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D Notfälle und ihre Versorgung in historischerund soziologischer Perspektive Einleitung

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Notfälle und ihre Versorgung in historischer

und soziologischer Perspektive

ie gesundheitliche Versorgung von Notfällen bildet heute einen Tätigkeitsbereich des medizinischen Teilsystems.1 Wer plötzlich schwer erkrankt oder mit größeren Verletzungsfolgen in einen Unfall verwickelt wird, kann in der Regel erwarten, daß be-stimmte Akteure und Institutionen dieses Systems mit ihm in Verbindung treten, damit eine stabilisierende Erstversorgung und schließlich eine Heilbehandlung eingeleitet werden kann. Gegenüber der allgemeinen Krankenbehandlung im medizinischen System ist der Notfall durch drei Kennzeichen abgegrenzt: die Einschränkung der Wahlfreiheit des Be-troffenen; die dringende Angewiesenheit auf Initiative unmittelbar Beteiligter und eine Eigenaktivität der versorgenden Institutionen und Akteure. Diese besonderen Merkmale legen nahe, daß die Versorgung von Notfällen historisch andere Prozesse voraussetzt als die Therapie prozessualer Erkrankung. Nicht nur das Ereignis selbst ist kontingent – son-dern ebenso die für den Betroffenen nötigen Formen der Bearbeitung. Das Ereignis ist dringend – und ohne Zeitverzug muß auch die Hilfe einsetzen. Und schließlich läßt der Notfall im Gegensatz zur Krankheit keine Wahl. Im Fall einer Erkrankung kann ein Mensch entscheiden, ob sie oder er überhaupt fremde Hilfe in Anspruch nehmen will; auch eine Bitte von Beobachtern: „nun geh doch mal zum Arzt!“ führt noch längst nicht in die Sprechstunde oder anderen Anlaufpunkten medizinischen Systems. Und selbst wenn Behandlung gewählt wird, kann jemand noch immer entscheiden, wer zur Behand-lung herangezogen werden soll, es müssen dies keineswegs Dienstleister aus dem medizi-nischen System im engeren Sinne sein. Die Entscheidungsfelder lassen sich fortsetzen. Für den Notfall fehlen solche Alternativen. Dieser Sachverhalt wird auf Seiten des bear-beitenden medizinischen Teilsystems durch besondere Funktionsrollenzuschreibung, In-stitutionalisierung und Organisation beantwortet. Deren Gesamtheit läßt sich unter dem Begriff „öffentliche Notfallversorgung“ zusammenfassen. In Deutschland ist diese Not-fallversorgung in zwei parallelen, z. T. sich ergänzenden Organisationsformen institutio-nalisiert.

Parallele Versorgungsmodelle

Den einen Teil bildet der „Ärztliche Notfalldienst“2. Dabei handelt es sich grundsätzlich um einen Bereitschaftsdienst niedergelassener Ärzte, mit dem während der allgemein sprechstundenfreien Zeiten die Versorgung dringender Erkrankungsfälle sichergestellt

1 Das Attribut „medizinisch“ wird in dieser Arbeit nicht im engeren klinischen Sinne verstanden, sondern als „Gesamtkomplex von Wissen, Forschung, Ausbildung und Behandlung, für den Leistungsabgabe eine Form der Regelung von System/Umwelt-Beziehungen ist.“ (Stichweh, R.: Inklusion... (1988), S. 263.) 2 Dieser ist nicht identisch mit dem Funktionsdienst des „Notarztes“.

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werden soll:3 Der Dienst ist dann zuständig, wenn die Inanspruchnahme ärztlicher Hilfe „dringend erforderlich [...] und der behandelnde Arzt [...] nicht erreichbar ist“4. Der Be-reitschaftsarzt hat die Aufgabe, „Krankheits- und Unglücksfälle aus vitaler Indikation zu versorgen und lebenserhaltende Maßnahmen zu veranlassen“5; eine besondere Schulung wird dazu nicht vorausgesetzt.6 Daher sind nach der Berufsordnung prinzipiell alle nieder-gelassenen Ärzte zur Mitarbeit in dieser Bereitschaft verpflichtet.7

Die zweite Organisationsform besteht im „öffentlichen Rettungswesen“ mit dem Kernbe-reich des Rettungsdienstes.8 Die Literatur differenziert die Aufgaben des Rettungsdienstes gegenüber dem ärztlichen Notfalldienst nur unscharf, als resultierte die Abgrenzung vor allem aus Traditionen der Praxis.9 Z. B. besteht außerhalb der allgemeinen Sprechstun-denzeiten eine theoretische Überlagerung von Aufgabenzuschreibungen des Rettungswe-sens und des Ärztlichen Notfalldienstes. Es gibt aber Merkmale und Aufgabenfelder des Rettungswesens, die eine formale Unterscheidung klar zulassen. Das betrifft die Funktion innerhalb des medizinischen Teilsystems, es betrifft die Organisation und, verbunden mit beidem, die historischen Entstehungszusammenhänge.10 Nur das Rettungswesen als Be-standteil des Teilsystems Medizin nimmt eine Funktion tendenziell exklusiv war, weshalb es uns in ganz bestimmter Weise organisatorisch und institutionell ausdifferenziert gegen-übertritt. Das Rettungswesen hat zwar grundsätzlich, hierin noch dem Notfalldienst ähn-lich, die Aufgabe, Menschen, „die sich in Lebensgefahr befinden oder bei denen schwer-wiegende gesundheitliche Schäden zu befürchten sind“11, medizinisch zu versorgen. Ge-genstand dieser Versorgung ist jedoch nicht eine eingeschränkte Tätigkeit in Stellvertre-tung eines temporär nicht verfügbaren Angebotes, wie dies beim Ärztlichen Notfalldienst Sachverhalt ist. Das Rettungswesen hat vielmehr darüber hinaus die Aufgabe, die Trans-portfähigkeit von Notfallpatienten herzustellen „und sie unter Aufrechterhaltung der

3 Cf. Mötzung, O.: Der ärztliche Notfalldienst... (1976), S. 2, Anm. 1. 4 Ebda., S. 3.

5 Laufs, A.: Arztrecht... (1988), S. 44.

6 Cf. das Grundsatzurteil des BSG, nachgew. bei: Ebda., S. 44, Anm. 9. Ferner: Narr, H.: Ärztliches Be-rufsrecht... (1973), S. 134.

7 Cf. Zitate und Synopse der Berufsordnungen bei: Mötzung, O.: Der ärztliche Notfalldienst... (1976), S. 10ff. und Narr, H.: Ärztliches Berufsrecht... (1973), S. 133; ferner die Verweise bei: Laufs, A.: Arztrecht... (1988), S. 44, Anm. 8. Laufs’ begriffliche Differenzierungen sind nicht scharf. So spricht er parallel von Notarztdienst, ärztlichen Notfalldienst und qualifiziertem ärztlichen Rettungsdienst, mit de-nen er dieselben aber auch verschiedene Dinge bezeichde-nen kann. (Cf. ebda., S. 43f.)

8 Zum hier verwendeten theoretischen Zugriff bemerkenswert anschlußfähig die begriffliche Fassung von Biese (die allerdings nicht soziologisch reflektiert wird): „Das Wort ,Rettungswesen‘ bietet sich wie kein anderes zur Verwendung als Komplex- oder Systembegriff an, wenn es gilt, eine Menge unterschiedlich-ster Aktivitäten mit zwar verschiedenen Aufgaben, aber letztlich gleichgerichteter Zielrichtung [...] zu verbinden.“ (Ders.; Lüttgen, R. (Hg.): Handbuch Rettungswesen, LsB... (1974 pass.), Bd. 1, A1, S. 1. Die-se Definition stammt von 1997.) In der verarbeitenden Literatur liegt ein einheitlicher Begriff gleichwohl nicht vor; das Lehrwerk „Rettungswesen“ von Lippert und Weissauer definiert genauer nur die dazu ge-zählten Inhalte, nicht die Gesamtheit. In der neuern, vor allem Gesetzesliteratur wird Rettungswesen zu-nehmend begrifflich überführt in Rettungsdienst (cf. z. B.: Prütting, D.; Mais, H. (Bearb.): Rettungsgesetz NRW... (1995)).

9 Cf. Lippert, H.-D.; Weissauer, W.: Rettungswesen... (1984), S. 8f.

10 Zwar gewinnt ein Funktionssystem keine Einheit in einer Organisation (cf. Luhmann: Gesellschaft der Gesellschaft... (1997), S. 241.); aber die hier erkennbare Parallelität von Notfalldienst und Rettungswesen legt die Wahrscheinlichkeit nahe, daß es sich um Funktionsdifferenzen handelt, die über diesen Sachver-halt hinausgehen.

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Transportfähigkeit und Vermeidung weiterer Schäden mit Notarzt oder Rettungswagen [...] in ein für die weitere Versorgung geeignetes Krankenhaus zu befördern.“12

Rettungswesen bzw. Rettungsdienst haben in vieler Hinsicht eine höhere Priorität als der Ärztliche Notfalldienst: Innerhalb des medizinischen Systems besteht schon theoretisch gegenüber der relativ isolierten Versorgung eines Notfallpatienten durch den Ärztlichen Notdienst das höhere Interesse darin, Patienten in Versorgungszentren zu befördern. Akteure und Institutionen dieser Organisationsgesamtheit wären also in der Lage, die Aufgaben des Notfalldienstes weitgehend zu integrieren.13 Umgekehrt wäre dies nicht möglich.

Ein weiterer Grund für die höhere Priorität liegt darin, daß das Aufgabenfeld des Ret-tungsdienstes historisch stärker als der Ärztliche Notfalldienst auf ein Spektrum bezogen ist, das juristisch unter dem Begriff des „Unglücksfalles“ gefaßt worden ist. Hierunter werden „plötzlich eintretende Ereignisse, die erhebliche Gefahren für Menschen oder Sachen hervorrufen“14 verstanden. Im Einzelfall kommt damit auch die plötzliche Ver-schlimmerung einer Krankheit in Betracht, für die auch der ärztliche Notdienst traditionell zuständig wäre. Exogene Ereignisse wie Verkehrsunfälle stehen jedoch in der historischen Aufgabenzuschreibung eindeutig im Vordergrund, für deren Versorgung praktisch nur der Rettungsdienst in Frage kommt.15

Und schließlich resultiert die institutionalisierte Parallelität von Ärztlichem Notfalldienst und Rettungswesen maßgeblich aus ökonomischen Kontroversen innerhalb des medizini-schen Teilsystems. Sie ist nicht auf die Anschlußlogik des Teilsystems selbst gerichtet,16 sondern steht im wesentlichen in der Tradition ärztlicher Konkurrenz und des Widerstan-des gegen Krankenkassen. Unter Rückgriff auf die seit Ende der Weimarer Zeit und im NS-Staat vollzogene Gesetzgebung wurde deshalb der Notfalldienst in den 50er Jahren re–institutionalisiert.17 Im engeren Untersuchungszeitraum des späten 19. Jahrhunderts hingegen gibt es zwar bereits wiederholt Formen eines ärztlichen Bereitschaftsdienstes, doch bildet dieser meist ein situatives Angebot im sich erst ausdifferenzierenden Feld der

12 Prütting, D.; Mais, H. (Bearb.): Rettungsgesetz NRW... (1995), S. 28f.; hier steht statt „Rettungswesen“ der Begriff „Notfallrettung“.

