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Prof. Dr. iur. Thorsten Kingreen

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Agnes-Miegel-Weg 10, 93055 Regensburg Tel.: 0941-7040241 e-mail: king@jura.uni-regensburg.de

Der Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Richtlinie über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheits-

versorgung

Rechtsgutachten für den

Deutschen Gewerkschaftsbund

von

Universitätsprofessor Dr. Thorsten Kingreen

Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Sozialrecht und Gesundheitsrecht - Forschungsstelle für Medizinrecht und Gesundheitsrecht -

Universität Regensburg

Dezember 2008

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Inhaltsübersicht

A. Einleitung 4

B. Analyse der Einzelbestimmungen des Richtlinienvorschlags 5

I. Kapitel I: Allgemeine Bestimmungen 5

1. Geltungsbereich, Art. 2 RL-E 5

2. Verhältnis zu anderen Gemeinschaftsvorschriften, Art. 3 RL-E 6 a) Das Verhältnis zur Wanderarbeitnehmerverordnung

VO/EWG 1408/71: Das duale System für die grenzüber-

schreitende Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen 7 aa) Unterschiedliche Wurzeln und Funktionen 7

bb) Sachrechtliche Unterschiede 9

(1) Anspruchsvoraussetzungen 9

(2) Anspruchsinhalt 10

(3) Anspruchsabwicklung 12

cc) Zusammenfassung 12

dd) Analyse 14

(1) Das Wahlrecht 14

(2) Lösungsvorschlag 15

(a) Daueraufenthalt 15

(b) Vorübergehender Aufenthalt 18 b) Das Verhältnis zu leistungserbringungsrechtlichen Rechtsakten 21 aa) Die Berufsqualifizierungsrichtlinie RL 2005/36/EG 21 bb) Die Dienstleistungsrichtlinie RL 2006/123/EG 22

3. Begriffsbestimmungen, Art. 4 RL-E 25

II. Kapitel II: Zuständige Behörden der Mitgliedstaaten 27 1. Aufspaltung der Steuerungsverantwortung 27 2. Art. 5 RL-E: Verrechtlichung der grenzüberschreitenden

Leistungsinanspruchnahme 28

III. Kapitel III: Inanspruchnahme der Gesundheitsversorgung in einem

anderen Mitgliedstaat 31

1. Gesundheitsdienstleistungen in einem anderen Mitgliedstaat,

Art. 6 RL-E 31

a) Normativer Befund 31

aa) Der maßgebliche Leistungskatalog, Art. 6 Abs. 1 RL-E 31 bb) Das Kostenerstattungsverfahren, Art. 6 Abs. 2-4 RL-E 32

b) Analyse 32

(3)

aa) Abschied von Sachleistungsprinzip? 33 bb) Das Problem der Mengen- und Preissteuerung 35 2. Krankenhaus- und Spezialbehandlung, Art. 8, 9 RL-E 40

a) Abgrenzung zwischen ambulanter und stationärer

Behandlung 40

aa) Zuständigkeit der Gemeinschaft 41

bb) Abgrenzungskriterium 43

b) Voraussetzungen des Genehmigungsvorbehaltes 46

c) Spezialbehandlungen 48

IV. Kapitel IV: Zusammenarbeit bei der Gesundheitsversorgung 50 1. Anerkennung von Verschreibungen, Art. 14 RL-E 50

a) Anerkennung und Kostenerstattung 50

b) Anwendungsbereich 51

c) Die Steuerung des ärztlichen Verordnungsverhaltens 53 aa) Leistungsausschlüsse und -beschränkungen 53 bb) Preis- und Vergütungsregulierung 53

d) Zusammenfassung 55

2. Europäische Referenznetze, Art. 15 RL-E 55

a) Kompetenz aus Art. 95 EGV? 56

b) Kompetenz aus Art. 152 Abs. 4 lit. c) EGV? 56 V. Kapitel V: Die Durchführung der Patientenrichtlinie 58

1. Die Ausübung der Durchführungsbefugnisse:

Das Komitologieverfahren 58

2. Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht 60 C. Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse 64

I. Allgemeine Bewertung 64

II. Einzelfragen 65

(4)

