die Art der politischen Herrschaft betrifft und auch einen veränderten politisch-ökonomischen Wert des arbeitsfä-higen Körpers widerspiegelt - und durch den im Ergebnis dann bis heute eine ganz andere Logik des Strafens greift. Der Straftäter ist im ausgehenden 18. Jahrhundert nicht mehr das, was er noch in den Jahrhunderten vorher war: ein Demonstrationsobjekt, in dessen Körper der König durch eine qualvolle Hinrichtung die Machtzeichen des triumphierenden Geset-zes symbolisch hineinbrennt. Der Straftäter wird vielmehr als Atom einer Arbeits- und

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18 Petra Gehring

Wohlfahrtsgesellschaft betrachtet. Er ist nun ein ökonomisch unnützes oder ein das Ge-meinwesen belastendes und für die allgemeine Sicherheit „gefährliches“ Element, das an-gepasst, gebessert und zu einem nicht mehr anstößigen Teil der Gesamtpopulation gemacht werden muss. Das Verbrechen, die „Delinquenz“, wie das statistisch gemessene Phänomen der Kriminalität nun heißt, wird zu einem technischen Problem im Inneren eines Sozialen - einer Gesellschaft, die paradoxerweise sowohl „sozialisieren“ als auch sicher machen und das heißt: wegsperren will. Im Ergebnis geschieht vor allem letzteres, das ist das bittere Schlussbild, mit demÜberwachen und Strafen endet: Man schafft Gefängnisse, die weg-sperren und in ihrem Inneren eher zu weiteren Straftaten erziehen als zum Gegenteil. Die Delinquenz wird durch den modernen, den programmatisch „bessernden“ und „sozialisie-renden“ Strafvollzug im Grunde in keiner Weise verringert, sondern in der Anstalt eher noch sicherer prognostizierbar gemacht und in die Individuen eingesenkt. Soweit ein Thesenkomplex dieser ersten Gruppe von Untersuchungen, deren zentrale philosophisch-politische Themen sich unmittelbar berühren. Foucault entwirft so etwas wie eine dunkle Theorie der sich in sich selbst einrichtenden Vernunft - und eine Theorie des Umgangs der durch eine solche Vernunft geprägten Institutionen mit der Abweichung. Fou-cault beschreibt die gewaltsamen Formen der Herstellung von Herrschaft, Sicherheit und „Normalität“, er analysiert die Logik von Anstalten (oder auch von Prozessen der „Veran-staltung“, vgl. Ehlers/Gehring 2005) und er umreißt eine Theorie der Wissensgewinnung am Menschen, genauer gesagt: eine Machttheorie, die sich konzentriert auf die Offenle-gung des engen Zusammenhanges zwischen der Erlangung von Wissen (etwa: über die Körper oder über das Verhalten von Individuen) und der technischen Erprobung, dem herr-schaftlichen und letztlich Wirklichkeit verändernden Einsatz dieses Wissens.