13 In diesem Zusammenhang schreibt Lippert den Rettungsleitstellen zentrale Funktion zur Konfliktregulie-rung vor, indem sie beide Dienste so koordiniert, „daß positive und negative Kompetenzkonflikte ver-mieden werden“. (Ders.; Weissauer, W.: Rettungswesen... (1984), S. 9)

14 Zit. nach: Laufs, A.: Arztrecht... (1988), S. 46.

15 Cf. auch Biese, A.; Lüttgen R. (Hg.): Handbuch Rettungswesen, LsB... (1974 pass.), Bd. 1, A1, S. 2. 16 Zum Begriff der Anschlußfähigkeit siehe die theoretischen Erörterungen unten.

Das Rettungsgesetz NRW spricht z. B. im Zusammenhang mit dem Ärztlichen Notdienst nur vom handlungsauslösenden „Notfall“, hinsichtlich der Inanspruchnahme des Rettungsdienstes jedoch exklusiv vom „Notfallpatienten“: Dies sind „Personen, die sich infolge von Verletzung, Krankheit oder sonstiger Umstände entweder in Lebensgefahr befinden oder bei deren Schwere gesundheitliche Schäden zu be-fürchten sind, wenn sie nicht unverzüglich medizinische Hilfe erhalten.“ (Prütting, D.; Mais, H. (Bearb.): Rettungsgesetz NRW... (1995), S. 29.)

17 Cf.: Göckenjan, G.: Lohnsklaven und Pfennigkulis... (1987), S. 33f.; Francke, R.: Ärztliche Profession... (1987), S. 78f.; Feige, L.: Interessen in der Gesetzlichen Krankenversicherung... (1980), S. 89f. Der stan-despolitische Stellenwert des Notfalldienstes wird in einem Memorandum des Dt. Ärztetages von 1986 deutlich. Dort heißt es: „Der Notfalldienst der niedergelassenen Ärzte geht von dem bestehenden System der ambulanten ärztlichen Versorgung durch freiberuflich tätige Ärzte aus. Die Verantwortung für die ambulante Behandlung bleibt daher auch in Notfällen primär beim behandelnden niedergelassenen Arzt. || Kein niedergelassener Arzt kann jedoch das ganze Jahr über ohne Pause rufbereit sein“. (Zit. nach: Biese, A.; Lüttgen, R. (Hg.): Handbuch Rettungswesen, LsB... (1974 pass.), Bd. 1, A. 1.5, (Ergänzung 1987), S. 1–3, hier S. 1.

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Notfallversorgung.18 Der Begriff Notfallversorgung wird also von uns zunächst allgemein verstanden; er kann von Fall zu Fall Notfalldienst und Rettungswesen einschließen.

Theoretische Einordnung

Die Geschichte der medizinischen Notfallversorgung wird in dieser Arbeit in sozialhisto-rischer und soziologischer Perspektive dargestellt und begriffen. Soziologisch beschreiben wir den Gegenstand als Prozeß innerhalb der Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilsy-steme. Wir gehen dabei von einer Verbindung system- und akteurtheoretischer Theorie-modelle aus.19 Auf der analytischen Ebene folgt dieser integrierende Ansatz einerseits der Luhmannschen Konzeption, in der Gesellschaft durch Beziehungen von Systemen und deren jeweilige System-Umwelten entworfen wird. Diese Systeme monopolisieren im Pro-zeß ihrer Ausdifferenzierung Funktionen, die sie gegenüber ihren Umwelten sinnhaft ab-grenzen, und über die sie von ihren Umwelten zur gegenseitigen Kommunikation instru-mentalisiert werden (können). Jedes Teilsystem entwickelt bei erfolgreicher Ausdifferen-zierung einen autonom wirksamen „binären Code“, an dem es seine Kommunikationen sowohl nach innen als auch in Hinsicht auf seine Umwelten sinnhaft orientiert. Dieser Code lautet z. B. für das Wirtschaftssystem „zahlen / nicht zahlen“, Forschung basiert maßgeblich auf dem Code des Wissenschaftssystems („wahr / unwahr“) &c. Das medizi-nische Teilsystem tritt dort in Erscheinung, wo Systeme über die Codierung krank / ge-sund miteinander in Kommunikation treten.20 Eine historische Darstellung steht bei der Anwendung dieses systemtheoretischen Modells allerdings vor dem Problem, daß dessen von Selbstreferentialität und autopoietischer Ausdifferenzierung geprägte Metaperspektive individuelle oder kollektive Akteure und deren personale Interaktionen ganz bewußt aus-blendet.21 Die Gründe, die hierfür vorgebracht worden sind, erscheinen im rein disziplinä-ren Bezug plausibel. Luhmann vertrat die Ansicht, daß die für ihn nicht theoretisierbare Vielheit von Handlungen – die er im Effekt als aggregierte Kommunikationen betrach-tet – nur im einzelnen historisch nacherzählt werden könnten.22 Demgegenüber vertritt Schimank die Position, daß eine solche Sichtweise „defätistisch“ auf eine sehr wohl mögli-che Theoretisierung verzichte.23 Demnach läßt sich die Interaktion von personalen und kollektiven Akteuren und deren Bezügen gegenüber Institutionen auf drei Ebenen abstra-hieren: der Wollens-, Könnens- und Sollens-Ebene.24 Wir folgen dieser Perspektive:

18 Im Vergleich von Berlin und Leipzig wird dies besonders deutlich. Hier kommt es zur Ausbildung von Parallelmodellen, von denen jedoch das medizinische System nur die Organisation des klinisch zentrier-ten Rettungswesens etablieren kann.

19 Cf. den grundlegenden Diskussionsbeitrag von: Schimank, U.: Der mangelnde Akteurbezug... (1985); in dieser Perspektive auf Luhmanns „neue“ Systemtheorie eingehend: Ders.: Teilsystemevolutionen und Akteurstrategien... (1995) und: Ders.: Code – Leistungen – Funktion... (1998). Zum allgemeinen Theorie-konzept (dessen Begriffe bei Schimank allerdings deutlich trennschärfer herausgearbeitet sind): Mayntz, R.: Funktionelle Teilsysteme... (1988) (zur begrifflichen Unschärfe cf. Ebda., S. 19f.), und: Dies.; Scharpf, F.: Akteurszentrierter Institutionalismus... (1995). Ein vergleichender, knapper Überblick bei: Schimank, U.: Theorien gesellschaftlicher Differenzierung... (1996), S. 241–59.

20 Luhmann spricht alternativ vom medizinischen System oder medizinischem Teilsystem; aus stilistischen Gründen schließen wir uns dem an.

21 Cf. bes.: Schimank, U.: Teilsystemevolutionen und Akteurstrategien... (1995). 22 Ebda., S. 84f.; Luhmanns Position bereits in: Ders.: Warum AGIL?... (1988). 23 Cf. Schimank, U.: Teilsystemevolutionen und Akteurstrategien... (1995).

24 Dieser Ansatz ist von Schimank am konsequentesten bisher für Bereiche des politischen Teilsystems weiterverfolgt worden (cf. z. B. Ders.: Determinanten sozialer Steuerung... (1992)), wo wir auch weitere

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ben systemtheoretischer Argumentation auf der Metaebene verwenden wir den von Schi-mank vertretenen Ansatz für die Darstellung der historischen Interaktionen von Akteuren. Die Argumentation mit den interaktionistischen Begriffen des Akteurkonzeptes wird da-bei als strukturierende Hilfe, nicht als geschlossener Entwurf, verwendet.

Die Fachliteratur zum Rettungswesen vertritt weitgehend die Auffassung,25 daß es erst die wachsende Ausdifferenzierung der Akutmedizin sowohl als Forschungs- wie Praxisfeld seit den 1960er Jahren es ermöglicht habe, von der „samaritanen Aufgabe“26 gegenüber dem Verunglückten zu einer hochqualifizierten präklinischen Versorgung des Patienten überzugehen; deshalb könne man für die Vorkriegszeit von einer ernstzunehmenden Not-fallversorgung kaum sprechen.27 Aus der wissenschaftlich-medizinischen Binnenperspek-tive mag eine solche Beurteilung gerechtfertigt sein. Unsere Studie richtet sich demgegen-über auf die historische Ausprägung eines systemisch organisierten Rettungswesens. Die heutige Notfallversorgung repräsentiert danach eine Leistungssteigerung innerhalb des medizinischen Teilsystems, die wesentlich bis zum Vorabend des Ersten Weltkrieges aus-gestaltet wurde. So gewinnt auch hier der Sachverhalt an Gewicht, daß „die Ausdifferen-zierung spezifischer Funktionssysteme dazu führt, daß auf sie gerichtete Ansprüche pro-voziert werden, die, da sie die Funktion in Anspruch nehmen, nicht abgewiesen werden können.“28 Deshalb erscheint plausibel, daß die aktuellen Eigendarstellungen des System-verbundes Rettungswesen geschichtslos ein so starkes Gewicht auf die ständig erweiterten Leistungen der Notfallmedizin legen:29 in der Tat stellen diese innerhalb einer zuvor grundsätzlich etablierten Kommunikations- und Aktionsstruktur die eigentlichen Merk-male autopoietischer Evolution dar, die grundsätzlich nicht mehr durch konträre Orientie-rungen anderer Teilsysteme blockiert wird: „Wenn einmal ein Teilsystem [...] im Hinblick auf eine spezifische Funktion ausdifferenziert ist, findet sich in diesem System kein An-haltspunkt mehr für Argumente gegen die bestmögliche Erfüllung dieser Funktion.“30 Notfallrettung und Rettungswesen bilden das Resultat einer Ausdifferenzierung des Sy-stems der Krankenbehandlung.31 Dieses System hat als ein autonomes Funktionssystem der Gesellschaft die Bearbeitung von Krankheitsereignissen weitgehend monopolisiert: Niemand kann „außerhalb des Systems der Krankenbehandlung gesund werden – es sei denn unbemerkt und von selber.“32 Dieses Teilsystem orientiert sich an der Leitcodierung Beiträge von Renate Mayntz und Fritz Scharpf finden. An der analytischen Durchführung des Modells ist ebenso z. B. orientiert Irene Dingeldeys Studie zu Arbeitsbeziehungen in Großbritannien (1995). 25 Eine explizite Ausnahme bilden hier die Veröffentlichungen von L. Brandt (cf. unten, Anm. 71). 26 Gorgaß, B.; Ahnefeld, F.W.: Rettungsassistent... (1993), S. 12.