A. Einleitung

Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat am 2. Juli 2008 einen Vorschlag für eine „Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsver- sorgung“ (im Folgenden: RL-E) vorgelegt.1 Dieser hat eine politisch bewegte Vorgeschichte. Bereits 2004 hatte die Kommission einen Vorschlag für eine Richtlinie über Dienstleistungen im Binnenmarkt vorgelegt,2 der allerdings auf erheblichen politischen Widerstand gestoßen war, auch und gerade wegen der Einbeziehung sozialer Dienstleistungen. Deshalb nimmt Art. 2 Abs. 2 lit. f) der 2006 verabschiedeten Dienstleistungsrichtlinie3 nunmehr Gesundheitsleistungen von ihrem Anwendungsbereich aus. Die Kommission hat daraufhin eine Debatte über die Gesundheitsversorgung im Binnenmarkt angestoßen, als deren Ergebnis sie den Vorschlag für eine Patientenrichtlinie ansieht.

Die Richtlinie soll „Klarheit über den Anspruch auf Kostenerstattung für die in einem anderen Mitgliedstaat erbrachte Gesundheitsversorgung bieten und gewähr- leisten, dass die erforderlichen Voraussetzungen für eine hochwertige, sichere und effiziente Gesundheitsversorgung bei grenzüberschreitenden Gesundheitsdienst- leistungen gegeben sind.“4 Der Vorschlag enthält im Wesentlichen drei Elemente, die zur Erreichung dieser Ziele beitragen sollen:5

− Aufstellung der gemeinsamen Grundsätze der Gesundheitsversorgung in allen Mitgliedstaaten und Festlegung des Mitgliedstaates, der bei der grenzüber- schreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen für die Einhaltung dieser Standards zuständig ist (Kapitel II, dazu im Folgenden B. II.),

1 KOM(2008) 414 endg.

2 Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Dienstleistungen im Binnenmarkt, KOM (2004) 2 endg. v. 25. 2. 2004.

3 Vgl. nunmehr Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 12. 12.

2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt, ABl. L 376/36; dazu etwa C. Calliess, Europäischer Binnenmarkt und europäische Demokratie – von der Dienstleistungsfreiheit zur Dienstleistungs- richtlinie – und wieder Retour?, DVBl. 2007, 336ff. A. Hatje, Die Dienstleistungsrichtlinie: Auf der Suche nach dem liberalen Mehrwert - Auch eine Herausforderung für die Rechtsanwaltschaft?, NJW 2007, 2357ff.

4 KOM(2008) 414 endg., S. 5.

5 KOM(2008) 414 endg., S. 4.

(5)

− Schaffung eines spezifischen Rechtsrahmens für die Ansprüche der Versicher- ten auf grenzüberschreitende Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen (Kapitel III, dazu B. III.),

− Etablierung einer europäischen Zusammenarbeit bei der Gesundheitsversor- gung (Kapitel IV, dazu B. IV.).

Diese drei Komponenten des Richtlinienvorschlags werden eingerahmt durch

„Allgemeine Bestimmungen“, die neben Begriffsbestimmungen vor allem das Verhältnis zu anderen Gemeinschaftsvorschriften regeln (Kapitel I, dazu B. I.), sowie „Durchführungs- und Schlussbestimmungen“ (Kapitel V, dazu B. V.), die insbesondere die Modalitäten für die Ausübung der der Kommission übertragenen Durchführungsbefugnisse im Rahmen des Komitologieverfahrens enthalten.

Der Begründung für die Einzelbestimmungen ist ein Abschnitt „Allgemeine recht- liche Aspekte“ vorangestellt, der Fragen der Kompetenzverteilung und -ausübung (Rechtsgrundlage, Subsidiarität, Verhältnismäßigkeit) anspricht.6 Diese können allerdings nicht in dieser Allgemeinheit, sondern nur jeweils für jede einzelne Bestimmung behandelt werden. Wenn und soweit daher Bedenken hinsichtlich der Kompetenz der Gemeinschaft bestehen, werden diese im Rahmen der konkre- ten Bestimmung angesprochen.

B. Analyse der Einzelbestimmungen des Richtlinienvorschlags I. Kapitel I: Allgemeine Bestimmungen

1. Geltungsbereich, Art. 2 RL-E

Gemäß ihrem Art. 2 soll die Richtlinie für jegliche Gesundheitsversorgung unab- hängig von ihrer Organisation oder Finanzierung gelten. Das ist eine für das Ge- meinschaftsrecht typische Bestimmung: Sie erklärt die Rechtsform des Leistungs- trägers für irrelevant, um zu verhindern, dass sich die Mitgliedstaaten allein durch die Wahl bestimmter Rechtsformen dem Anwendungsbereich des Gemeinschafts- rechts entziehen. Zum Status des Leistungserbringers enthält Art. 2 RL-E keine Aussage: Es geht schon dem Wortlaut nach nur um die Organisation und Finan- zierung des Systems.

