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Archiv "Paläopathologische Befunde der Wirbelsäule im frühen Mittelalter: Degenerative Veränderungen nicht häufiger als heutzutage" (23.04.2004)

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A1162 Deutsches ÄrzteblattJg. 101Heft 1723. April 2004

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ir Marc Armand Ruffer prägte den Begriff der Paläopathologie in den 20er-Jahren des letzten Jahrhun- derts (36). Im Jahre 1918 publizierte er den ersten Artikel über Erkrankungen der Wirbelsäule in früheren Kulturen.

Dieser trug den Titel: „Arthritis defor- mans and spondylitis in ancient Egypt“

(37). Derartige Untersuchungen wer- den in Europa, Asien und Nordamerika normalerweise an Skeletten vorgenom- men (6, 9, 22, 25, 26, 30, 46, 47, 48), weil Mumien in diesen Regionen im Ver- gleich zu Südamerika und Ägypten selten sind (14, 29, 36, 37, 39).

Befunderhebung an 253 Skeletten

Für die Auswertungen wurden die Wir- belsäulen von 253 Skeletten der Ala- mannen (6. bis 8. Jahrhundert nach Christus) aus dem Südwesten von Deutschland untersucht. In dieser Regi- on prägten Kriegertum und bäuerliches Wirtschaften das Leben der germani- schen Stämme (1, 9, 46). Die Menschen sicherten ihre Existenz durch körperli- che Aktivität. Ein Zusammenhang zwi- schen körperlicher Belastung und dege- nerativen Veränderungen bestand häu- figer, besonders für die Lendenwirbel- säule (44, 45).

Dieser Aspekt wurde in der paläo- pathologischen Untersuchung speziell bearbeitet. Darüber hinaus wurden angeborene Erkrankungen, Infektio- nen, Traumen und Tumoren betrach- tet.

Ergänzend zu diesen paläopatholo- gischen Untersuchungen wurde der möglicherweise älteste Fall einer Frak- tur der Wirbelsäule des anatomisch mo- dernen Menschen aus der jungen Alt- steinzeit untersucht.

Die Skelette wurden bei archäologi- schen Ausgrabungen von Reihengrä- berfriedhöfen bei Nusplingen, Schretz- heim, Pleidelsheim und Neresheim aus dem Südwesten von Deutschland ge- borgen und sind am Institut für Anthro- pologie und Humangenetik in Tübin- gen archiviert. Zur Untersuchung der Wirbel wurden makroskopische und mikroskopische Methoden angewandt.

Bei besonderen Fragestellungen wur- den computertomographische und röntgenologische Bildgebungsverfah- ren genutzt. Alter und Geschlecht der Skelette wurden nach den typischen Methoden der Paläoanthropologie be- stimmt (Alter: Ossifikation der Schä- delnähte, Zahnstatus, Verknöcherung der Epiphysenfugen; Geschlecht: Form der supraorbitalen Region, Form der Incisura ischiadica major).

Dekompositions- Erscheinungen

Bei der Beurteilung von Untersu- chungsergebnissen von Skelettresten sind Verwitterungsbedingungen wich- tig. Hier spielt nicht nur die chemische Reaktion im Boden und seine von Zen- timeter zu Zentimeter wechselnde Kon- sistenz eine entsprechende Rolle. Auch die Art der Lagerung des Leichnams im Boden (Seitenlage versus Rückenlage, Erdbestattung versus Sargbestattung) hat Auswirkungen auf die Art und die speziellen Angriffspunkte der Dekom- position. Bei dem untersuchten Material aus der Merowingerzeit handelt es sich

Paläopathologische

Befunde der Wirbelsäule im frühen Mittelalter

Degenerative Veränderungen nicht häufiger als heutzutage

Jochen Weber1 Alfred Czarnetzki 2 Axel Spring1

Zusammenfassung

Durch paläopathologische Untersuchungen der Wirbelsäule können Informationen über die Menschen und deren Erkrankungen gewonnen werden. Die Studie wurde an 253 Skeletten aus dem Südwesten von Deutschland durchge- führt. Unspezifische Infektionen, Spondyloly- sen und Frakturen kamen nur in wenigen Fällen vor. In einem Fall lag eine thorakale Tuberkulo- se mit einem Kyphosewinkel von 170 bis 180 Grad vor. Angeborene Fehlbildungen im lumbo- sakralen Bereich wurden häufiger angetroffen.