27 Cf. z. B. Biese, A.; Lüttgen R. (Hg.): Handbuch Rettungswesen, LsB... (1974 pass.), Bd. 1, A1–A2.; Lip-pert, H.-D.; Weissauer, W.: Rettungswesen... (1984); Schuster, H.-P.: Notfallmedizin... (1989).

28 Luhmann, N.: Gesellschaftliche Differenzierung und Individuum.. (1995), S. 140.

29 Cf. die Aufgabenbeschreibung von präklinischer Notfallrettung bei Prütting, D.; Mais, H. (Bearb.): Ret-tungsgesetz NRW... (1995), bes. S. 30–33.

30 Luhmann, N.: Anspruchsinflation... (1983), S. 29. Die These von der bestmöglichen Erfüllung ist aller-dings von Luhmann selbst wiederholt revidiert worden, da sie innerhalb des evolutionären Konzeptes nicht haltbar erscheint. Daß Funktionsübernahme nicht gleichbedeutend ist mit Leistungsoptimum zeigt unsere Untersuchung des Leipziger Beispiels. Cf. auch unten, S. 18.

31 Cf. Luhmann, N.: Der medizinische Code... (1990), S. 183.

32 Ebda., S. 184. Diese Sichtweise kritisiert Jost Bauch (Gesundheit als sozialer Code... (1996)). Zwar spricht auch Luhmann bereits in der Soziologischen Aufklärung davon, daß es „nur eine Gesundheit, aber viele Krankheiten gebe“. Bauch ist jedoch der Ansicht, daß Luhmann in bezug auf diese Aussage ein wesentli-ches Problem in der gesellschaftlichen Verarbeitung von Krankheit und Gesundheit nicht weiter verfolgt

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von krank / gesund. Erst sie macht das medizinische System als Funktionssystem an-schlußfähig und versetzt es in die Lage, Krankheit als kontingentes Ereignis zur Bearbei-tung zu entwerfen. 33 Im Zusammenhang mit organisierter Notfallversorgung verengt sich der operativ anschlußfähige Wert der Codierung auf die besondere Form lebensbedrohli-cher Erkrankung34 – sie stellt im theoretischen Verständnis die reinste Form von „krank“

dar.35 Denn das System der Krankenbehandlung kommuniziert vorrangig in Hinsicht auf Krankheiten, die weniger als Zustand, sondern als Ereignis definiert werden müssen, bei dessen Eintritt, wie Luhmann formuliert, sich „die ganze Welt im Körper zusammen-zieht“. Insbesondere „Krankheiten oder Verletzungen, die sich als Schmerzen anzeigen, haben von daher eine durchschlagende, nicht terminierte Priorität.“36 Sie sind es, die keine Wahl lassen, und die die Autonomie des medizinischen Funktionssystems begründen: Dem betroffenen Subjekt bleibt keine Option, die unmittelbare schmerzhafte Körper-wirklichkeit zu ignorieren. Die Ausdifferenzierung der Notfallversorgung ist als Idee des-halb historisch dem Vorgang benachbart, in dem das medizinische System etwa seit dem 18. Jahrhundert die Kategorie der akuten Erkrankung und lebensbedrohlichen Verunglük-kung entwirft.

habe. Demnach müsse nämlich „Krankheit“ in vielen Fällen längst als eine medizindiagnostisch unsi-chere Seinsbeschreibung interpretiert werden, die nicht mehr nur am Paradigma naturwissenschaftlicher Körpermedizin festgemacht werden kann, und die deshalb nicht mehr nur in die operative Zuständigkeit des klassischen Systems der Krankenbehandlung fällt. Damit sind z. B. Dispositionen und Zustände von Physis und Psyche gemeint, die nicht allein durch eine Operation des medizinischen Systems bearbeitet werden können: Dieses Teilsystem ist ihnen gegenüber funktional nämlich nicht (mehr) in der Lage, ei-nen Wert „gesund“ zu bestimmen, da der aus der klassischen Definitionsmacht des medizinischen Teilsy-stems bezogen werden müßte.

33 Im Unterschied zu anderen Teilsystemen operiert das medizinische System also mit dem Negativwert „krank“. H. Schneider hat dies drastisch in einem fiktiven Arzt-Patient-Gespräch verarbeitet: „Ihre Ge-webeproben sind zurückgekommen. Positiv. [Der Patient freut sich] – Positiv heißt: Sie haben Krebs.“ (Schneider, H.: Faulskämper beim Internisten... o. J.); Luhmann bezeichnet dies als „perverse Vertau-schung der Werte“: „Der Vergleich mit anderen Funktionssystemen erhärtet diese Absonderlichkeiten. Man versucht, Recht zu bekommen, nicht Unrecht. Man bekommt etwas nur, wenn man zahlt; aber nicht, wenn man nicht zahlt. [. . .] Im Funktionsbereich der Medizin liegt dagegen das gemeinsame Ziel von Ärzten und Patienten nicht auf der Seite, die über Handlungsmöglichkeiten informiert, sondern im negativen Gegenüber. Die Praxis strebt vom positiven zum negativen Wert“. (Luhmann, N.: Der medizi-nische Code... (1990), S. 187); schon früher: Ders.: Anspruchsinflation... (1983), S. 30, Anm. 31. Die Pa-rallele zum Rechtssystem ist also nur vordergründig (auch Juristen leben weitgehend davon, daß Unrecht geschieht): „Mandanten und Patienten sowie Rechtsanwälte und Ärzte streben nach gesellschaftlich posi-tiv Bewertetem, nämlich nach Recht bzw. nach Gesundheit. Das Recht aber, und nicht das Unrecht, ist in der Rechtswissenschaft aufgefächert, ist Lehrbuchgegenstand und informiert über Handlungsmöglich-keiten. In der medizinischen Wissenschaft werden dagegen die Krankheiten aufgefächert, wird darüber geforscht und informiert, wie die Krankheiten beschaffen sind und was man im Krankheitsfalle tun kann, um zu heilen“. (Stollberg, G.: Medizinsoziologie. (Im Druck), Kap. 8.)

34 Hingegen besteht ein besonderer Negativwert nicht: Notfallversorgung bildet eine Erweitung der An-schlußmöglichkeiten an „krank“, die wiederum folgerichtig an den übergeordneten Ausschlußwert „ge-sund“ zielt. Hier gilt klassisch: „Es gibt viele Krankheiten und nur eine Gesundheit.“ (Luhmann, N.: Der medizinische Code... (1990), S. 187.)

35 Luhmann selbst trifft diese Unterscheidung nicht, meint aber gleichwohl in der Tendenz immer eher den Notfall als andere Krankheitsereignisse; z. B. einmal zumindest negierend: „Das was nach traditionellen Kriterien als gesund (nicht akut krank) zu gelten hat...“ (Ebda., S. 193). Zur Gleichsetzung von „akut“ und „Notfall“ s. das Folgende.

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Akute Erkrankung und Notfall

„Akut“ läßt sich nach gängiger medizinischer Definition übersetzen mit „plötzlich auftre-tend oder rasch verlaufend“37. Lexikalisch ist das Adjektiv schon um 1730 gebräuchlich. So lesen wir bei ZEDLER, es werde darunter „in der Medicin insgemein dasjenige verstan-den, was schleunig und mit Heftigkeit oder Gefahr beweget oder angreift, und wird von denen, sowol nicht natürlichen, als widernatürlichen Dingen gesagt; am öftersten aber wird es von Kranckheiten verstanden.“38 In diesem Verständnis wird es auch verwendet, um die funktionale Neuartigkeit von Kliniken gegenüber den traditionellen Hospitälern zu bezeichnen: 1797 begründet die medizinische Fakultät eine solche Einrichtung im Leipzi-ger St.-Jakobs-Hospital damit, daß die Eigenart der dort zu versorgenden Krankheitsfälle „wegen der geschwinderen Veränderungen[,] denen sie ausgesetzt“ seien, eine besondere Einrichtung und stetige Beobachtung durch den Arzt erforderten. Der Zweck eines sol-chen klinissol-chen Instituts richtet sich „vorzüglich auf fieberhafte Krankheiten, die man

morbos acutos nennt.“39 Die begriffliche Trennung bezeichnet deutlich die Aufgabe des neuen Krankenhauses als einer Institution, die zum Ort für heilbare Kranke erklärt wird. „Akut“ ist aber damit auch historisch nicht einfach eine Abgrenzung gegen das „Chroni-sche“40, sondern gegen das Prozessuale und das damit gekoppelte Gewohnte. Schon im klinischen Kontext tritt etwas hinzu, das für unseren Kontext wesentlich ist: Der als akut verstandene Fall ist gekennzeichnet durch die Änderung der Qualität eines gewohnten körperlichen Zustandes (ob zuvor integer oder bereits beeinträchtigt, ist zunächst uner-heblich) in eine tendenziell lebensbedrohliche Richtung, die deshalb spezifische Gegen-maßnahmen erfordert.41 Damit aber weist hier der Begriff „morbus acutus“ über den en-geren klinischen Verständniszusammenhang hinaus. Er bezeichnet ein neuartiges Selbst-verständnis des medizinischen Systems gegenüber dem Wesen und der Therapierbarkeit von „Krankheit“ bzw. Erkrankung.

Diese Veränderung wird zunächst begrifflich oszillierend und wenig konsequent verar-beitet. Wir finden vor allem im Zusammenhang mit der Medizinalstatistik des 18. Jahr-hunderts neben den traditionalen Krankheitsgruppen nun nicht mehr nur Todesfälle, son-dern Rubriken wie die „plötzliche Erkrankung“ oder „Verunglückung“, die „Erkrankung durch plötzlichen Zufall“, die „zufälligen Verunglückungen“ &c.42 Dies bezieht sich alles noch auf Fälle mit tödlichem Verlauf, und es bedeutet auch noch nicht, daß das medizini-sche System hier bereits praktimedizini-sche Anschlußfähigkeit sucht. Aber zunehmend setzt eine Reflexion über die Besonderheiten und Anforderungen solcher Fälle ein, die schließlich eine neuartige Initiative des medizinischen Systems befördert.