6 KOM(2008) 414 endg., S. 7-11.

(6)

In Deutschland erfasst der Vorschlag neben der gesetzlichen auch die private Krankenversicherung sowie die Beihilfesysteme von Bund, Ländern und Kom- munen.7 Sein Einfluss auf die einzelnen Systeme ist aber unterschiedlich: Das für die private Krankenversicherung geltende Versicherungsvertragsgesetz regelt die Inanspruchnahme von Leistungen in anderen Mitgliedstaaten nur rudimentär. § 207 Abs. 3 VVG bestimmt lediglich, dass das Versicherungsverhältnis und die Leistungspflicht zum inländischen Tarif bestehen bleibt, wenn der Versicherte seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einen anderen Mitgliedstaat verlegt. Nicht geregelt ist allerdings der Fall, dass Versicherte Leistungen in Anspruch nehmen, ohne ihren gewöhnlichen Aufenthalt zu verlegen, etwa auf Urlaubsreisen. Die meisten Versicherungsverträge der privaten Krankenversicherungsunternehmen decken allerdings auch diesen Fall; vereinbart wird lediglich die Beschränkung auf den inländischen Tarif. Dass es jedenfalls in Deutschland insoweit kaum Prob- leme gibt, hängt aber auch damit zusammen, dass die private Krankenversicherung die Steuerung der Qualität und Wirtschaftlichkeit der Gesundheitsversorgung auf der Makroebene fast ausschließlich den Akteuren des gesetzlichen Krankenversicherungssystems überlässt. Diese Steuerung ist aber ebenso Voraussetzung wie Hindernis für eine grenzüberschreitende Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen.

Praktisch bedeutsam dürfte der Richtlinienvorschlag daher primär für die gesetzli- che Krankenversicherung und für die meist an diese angelehnten Beihilfevor- schriften haben. Die nachfolgenden Überlegungen beziehen sich allein auf die gesetzliche Krankenversicherung.

2. Verhältnis zu anderen Gemeinschaftsvorschriften, Art. 3 RL-E

Art. 3 RL-E regelt das Verhältnis zu anderen Gemeinschaftsvorschriften. Er ent- hält dazu in seinem Absatz 1 zunächst eine Reihe von Regelwerken, die durch die Richtlinie berührt werden sollen. Absatz 2 befasst sich sodann spezifisch mit dem Verhältnis zur VO/EG 1408/718 (sog. Wanderarbeitnehmerverordnung), die be- reits Regelungen für die grenzüberschreitende Inanspruchnahme von Gesund-

7 Betroffen sind darüber hinaus auch die Pflege-, die Renten- und die Unfallversicherung, vgl.

unten 3.

8 Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern; ABl. L 149/2.

(7)

heitsleistungen enthält (dazu im Folgenden a)). Absatz 3 regelt insbesondere das Verhältnis zur RL 2005/36/EG9 über die Anerkennung von Berufsqualifikationen, die für die Steuerung der Standards in der Leistungserbringung von Bedeutung ist (dazu b)):

a) Das Verhältnis zur Wanderarbeitnehmerverordnung VO/EWG 1408/71:

Das duale System für die grenzüberschreitende Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen

Das Verhältnis der Richtlinie zu den Regelungen der VO/EWG 1408/71 ist von zentraler Bedeutung für das Gesamtverständnis des Kommissionsvorschlags. Die Richtlinie soll nämlich gemäß ihrem Art. 3 Abs. 2 neben dieses bereits seit fast 40 Jahren geltende Regelungsregime für die grenzüberschreitende Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen treten. Bevor die Funktion und der Einzelbestimmun- gen des Richtlinienvorschlags gewürdigt werden, müssen daher die Unterschiede zwischen dem bestehenden und dem vielleicht zukünftigen Regelungswerk freige- legt werden:

aa) Unterschiedliche Wurzeln und Funktionen

Die Wanderarbeitnehmerverordnung ermöglicht und erleichtert die Wahrneh- mung der europäischen Personenverkehrsfreiheiten (Arbeitnehmerfreizügigkeit, Art. 39 EGV, Niederlassungsfreiheit, Art. 43 EGV) durch sozialrechtliche Be- gleitvorschriften. Diese harmonisieren nicht das Sozialrecht der Mitgliedstaaten, sondern koordinieren es durch Kollisions- und durch Sachnormen:

