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Archiv "Assoziation zwischen Reserpin-Medikation und Brustkrebs?" (17.10.1974)

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DEUTSCHES

ÄRZTEBLATT Zur Fortbildung Aktuelle Medizin

Assoziation

zwischen Reserpin-Medikation und Brustkrebs?

Stellungnahme zu drei Veröffentlichungen in „Lancet"

Herbert Immich

Aus der Abteilung für Medizinische Dokumentation und Statistik der Universität Heidelberg

In drei retrospektiven Studien aus den USA, England und Finnland haben die Autoren den Verdacht geäußert: Bei Frauen, die rauwol- fiaalkaloidhaltige Präparate einnehmen. komme Brustkrebs etwas häufiger vor, als es dem Durchschnitt entspricht. Von der Tages- presse aufgegriffen. können solche Meldungen dazu beitragen, die Patientinnen zu beunruhigen. Aber auch der Arzt wird unsicher, ob seine Verordnung gerechtfertigt ist. Die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft hat die Öffentlichkeit bereits über die Presse davon unterrichtet, daß zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Veran- lassung besteht, bei Frauen mit Hypertonie auf eine Reserpinbe- handlung zu verzichten. Die nachfolgende erste kritische Stellung- nahme befaßt sich mit den statistischen Aspekten der drei genann- ten Studien. Die Arzneimittelkommission hat in Zusammenarbeit mit dem Bundesgesundheitsamt eine weitere Prüfung zugesagt. Sie wird fortlaufend über den Stand der Situation unterrichten').

werden bei der „matched pairs"- Methode Kontrollpatientinnen zu- geteilt, welche nicht an Brustkrebs leiden, die sich aber in möglichst vielen Paarungskriterien gleichen, wie zum Beispiel Alter, Beruf, Wohnort, Einkommen. Üblicherwei- se wird jedem „Fall" (hier also Pa- tientin mit Brustkrebs) ausschließ-

*) Siehe auch DEUTSCHES ÄRZTEBLATT, Heft 39/74, Seite 2736

EDITORIAL:

Assoziation zwischen Reserpin-Medikation und Brustkrebs?

KOMPENDIUM:

Klinische Bakteriologie für die ärztliche Praxis Grundsätze der internistischen Tumortherapie Entzündungen und Tumoren der Schädelknochen Antibiotika in der Nahrung

DIAGNOSTIK IN KÜRZE:

Infarktpatienten Elektrische Vorhofstimulation

Methodik retrospektiver Studien mit „matched pairs"

Bei retrospektiven Studien geht man vom Effekt einer vermuteten Ursache aus und versucht, retro- spektiv, also nachträglich, festzu- stellen, ob die Ursache zu dem Ef- fekt geführt hat. Als „Effekt" in den drei Studien gilt der Brustkrebs, als Ursache Rauwolfiaalkaloide.

Den Patientinnen mit Brustkrebs

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 42 vom 17. Oktober 1974 2997

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Zur Fortbildung Aktuelle Medizin Reserpin-Medikation

lich eine einzige „Kontrolle" zuge- ordnet. Stehen mehrere „Kontrol- len" mit demselben Alter, Beruf, Wohnort usw. für eine Krebskranke zur Auswahl, so wird eine einzige

„Kontrolle" streng zufällig ausge- wählt. Auf diese Weise will man er- reichen, daß die „Testgruppe"

(hier also Brustkrebskranke) und die „Kontrollgruppe" gleich groß sind und sich in den Paarungskri- terien gleichen.

Um Schlüsse auf die Gesamtbevöl- kerung zuzulassen, fordert man, daß Test- und Kontrollgruppe ei- nen repräsentativen Ausschnitt aus der Bevölkerung darstellen.

Nach Abschluß einer retrospekti- ven Studie wird die „Risikorate"

nach der untenstehenden Formel berechnet (siehe Kästchen).

Ist dieser unbenannte Quotient kleiner oder gleich Eins, so nimmt man keine Beziehung zwischen Ur- sache und Effekt an. Ist der Quo- tient größer als Eins, dann inter- pretiert man bei retrospektiven Studien: Ursachenträger haben ein größeres Risiko, den Effekt zu er- leiden, als Nichtursachenträger.