Neoplastische Veränderungen der Wirbel konn- ten nicht festgestellt werden. Der Vergleich mit derselben Altersgruppe heute zeigt, dass dege- nerative Veränderungen nicht häufiger vorka- men als heute. Es werden diese Aspekte im Zu- sammenhang mit klinischen Studien und paläo- pathologischen Untersuchungen diskutiert.

Schlüsselwörter: Paläopathologie, Tuberkulose, Medizingeschichte, kongenitale Fehlbildung, Fraktur

Summary

Paleopathological Features of the Spine in the Early Middle Ages

Paleopathological investigation of the spine of people from ancient civilizations can provide a large amount of information about these individuals and their physical condition. This study was conducted on a sample of 253 skele- tons from southwestern Germany. Only a few spine fractures, spondylolysis and non-specific infections have been described in this study.

We present one case of thoracic spine tuber- culosis showing nearly 170 to 180 degree angulated kyphosis. Lumbosacral congenital malformations were relatively common in this population. There was no evidence of a neo- plastic lesion of the spine. In the early Middle Ages, the prevalence of degenerative spine disease was at the same level as today in the same age group. These aspects are discussed in the context of modern medical knowledge and paleopathological examinations.

Key words: paleopathology, tuberculosis, med- ical history, congenital malformation, fracture

1Neurochirurgische Klinik (Chefarzt: Prof. Dr. med. Axel Spring), Leopoldina Krankenhaus, Schweinfurt

2Institut für Anthropologie und Humangenetik, Paläan- thropologie und Osteologie (Leiter: Dr. rer. nat. Alfred Czarnetzki), Universität Tübingen

(2)

überwiegend um Bestattungen mit Baum- oder Brettersärgen in gestreck- ter Rückenlage (1). Auf den Erhal- tungszustand der Wirbelsäule hat dies spezielle Auswirkungen.

Von den 253 Skeletten konnten 196 Wirbelsäulen (2 640 Wirbel) untersucht werden (circa 13,5 Wirbel pro Wirbel- säule). Die obere (Axis 75 Prozent) und untere Halswirbelsäule (HWS) (Hals- wirbelkörper [HWK] 7 in 66 Prozent) sowie die untere Lendenwirbelsäule (LWS) (Lendenwirbelkörper [LWK] 4 in 91 Prozent) (47, 48) waren gut erhalten.

In einem schlechteren Zustand befand sich die Brustwirbelsäule (beispielswei- se Brustwirbelkörper [BWK] 5 in 24 Prozent), besonders im oberen und mittleren Bereich. Eine mögliche Er- klärung für den guten Erhaltungszu- stand der HWS und der unteren Len- denwirbelsäule könnte die Lenden- und Halswirbelsäulenlordose sein. Diese führt dazu, dass diese Abschnitte der Wirbelsäule bei einer Bestattung im Holzsarg weiter vom Sargboden ent- fernt sind als die Brustwirbelsäule. Da- her sind diese Wirbelsäulenabschnitte dem sich auf dem Sargboden stauenden aggressiven Leichenwasser weniger stark ausgesetzt.

Kongenitale Missbildungen

Die häufigsten angeborenen Missbil- dungen der Wirbelsäule in heutiger Zeit sind dorsale mediale Spaltbildungen des lumbosakralen Übergangs. Sie kommen bei etwa 20 Prozent vor. Bei 2,1 Prozent der untersuchten Skelette konnte eine typische Spina bifida der

unteren LWS und in 18,5 Pro- zent eine dorsale Spaltbildung des Sakrums (häufig Sakral- wirbel [SWK] 1 und kaudales Sakrum) (47) festgestellt wer- den. Dies entspricht der Häu- figkeit in heutiger Zeit.