1.2 Zweiter Thesenkomplex: Wissenschaft als Wille zur Wahrheitsproduktion

Eine zweite Gruppe von Texten und Thesen Foucaults lässt sich zusammenstellen, die we-niger die dunkle institutionelle Kehrseite der Vernunft betrifft als vielmehr ihre begrifflich-wissenschaftliche Vorderseite: diejenige Seite, die taghelle, positive Wahrheiten produziert. Auch in seinem Buch Die Ordnung der Dinge von 1966 schreibt Foucault als Historiker der Zeit von der Renaissance bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Nun betrachtet er jedoch diejenigen Strukturen, in denen die Vernunft gleichsam bei sich selbst zuhause ist, nämlich die Wissenschaftsgeschichte. Foucault spricht von einer Geschichte des „Wissens“. Wie man eine solche Wissensgeschichte methodisch zu verstehen hat, mittels welcher Leitfädenman eine solche historische Untersuchung von „Aussageordnungen“ (von „Diskursen“, in denen sich Wissen formiert) durchführen kann - das entwickelt Foucault drei Jahre später in seinem Methodenbuch: Archäologie des Wissens (Foucault 1973). Und noch ein dritter Text lässt sich nennen, weil er mit der Wissensproduktion zu tun hat, weil er - ähnlich wie die Ordnung der Dinge - als besonders skandalös empfunden wurde und in den 1970er und1980er Jahren das Bild Foucaults als eines umstrittenen „Antihumanisten“ mit bestimmt hat. Ich meine den kleinen Aufsatz Was ist ein Autor? von 1969 (Foucault 2001, S. 1003-1041). Die Ordnung der Dinge ist ein ungeheuerlich dichtes Buch, das eine Fülle von theoriege-schichtlichen Thesen enthält. Ich nenne eines von mehreren zentralen Anliegen: Foucault skizziert in dem Buch nicht nur das Profil der an der Schwelle zum 19. Jahrhundert entste-henden Biologie, Wirtschafts- und Sprachwissenschaften, sondern mit besonderer Akribie analysiert er auch, wie in derselben Zeit die Sozialwissenschaften entstanden sind und auf welche (neu) sich herauskristallisierende Gegenstandswelt sich diese (neuen) empirischen Sprengkraft von Archivarbeit 19

Wissenschaften des Sozialen beziehen. Foucault erreicht auch hier einen Verblüffungsef-fekt, eine Umkehr des gewohnten Blicks. Er zeigt, dass die im 19. Jahrhundert entstehen-den Sozialwissenschaften - Soziologie, Ethnologie, Psychologie - tatsächlich einen ganz neuen Typ von Wissenschaftlichkeit realisieren. In keiner früheren Epoche gab es so etwas: eine quasi-naturwissenschaftliche Objektivierung des humanen Miteinanders - die Erfor-schung einer neuen Gesamtheit: „des Sozialen“, bestehend aus statistisch erfassten Totalitä-ten, nämlich „Populationen“ aus Menschen, und aus den menschlichen Verhaltensweisen als empirischer Gegenstand. Foucault spitzt den Befund der Neuheit zu: Nicht nur die Wis-senschaftsformation, auch der Gegenstand der Sozialwissenschaften - in Frankreich heißen sie: Humanwissenschaften, also: der Gegenstand der Humanwissenschaften, „der Mensch“, sei eine Erfindung des 19. Jahrhundert. Und er sei eine Erfindung, die mit der sozialstaatli-chen Regierung, den neuen Datentechniken der Menschenverwaltung des 19. Jahrhunderts korrespondiert. Diese wissenschaftskritische (und vor allem: das Paradigma einer sozialwissenschaftli-chen Messbarmachung und Objektivierung einer „Natur“ des Menschen angreifende) The-se empörte viele. Sozialstatistiker sahen ihre Methoden in Misstrauen gezogen. Linke Sozi-alwissenschaftler sahen sich plötzlich auf die Seite des Herrschaftswissens gestellt, dabei hatten sie sich doch mit ihrer sozialen Empirie der Gesellschaft immer als Kritiker des so-zialen Elends etc. verstanden. Foucault wurde als unmethodisch, als „rechts“ oder als irra-tionalistischer Nietzscheaner verunglimpft. Die These vom empirischen Menschen als Pro-dukt des 19. Jahrhunderts - oder noch provozierender: vom „Ende des Menschen“, wie Foucault es in der Ordnung der Dinge vorhersagt, weil er die Ära der Sozialwissenschaftenzu Ende gehen sieht, wurde aber vielfach auch in moralischer Hinsicht missverstanden. Das Ende des Menschen – das klang ein bisschen wie: der Mensch sei nichts wert. Insofern galt Foucault als unverantwortlicher, als „antihumanistischer“ Denker. Auf ihre Weise unterstützen die Archäologie des Wissens und auch der AufsatzWas ist ein Autor? den Eindruck von Foucault als einem kalten, alle vertrauten subjektphilosophi-schen Kategorien über Bord werfenden Kopf. Die Archäologie entfaltet eine anspruchsvol-le Methodologie zur Untersuchung von „Diskursen“, nämlich wissenschaftlichen Aussage-ordnungen mitsamt den in sie eingebauten Machtstrukturen. Später werden zu Foucaults Methodik noch Überlegungen hinzukommen, die weniger die Analyse von Aussagen als die Frage nach den technischen Arrangements betreffen sowie die Frage nach den Macht-mustern, die zwischen den expliziten und den impliziten Ordnungen vermitteln - sofernKommunikationen und die stummen Bedingungen von Institutionen in der Realität ja doch immer zusammenwirken. „Dispositive“ der Macht nennt Foucault solche in vielem nicht diskursiven, sondern schweigend auf die Körper einwirkenden Machtmuster. Und „Genea-logie“ - als zweite Dimension der Archäologie – nennt er die Erforschung der historischen Herkunftsgeschichten von solchen Dispositiven. Ähnlich provozierend wie die These vom Ende des Menschen auf die Sozialwissen-schaften wirkte eine andere These Foucaults auf die Textwissenschaften. Es gebe zwar, so schreibt Foucault 1969 in Was ist ein Autor?, Texte, die man analysieren könne. Es existie-re jedoch kein „Autor“ im oder hinter dem Text. Gemeint war mit dieser Aussage, dassTexte allenfalls in Form von Textstrukturen auf ein „Woher“ verweisen, dass aber zwi-schen einem Text und einem Menschen, von dem dieser Text stammt, keinerlei im Text selbst greifbare wesensmäßige, gleichsam „kausale“ Verbindung besteht. Man kann nicht von Texten auf Menschen schließen oder umgekehrt von Menschen auf Texte - bzw. wer es tut, konstruiert stets nur eine Verbindung, der keine irgendwie notwendige Beziehung entspricht.