Für diesen von prozessualer Erkrankung unterschiedenen Typus von „Krankheit“ ver-wenden wir im folgenden auf analytischer Ebene die Bezeichnung „akzidenteller Akut-fall“. Damit wird zum einen an den historischen Kontext der begrifflichen Differenzie-rung dieses Erkrankungstyps – „morbos acutos“ – erinnert. Das Attribut „akzidentell“ soll zugleich den Ereignischarakter gegenüber dem allgemeinmedizinischen Begriff der

37 So ZETKIN/SCHALDACH, 7. A (1985), Stw.: „akut“. 38 ZEDLER..., Bd. 1 (1732), Art. „acutus“, Sp. 437.

39 Platner, E.: „Plan zu der Einrichtung eines klinischen Instituts in dem Jacobs-Spitale zu Leipzig“ v. 26.9.1797, zit. nach der Abschrift bei: Schilling, E.: St. Jakob... (1939), S. 89–101, hier: S. 91. (Hervorh. in der Abschrift unterstrichen; JG.)

40 Dieses Antonym bei: ZETKIN/SCHALDACH, 7. A (1985), Stw.: „akut“.

41 In diesem Verständnis auch: Stolberg, M.: Patientenschaft und Krankheitsspektrum... (1993), z. B. S. 20. 42 Wir dokumentieren dies ausschnitthaft lexikalisch im Anhang.

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krankheit absetzen. Die semantische Nähe zu engl. accident ist damit impliziert, doch die Morphologie setzt das Attribut wiederum davon ab: der akzidentelle Akutfall bezeichnet eben nicht nur unfallbedingte Fälle, sondern bezieht die Bedeutung ein, die sich in der historischen Berufsbezeichnung des „Akzidentiensetzers“ noch im 19. Jahrhundert nie-derschlägt. Damit möchten wir eine Verengung umgehen, die zuletzt auch Roger Cooter und Bill Luckin in „Accidents in History“ nicht vermieden haben: Mit ihrer weitgehenden Gleichsetzung von lat. accidens und engl. accident43 als plötzlicher Traumatisierung (im Sinne von Unfall) blenden sie andere Formen44 von Zuschreibungen aus, die sich nicht auf von außen wirksam werdende Ereignisse, sondern auf endogene Vorgänge (etwa Er-krankungen oder deren Verschlimmerungen) beziehen.45

Da in der historischen Darstellung dieser analytische Begriff sehr abstrakt wirkt, verwen-den wir in synonymer Funktion auch die Bezeichnung „Notfall“ oder „medizinischer Notfall“.46

Aufbau der Arbeit

Unsere Arbeit zeichnet die Ausdifferenzierung und organisatorische Institutionalisierung medizinischer Akutversorgung in zwei Schwerpunkten nach:

Im ersten Teil wird dargestellt, wie das medizinische System seit Mitte des 18. Jhdts. auf die Zumutung des politischen Systems reagiert, an der Lebensrettung zufällig Verun-glückter mitzuwirken. Hier sind einerseits theoretische Eigenleistungen des medizinischen Systems von Bedeutung; andererseits motiviert erst Leistungsanforderung der Staatwissen-schaften die Funktionsträger des medizinischen Systems, theoretische Erkenntnisse in die Praxis umzusetzen: Lebensrettung erscheint geboten im Zuge der Peuplierung. Indem wir die Interaktionen zwischen politischem und medizinischen System verfolgen, können wir dann darstellen, wie sich die systemische Zuordnung des (tödlich) „zufällig Verunglück-ten“ verändert: In der kameralistischen Statistik als forensische Kategorie verwendet (zur Abgrenzung gegen die an Krankheiten Gestorbenen), entsteht parallel eine neue Bedeu-tung aus dem Kontext des medizinischen Systems. Denn empirisch-theoretische und praktische Erfolge der Medizin erlauben allmählich eine neue Begrifflichkeit der lebensbe-drohlichen Verunglückung, die nun in bestimmten Fällen reversibel erscheint. Damit ent-steht um die Wende zum 19. Jahrhundert nicht nur ein staatliches, sondern auch ein me-dizinisches Interesse, Einrichtungen für die schnelle Erstversorgung Verunglückter zu treffen.

Der Zweite Teil unserer Arbeit gliedert sich im wesentlichen in die vergleichende Dar-stellung der Stadtbeispiele Berlin, Leipzig und Minden. Er verfolgt Schwerpunkte und Verlauf der funktionalen Ausdifferenzierung medizinischer Notfallversorgung seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis etwa zum Ersten Weltkrieg. Jedes Kapitel geht von einer Beschreibung lokaler Rahmenbedingungen und Anforderungen an die Akteure und Institutionen des medizinischen Systems zu Beginn der 1870er Jahre aus. Wir untersuchen dann im Vergleich die spezifischen Verläufe der Ausdifferenzierung; dabei legen wir für

43 So z. B. Cooter, R.; Luckin, B. (Eds.): Accidents in History... (1997), Introduction. Diese Ineinssetzung findet sich auch prinzipiell bei Ewald, Fr.: Vorsorgestaat... (1993), z. B. S. 16.

44 Sie greifen zwar einen Ansatz von Karl Figlio auf, der nach der historischen Wahrnehmung deistischer Kausalität fragt, blenden aber die über den Accident hinausreichenden erkenntnistheoretischen Dimen-sionen, wie sie sich z. B. ausführlich bei ZEDLER finden (cf. lexikalischer Anhang), aus.

45 Cf. Cooter, R.; Luckin, B. (Eds.): Accidents in History... (1997), Introduction.

46 Damit kommen wir neben der stilistischen Auflockerung auch dem Sachverhalt entgegen, daß sich in der Fachliteratur dieser Begriff trotz seiner Unschärfe durchgesetzt hat.

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Berlin und Leipzig Gewicht auf die Entwicklung von Strukturen, die eine übergeordnete Modellfunktion für die Organisation medizinischer Notfallversorgung erlangen, wie sie sich grundsätzlich bis heute darstellt. Medizinische Notfallversorgung in Form des öffent-lichen Rettungswesens wird demnach etwa seit der Wende zum 20. Jahrhundert als ein systemischer Akteursverbund entworfen, der die möglichst umgehende Einbindung des Betroffenen in klinische Versorgungszentren anstrebt.

Repräsentiert wird diese Form der Organisation durch das Schema der „Rettungskette“: „Sofortmaßnahmen – Notruf – Erste Hilfe – medizinische Erstversorgung – Ret-tungstransport – Aufnahme im Krankenhaus“.47 Dieses Interaktionsmodell ist im Prinzip zwischen 1895 und 1903 in Berlin entworfen worden und wurde kurz vor dem Ersten Weltkrieg zum amtlichen Leitbild für die Organisation des Rettungswesens erklärt. Kli-nikzentrierung48 und interessenausgleichende Organisation der Notrufbearbeitung durch eine Leitstelle49 sind zentrale Momente dieses Modells, die bis heute als Grundsatz beibe-halten werden. Demgegenüber ist in Leipzig parallel ein Modell entwickelt worden, das auf einem Netzwerk ambulanter Versorgungsstationen beruhte und die Mitarbeit aller praktischen Ärzte anstrebte.50 Gegenüber der Berliner Entwicklung, in der die Ärzteschaft von Zeitgenossen mehrfach in einem „Kriegszustand“ gesehen wurde, verlief die Ausdif-ferenzierung der Leipziger Variante über fast 30 Jahre verhältnismäßig unspektakulär. Die dortige Entwicklung zeigt im Vergleich zu Berlin besonders, daß der Begriff „funk-tionale Ausdifferenzierung“ nicht im strukturfunk„funk-tionalen Sinne als zweckoptimale Ent-wicklung für die Systemumwelten verstanden werden darf. Sie stellt sich als ein Vorgang dar, der einerseits von evolutionären Prinzipien bestimmt wird und andererseits allenfalls optimierend gegenüber den programmatischen Prioritäten des Teilsystems selbst wirkt.51 Das Leipziger Modell nämlich institutionalisierte in seinen dezentralen Einrichtungen eine Form ärztlicher Tages- und Nachtbereitschaft, die erheblich leistungsfähiger war, als die heute praktizierte Form und sowohl aus Perspektiven von Patienten wie auch niedergelas-sener Ärzte in vieler Hinsicht zweckmäßiger darstellte als das Berliner Klinikmodell.52

47 Zu Begriff und weiteren schematischen Varianten Cf. Biese, A.; Lüttgen, R. (Hg.): Handbuch Rettungs-wesen, LsB... (1974 pass.), Bd. 1, A.1.1. und Schuster, H.-P.: Notfallmedizin... (1989), S. 6.

48 Cf. Sefrin, P.: Zentrale Notaufnahme – als Bindeglied in der Rettungskette. In: Biese, A.; Lüttgen, R. (Hg.): Handbuch Rettungswesen, LsB... (1974 pass.), Bd. 1, A. 1.4.3 (Ergänzung 1996), S. 1–5. 49 Cf. Biese, A.; Lüttgen, R. (Hg.): Handbuch Rettungswesen, LsB... (1974 pass.), Bd. 1, A. 1.2, S.5f. und

Lippert, H.-D.; Weissauer, W.: Rettungswesen... (1984), S. 19.

50 Diese Aspekte sind auch in Berlin Gegenstand der Praxis gewesen, waren aber strukturell von viel gerin-gerer Bedeutung.

51 Cf. Schimank, U.: Code – Leistungen – Funktion... (1998), der die Verwendung des Attributes „funktio-nal“ zu sehr in Parson’scher Tradition verwendet sieht und daher den Begriff „diversifikatorische Diffe-renzierung“ vorschlägt. (Renate Mayntz operiert mit dem Attribut „funktionell“ (cf. Dies.: Funktionelle Teilsysteme... (1988)). Ob sie dies aus ähnlichen Gründen tut, erschließt sich, soweit ich sehe, aus ihren Beiträgen nicht.)

52 Das Leipziger Modell integrierte Kliniktransport und Bereitschaftsdienst gleichermaßen. Die dezentralen Stationen erwiesen sich nach dem Ersten Weltkrieg für die öffentlichen Haushalte als zu kostspielig, so-daß nun die preiswerte automobiler Transporttechnik für ein Versorgungssystem nach Berliner Vorbild eingesetzt wurde. Das „Aus“ für jede komplementäre Alternative zum zentralistischen Versorgungsmo-dell ergab sich durch die Festschreibung des ambulanten Versorgungsmonopols infolge der Auflösung der Krankenkassen-Ambulatorien. Cf. Rosewitz; B.; Webber, D.: Reformblockaden... (1990), S. 15–19; 33–37; Göckenjan, G.: Lohnsklaven und Pfennigkulis... (1987), S. 33f. Dieses Monopol bildet die politi-sche Grundlage für die heutige Regelung der ärztlichen Notbereitschaft.