In der paläopathologischen Literatur wird über diese an- lagebedingte Störung aus un- terschiedlichen Kulturen und Zeitepochen nur selten be- richtet (2, 14). Eine lumbosa- krale Spaltbildung (bis 50 Pro- zent) in früheren Kulturen wurde auf der kanarischen In- sel Teneriffa festgestellt (2). Die hohe Prävalenz könnte auf die isolierte Lage und den damit verbundenen geringen genetischen Austausch zurückzuführen sein.

Ein Morbus Scheuermann wurde im untersuchten Knochenmaterial im Be- reich von BWK 6 bis 12 sowie LWK 1 bis 3 bei vier Prozent diagnostiziert (47).

In keinem dieser Fälle konnte eine Abweichung der physio- logischen Achse oder ein Keil- wirbel beobachtet werden.

Aus früheren Kulturen wer- den gelegentlich Kyphosen und Skoliosen mitgeteilt, be- sonders dann, wenn die patho- logische Abweichung der phy- siologischen Achse knöchern fixiert ist (2). Da bei den un- tersuchten Skeletten keine derartige Knochenumfor- mung wie Keilwirbelbildung oder eine deutliche Rechts- links-Verlagerung des Proces- sus spinosus festgestellt wer- den konnte, lässt sich keine Aussage über Kyphosen oder Skoliosen der Wirbelsäule im frühen Mittelalter treffen.

Formations- beziehungs- weise Anlagestörungen der Wirbel sind selten. Als Ursa- che wird heute eine toxische Schädigung während der Schwangerschaft angenom- men (17). In einer paläopa- thologischen Untersuchung wird für diese Erkrankung ei- ne Prävalenz von 0,54 Prozent genannt (20). Es konnten zwei Fälle einer Formations- oder

Anlagestörung der Wirbelkörper in der hier vorgestellten Untersuchung beob- achtet werden.

Bei einer Frau, die im Alter von 20 bis 30 Jahren starb, wurde ein asymmetri- scher Schmetterlingswirbel von LWK 5 festgestellt (47). Dabei lag eine kom- plette sagittale Spalte des Wirbel- körpers mit runder Erweiterung im zentralen Bereich (möglicherweise per- sistierende Chorda dorsalis) vor (Abbil- dung 1). Aus früheren Kulturen wurden wenige Fälle mit einer partiellen sagit- talen Spalte des Wirbelkörpers mitge- teilt (2). Der beschriebene Fall aus der Merowingerzeit ist daher der erste mit kompletter sagittaler Spalte eines Wir- belkörpers in der paläopathologischen Literatur. In heutiger Zeit werden Block- oder Schmetterlingswirbel bei 13,9 Prozent der Fehlbildungen an der Wirbelsäule beobachtet (17). Im zwei- ten Fall lag eine atlantookzipitale Assi- milation mit knöcherner Fusion von

HWK 2/3 vor (48).

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Abbildung 1: Asymmetrischer Schmetterlingswirbel von Lendenwirbelkörper 5 mit kompletter sagittaler Spalte und runder Erweiterung im zentralen Bereich

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Abbildung 2: a) Skelett eines 12 bis 14 Jahre alten Kindes mit kompletter Destruktion von BWK 4 bis 10 sowie inkompletter Destruktion von BWK 11 bei Tuberkulose der Wirbelsäule. Dies führte zu einer thorakalen Kyphosierung um 170 bis 180 Grad. b) Die sagittale Computertomo- graphie lässt keine knöcherne Stenose des Spinalkanals erkennen, aber eine knöcherne Fusion der Laminae BWK 4 bis 11 ohne Zeichen einer Infektion.