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Mit dieser steilen These verlängert Foucault einerseits bestimmte kritische Überlegun-gen aus der Archäologie des Wissens: Er kritisiert in seinem Methodenbuch unter anderemdie traditionelle Vorstellung der Geschichtswissenschaft von der Realität in oder hinter ih-ren „Quellen“. Andererseits radikalisiert Foucault mit seiner Offenlegung des konstruierten Charakters der Autorfunktion bestimmte Resultate aus seiner Beschäftigung mit der mo-dernen Literatur. Der oben schon erwähnte Gang an die Grenzen des Textes kann tatsäch-lich ein Schreiben sein, in dem sich der Autor - wie in einem Experiment - regelrecht imText verliert.

1.3 Dritter Thesenkomplex: Die Konstruktion von Begehrensverhältnissen einschließlich des Begehrens einer Arbeit an sich selbst

Als ein drittes Bündel wichtiger Überlegungen (und Texte) möchte ich Foucaults Ge-schichte der Sexualität nennen, vor deren Vollendung er 1984 starb. Es handelt sich um einGroßprojekt, das von einer Fülle kleiner Studien flankiert wird. Erschienen sind drei der geplanten fünf Bände, von denen der erste Band, Der Wille zum Wissen von 1976, sich mit dem ausgehenden 19. Jahrhundert beschäftigt, viele kritische Gegenwartsbezüge enthält und dem Gesamtprojekt als eine Art Leuchtrakete vorangeht. Der zweite und dritte Band erscheinen 1984 (Foucault 1986a; Foucault 1986b), also sechs Jahre später. Sie analysieren die Materiallage für die griechische und die römische Antike. Kleinere Schriften und Vor-lesungen lassen die Konturen eines vierten und fünften Bandes ahnen. Das christliche Mit-telalter und die im Deutschen so genannte frühe Neuzeit, also die Zeit der Staaten im 16. bis 18. Jahrhundert, wären möglicherweise ihre Themen gewesen. Der erste Band der Geschichte der Sexualität (die im Deutschen übrigens nicht Ge-schichte der Sexualität, sondern Sexualität und Wahrheit heißt) wirft erneut eine elementa-re Selbstverständlichkeit über den Haufen. Nach dem Wahnsinn, dem Schema Krank-heit/Gesundheit, nach dem Sozialen und dem Menschen analysiert Foucault nun das histo-rische Gewordensein einer „sexuellen“ (nämlich naturhaft-triebförmigen und auf die Re-produktion des Lebens bezogenen) Bedeutung der Geschlechter. Er zeigt überhaupt das historische Gewordensein der Sexualität: Sie ist Produkt der Normalisierungsanstrengun-gen des 19. Jahrhunderts. Als eine ähnlich paradoxe Sache wie die Delinquenz bringt der sozialtechnologische und sozialpädagogische Staat des 19. Jahrhunderts das Phänomen der „Perversion“ hervor, also die Idee der objektiven „Gefährlichkeit“ der sexuellen Abwei-chung. Das absonderliche Begehren stünde damit dem Verbrechen wie auch der Krankheit nahe. Waren in früheren Zeiten befremdliche Formen, sich Lust zu verschaffen, schlicht unmoralisch, so werden sie in der Moderne, im Zeitalter des Sozialen, pathologisiert – und die Betroffenen werden als Träger einer „kranken“ und womöglich ansteckenden falschen Sexualität ausgegrenzt. Jener neue Naturalismus eines tief verborgenen Sexuellen im Inneren des Menschen im19. Jahrhundert bringt neben dem Verdacht gegen die so genannten Perversionen weitere neue Verdachtsbereiche und auch Interventionsfelder hervor, denen sich das Erziehungs-wesen, die Medizin, die neu entstehende „Sexualwissenschaft“ und weitere professionelle Diskurse wie etwa die Sozialhygiene oder auch die Psychoanalyse intensiv widmen. Diese drei weiteren Interventionsfelder werden eröffnet erstens durch die Annahme, Kinder hät-ten eine eigene Sexualität, weswegen man für die Entwicklung eines „normalen“ kindli-chen Sexuallebens sorgen müsse - und die daraufhin einsetzende Kampagne gegen die ge-fährliche Onanie; zweitens durch die Annahme einer besonderen Struktur der weiblichenSexualität mitsamt der Annahme einer sexuell bedingten „hysterischen“ Natur der Frau; Sprengkraft von Archivarbeit 21