Kollisionsnormen sind Bestimmungen, die bei mehreren einschlägigen Rechtsordnungen anordnen, nach welcher Rechtsordnung der Fall rechtlich zu beurteilen ist. Das ist deshalb erforderlich, weil die Krankenversicherungssys- teme der Mitgliedstaaten der EU für den Tatbestand der Versicherung teils am Wohnort, teils am Beschäftigungsort des Versicherten anknüpfen.10 Das kann entweder zu einer doppelten Versicherung mit doppelter Abgabenlast (= der Versicherte wohnt in einem Mitgliedstaat, der die Versicherungspflicht an den

9 Richtlinie 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. September 2005 über die Anerkennung von Berufsqualifikationen, ABl. L 255/22.

10 S. Devetzi, Die Kollisionsnormen des Europäischen Sozialrechts, 2000, S. 114ff.; T. Kingreen, Doppelbelastung und Doppelbefreiung im grenzüberschreitenden Sozialrecht, in: U. Becker/W.

Schön (Hrsg.), Steuer- und Sozialstaat im europäischen Systemwettbewerb, 2005, 239 (240ff.).

(8)

Wohnort knüpft und ist in einem Mitgliedstaat beschäftigt, der am Beschäfti- gungsort anknüpft, sog. Normenhäufung), aber auch im umgekehrten Fall da- zu führen, dass in keinem Land Versicherungsschutz besteht (sog. Normen- mangel). Nach Art. 13 Abs. 1 VO/EWG 1408/71 unterliegen Personen, für die diese Verordnung gilt, daher den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaates.

Das ist gem. Art. 13 Abs. 2 lit. a) und b) VO/EWG 1408/71 vorbehaltlich ab- weichender Regelungen in den Art. 14-17 VO/EWG 1408/71 grundsätzlich der Beschäftigungsort.

Nach der durch die Kollisionsnormen erfolgten Feststellung des anzuwenden- den Rechts enthalten die Sachnormen die inhaltlichen Regeln, die insbesonde- re die Frage beantworten, welche Besonderheiten sich bei Erfüllung eines Tat- bestandsmerkmals im Ausland ergeben.11 Die wichtigsten Anspruchsgrundla- gen sind Art. 19 VO/EWG 1408/71, der Personen berechtigt, die sich dauer- haft in einem anderen als dem Versicherungsstaat aufhalten, und Art. 22 VO/EWG 1408/71, der Ansprüche bei einem nur vorübergehenden Aufenthalt regelt.

Die Kollisions- und Sachregeln der Wanderarbeitnehmerverordnung verhindern damit, dass die Inanspruchnahme der Personenverkehrsfreiheiten zu versiche- rungs- oder leistungsrechtlichen Nachteilen führt. Sie ist damit funktional auf die Sicherung grenzüberschreitender Erwerbstätigkeit beschränkt und gewährleistet daher soziale Rechte auch nur, soweit diese für die Ausübung der Personenver- kehrsfreiheiten erforderlich ist.

Der Vorschlag für die Patientenrichtlinie hat hingegen andere Wurzeln. Er zieht die Folgerungen aus der Rechtsprechung des EuGH zu den Produktverkehrsfrei- heiten (Warenverkehrsfreiheit, Art. 28 EGV, Dienstleistungsfreiheit, Art. 49 EGV). Aus diesen Grundfreiheiten hat der EuGH seit 1998 in mehreren Entschei- dungen ein Recht auf diskriminierungsfreie grenzüberschreitende Inanspruch- nahme von Gesundheitsleistungen abgeleitet (sog. Kohll/Decker- Rechtsprechung).12 Konzeptionelle Grundlage dieser Rechtsprechung ist ein ge-

11 R. Giesen, Die Vorgaben des EG-Vertrages für das internationale Sozialrecht, 1999, S. 33ff.; B.

v. Maydell, Sach- und Kollisionsnormen im internationalen Sozialversicherungsrecht, 1967, S.

22ff., 37ff., 55ff.; R. Schuler, Das Internationale Sozialrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1988, S. 216ff.