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Maligne Tumoren

Metastasen sind die häufigsten malig- nen Tumoren der Wirbelsäule (um 70 Prozent). Sie werden heutzutage bei et- wa zehn Prozent aller malignen Erkran- kungen beobachtet. Bei der Untersu- chung der 196 Wirbelsäulen konnte kein maligner Knochentumor aus dem frühen Mittelalter festgestellt werden.

Nur selten wird in der paläopathologi- schen Literatur ein maligner Tumor der Wirbelsäule mitgeteilt. Dabei werden häufiger osteolytische Herde und selten osteoblastische Veränderungen vorge- stellt (10, 14, 38, 40). Ein osteolytischer Wirbeltumor unterliegt schneller den Verwitterungsbedingungen und ist da- her eher in einem schlechten Erhal- tungszustand oder komplett aufgelöst.

Dies ist eine mögliche Erklärung für die selten nachgewiesenen Tumoren der Wirbelsäule. Auch die niedrige durch- schnittliche Lebenserwartung (um 34 Jahre im frühen Mittelalter) und die ge- ringere Belastung mit karzinogenen Stoffen werden als Gründe für die selten vorkommenden malignen Tumoren in früheren Kulturen genannt.

Tuberkulose

Mit dem Beginn der Tierhaltung in der Jungsteinzeit wurden durch den engen Kontakt der Menschen mit den Tieren Bedingungen geschaffen, die eine Be- siedlung der Menschen durch human- pathogene Mikroorganismen leichter ermöglichten. Eine dieser Zoonosen ist die Tuberkulose (Tbc). Aus dieser Zeit vor 5 800 Jahren werden daher auch die ersten tuberkulösen Skelettbefunde mitgeteilt (7, 13), darunter auch ein Fall einer thorakalen Tuberkulose aus dem Südwesten von Deutschland (4). Von diesem Zeitpunkt an wurden einige Fäl- le mit Tuberkulose in der Paläopatholo- gie berichtet (2, 9, 11, 14, 26, 49).

Der Chirurg Percivall Pott (1714 bis 1788) aus London berichtete im Jahre 1779 über eine infektiöse Destruktion der Wirbelkörper mit einer Deformität der Wirbelsäule und Kompression des Myelons. Diese Symptome werden auch Pottsche Trias genannt (Gibbus, Läh- mung und Abszess).Als erster, der diese typische Skelettveränderung für die Tu-

berkulose beschrieben hat, wird aller- dings Jean-Pierre David (1737 bis 1784) genannt (12).

In der präantibiotischen Ära wird bei fünf bis sieben Prozent aller Tbc-Kran- ken von einer Skeletttuberkulose berich- tet, dabei ist bei bis zu 50 Prozent der Fäl- le von einer Tuberkulose der Wirbelsäule (häufig thorakal) die Rede (23, 41, 42).

Bei einer spinalen Tuberkulose sind sel- ten mehr als drei Wirbelkörper betrof- fen. In nur drei Prozent der Fälle in paläopathologischen oder klinischen Studien wird eine kyphotische Fehlstel- lung über 30 Grad genannt (2, 4, 11, 23, 26, 33, 41, 42). Bei zwei Skeletten wurden tuberkulöse Veränderungen der thora- kalen Wirbelsäule mit kyphotischer Fehl- stellung beobachtet. Im ersten Fall, ei- nem 30 bis 40 Jahre alten Skelett, lag eine komplette Destruktion von BWK 6 mit

inkompletter Osteolyse von BWK 5 und 7 vor. Daraus resultierte eine Kypho- sierung in der mittleren BWS um 10 bis 20 Grad (9).