drittens durch die Annahme einer besonderen fortpflanzungshygienischen Bedeutung der ehelichen Sexualität, mit der Folge, dass das heterosexuelle Paar gleichsam als die Schar-nierstelle zwischen den Individuen und der Reproduktion der Gattung ins Zentrum der be-völkerungspolitischen Aufmerksamkeit und auch ins Zentrum bevölkerungspolitischer Maßnahmen rückt. Besonders genüsslich setzt sich Foucault mit der Bedeutung auseinander, die diese „Se-xualität“, dieser Dämon in unserem Inneren, für unsere Persönlichkeitsentwicklung angeb-lich haben soll. Der Wille zum Wissen nimmt die Psychoanalyse aufs Korn - ebenfalls ein Produkt des 19. Jahrhunderts. Das Sprechensollen vom Sex bzw. vom Geschlechtsleben, jene psychoanalytische „Kur“, mittels derer Freud zufolge das von uns verinnerlichte (krankmachende) Triebschicksal therapiert werden kann und überhaupt das Modell der in uns verborgenen Sexualenergien werden von Foucault mit polemischem Schwung entlarvt. Das Subjekt, das sich zum Herrn der eigenen Triebe machen soll und zum Herrn des Re-dens über die „eigene“ Sexualität, ist für Foucault keine befreiende Lösung, es ist vielmehr Teil des Problems. Eine weitere These aus der Wille zum Wissen schlägt eine Brücke zwischen dem Sexua-litätsproblem und der Ordnung der Dinge - der Geschichte der Biologie nämlich und der Entstehung der Sozialwissenschaft als Populationswissenschaft. Foucaults Stichworte lau-ten „Biopolitik“ und „Biomacht“. Aufgegriffen und diskutiert wurden sie übrigens mit Ver-spätung - nach der Veröffentlichung des Bandes In Verteidigung der Gesellschaft, der eine Vorlesungsreihe von Mitte der 1970er Jahre dokumentiert (Foucault 1999). „Biomacht“ nennt Foucault einen ganz bestimmten Machttyp, mit dem die eigentümli-che Bedeutung der Sexualität für die Moderne korrespondiert. Es handelt sich um eine Macht, die eine neue Form des Produktivmachens auftut: Nicht bloß - wie früher - die Ar-beitskraft, sondern buchstäblich der lebendige Lebensstoff ist nun dasjenige, worauf sich Herrschaftsmechanismen richten. Biomacht beutet nicht einfach arbeitende Individuen aus, sondern sie verbessert und steigert biologisches „Leben“. In ersten Ansätzen zeigt sich eine solche, auf biologische Werte abzielende Stoßrichtung von Politik mit der „guten Policey“, der frühen Wohlfahrtspolitik der europäischen Nationalstaaten des 18. Jahrhunderts. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts werden biomedizinische Bevölkerungspolitik, Paarpo-litik, Sozial- und Rassenhygiene das institutionelle Handeln des 19. Jahrhunderts geradezu prägen. Eugenik und Sexualität gehören ebenso zusammen wir biologisch codierter Ras-sismus und Sexualität. Die biologisch-reproduktive Dimension des Menschen im Individu-almaßstab, aber auch die biologische Qualität im Gattungsmaßstab werden regelrecht poli-tisiert. Und auch im 20. Jahrhundert ist das „Leben“ - und zwar das physische Leben, aus dem wir bestehen - geradezu die moderne politisch-technische Ressource überhaupt: EineSache, die man nicht nur bewahren, sondern