Bostoner Studie

Die zeitlich offenbar früheste Ar- beit von Dr. H. Jick et al. stammt aus Boston (USA). Für ihre „mat- ched pairs" verwenden die Autoren nur die Paarungskriterien „Alter ± 5 Jahre" und „Aufnahmekranken- haus". Die Autoren können 150 Pa- tientinnen erfassen, die unter der Diagnose „Brustkrebs" erstmals stationär aufgenommen worden sind. Ihnen werden nach Zufall 600 Patientinnen von allgemeinchirur- gischen und 600 Patientinnen von allgemeinmedizinischen Abteilun-

gen „zugemischt". Von 150 Frauen mit Brustkrebs haben elf Reserpin eingenommen, von 1200 Frauen der Kontrollgruppe 26. Aus diesen Zah- len berechnen die Autoren eine Ri- sikorate von 3,5. Das bedeutet nach Meinung der Autoren: Frau- en, welche Rauwolfiaalkaloide einnehmen, haben ein dreieinhalb- fach größeres Risiko, an Brust- krebs zu erkranken, als die Kontrol- len. Was ist von dieser Aussage zu halten?

Zunächst ist es ganz und gar unüb- lich, die Kontrollgruppe achtmal größer zu machen als die Test- gruppe; von echten „Paaren" kann man also gar nicht mehr sprechen.

Jeder Statistiker weiß jedoch, was geschieht, wenn man eine Test- gruppe von 150 Frauen mit 1200 Kontrollen vergleicht; diese Beden- ken hier auszubreiten würde aber zu weit führen. Viel gravierender ist folgendes:

Bevor die Autoren Kontrollgruppen gebildet haben, sind auf den all- gemeinmedizinischen Abteilungen von ursprünglich 5200 Frauen 1686 ausgesondert worden, die entwe- der an einem Krebs anderer Orga- ne oder an Herz-Kreislauf-Krankhei- ten litten. Den Grund für diese Se- lektion geben die Autoren rficht an.

Nach eigenen Erfahrungen dürften unter diesen 1686 Frauen zwischen 1000 und 1200 an einer Herz-Kreis- lauf-Krankheit leiden; von denen wiederum, vorsichtig geschätzt, rund 200 Reserpin einnehmen. Das bedeutet: Durch diese Selektion sind Frauen, welche Reserpin ein- nehmen, in der Kontrollgruppe deutlich unterrepräsentiert. Da- durch verkleinert sich aber der Nenner in dem Bruch, aus dem die Risikorate berechnet wird, das „Ri-

siko" muß also größer werden.

Doch bleibt das so berechnete Ri- siko nach dem eben Gesagten eine irreale Zahl.

Außerdem: Mit einem passenden Test kann man zeigen: Reserpin- Verbraucherinnen und Nicht-Reser- pin-Verbraucherinnen sind in ihrer Alterszusammensetzung nach den Bostoner Daten nicht vergleichbar, wie es auch aus Darstellung 1 her- vorgeht.

Das Alter der Reserpin-Verbrau- cherinnen steigt nahezu exponenti- ell an; der Gipfel liegt bei den über 60jährigen, also in einem Alter, in dem die Wahrscheinlichkeit, an Hochdruck zu erkranken (und da- mit Reserpin zu benötigen), ebenso zunimmt wie die Wahrscheinlich- keit, einen Brustkrebs zu bekom- men. Die „Assoziation" zwischen Reserpin-Medikation wird durch die dritte gemeinsame Ursache

„Lebensalter" nur vorgetäuscht, weil die Autoren es versäumt ha- ben, Altershomogenität zwischen Reserpin-Verbraucherinnen und Nicht-Verbraucherinnen herzustel- len.

Die Abbildung zeigt noch eine wei- tere, bemerkenswerte Tatsache:

Frauen zwischen 50 und 59 Jahren sind in dem Bostoner Untersu- chungsgut am seltensten; das liegt an den insgesamt nur 37 Brust- krebsfällen dieser Altersklasse.

Da nicht anzunehmen ist, daß sich Frauen zwischen 50 bis 59 Jahren seltener stationär behandeln las- sen als jüngere oder ältere Frauen, muß man schließen, daß die Grup- pe der unter 50jährigen im Bosto- ner Untersuchungsgut stärker re- präsentiert ist als in der weiblichen Gesamtbevölkerung der USA. Frau- en dieses Alters nehmen aber sel- ten oder kaum Reserpin.