Im zweiten Fall, bei einem Jungen, der im Alter von 12 bis 14 Jahren starb, war eine komplette Osteolyse von BWK 4 bis 10 und eine inkomplette Destruk- tion von BWK 11 zu erkennen.Dies führt zu einer thorakalen Kyphosierung um 170 bis 180 Grad (Abbildung 2 a). Eine knöcherne Stenose des Spinalkanals wurde dabei nicht beobachtet, ebenso- wenig liegt eine tuberkulöse Beteiligung der dorsalen Abschnitte der Wirbelsäule (Pediculus arcus vertebrae, Lamina ar- cus vertebrae oder Processus spinosus) vor (Abbildung 2 b).Auffallend war eine knöcherne Fusion der Laminae BWK 4 bis 11 ohne Zeichen einer Infektion (49). Bisher war bei keiner derartig ex- tremen Kyphosierung der Wirbelsäule von einer Tuberkulose die Rede, sowohl in der paläopathologischen Literatur als auch in klinischen Studien (2, 4, 9, 11, 23, 26, 33, 41, 42). Als maximale Kyphosie- rung wurden Werte zwischen 120 bis 140 Grad genannt (33, 41). Dabei wird ein Krankheitsbeginn vor dem zehnten Le- bensjahr vorausgesetzt, denn durch das Wachstum der dorsalen Wirbelsäulen- abschnitte bei destruierten Wirbelkör- pern wird die kyphotische Fehlstellung der kindlichen Wirbelsäule verstärkt (33, 41). Bei dem präsentierten Fall aus dem frühen Mittelalter wird daher eine mehrjährige Erkrankung mit einem Be- ginn vor dem zehnten Lebensjahr ver- mutet. Über die Todesursache kann al- lerdings nur spekuliert werden.

Unspezifische Entzündungen und rheumatische

Erkrankungen

Die ankylosierende Spondylitis ist eine entzündlich rheumatische Erkrankung mit bevorzugter Manifestation an der Wirbelsäule. Der Morbus Bechterew lässt sich aufgrund seiner typischen Kno- chenveränderungen an Skeletten aus früheren Zeiten relativ sicher feststellen, insbesondere im fortgeschrittenen Stadi- um der Erkrankung. Einige Fälle von Spondylarthritis ankylopoetica werden in der paläopathologischen Literatur vorgestellt (2). Aus dem frühen Mittelal- A

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Abbildung 3 a, b: Laterale Kompressionsfraktur von LWK 4 mit knöcherner Fusion von LWK 3 und 4 in kyphotischer Fehlstellung des Ske- lettes „Stetten 1“ aus der Vogelherdhöhle im Südwesten von Deutschland (Alter: 34 100 Jahre vor unserer Zeit, Junge Altsteinzeit).

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ter liegt ein Fall mit Bandverknöcherung und Ankylosierung der kleinen Wirbel- gelenke und Kostovertebralgelenke der Wirbelsäule bis auf die obere HWS vor (9,47,48).Es handelt sich daher um einen weit fortgeschrittenen Krankheitsverlauf ohne Beteiligung der Hüftgelenke (Kniegelenke liegen nicht vor). Ohne entsprechende Fürsorge ist ein derarti- ger Krankheitsverlauf über viele Jahre schwer vorstellbar. Derartig fortgeschrit- tene Krankheitsverläufe werden selten in paläopathologischen Fallberichten do- kumentiert.

Darüber hinaus konnten zwei Fälle ei- ner Spondylodiszitis im Bereich der Len- denwirbelsäule festgestellt werden (47).

Im ersten Fall lag eine nicht ausgeheilte Entzündung mit osteolytischen Destruk- tionen der Deckplatte von LWK 5 bei ei- nem 50 bis 60 Jahre alten Mann vor. Im zweiten Fall konnte ein Blockwirbel LWK 4/5 nach abgelaufener Spondylo- diszitis (möglicherweise Brucellose) be- obachtet werden.

Frakturen

In heutiger Zeit werden besonders häu- fig Frakturen der unteren HWS und des thorakolumbalen Übergangs (BWK 12 und LWK 1 in 64 Prozent) beobachtet (15). Im pharaonischen Ägypten wurde das Krankheitsbild einer traumatischen Querschnittslähmung erstmalig mit einer schlechten Prognose beschrieben (18).