12 EuGH, Rs. C-120/95, Slg. 1998, I-1831 – Decker; Rs. C-158/96, Slg. 1998, I-1931 – Kohll; Rs.

C-157/99, Slg. 2001, I-5473 – Smits und Peerboms; Rs. C-385/99, Slg. 2003, I-4509 – Müller-

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genüber den Personenverkehrsfreiheiten erweiterter Schutzbereich der Produkt- verkehrsfreiheiten (Art. 28, 49 EGV): Geschützt ist nicht nur der Leistungserbrin- ger, sondern auch der jeweilige Empfänger einer Ware/Dienstleistung. Der EuGH hat das Recht auf grenzüberschreitende Inanspruchnahme von Gesundheitsleis- tungen damit vom sozioökonomischen Status des Patienten gelöst: Es ist jeder- mann berechtigt, der eine Gesundheitsleistung in Anspruch nimmt; eben das er- klärt auch den unbeschränkten Geltungsbereich der Richtlinie (vgl. Art. 2 RL-E).

Dieser bürgerschaftliche und universalistische, d. h. vom Tatbestand der grenz- überschreitenden Erwerbstätigkeit unabhängige Anspruch ist der wesentliche Un- terschied zur zweckgebundenen Wanderarbeitnehmerverordnung. Anders als die- se trifft der Vorschlag der Patientenrichtlinie zudem keine Entscheidungen über kollidierende Geltungsansprüche zwischen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen;

vielmehr enthält sie nur das für den Fall grenzüberschreitender Leistungsinan- spruchnahme geltende Sachrecht. Der deutsche Gesetzgeber hat die Rechtspre- chung des EuGH bereits 2004 in den §§ 13 Abs. 4-6 und 140e SGB V umge- setzt.13

bb) Sachrechtliche Unterschiede

Die beiden Regelungsregime unterscheiden sich teilweise auch sachrechtlich er- heblich:

(1) Anspruchsvoraussetzungen

Die Wanderarbeitnehmerverordnung unterscheidet hinsichtlich der Anspruchs- voraussetzungen zwischen einem dauerhaften und einem nur vorübergehenden Aufenthalt (Art. 1 lit. i) VO/EWG 1408/71) außerhalb des Versicherungsstaates:

Nach Art. 19 VO/EWG 1408/71 haben diejenigen Versicherten, die im Gebiet eines anderen als dem des Versicherungsstaates wohnen (= dauerhafter Auf- enthalt), einen im Wesentlichen uneingeschränkten Anspruch auf Inanspruch- nahme eines Leistungserbringers im Wohnsitzstaat.

Fauré/van Riet; Rs. C-8/02, Slg. 2004, I-2641 – Leichtle; Rs. C- 372/04, Slg. 2006, I-4325 – Watts; Rs. C-444/05, Slg. 2007, I-3185 – Stamatelaki.

13 Dazu noch ausführlich unten II. und III.

(10)

Bei einem nur vorübergehenden Aufenthalt in einem anderen als dem Versi- cherungsstaat gilt Art. 22 VO/EWG 1408/71:14 Wenn sich der Versicherte vo- rübergehend in einem anderen Mitgliedstaat aufhält (etwa als Tourist) und dort krank wird, hat er nach Art. 22 Abs. 1 lit. a) VO/EWG 1408/71 nur einen Anspruch auf Leistungen, die unverzüglich erforderlich sind. Begibt sich der Versicherte nur deshalb in einen anderen Mitgliedstaat, um dort eine Gesund- heitsleistung in Anspruch zu nehmen, sind die Voraussetzungen sehr streng:

Er benötigt eine Genehmigung des zuständigen Trägers, die Art. 22 Abs. 2 S.

2 VO/EWG 1408/71 von zwei Voraussetzungen abhängig macht: Die in An- spruch zu nehmende Gesundheitsleistung muss erstens zum Katalog der Leis- tungen gehören, auf die der Versicherte nach dem Recht seines Wohnstaates (also regelmäßig des Versicherungsstaates) einen Anspruch hat. Zweitens wird verlangt, dass der Betroffene die Leistung in seinem Wohnsitzstaat unter Be- rücksichtigung seiner Erkrankung nicht innerhalb des dort üblichen Zeitraums erlangen kann. Insbesondere diese Voraussetzung dürfte zumindest in Deutschland regelmäßig kaum zu erfüllen sein.