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Die in der Reichshauptstadt durchgesetzte Organisationsform öffentlicher Notfallversor-gung basiert auf Leitsätzen, die nach 1912 faktisch reichsweite Durchsetzung erfuhren.53 Diese bilden jedoch nur einen Aspekt der Kontinuität ab. Sie sind als programmatische Orientierung für die Institutionalisierung zu verstehen, die sich übergreifend durchsetzt.54 Aber die Richtlinien gestatten auf der Ebene konkreter Institutionalisierung ein hohes Maß an föderativer Flexibilität. Mit den drei gewählten Städten werden wir jeweils Bei-spiele unterschiedlicher Akteurskonstellationen verfolgen, die ein Abbild der reichsweit im Detail verschiedenen Ausgestaltung des Rettungswesens und ärztlicher Bereitschaftsdien-ste bilden. Auch darin spiegelt sich ein Kennzeichen historischer Kontinuität: Die institu-tionelle Organisation öffentlicher Notfallversorgung erfolgt im Rahmen der allgemeinen Gefahrenabwehr und Gesundheitsfürsorge. Damit „gehört der Rettungsdienst zur Ge-setzgebungskompetenz und zur Verwaltungszuständigkeit der Länder (Art. 30, 70, 83 GG)“55.

Teilsysteme und Akteure der Ausdifferenzierung im Kaiserreich

Die institutionelle und organisatorische Ausdifferenzierung medizinischer Notfallversor-gung in Form des öffentlichen Rettungswesens wurde maßgeblich von der Berliner Ent-wicklung bestimmt. Deswegen legt unsere Studie auf dieses Beispiel besonderes Gewicht. Während das Rettungswesen sich heute weitgehend aus der Interaktion von Institutionen und korporativen Akteuren aus dem medizinischen System konstituiert (oder dieses zu-mindest dominant ist56), vollzieht sich der Prozeß der Ausdifferenzierung aus der Interak-tion verschiedener Teilsysteme und Akteure, von denen wiederum die in Berlin beteiligten in den Vordergrund gestellt werden. Zu den involvierten Teilsystemen zählen insbeson-dere die Medizin, die Unfall- und Krankenversicherung sowie die Kommunalpolitik, hinzu tritt das Rote Kreuz als ein Akteur mit multiplen Aufgabenzuschreibungen.

Das medizinische Teilsystem war im 19. Jhdt. einer tiefgreifenden Veränderung unter-worfen, die durch die Begriffe leistungsbezogener Monopolisierung und

53 In unserem Zusammenhang sind folgende Bestimmungen wesentlich: „I. Das Rettungswesen bezweckt die erste Hilfe bei plötzlichen Erkrankungen und Unfällen.||Eine Weiterbehandlung nach Leistung der ersten Hilfe ist von den Aufgaben des Rettungswesens ausgeschlossen. II. Das Rettungswesen ist zu or-ganisieren mit Hilfe des ärztlichen Standes, soweit er zur Mitarbeit bereit ist. III. Den Mittelpunkt des Rettungswesens bilden am zweckmäßigsten die öffentlichen Krankenanstalten. IV. Mit der Organisation des Rettungswesens ist zugleich eine solche des Krankentransportwesens zu verbinden.“ (Zit. nach der vollständigen Wiedergabe bei: Meyer, G.: Entwickelung des Rettungswesens... (1908), S. 39f.)

54 Cf. Biese, A.; Lüttgen, R. (Hg.): Handbuch Rettungswesen, LsB... (1974 pass.), Bd. 1, A. 1.1, S.2ff. 55 Prütting, D.; Mais, H. (Bearb.): Rettungsgesetz NRW... (1995), S. 2. Der Kommentar hebt hervor, daß

der Mitte der 1970er Jahre vorgelegte Musterentwurf zu einer Reform des Rettungswesens ein Organisa-tionsgesetz vorsah, aufgrund dessen unterschiedliche „Strukturen, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg gebildet hatten, [. . .] beibehalten werden“ konnten. (Ebda., S. 3.) Dieser Entwurf erklärte „den Rettungs-dienst [. . .] zur Auftragsangelegenheit [. . .] zur Erledigung nach Weisung der Kreise und kreisfreien Städ-te, übereinstimmend aber als dem Bereich der dekonzentrierten Staatsverwaltung zugehörig.“ (Lippert, H.-D.; Weissauer, W.: Rettungswesen... (1984), S. 10.) Darin kommt der bereits 1912 in den Leitsätzen entworfene Dualismus deutlich zum Ausdruck. Cf. auch Ebda., S. 11, Anm. 18. Anfang der 1980er Jahre wurde die föderative „Eigenverantwortlichkeit der Träger des Rettungsdienstes“55 nochmals hervorge-hoben.

56 In vielen Städten und Gemeinden obliegt die logistische Durchführung des Rettungsdienstes der Feuer-wehr. Diese bildet jedoch ein ausdifferenziertes Funktionssystem, sondern einen Akteur, dessen pro-grammatische und institutionelle Orientierungen wechselseitig von formalen Organisationen aus dem Kontext anderer Funktionssysteme bestimmt und instrumentalisiert werden.

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rung beschrieben werden kann.57 Diese Prozesse äußerten sich auch in institutionellen Veränderungen, etwa der Etablierung von Krankenhäusern als Orten der Versorgung von Akut- und schließlich Notfallpatienten, und in einer Veränderung des mit der Medikalisie-rung gesamtgesellschaftlich etablierten Gefüges von Leistungs- und Publikumsrolle.58 Diesbezüglich entstand im Kontext der Erstversorgung von Verletzten das Problem: Wer außer dem Arzt darf – notgedrungen – Erste Hilfe leisten, und wie wird sichergestellt, daß ein Verletzter anschließend zum Arzt transportiert wird? Damit gewann aus Sicht der medizinischen Profession die „Samariterfrage“ besondere Bedeutung: Wie sollte die Ärz-teschaft dem Konflikt begegnen, daß sie einerseits auf die Mithilfe von Laien in der Erstversorgung angewiesen war, andererseits aber gegen Therapien von (semi-) profes-sionellen Heilpersonen vorging, um ihre professionelle Autorität zu sichern?59 So erhoben z. B. weite Teile der Ärzteschaft öffentliche Vorwürfe gegen Friedrich v. Esmarch, der 1882 als Leiter der chirurgischen Universitätsklinik in Kiel einen Verein zur Schulung von Ersthelfern gründete. Zwar war dieser Unterricht in erster Linie zur Vorbereitung von Samaritern für den Dienst auf Schlachtfeldern gedacht,60 eine zivile Hilfstätigkeit wurde von Esmarch also eher als willkommener Nebeneffekt begriffen. Während einerseits zahl-reiche Ärzte der Idee des Roten Kreuzes zustimmend gegenüberstanden, befürchtete man jedoch offenbar, daß eine zivile Paraprofession „geprüfter Samariter“ zu einem Zeitpunkt populär zu werden drohte, als die professionelle Autorität des medizinischen Systems noch zu schwach ausgeprägt war, derartige Ausnahmen vom ärztlichen Behandlungsmo-nopol zuzulassen.61

Eine wichtige Rolle gewinnen seit Anfang der 1890er Jahre die gewerblichen

Berufsge-nossenschaften. Ihre Einrichtung resultiert aus der vorwiegend staatlich initiierten

Reak-tion auf industrielle ProdukReak-tionsrisiken. Als InstituReak-tion stellen die Unfallversicherungsträ-ger einen korporativen Akteur dar, der unter der Dominanz des wirtschaftlichen Teilsy-stems die rechtliche Innovation einer Vergesellschaftung individueller Schädigungen (Übergang von kausaler zur Gefährdungshaftung)62 sowohl medizinisch-rehabilitativ als auch ökonomisch konkretisiert. Dabei greifen die Berufsgenossenschaften zunächst ko-operativ auf die sich gleichzeitig professionalisierenden Anbieter medizinischer Dienstlei-stungen zurück. Diese Kooperation wird jedoch bald zu einem Problem, das aus der ge-gensätzlichen Handlungslogik der beiden Systeme resultiert: Während das medizinische System wesentlich im Bereich der Krankheit operiert und daran interessiert ist, daß in einem sich vergrößernden Angebot an Behandlung die verfügbaren Krankheitsfälle mit

57 Cf. die Überblicksdarstellungen von: Labisch, A.: Zur Sozialgeschichte der Medizin... (1980); Ders.; Spree, R. (Hg.): „Einem jeden Kranken...“ (1996); Göckenjan, G.: Kurieren und Staat machen... (1985), bes. S. 268ff; Huerkamp, C.: Der Aufstieg der Ärzte... Göttingen 1985.

58 Allgemein zur Selbstverortung des medizinischen Systems durch von ihm definierte Publikumsrollen vgl.: Stichweh, R.: Inklusion... (1988), bes. S. 262–70.

59 Cf. Spree, R.: Kurpfuscherei-Bekämpfung... (1989), S. 103–21. 60 Cf. Esmarch, Fr.v.: Vereine vom Roten Kreuz... (1892), S. 16.

61 Aufschlußreich ist dabei, daß das ärztliche Wissen um angemessene Wundversorgung noch um die Jahr-hundertwende als so unvollkommen angesehen wurde, daß 1901 in Preußen amtlich landesweite Vorle-sungen über Erste Hilfe für Ärzte veranlaßt wurden. Cf. den Bestand zur Einrichtung des ärztlichen Fortbildungswesens in Preußen GStA PK, I. HA, Rep. 92, Abt. A, Nr. 287; Fortbildungskurse wurden erstmals im Frühjahr 1901 eingerichtet und intensiv in der DMW beworben (ebda., Pag. 38ff.). George Meyer (Entwickelung des Rettungswesens... (1908), S. 43) erwähnt zwar die ärztlichen Kurse, nicht aber den professionalisierungsbezogen wichtigen Hintergrund.

62 Cf. zur Problematik dieses Wandels aufgrund der zivilrechtlich-dogmatischen Beibehaltung der Ver-schuldenshaftung: Esser, J.: Grundlagen der Gefährdungshaftung... (1956).