Frakturen des Schädels oder der langen Röhrenknochen werden in der paläopa- thologischen Literatur häufig mitgeteilt, wohingegen Frakturen der Wirbelsäule selten publiziert werden (2, 9, 14, 37, 46, 47, 48). Bei der Untersuchung war bei je einem LWK 1 und LWK 2 eine Kompres- sionsfraktur der Deckplatte des Wirbel- körpers festzustellen (47). Eine Beteili- gung der Hinterkante des Wirbelkörpers lag in beiden Fällen nicht vor, weshalb neurologische Ausfallserscheinungen unwahrscheinlich sind. Die Spongiosa der frakturierten Wirbelkörper war deut- lich reduziert, was auf osteoporotisch be- dingte Frakturen schließen lässt. Das Sterbealter der beiden Individuen lag bei 40 bis 50 Jahren. Neben diesen beiden auch in heutiger Zeit häufig beobachte- ten Frakturen des thorakolumbalen Übergangs konnte eine Densfraktur

(Typ 2 nach Anderson und D'Alonzo) mit Pseudarthrose festgestellt werden (48). Heutzutage kommt es in 15 Prozent der HWS-Frakturen zu einer Densfrak- tur. In der paläopathologischen Literatur ist dieser Frakturtyp bisher nicht doku- mentiert.

Der älteste Fall einer Wirbelfraktur

Im Sommer 1931 wurden von Gustav Riek in der Vogelherdhöhle bei Stetten ob Lonetal (nordöstlich von Ulm) Ske- lettreste von zwei anatomisch modernen Menschen geborgen (35). Durch Radio- karbondatierung war eine Einschätzung des Alters des Skelettes „Stetten 1“ auf 34 100 Jahre vor unserer Zeit möglich (8,

16). Die Skelettreste sind daher einer der frühesten knöchernen Nachweise für die Anwesenheit des modernen Menschen in Mitteleuropa (Kulturphase: Junge Alt- steinzeit; Aurignacien). Nur in Ausnah- mefällen werden an archäologischen Fundstellen aus dieser Zeit Menschenre- ste entdeckt. Jetzige Untersuchungen der erhaltenen Lendenwirbel 3 und 4 des Skelettes „Stetten 1“ ergaben eine latera- le Kompressionsfraktur von LWK 4 mit knöcherner Fusion (laterale Spange) von LWK 3 und 4 in kyphotischer Fehlstel- lung (Abbildung 3 a und b). Eine Beteili- gung der Hinterkante des Wirbelkörpers lag nicht vor, neurologische Ausfallser- scheinungen sind daher unwahrschein- lich. Die frühesten bisher bekannten Wirbelfrakturen wurden aus dem Neolit- hikum mitgeteilt (2, 5, 18). Die LWK-4- Fraktur des Skelettes „Stetten 1“ aus

dem Paläolithikum ist daher möglicher- weise der älteste Fall einer publizierten Fraktur der Wirbelsäule des anatomisch modernen Menschen.

Spondylolysen

Die Prävalenz von Spondylolysen der In- terartikularportion beträgt heutzutage vier bis sieben Prozent. Die Spondylolyse entsteht meist aufgrund eines isthmi- schen Defekts, der auf einen Ermüdungs- bruch zurückgeführt wird. Ein kleinerer Teil der Spondylolysen wird auf dys- plastische Veränderungen der Wirbel- bögen und der Facettengelenke zurück- geführt (17, 27). Eine Spondylolyse mit ein- oder beidseitigem Defekt der Pars interarticularis des Wirbelbogens wurde in der Merowingerzeit bei 3,8 Prozent im Bereich von LWK 4 und LWK 5 beobachtet (47) (Abbildung 4). In der paläo- pathologischen Literatur geht man von einer Häufigkeit der Spondylolyse von 6 bis 33 Pro- zent aus (2, 3, 27). Die meisten Alamannen waren Bauern und Krieger in einer Person, eine entsprechende körperliche Ak- tivität ist daher anzunehmen.

Vor diesem Hintergrund lässt sich – mit der nötigen Vorsicht – die niedrige Spondylolyse- rate im frühen Mittelalter im Vergleich zu anderen früheren Kulturen und der heutigen Zeit deuten.