Bei einem nicht dauerhaften Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat hatten also auch Erwerbstätige bis zu den aufgeführten EuGH-Entscheidungen einen nur sehr eingeschränkten Anspruch auf grenzüberschreitende Leistungsinanspruchnahme.

Der Vorschlag der Patientenrichtlinie bringt insoweit eine erhebliche Erweiterung und nähert damit die Rechte der Versicherten denjenigen von Erwerbstätigen an, die sich dauerhaft in einem anderen als dem Versicherungsstaat aufhalten: Nach Art. 6 Abs. 1 S. 1 RL-E besteht nämlich ein grundsätzlich uneingeschränkter An- spruch auf Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen in einem anderen Mit- gliedstaat. Dieser darf nach Art. 8 RL-E lediglich bei Krankenhaus- und Spezial- behandlungen von einer Genehmigung des Versicherungsträgers abhängig ge- macht werden;15 nur insoweit sind die Anspruchsvoraussetzungen also noch stren- ger als bei einem dauerhaften Aufenthalt (Art. 19 VO/EWG 1408/71).

(2) Anspruchsinhalt

Für den Inhalt der nach den Art. 19 und 22 VO/EWG 1408/71 (Wanderarbeit- nehmerverordnung) in Anspruch genommenen Leistungen kommt der Unter-

14 Dazu näher K.-J. Bieback, in: M. Fuchs (Hrsg.), Europäisches Sozialrecht, 4. Aufl. 2005, Art. 22 VO/EWG 1408/71 Rn. 7ff., 14ff.

15 Dazu unten III. 2.

(11)

scheidung zwischen Sachleistungen und Geldleistungen (Art. 19 Abs. 1, 22 Abs. 1 lit. c) VO/EWG 1408/71) entscheidende Bedeutung zu:

Sachleistungen (Art. 19 Abs. 1, 22 Abs. 1 lit. c) VO/EWG 1408/71) sind per- sönliche Dienstleistungen sowie Arznei-, Heil- und Hilfsmittel und damit fast alle Gesundheitsleistungen unabhängig davon, ob sie über das Sachleistungs- oder das Kostenerstattungsprinzip abgewickelt werden.16 Sachleistungen wer- den nicht exportiert, sondern nach dem Grundsatz der Leistungsaushilfe vom Träger des Wohn- bzw. Aufenthaltsortes so erbracht, als ob der Erwerbstätige bei diesem Träger leistungsberechtigt ist (Art. 19 Abs. 1 lit. a), 22 Abs. 1 lit. c) i) VO/EWG 1408/71). Sachleistungen erbringt also nicht der an sich zuständi- ge Träger des Beschäftigungsstaates, sondern der Träger des Wohn- bzw.

Aufenthaltsstaates nach seinen eigenen Vorschriften, aber auf Rechnung des zuständigen Trägers. Der zuständige Staat ist dabei allein für die Feststellung zuständig, ob überhaupt ein Versicherungsverhältnis und damit Leistungsan- sprüche dem Grunde nach bestehen. Der eigentliche Anspruchsinhalt richtet sich dann aber allein nach den Bestimmungen des Wohnsitzstaates. Dieser entscheidet also etwa darüber, ob überhaupt ein Leistungsfall vorliegt, ob Kos- tenbeteiligungen des Versicherten vorgesehen sind und erbringt die konkrete Leistung nach Maßgabe seiner Vorschriften.

Geldleistungen (im Wesentlichen sind das nur das Kranken- und das Mutter- schaftsgeld) werden hingegen unabhängig vom Wohn- oder Aufenthaltsort des Berechtigten vom zuständigen Träger gewährt und sind daher ggfs. zu expor- tieren, Art. 19 Abs. 1 lit. b), 22 Abs. 1 lit. c) ii) VO/EWG 1408/71.

Man kann also festhalten, dass sich der konkrete Inhalt der nach den Art. 19 und 22 VO/EWG 1408/71 in Anspruch genommenen Sachleistungen nicht aus dem Recht des Versicherungsstaates, sondern des Behandlungsstaates ergibt. Im ver- gleich mit der im Versicherungsstaat erbrachten Leistung sind daher sowohl Ab- weichungen nach unten als auch nach oben denkbar. Es können Leistungen in Anspruch genommen werden, die nach dem Recht des Versicherungsstaates nicht zum Leistungskatalog gehören, es kann aber umgekehrt auch passieren, dass im Behandlungsstaat Leistungen ausgeschlossen sind, die der Versicherte nach dem Recht des Versicherungsstaates hätte in Anspruch nehmen können.