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ähnlichen Chancen verteilt werden, liegt das Interesse der Berufsgenossenschaften darin, Unfallverletzte einer kontrollierten Therapie zuzuführen, die mit einem entschädigungs-minimierenden Resultat endet, den Verletzten also möglichst schnell und weitgehend wie-der arbeitsfähig zu machen.63 Als die Revision des Krankenversicherungsgesetzes 1892 es den Berufsgenossenschaften ausdrücklich gestattete, das Heilverfahren vom Tag des Un-falls an auf eigene Kosten zu übernehmen, errichteten sie daher parallel zu den bestehen-den medizinischen Einrichtungen eigene Kliniken64 unter Rückgriff auf vertraglich gebun-dene Ärzte.65 Als Antwort auf diese als Protektionismus beurteilte Konkurrenzlage ent-wickeln Berliner Ärzte um Ernst v. Bergmann das Prinzip eines Rettungsdienstes, der als verlängerter Arm der öffentlichen Kliniken dienen soll.

Als dritter relevanter Akteur lassen sich die Kommunen identifizieren, wobei allerdings eher deren institutionelle Orientierungshorizonte66 einer Veränderung unterworfen sind, als daß hier ein spezifisch an einem Code orientierter Handlungssinn im Vordergrund stünde. Im Zusammenhang mit den Anforderungen der Armenfürsorge konfrontierten Urbanisierung und Industrialisierung die städtischen Vertreter auch in gesundheitspoliti-scher Hinsicht mit qualitativ neuartigen Aufgaben. Während in Form der Seuchenhygiene sich spätestens seit den 1860er Jahren medizinalpolitische Arbeitsfelder bereits ausdiffe-renziert hatten,67 setzten erst im letzten Jahrzehnt des 19. Jhdts. Bestrebungen verstärkt ein, gesundheitspolitisch mit professionell besetzten Deputationen auch auf jenen Gebie-ten zu intervenieren, „die von der gesetzlichen Krankenversicherung [...] nicht erfaßt wur-den. Sie bezogen sich einmal auf besonders gefährdete Adressatengruppen [...]; zum ande-ren auf bestimmte Krankheitstypen.“68 In dieser Beziehung läßt sich für den Bereich der Akutversorgung ein auf den ersten Blick paradox wirkender Wandel kommunaler Politik, wenn auch mit deutlichen Verzögerungen, nachzeichnen: Gerade weil man die liberalisti-sche Vorstellung von der Nicht-Einklagbarkeit städtiliberalisti-scher Fürsorge („Wohltätigkeit“) mehrheitlich beibehielt, erkannte man, daß eine rasche medizinische Versorgung jener Verletzten, die nicht von der Unfallversicherung erfaßt wurden, entscheidend dazu beitra-gen mußte, das Risiko einer Erwerbsunfähigkeit zu mindern und dadurch die Zahl poten-tieller Armenfürsorge-Empfänger zu senken.

Schließlich gewinnt das Rote Kreuz erheblichen Stellenwert. Als korporativer Akteur ist es seit den 1860er Jahren im Kontext militärischer Verwundetenversorgung in die dorti-gen Strukturen integriert. Als ressourcenbereitstellende Institution innerhalb des Heeres-sanitätswesens greifen die Vereine in den zivilen Sektor über, wobei ihr Handlungssinn sich dort zum Teil mit Dienstleistungen des medizinischen Sektors überlagert und von

63 Es ist bemerkenswert, daß die Rentenversicherungsträger erst heute mit demselben Ziel eine Integration der Akutversorgung in neue Rehabilitationskonzepte fordern. (Cf. Schliehe, F.; Müller, D.: Rehabilitati-on... (1996)).

64 Allerdings scheint der Umfang des berufsgenossenschaftlichen Engagements in dieser Hinsicht auch in vergleichbaren industriellen Agglomerationen stark unterschiedlich gewesen zu sein, Erklärungen dafür liegen bisher nicht vor.

65 Das medizinische System sieht sich demgemäß in den 1890er Jahren von zwei Seiten angegriffen: Zum einen instrumentalisiert das Teilsystem der Berufsgenossenschaften nun die wirtschaftliche Notlage zahl-reicher Ärzte, indem es sich einzelne verpflichtet, zum anderen ist das Problem der Laienhilfe durch „Samariter“ noch immer keiner Lösung zugeführt und bedroht „von unten“ die ärztliche Autorität. 66 Cf. Schimank, U.: Theorien gesellschaftlicher Differenzierung... (1996), S. 248.

67 Cf. die Forschungsüberblicke bei: Otto, R. et al.: Seuchen und Seuchenbekämpfung... (1990) und: La-bisch, A.; Vögele, J.: Stadt und Gesundheit... (1997).

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diesem sowohl instrumentalisiert werden kann wie auch mit diesem konfligiert: Während für die Ärzteschaft die Laien-Ersthilfe ein erhebliches Problem im Kontext der Monopoli-sierung von Heiltätigkeiten darstellt, erhält nun das Esmarchsche Samariterprojekt wegen seines Nutzens für die Heeressanität geradezu staatstragenden Charakter.

Forschungsstand und Quellenbasis

Bis heute ist die Entwicklung medizinischer Notfallversorgung nirgends zum Gegenstand eigener historischer Auseinandersetzung gemacht worden. Seit der Reorganisation des Rettungswesens in den 1970er Jahren werden in zahlreichen Veröffentlichungen institu-tionelle und organisatorische Charakteristika sowie Aufgabenzuweisungen des Rettungs-wesens beschrieben. Dies geschieht ganz überwiegend aus notfallmedizinischer und ver-waltungsrechtlicher Perspektive oder unter dem Blickwinkel der Methodik gesundheits-wissenschaftlicher Qualitätssicherung.69 Eine Erklärung für diese auffällige Geschichtslo-sigkeit sehen wir darin, daß die Organisationsform der Notfallversorgung eine innerhalb der aktuellen paradigmatischen Ausrichtung des Gesundheitswesens ausgesprochen „er-folgreiche“ Form der Ausdifferenzierung darstellt. Es gibt, solange der gesellschaftliche Zentralwert des Rechtes auf medizinische Grundversorgung, hier: der Versuch der Le-bensrettung, nicht nachhaltig vermindert wird, keine Begründung, aus relevanten Syste-mumwelten gegen diese Funktion zu opponieren. Außerdem zeigt sich die in zahlreichen historischen Auseinandersetzungen etablierte Struktur der Kooperation von Institutionen und (para-)professionellen Akteuren in der Rettungskette sowohl als tolerant gegenüber systeminternen Konflikten (z. B. Ärzte vs. nicht-approbiertes Personal, Niedergelassene Ärzte vs. Krankenhausärzte), wie auch als hinreichend flexibel zur Integration medizi-nisch-technischer Neuerungen.

Zur historischen Entwicklung des Rettungswesens finden sich aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg keine monographischen Veröffentlichungen.70 Vereinzelt sind kürzere Abhandlungen meist ärztlicher Provenienz erschienen; bis auf wenige Ausnahmen handelt es sich dabei aber um reine Ereignisgeschichte.71 Eine lesenswerte Überblicksdarstellung, die einen europäischen Trend der Entwicklung medizinischer Notfallversorgung skizziert, hat Hutchinson 1997 vorgelegt.72 Die Quellenbasis ist allerdings überaus schmal – für Deutschland zitiert er nur eine statistische Dokumentation von George Meyer.

69 Cf. z. B. : Edlich, R. F.: Modern Emergency Medical System... (1991); Kortüm, S.: Aspekte präklinischer Notfallversorgung... (1993); Menzel, L. et al.: Organisation und Bedeutung der Rettungskette... (1985). 70 Abgesehen von der 1956 wiederaufgelegten Veröffentlichung von Hesse und Bruckmeyer, die im Kern

bereits von 1940 datiert und auch als entnazifizierte Fassung nur wegen des Dokumentationslochs zwi-schen ca. 1927 und 1945 noch brauchbar erscheint.

71 Hervorhebenswert allerdings: Zur Frühgeschichte der Akutmedizin im Kontext der „Medicinischen Polizey“ des 18. Jahrhunderts eine Anzahl Aufsätze von Ludwig Brandt (cf. Kap. 1), daneben ein Aufsatz von G. Fr. Hasse (cf. Ebda.). Für das späte 19. Jahrhundert nennenswert wegen der Verarbeitung archi-valischer Quellen: Scheidler, K.: Sanitätswache zur Notfallbetreuung... (1987); ein Exkurs zu den Anfän-gen des Rettungswesens in Berlin bei: Münch, R.: Berliner Gesundheitswesen... (1995). (Auf eine Anzahl sehr kurzer Aufsätze von Burgkhardt, Mäkel et al. wird nur in spez. Kontext der späteren Kapitel einge-gangen.)

72 Hutchinson, F.: Civilian Ambulances... (1997). Cf. auch die Skizze von P. Sefrin: Geschichte der Not-fallmedizin in Deutschland, in: Biese, A.; Lüttgen, R. (Hg.): Handbuch Rettungswesen, LsB... (1974 pass.), Bd. 1, A. 1.6, S. 1–7 (Ergänzung 1991), die ebenso wie Hutchinson wichtige sachliche Details refe-riert, strukturelle und funktionale Kontinuitäten aber nicht debattiert.

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Zu wichtigen Gesichtspunkten, die im Kontext einer zukünftigen Geschichtsschreibung über Unfall und Verunglückung zum Gegenstand gemacht werden könnten, sind einige Arbeiten mit unterschiedlichem Ansatz zu nennen. Franz-Xaver Kaufmann hat bereits in den 70er Jahren die Entwicklung gesellschaftlicher Deutungen von „Sicherheit“ als Werti-dee untersucht; in sozialtheoretischer Perspektive erörtert François Ewald grundlegend die Entwicklung des Versicherungsgedankens und seine Auswirkungen auf den gesellschaftli-chen Umgang mit Unfällen im 19. Jahrhundert.73 Andere Arbeiten setzen sich daneben in eher universalistischer Perspektive mit dem Auftreten des Versicherungsgedankens aus-einander;74 im wirtschaftswissenschaftlichen Kontext beschäftigen sich ferner einige Auto-ren mit Unfällen als betriebs- und volkswirtschaftlich relevantem Schadensereignis.75 Für den Kontext des Berlin-Kapitels hat Wickenhagen eine Darstellung und Dokumentation zu den Unfallversicherungsträgern vorgelegt; als materialreiche, wenngleich theoriefreie Institutionengeschichte bildet sie eine wichtige Referenz.76 Die wohl interessanteste Sam-melpublikation über kultur- und sozialgeschichtliche Fragen einer Historisierung des Un-falls als Individual-Ereignis haben 1997 Bill Luckin und Roger Cooter vorgelegt. Der in mehreren Beiträgen noch sehr auf die Rationalisierung von Unfall und Entschädigung des 19. Jahrhunderts bezogene Ansatz77 bedürfte zum einen der systematischen Erweiterung für davor liegende Epochen; denkbar wäre eine Erweiterung des methodischen Zuganges, wie ihn Robert Jütte skizzenhaft vollzogen hat.78 In sozialhistorischer Perspektive wurden ferner einzelne Gruppen bzw. Institutionen untersucht, welche auf dem Gebiet der orga-nisierten Ersthilfe regional eine Rolle spielten; jedoch werden sie weniger in dieser Funk-tion, als mit Blick auf ihre Bedeutung innerhalb der Arbeiterbewegungsgeschichte be-trachtet.79 Schließlich ist die Literatur- und Quellenlage zur Geschichte des Deutschen Roten Kreuzes von Belang. Hier ist die Forschungssituation, gemessen am Stellenwert der

73 Kaufmann, Fr.-X.: Sicherheit als soziologisches Problem... (1973); Ewald, F.: Der Vorsorgestaat... (1993); zentrale Aspekte der neoliberalen Wahrnehmung in: Bröckling, U. et al. (Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart... (2000), v. a. der Beitrag von Schmidt-Semisch. Die breite Diskussion im Kontext von „Risi-ko“ und Arbeitsmedizin blenden wir hier aus; cf. Japp, K. P.: Soziologische Risikotheorie...;

74 P. U. Lehner betont die gesellschaftlich-ökonomische Motivation, den Gedanken der Versicherung wei-terzuentwickeln. (Ders.: Entstehung des Versicherungswesens... (1989); ebda. Kritiken weiterer Literatur zum Gegenstand; für Österreich in universal-ideengesch. Perspektive: Rohrbach, W.: Versicherungsge-schichte Österreichs... (1988), S. 128ff.