Eine kalorienreiche Ernährung (Durch- schnittsgröße der Männer im frühen Mit- telalter 174 cm [9]) im Zusammenhang mit körperlicher Aktivität führte zu einem entsprechenden Muskelaufbau.

Eine muskuläre Stabilisierung der Wir- belsäule kann daher vermutet werden.

Dies ist möglicherweise ein Faktor für die beobachtete niedrige Spondylolyserate.

Degenerative Veränderungen der thorakalen und

lumbalen Wirbelsäule

Degenerative Veränderungen sind al- tersabhängig und nehmen im höheren Lebensalter zu. Neben einer genetischen Prädisposition haben vor allem Ge- schlecht, Körpergewicht und Traumen A

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Abbildung 4: Beidseitige Spondylolyse der Pars interar- ticularis von LWK 4

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darauf einen Einfluss (43, 45). Ein Zu- sammenhang zwischen schwerer körper- licher Aktivität und lumbalen degenera- tiven Veränderungen wird in klinischen Studien kontrovers diskutiert (44, 45).

Durch aktuelle bioarchäologische For- schung kann ein Zusammenhang zwi- schen degenerativen Veränderungen der Lendenwirbelsäule und körperlicher Be- lastung nicht bestätigt werden (6, 21, 25).

In klinischen Untersuchungen zu kör- perlicher Belastung und degenerativen Gelenkerkrankungen bei Ausdauer- sportlern konnte kein sicherer Zusam- menhang zwischen körperlicher Akti- vität und degenerativen Veränderungen festgestellt werden (24, 31, 44, 50). Aller- dings wird auch berichtet, dass die Wir- belsäule kein ideales Modell ist, um kör- perliche Belastung und degenerative Veränderungen zu untersuchen (22).

Dies wird in bioarchäologischen Unter- suchungen auf die unterschiedlichen Ausprägungen der physiologischen Lor- dosen und Kyphosen während des Ganges zurückgeführt (22).

In 5,1 Prozent der Fälle konnte eine Spondylose der BWS und in 24,3 Prozent der LWS im frühen Mittelalter festge- stellt werden. Das durchschnittliche Al- ter lag dabei um die 45 Jahre (47).

In der paläopathologischen Literatur findet man auf die unterschiedlichen Kulturen aus verschiedenen Zeitepo- chen bezogen sehr unterschiedliche Spondyloseraten der LWS. Sie reichen von 20 bis 60 Prozent (5, 6, 20, 22, 25, 32).

Gründe hierfür sind zum einen divergie- rende Lebenserwartungen, zum anderen aber auch verschiedene Definitionen der Spondylosen oder Spondylarthrosen. In Europa wird heutzutage in 39,4 bis 50,4

Prozent der Fälle zwischen dem 40. und dem 49. Lebensjahr eine Spondylosis de- formans der LWS beobachtet (34, 43). Im Vergleich zu der heutigen Zeit oder paläopathologischen Untersuchungen lag im frühen Mittelalter im Südwesten von Deutschland eine niedrige Spondy- loserate der Lendenwirbelsäule vor. Die anzunehmenden körperlichen Belastun- gen in dieser Zeit führten zu keiner er- höhten Rate von degenerativen Verän- derungen der Lendenwirbelsäule.

Degenerative Veränderungen der Halswirbelsäule

Die Halswirbelsäule unterliegt anderen physiologischen Belastungen als die Len- denwirbelsäule. Sie wird daher gesondert betrachtet.