verbessern, steigern - und durch Manipulation der Fortpflanzung und Vererbung, nicht nur ökonomisch, sondern biologisch profitabel machen kann. Der moderne, biologisch codierte Staatsrassismus der NS-Zeit und des Stali-nismus wie auch die zeitgenössischen Rassismen gehören hierher.1 Aber auch die ver-meintlich ganz normale Bevölkerungs- und biomedizinische Verbesserungspolitik moder-ner Demokratien trägt biopolitische Züge, die man von Foucault aus analysieren kann (vgl. Gehring 2006). Biopolitik - Foucault gibt diesem Wort weniger einen moralischen als vielmehr einen deskriptiven Sinn. Gemeint ist nicht einfach eine verkehrte Ethik, sondern eine neue Ökonomie der Wertsteigerung und der Qualitätsverbesserung, die auf biologi-sche Indienstnahmen des Einzelkörpers im Zeichen der public health und der "Qualität" der Reproduktion hinausläuft, aber keineswegs nur auf Repressionen, sondern auch auf ein 1 Vgl. dazu Magiros 1995 sowie den Beitrag von Angelika Magiros in diesem Band.

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neues System der Angebote und Chancen. Wer sich als biomedizinisch (etwa: genetisch) re-definierter Körper behandeln lässt, dem werden Qualitätskinder, präventiv erarbeitete Gesundheit und ein langes Leben winken. Wenigstens kurz sollte auch auf die Bände zwei und drei der Geschichte der Sexualität (Foucault 1986a; Foucault 1986b) eingegangen werden. Auf den ersten Blick behandeln sie ein abgelegenes Thema, nämlich das Reden über den Eros in der Antike sowie überhaupt antike Aussagen über die gute, gebotene Art des Umgangs mit sich selbst und dem eigenen Körper, denn dies ist das Themenfeld, in das die Frage nach der Liebe eingebettet ist. Auch Foucaults Bücher über die Antike sind vielfach missverstanden worden. Da hier von den körperlichen „Techniken“ eines guten Umgangs mit sich selbst die Rede ist, wurden Fou-caults Überlegungen als Rückkehr zum (zuvor verworfenen) „Subjekt“ oder auch zum„Menschen“ gedeutet. Die beiden Bücher könnten freilich genau umgekehrt gelesen wer-den: Sie behandeln nicht etwa das „doch“ vorhandene Subjekt, sondern sie behandeln die Frage, wie man in früheren Zeiten so etwas wie einen zunächst einmal nicht vorhandenen Subjektstatus auf instabile Weise erlangt - wie Subjekte sich also konstituieren können, al-lein durch das Gelingen bestimmter Praxisformen, die auch misslingen können. Foucault analysiert damit historische Formen einer „Subjektivierung“. Der dazu erforderliche Blick-winkel setzt Subjekte in keiner Weise voraus, daher mag er womöglich auf eine noch tie-fergehende Relativierung dessen hinauslaufen, was wir Ich oder Selbst zu nennen gewohnt sind, als die provozierende These vom Ende des Menschen. Die beiden Bände über die an-tiken Formen des Eros stellen das Gewordensein und die politische Bedeutung des körper-lichen Begehrens dar wie auch die politische Bedeutung der Art, in der dieses Begehren praktiziert wird - in Zeiten, in denen es eine „Sexualität“ und auch ein „Subjekt“ von Trie-ben eben gerade noch nicht gab. (vgl. Gehring 2002)