75 Pionierhaft zum Problem von Unfällen als Gegenstand betrieblicher Kostenrechnung vgl.: Compes, P.: Betriebsunfälle wirtschaftlich gesehen... (1965). Ferner z. B.: Krüger, W.: Betriebswirtschaftliche Effizi-enzmessung... (1989).

76 Wickenhagen, E.: Geschichte der gewerblichen Unfallversicherung, 2 Bde... (1980). Der Hauptverband der Gewerblichen Berufsgenossenschaften stellte mir freundlicherweise ein Arbeitsexemplar der vergrif-fenen Veröffentlichung zur Verfügung.

77 Cf. Radkau, J.: Technik in Deutschland... (1989), S. 211ff; Weber, W. (1995): Technik und Sicherheit... Im arbeitsmedizinischen Kontext wurde der Unfall oft diskutiert, wo er zur Abgrenzung gegenüber Krank-heit und Beruf dient; diesen Bereich mit einer Vielzahl von Veröffentlichungen blenden wir hier aus, denn er bezieht sich nicht auf unsere Fragestellungen (cf. z. B. Milles, D; Müller, R.: Geschichte der Ar-beiterkrankheiten... (1984); Andersen, A.: Arbeiterschutz in Deutschland... (1991); Milles, D.: Das Unfall-paradigma... (1995)).

78 Jütte, R.: Ärzte, Heiler und Patienten... (1991).

79 Labisch, A: Selbsthilfe zwischen Auflehnung... (1983); Ders.: Der Arbeiter-Samariter-Bund... (1979). Ein kurzer Abschnitt über den Proletarischen Gesundheitsdienst (PGD). In: Wunderer, H.: Arbeitervereine, Arbeiterparteien... (1980), S. 51f.; 117f. Stark ereignis- und biographiegeschichtlich orientiert, dabei sehr detailliert zur Gründungsgeschichte der Berliner Arbeiter-Samariter: Beck, K.: Durch Nacht zum Licht!... (1986).

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Organisation als einer der größten und vermutlich bekanntesten Dienstleister im Wohl-fahrts- und Gesundheitsbereich, noch immer geradezu desperat (cf. dazu den Exkurs, S. 87ff.).

Im Gegensatz zu dieser fragmenthaften Forschungslage für den engeren Themenkreis ist insbesondere aus der Zeit des späten Kaiserreiches eine erhebliche Zahl an Dokumenta-tionen und Aufsätzen über die Entwicklungsgeschichte des Rettungswesens zu verzeich-nen. Diese Veröffentlichungen müssen jedoch trotz ihres vielfach ergiebigen dokumenta-rischen Charakters eher als (Sekundär-)Quellen denn als Forschungsliteratur angesehen werden.80 Dafür spricht nicht nur der Entstehungskontext, der zeitlich kongruent mit der Ausdifferenzierung des Rettungswesens ist, sondern auch Provenienz und Art der histo-riographischen Verarbeitung. Die Mehrzahl der Veröffentlichungen stammt aus der Feder maßgeblich an den Auseinandersetzungen beteiligter Akteure; die Darstellungen sind durchgehend geprägt vom zeitüblichen Tenor eines für kritische Darstellung wenig ergie-bigen patriotischen Fortschrittsoptimismus.81 Gerade jene „unerfreulichen Streitigkei-ten“,82 deren historiographische und theoretische Einordnung einen Schwerpunkt des Berlin-Kapitels darstellen, werden zugunsten des Ideals einer weiteren „sozialen Leistung der Kulturstaaten“83 ausgeblendet.

Diese zeitgenössischen Darstellungen und Dokumentationen sind angesichts der anson-sten nahezu vollständigen Überlieferungs- und Forschungsvakanz dennoch ein unver-zichtbarer Zugang. An erster Stelle stehen hier die zahlreichen Veröffentlichungen des Berliner Arztes George Meyer (1860–1923). Er übte in mehreren Organisationen der Not-fallversorgung die Funktion des Schriftführers aus und verfügte nach eigenen Angaben über eine universalhistorische Sammlung zum Thema, die aus „mehreren tausenden von Einzelnummern“ bestanden habe.84 Auch eine Reihe anderer Ärzte – um unter wohl eini-gen Dutzend nur stellvertretend zu nennen: Ernst v. Bergmann, Karl Assmus, Max Kor-mann, Leopold Henius, Salomon Alexander &c. – haben für Berlin, Leipzig und die Ge-samtentwicklung Überblicks- oder Diskussionsbeiträge geliefert. Daneben treten perso-nale Akteure der Berufsgenossenschaften mit einer Reihe von kleineren Publikationen in Erscheinung. Sie werden insbes. im zweiten Berlin-Abschnitt aufgenommen.

Die wesentliche Basis dieser Arbeit bildet für die hier behandelten drei Städte ein umfang-reicher Bestand an ungedruckten Quellen; vorwiegend wurden Aktenbestände der

80 Cf.. stellvertretend die von George Meyer bearbeitete Dokumentation einer umfangreichen um die Jahr-hundertwende erfolgten statistischen Erhebung über den Stand der Entwicklung des Rettungswesens um 1903. (Ders. (Bearb.): Rettungs- und Krankentransportwesen im Deutschen Reiche... (1906).)

81 Cf. zur historiographischen Einordnung: Vielberg, M.: Untertanenoptik... (1996) und: Prüll, C.-R.: Von „großen Deutschen“ und „stolzen Wipfeln“... (1997).

82 Frank, P.: Berliner öffentliches Rettungswesen... (1927), S. 5.

83 Alexander, S. et al. (Hg.): Soziale Bedeutung des Rettungswesens... (1906). In der historischen Sekundär-literatur wirkt diese universale Perspektive allerdings sinnstiftend, denn diese Art der Verarbeitung war dem häufig mitverfolgten „politischen“ Ziel solcher Arbeiten, ihre Gegenwart als eine geschichtlich be-sonders leistungsfähige herauszustellen, ausgesprochen dienlich. Cf. stellvertretend: Meyer, G.: Entwik-kelung des Rettungswesens... (1908), S. 1–3.

84 Briefl. Mitteilung Meyers an das RVA, in: BArch R 89 / 14911, o.Pag., ca. 1909. Diese Sammlung scheint verloren zu sein. Auch ein sonstiger eigenständiger Nachlaß Meyers findet sich in den einschläg. Berliner Archiven nicht. Die einzige Korrespondenz von formalem Rang, die systematisch erhalten ist, bildet der Schriftverkehr Meyers mit dem Vortragenden Rat im Kultusministerium, Friedrich Althoff. Inhaltlich sind diese Schreiben jedoch durchweg ohne Belang. (Cf. GStA PK, I. HA., Rep. 92, Abt. B, Nr. 131, Bd. 2.)

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lichen Archive genutzt. Für Berlin haben wir Überlieferungen des Polizeipräsidiums aus den Beständen des Brandenburgischen Landeshauptarchivs (Potsdam) herangezogen, die das Kernmaterial für die Darstellung der örtlichen Entwicklung von Sanitätswachen ca. 1874–1894 bilden. Quellen zur Ausdifferenzierung des Rettungswesens aus medizinischer und ministerieller Perspektive bietet vornehmlich das Geheime Staatsarchiv PK (Dahlem), einschließlich eines umfangreichen Nachlasses von Friedrich Althoff, der an der organi-satorischen Gestaltung des klinisch orientierten Rettungswesens seit etwa 1897 maßgeb-lich beteiligt war. Das Bundesarchiv einschl. des Zwischenarchives in Dahlwitz-Hoppe-garten verzeichnet eine umfangreiche Überlieferung, die insbesondere für die Darstellung der Kommunikationen zwischen Medizinern und Berufsgenossenschaften ausgewertet werden konnte.85 Ergänzend wurden Akten des Berliner Landesarchives eingesehen. Schließlich konnten wir im Archiv der Humboldt-Universität u.a. den Nachlaß Ernst v. Bergmanns auswerten;86 auch die Patientenjournale der Charité, die fast lückenlos über mehr als 200 Jahre erhalten sind, haben wir in kleinen Stichproben für das Berlin-Kapitel herangezogen.87 In den Hauptarchiven sind so ca. 160 Akten ausgewertet worden, womit das vorhandene Material noch keineswegs erschöpfend gesichtet ist.88 Auch für die Leip-ziger Situation liegen im dortigen Stadt- und Staatsarchiv sowie im Sächsischen Haupt-staatsarchiv Dresden umfangreiche Bestände über Rettungs- und Samariterwesen im Kontext der örtlichen Gesundheitsversorgung vor; unsere Auswertung mußte hier eben-falls häufiger mit „Mut zur Lücke“ vorangehen.89 Für Minden haben wir schließlich das dortige Kommunalarchiv und das Detmolder Staatsarchiv genutzt. Entsprechend der geringeren Ausdifferenzierung medizinischer Notfallversorgung in der westfälischen Land- und Garnisonstadt haben wir hier Akten aus entfernterem thematischem Bezug (Krankenhausakten, allgemeine Sanitätsberichte &c.) sehr viel stärker herangezogen als für die beiden Metropolen. Fragmentarisch haben wir dabei Gewicht auf die ansonsten aus-geblendete Zeit zwischen Wiener Kongreß und Reichsgründung gelegt, um einen Ein-druck der amtlich-statistischen Verarbeitung von Verunglückung im gewerblichen

85 Starke Kriegsverluste sind hier von Bedeutung. So weisen z. B. die Findbücher zum Bestand BArch., R. 89 (Zwischenarchiv Hoppegarten) Bde. 1–3, insbes. 2 & 3, nach, daß von einschlägigen Statistiken zu Betriebsunfällen, aber auch zur Zusammenarbeit der Berufsgenossenschaften mit dem Roten Kreuz und Geschäftsberichten der BG-eigenen Krankenhäuser &c. noch weit mehr Material existiert hat, als hier ausgewertet werden konnte. Die betreffenden Bände sind überwiegend nur ab ca. 1920 erhalten geblie-ben; große Teile der „Frühzeit“ sind in den ehem. Koblenzer Registraturen als Fehlanzeige verzeichnet. 86 Die Angabe bei Lülfing, H.; Wolf, H. (Hg.): Schriftstellernachlässe... (1971), S. 18f., daß sich das Material

in Familienbesitz befinde, ist demnach zum Glück hinfällig.