Schließlich läßt sich die Behaup- tung der Autoren statistisch nicht sichern, daß Reserpin-Verbrauche- rinnen mit Brustkrebs das Medika- ment längere Zeit eingenommen hätten als die restlichen Reserpin- Verbraucherinnen.

Relative Häufigkeit der Ursachenträger

Risikorate = in der Testgruppe

Relative Häufigkeit der Ursachenträger in der Kontrollgruppe

Formel zur Errechnung von Risikoraten bei retrospektiven Studien

2998 Heft 42 vom 17. Oktober 1974 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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Finnische Studie

Die finnische Studie von Dr. Heino- nen et al. arbeitet tatsächlich mit 438 "matched pai rs". Sonst wieder- holt sie aber alle Mängel der Bo- stoner Studie; die Kontrollgruppe besteht nur aus chirurgischen Fäl- len, aus denen vorher herausselek- tiert worden sind: alle Gallenblasen- operationen, Schilddrüsenopera- tionen, Nierenoperationen und jede Operation an Herz-Kreislauf-Orga- nen. Auch im finnischen Untersu- chungsgut sind mehr Frauen unter 50 Jahren als zwischen 50 und 59.

Ebenso ist die Altersverteilung der Reserpin-Verbraucherinnen mit der Verteilung der Nicht-Verbraucherin- nen nicht vergleichbar.

Englische Studie

Die englische Arbeit von Dr. B.

Armstreng et al. stützt sich aus- schließlich auf krebskranke Frau- en. Dieses Untersuchungsgut ist nicht mehr repräsentativ für die weibliche Gesamtbevölkerung in Großbritannien. Denn Frauen mit Krebs an anderen Organen als der Brust nehmen mit Sicherheit selte- ner Reserpin als beispielsweise Hochdruckpatientinnen. Also wird der Nenner für die Berechnung der Risikorate auch hier wieder künst- lich verkleinert.

Unter 708 Frauen mit Brustkrebs finden die Autoren zehn Reserpin- Verbraucherinnen, unter den 1430 Frauen mit anderen Organkrebsen elf. Bei diesen Zahlen lassen sich mit einem passenden statistischen Test keine Unterschiede in der Häufigkeit der Reserpin-Medikation zwischen beiden Gruppen sichern.

Außerdem kann man auch hier nicht von "Paaren" im strengen Sinne sprechen.

Zusammenfassend ist also festzu- stellen:

~ Die Autoren haben sich durch künstliche Selektion ein Untersu- chungsgut geschaffen, das für die jeweiligen Gesamtbevölkerungen nicht mehr repräsentativ ist.

p 1,0

O,S

0,0

Zur Fortbildung Aktuelle Medizin

<SO

Alter

S0-59 >60

der Patientinnen Reserpin- Einnahme

keine Reserpin -Einnahme

Darstellung: Reserpin-Verbraucherinnen und Nicht-Reserpin-Verbraucherin- nen der Sostoner Studie nach Altersgruppen geordnet

~ Durch dieselbe Selektion ist der Anteil der Reserpin-Verbraucherin- nen in den Kontrollgruppen deut- lich unterrepräsentiert.

~ Die Assoziation zwischen Reser- pin-Medikation und dem Auftreten von Brustkrebs ist durch die dritte gemeinsame Ursache des hohen Lebensalters vorgetäuscht.

~ Damit handelt es sich bei der

"Assoziation" um einen methodi- schen Artefakt.

Literatur

Armstrong, B., Stevens, N., Doll, R.: A re- trospective Study of the Association be- tween Use of Rauwolfia Derivatives and Breast Cancer in English Women - Heino- nen, 0. P., Tuominen, L., Turunen, M. L., Shapiro, S.: Reserpine Use in Relation to Breast Cancer - Jick, H., Slone, D., Sha- piro, S., Heinonen, 0. P., Hartz, S. C.:

Reserpine and Breast Cancer; The Lancet 7881 Vol. II (1974) 669

Anschrift des Verfassers:

Professor Dr. med. Herbert lmmich 69 Heidelberg,

Im Neuenheimer Feld 325

DEUTSCHES ARZTEBLA'IT Heft 42 vom 17. Oktober 1974 2999

Referenzen

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