Bei 27,5 Prozent der Halswirbelsäulen (das durchschnittliche Sterbealter der un- tersuchten Personen betrug 43,7 Jahre) konnten degenerative Veränderungen festgestellt werden (48). Degenerative Veränderungen der Wirbelkörper wur- den überwiegend im Bereich der unteren HWS angetroffen (HWK 5/6 in 12,4 Pro- zent und HWK 6/7 in 15,5 Prozent). Im Gegensatz dazu war der mediale (6,1 Prozent) und laterale (0,6 Prozent) An- teil des atlantoaxialen Gelenkes selten degenerativ verändert. Die Facettenge- lenke von HWK 3/4 bis HWK 6/7 zeigten degenerative Veränderungen in 8,0 bis 11,8 Prozent. Das Facettengelenk HWK 2/3 war signifikant häufig degenerativ verändert (19,7 Prozent). In einem Vier- tel der Fälle war eine knöcherne Fusion zu beobachten (Abbildung 5).

Von degenerativen Veränderungen der Halswirbelsäule wird heutzutage in 34 bis 66 Prozent der Altersstufe von 40 bis 50 Jahren berichtet (19, 34, 43). In paläopathologischen Studien werden de- generative Veränderungen der HWS in nur 6 bis 30 Prozent beobachtet, aller- dings bei unterschiedlichem durch- schnittlichen Sterbealter (5, 6, 14). In die- sen Kulturen wurde normalerweise keine Last auf dem Kopf getragen (5, 6). Auch bei den Alamannen im frühen Mittelalter ist keine derartige Tradition bekannt. In prähistorischen Kulturen in den südame- rikanischen Anden wurden mithilfe einer Bandage um die Stirn schwere Lasten in Körben auf dem Rücken getragen. Es

sind mehrere Fälle mit schweren degene- rativen Veränderungen der HWS aus dieser Region bekannt, allerdings liegen keine Angaben zur Prävalenz vor (14).

Auch in heutiger Zeit werden degenera- tive Veränderungen der HWS bei be- stimmten Berufsgruppen (zum Beispiel bei Minenarbeitern [19] oder Düsenpilo- ten [28]) häufiger beobachtet. Dies wird auf die Traumatisierung der HWS zurückgeführt (19). Degenerative Verän- derungen der Halswirbelsäule im frühen Mittelalter kamen im Vergleich zur heu- tigen Zeit selten vor. Auffallend ist aller- dings die hohe Anzahl von degenerativen Veränderungen der Facettengelenke (HWK 2/3). Dies wurde bisher in keiner paläopathologischen Untersuchung oder klinischen Studie dokumentiert (48).

Schlussfolgerung

Durch körperliche Aktivität konnten Menschen im frühen Mittelalter ihre Exi- stenz sichern. Dies führte nicht zu einer Erhöhung der Spondyloserate. Bei ei- nem Skelett aus dem frühen Mittelalter wurde eine komplette Destruktion von BWK 4 bis 10 mit einer thorakalen Kyphosierung um 170 bis 180 Grad beob- achtet. Eine derartig extreme Abwei- chung der physiologischen Achse der Wirbelsäule bei einer Tuberkulose ist bis- her nicht beschrieben worden. Maligne Erkrankungen der Wirbelsäule waren bei den Skeletten aus dem frühen Mittel- alter nicht festzustellen. Die Knochen- pathologie der lumbalen Wirbel des Ske- lettes „Stetten 1“ aus dem Paläolithikum ist typisch für eine Kompressionsfraktur.

Möglicherweise ist dies der älteste Fall eines publizierten spinalen Traumas des anatomisch modernen Menschen.

Manuskript eingereicht: 15. 10. 2003; revidierte Fassung angenommen: 29. 12. 2003

Zitierweise dieses Beitrags:

Dtsch Arztebl 2004; 101: A 1162–1167 [Heft 17]

Deutsches ÄrzteblattJg. 101Heft 1723. April 2004 AA1167

Abbildung 5: Degenerativ bedingte knöcher- ne Fusion der Facettengelenke HWK 2/3.

Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literatur- verzeichnis, das beim Verfasser erhältlich oder im Internet unter www.aerzteblatt.de/lit1704 abrufbar ist.

Anschrift für die Verfasser:

Dr. med. Jochen Weber

Neurochirurgische Klinik, Leopoldina Krankenhaus Gustav-Adolf-Straße 8, 97422 Schweinfurt

Referenzen

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