2 Foucaults Verfahrensweisen

Nach diesem Versuch, einige zentrale Themenkomplexe Foucaults zu ordnen, stellt sich die Frage nach dem Wie, nach Foucaults „Werkzeugkiste“, wie er selbst seine Arbeitsmittel etwas kokett genannt hat. Die Archäologie des Wissens legt sehr systematisch eine Metho-de zur „Aussagenanalyse“ dar und ein Aufsatz zu Nietzsche, Nietzsche, die Genealogie, die Historie (Foucault 2002, S. 166-191), wird in der Foucault-Literatur als eine Art indirektes Methodenprogramm Foucaults gelesen. Darüber hinaus gibt es wenige methodologische Texte Foucaults 1, sprechen wir also besser von einem „Verfahren“, von einem Vorgehen, das sich einen Teil seiner Regeln erst unterwegs erfindet, weil es problemorientiert ist und sich auf die konkreten Gegebenheiten eines Gegenstandsfeldes jeweils neu einrichten will. Ohne Zweifel ist Foucault ein „kritischer“ Denker - ein Kritiker der Psychiatrie und Biomedizin, der Soziologisierung, der Verpolizeilichung des Zusammenlebens, ein Kritiker auch der Kontrolle der Vielfalt individueller Lebensgeschichten im Zeichen der „Normali-tät“. Freilich kritisieren Foucaults Texte nicht einfach, indem sie kritische Wertungen äu-ßern würden - etwa im Stil einer „kritischen Theorie“ unserer heutigen durchrationalisier-ten Welt. Foucault bewertet die Verhältnisse, die er schildert, nicht – etwa als inhuman o-der als unwürdig. Eher schon setzt er unsere traditionellen Vorstellungen von Humanisie-rung einer Art Umkehrung aus: Das vermeintlich Humane der modernen Zeiten wird außer Wert gesetzt. Umgekehrt behauptet Foucault auch nicht, früher sei alles besser gewesen. 1 Empfehlenswert der kleine Text „Antwort auf eine Frage“ (Foucault 2001, S. 859-886), einschlägig auch: Foucault 1991. Sprengkraft von Archivarbeit 23