87 Die schweren Bände befinden sich in z. T. desolatem Zustand (Schimmelbefall von früherer Lagerung) und bedürften dringend der Restaurierung.

88 Es liegt auf der Hand, daß bei elektronischen Exzerpten im Umfang von rd. 800 Seiten nur auf einen Bruchteil dieses Materials direkt verwiesen wird. Eine Referenz der ausgewerteten Bestände findet sich im Anhang. Insbesondere die Interimszeit der Ausdifferenzierung, ca. 1815–70, konnte nur sehr grob be-rücksichtigt werden; der Gegenstand würde für diese Zeit nach systematisch anderen Fragestellungen und einem veränderten theoretischen Focus verlangen, der wohl eher in einem Schnittpunkt von Kultur-und allgemeiner Medizingeschichte zu suchen wäre.

Aus Zeit- und Kostengründen nicht in diese grundlegende Untersuchung einbezogen wurden z. B. Stadtteilarchive (die z. B. zur detaillierten Aufarbeitung der örtlichen Rot-Kreuz-Entwicklung dienlich sein könnten; cf. Wittig, P.: Rotes Kreuz... (1981)) oder das Berliner Feuerwehrmuseum.

89 Die Dresdener Bestände konnten im Rahmen eines von der Fakultät für Soziologie der Universität Biele-feld finanzierten Teilprojektes dieser Dissertation ausgewertet werden. Ein Großteil der Bestände im Sächsischen Hauptstaatsarchiv befand sich in dringend restaurationsbedürftigem Zustand; z. T. waren Akten wegen Alterungsverlust der Signaturen in den Findverzeichnissen nicht zu erhalten.

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text zu erhalten. Schließlich brachte die Auswertung von Beständen des Staatsarchives Münster zwar für Minden selbst keine wesentlichen Erkenntnisse, lieferte aber Fundstücke zur Organisation und Aufgabenentwicklung der preußischen Rot-Kreuz-Vereine und ihrem Verhältnis zu den Berliner Berufsgenossenschaften, sowie über das Engagement von Leipziger Berufsgenossenschaften hinsichtlich der Rehabilitation von Unfall-Nerven-kranken.90

Eine Anzahl von Themenbereichen, die in der historischen Literatur über das Rettungs-wesen erwähnt worden sind, finden in dieser Geschichte der Notfallversorgung keine Berücksichtigung. Maßgeblich dafür ist einerseits die schlechte Literaturlage, andererseits haben wir Prioritäten nach unserem theoretischen Zugang gebildet, der bestimmte Be-schränkungen sinnvoll erscheinen ließ. Ausgeklammert aus den folgenden Darstellungen bleiben daher:

Das Rettungswesen im Montanbereich. Der Bergbau gehört zu den klassischen Protagoni-sten einer Entwicklung von Präventiv- und Nachsorgeinstitutionen im Zusammenhang mit Gesundheit und Verunglückung. Diese Eigenständigkeit erreicht auch auf dem Gebiet des Rettungswesens einen hohen Grad; Interaktionen mit öffentlich-zivilen Einsatzkräften kommen im Untersuchungszeitraum vor, die Ausdifferenzierung verläuft aber nach deut-lich anderen Schwerpunkten.91

Ebenso findet die Feuerwehr als eigenständige mit Lebensrettung befaßte Organisation keine ausgreifende Berücksichtigung. Hierfür sind allerdings in erster Linie theoretische Begründungen maßgebend, die im Kapitel zu Leipzig näher ausgeführt werden. Ausge-spart bleibt für das 19. Jahrhundert das Binnen- und Seenotrettungswesen, das bereits seit den 1860er Jahren in der bis heute bestehenden Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger und der Deutschen Seenotrettungsgesellschaft Ausdruck gefunden hat; hier handelt es sich zwar um Organisationsbereiche mit Initiativ- und begrenzt auch Vor-bildfunktion,92 sie sind aber in die historischen Konflikte um Ausdifferenzierung des öf-fentlichen Rettungswesens nicht einbezogen. Als Gegenstände dieser Prozesse sind eine Anzahl von Organisationen und Kommunikationsforen zu nennen, die jedoch meist nur beiläufig erwähnt werden. Dazu gehören die nationalen und internationalen Kongresse für Samariter- und Rettungswesen93, die Ausstellungen für Rettungswesen und für Unfallver-hütung94 und die Geschichte des von Friedrich v. Esmarch begründeten Deutschen

90 Hierbei handelt es sich um Jahresberichte des „Hermann-Hauses“ in Leipzig-Stötteritz, die uns in keiner der anderen Akten begegnet sind. Das Material zum Roten Kreuz haben wir im entsprechenden Exkurs verarbeitet.

91 Cf. den Überblick (allerdings ohne Detailnachweise) bei: Menzel, E.: Bergbau-Medizin... (1989); ferner Giga, H.: Sicherheit im Ruhrbergbau... (1978); Vogel: Erste Hilfe im Bergbau... (1911); Grahn: Gruben-rettungswesen... (1908); Penkert, R.: Rettungswesen im Bergbau... (1906).

92 Zu Traditionen der Wasserrettung im 18. Jahrhundert cf. Kap. 1.

93 Cf. n.n.: Congrès International d’Hygiène... (1876); Meyer, G. et al. (Hg.): Kongreß Rettungswe-sen... (1908); Cramer, H.: Deutsches RettungsweRettungswe-sen... (1913).

94 Eine formale Abgrenzung dieser funktional diametralen Bereiche findet im Untersuchungszeitraum noch nicht durchgängig statt. So kommt auch George Meyer noch zu dem (theoretisch nicht haltbaren) Schluß, daß das „Rettungswesen eng mit der Verhütung von Unfällen“ zusammenhänge (Ders.: Entwickelung des Rettungswesens... (1908), S. 31). Das Gegenteil ist der Fall: Organisierte Notfallversorgung im Kon-text gewerblicher Unfallrisiken markiert die Reflexion des ökonomischen Teilsystems über den Grenz-nutzen von Präventionsinvestitionen. Luhmann analysiert: In dem „Maße[,] als ein System Schäden

ver-kraften und ausgleichen kann, wird des rationaler auf diese Fähigkeit zu setzten, statt zu versuchen, alles nur Denkbare zu verhindern.“ (Luhmann, N.: Der medizinische Code... (1990), S. 190f. mit Verweis auf:

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ritervereins zu Kiel, sowie eine Anzahl regionaler bis internationaler Zusammenschlüsse zum Rettungswesen. Ferner ist die Wiener Freiwillige Rettungsgesellschaft zu nennen. Sie konnte aus Kostengründen nicht in die Untersuchung einbezogen werden; gleichwohl erfüllt die Organisation in deutscher und europäischer Perspektive eine wichtige Vorbild-funktion.95 Ausgeblendet bleiben auch kleinere korporative Akteure, die im Umfeld der zivilen organisierten Ersthilfe exekutive Funktionen übernahmen und zum Teil über das Rote Kreuz in dieses Gebiet involviert wurden. Dazu zählen etwa die Genossenschaft freiwilliger Kriegskrankenpfleger mit dem Rauhen Haus in Hamburg, der Malteser- sowie der Johanniterorden und schließlich die sogenannten Arbeiter-Samariter-Vereine, die sich – regional unterschiedlich stark – gesundheitspolitischen Problemlagen und nach der Jahrhundertwende verstärkt auch der betrieblichen Ersthilfe und Sanitätsdiensten inner-halb der Arbeiterbewegung zuwandten. Die in den konsultierten Archiven vorhandenen Quellen und Nachweise einer öffentlichen Wirksamkeit dieser Vereine sind vor der Wei-marer Zeit derart fragmentarisch, daß eine Einbeziehung in unserer Perspektive nicht sinnvoll erschien.96

Aaron Wildavsky: Searching for Safety, New Brunswick 1988.) Cf. auch: Krüger, W.: Betriebswirtschaftli-che Effizienzmessung... (1989).

95 Die Publikations- und Forschungslage zur Wiener Gesellschaft ist nicht weniger schlecht als zum Ret-tungswesen in Deutschland. Cf. die Überblicksdarstellungen bei: Fischer-Homberger, E.: Entwicklung des Rettungswesens... (o.J.); Mikoletzky, J.: Brand des Ringtheaters... (1997); Wyklicky, H.: Entwicklung des Rettungswesens... (1979); Steiner, J.: Wiener Rettungsgesellschaft... (1931); ein lesenswertes Schlag-licht: Billroth, Th.: An Jaromir v. Mundy... (1892).

96 Die Berliner Kerngruppe dieser Vereinigung spielte auch eine Rolle beim Charité-Boykott; Friedrich Althoff nutzte die Proteste zur Umsetzung seiner Neubauplanungen. Cf.: Beck, K.: Durch Nacht zum Licht... (1986); Beck beklagt in seinem Aufsatz, daß Eduard Bernstein in seiner Schilderung der Vorgänge (Berliner Arbeiterbewegung, Bd. 2... (1910), S. 348) die Arbeiterkommission nicht erwähnt. Dieser habe die „Arbeiter-Kultur-Bewegung [. ..] offensichtlich nicht ernst genommen“. Urteilt man nach der Quel-lenlage, ist Bernsteins Prioritätenbildung für unser Gebiet nachvollziehbar. Cf. auch die Einordnung bei Hirsch, P.: 25 Jahre sozialdemokratische Arbeit... (1908), S. 81 & 141. In sozialpolitischem Bezug cf. die Literaturnachweise in Anm. 79. Für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg nimmt zumindest im Leipziger Raum die Dokumentation deutlich zu (siehe Aktenreferenz im Anhang).

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