Vielmehr erscheinen alle historischen Epochen auf ihre Weise grausam. Man weiß nicht mehr, an welchen Fortschritt man glauben soll. Foucaults Bücher nehmen Partei für eineungeschriebene Geschichte. Sie bewerten jedoch nicht - oder so gut wie nicht. Ihr An-spruch lautet: Sie „zeigen“ lediglich „auf“. Sein Leben lang hat Foucault auf kaum etwas mehr Wert gelegt, als auf diesen An-spruch, kein moralischer Theoretiker zu sein - und auch kein „Kritiker“ im dialektisch-engagierten Sinn einer parteilichen Theoriebildung. Politisch engagierte Stellungnahmen gibt es von Foucault zwar viele - aber er beschränkt Aussagen diesen Typs strikt auf Äuße-rungen in Interviews. Aufsätze und Bücher halten Distanz. Sie forcieren Distanz, und ihr Anspruch ist es, historisch maximal genau zu bleiben. Er sei kein Philosoph, er sei Histori-ker, hat Foucault mehrmals betont. Er arbeite „positivistisch“. Oder, in einer berühmten i-ronischen Überbietungsformel: er sei ein „glücklicher Positivist“. In der Tat hat Foucault vor allem Geschichtsbücher geschrieben. Eine der wichtigen Er-fahrungen, die diese vermitteln, ist gleichwohl, dass Geschichte gar nicht vergangen ist, dass sie gegenwartspolitisch unmittelbar brisant sein kann. Diesen Effekt lohnt es sich ge-nauer zu beschreiben. Was ist so beunruhigend an der Einsicht, dass die Vernunft, so wie wir sie heute kennen, aus einem von dieser selbst angezettelten Krieg gegen die vielfältigen namenlosen Formen von etwas, das später „Wahnsinn“ heißen wird, entstand? Was irritiert am Gedanken des sozialstaatlichen Gewordenseins der „delinquenten“ oder auch der „se-xuellen“ Natur? Eine theoretisch aufgeschlüsselte, politisch durchdrungene Vergangenheit ist mit einem Schlag zu einem Raum geworden, in dem „es“ erst so kam - und in dem vie-les auch anders hätte kommen können. Die Vergangenheit verliert ihre vermeintlich hell er-leuchtete Selbstverständlichkeit. Sie ragt als zweifelhafte, dunkle und brutale Herkunft in die Gegenwart hinein - und eben dies taucht mit einem Schlag dann auch unsere Gegenwart in ein neues Licht. Foucaults Texte vermitteln einen scharfen Sinn für das (umkämpfte) Gewordensein dessen, was wir als für uns so und nicht anders normal und eigentlich auch notwendig hielten. Und sie legen präzise Spuren, entlang derer wir die heutigen Legitimie-rungsanstrengungen von Institutionen - Anstalt, Klinik, Universität, Gefängnis - als bloße Legenden einer ganz anderen, viel reicheren Vergangenheit lesen lernen. Als schlechte Zeugen der Macht. Es ändert unser Verhältnis zur Gegenwart, von der Geschichte des Un-möglichwerdens dessen zu wissen, was heute unmöglich ist. Dieses Wissen setzt etwas frei. Eben darin liegt jene Sprengkraft von Foucaults Arbeiten: Wiewohl sie eigentlich „nur“ unser Geschichtsbild ändern, werden sie zur politischen, zu brandaktuellen Provokation. Man nehme Wahnsinn und Gesellschaft zur Hand: Nicht nur eine groß angelegte Erzäh-lung darüber, wie unser rational und moralisch verallgemeinernder, zunehmend übergriffi-ger Umgang entstand mit jenem erstaunlichen, für moderne Vernunfterwartungen so hart-näckig unbegreiflichen Sosein der „Narren“ der alten Zeit - sondern auch eine Gegen-Erzählung zu jener Fortschrittsvernunft, auf deren Seite wir uns doch zuhause fühlen, der Vernunft also, die wir immer für die richtige und gute, „aufklärerische“ hielten. Plötzlich kehrt sich die Aufklärung um - und etwas noch tiefer Greifendes als nur eine „Dialektik“ der Aufklärung tritt zutage. Nämlich der Zynismus und im Grunde auch die intellektuelle Armut jenes imposanten Gefüges von Vernunft-Ordnungen, das wir „neuzeitliche Rationa-lität“ oder „Aufklärung“ nennen. Es sind traurige Vernunft-Ordnungen, die in sich selbst kreisen, auch wenn gerade die wissenschaftlichen Formen der Vernunftkultur durchaus faszinierende Blüten treiben. Der „Wille zum Wissen“ und der „Wille zur Wahrheit“ sind in der abendländischen Reflexionskultur ungemein kreativ geworden. Foucault zeigt auch dies auf faszinierende Weise. Aber was wir vor uns haben - und darauf kommt es an - ist eine Kreativität der Macht.

Referenzen

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