16 Vgl. etwa EuGH, Rs. C-160/96, Slg. 1998, I-843 Rn. 31 – Molenaar.

(12)

Art. 6 Abs. 1 S. 2 und 3 der Patientenrichtlinie erklärt demgegenüber für die Be- stimmung des Leistungsinhaltes ausnahmslos das Recht des Versicherungsstaates für maßgebend. Der Versicherte erhält also genau das, was er auch bei Inan- spruchnahme der Leistung im Versicherungsstaat erhalten hätte.

(3) Anspruchsabwicklung

Schließlich besteht ein bedeutender verfahrensmäßiger Unterschied bei der An- spruchsabwicklung von Sachleistungen:

Nimmt der Versicherte nach Art. 19, 22 VO/EWG 1408/71 (Wanderarbeitneh- merverordnung) zulässigerweise einen Leistungserbringer in einem anderen Mit- gliedstaat in Anspruch und hält er dabei das in den Art. 17ff. VO/EWG 574/72 vorgesehene Verfahren ein (insbesondere den Nachweis der Versicherung), so erfolgt die Abrechnung grundsätzlich unter den beteiligten Trägern, Art. 36 Abs. 1 VO 1408/71. Die Leistungen werden damit grundsätzlich als Sachleistungen ge- währt.17 Die Erbringung von Sachleistungen aufgrund der Patientenrichtlinie wird demgegenüber nach Art. 6 Abs. 2-4 RL-E ausnahmslos im Kostenerstattungsver- fahren abgerechnet.

cc) Zusammenfassung

Die Patientenrichtlinie setzt eine seit 1998 etablierte Rechtsprechung des Europäi- schen Gerichtshofs um. Dieser Rechtsakt ist vor allem für die (offenbar sehr zahl- reichen) Mitgliedstaaten bedeutsam, die diese Rechtsprechung anders als die Bun- desrepublik Deutschland (vgl. §§ 13 Abs. 4, 5 und 140e SGB V) bislang nicht umgesetzt haben.

Über die konkreten Umsetzungsfragen hinaus ist sie europarechtlich und - politisch auch deshalb bedeutsam, weil sie soziale Rechte unabhängig vom Tatbe- stand der Erwerbstätigkeit vermittelt. Sie steht damit neben einer weiteren, an der Unionsbürgerschaft (Art. 17 EGV) anknüpfenden und ebenfalls 1998 begründeten Rechtsprechungslinie, mit der der EuGH sozialrechtliche Gleichbehandlungsan- sprüche unabhängig von der Staatsangehörigkeit begründet hat.18 Er löst sich da- mit von einem engen Konzept der Marktbürgerschaft, das den Einzelnen „nicht

17 Zu den Ausnahmen, die aber in der Praxis zunehmend die Regel bilden, noch unten dd) (2) (b).

18 EuGH, Rs. C-85/96, Slg. 1998, I-2691 – Martínez Sala; Rs. C-184/99, Slg. 2001, I-6193 – Grzelczyk; Rs. C-224/98, Slg. 2002, I-6191 – D’Hoop; Rs. C-138/02, Slg. 2004, I-2703 – Collins;

Rs. C-456/02, Slg. 2004, I-7573 – Trojani; Rs. C-209/03, Slg. 2005, I-2119 – Bidar.

(13)

als integrale Persönlichkeit, sondern nur funktional insoweit erfasst, als ihm Frei- heit und Gleichheit zur Erfüllung der ökonomischen Ziele der Gemeinschaften gewährleistet wird“19. Er stützt damit nicht nur den mit dem Vertrag von Maast- richt eingeleiteten Schritt von einer Wirtschaftsgemeinschaft hin zur politischen Union, sondern leistet auch einen Beitrag zur Entkräftung der vermeintlichen Di- chotomie zwischen Binnenmarktnormen und dem mitgliedstaatlichen Sozialrecht.

Denn das Binnenmarktrecht trägt hier gerade dazu bei, dass soziale Rechte nicht an den Grenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft enden.

Schwierigkeiten bereitet allerdings der Umstand, dass die Patientenrichtlinie ne- ben ein bereits bestehendes Regelwerk, die Wanderarbeitnehmerverordnung, tritt.

In der tabellarischen, den vorstehenden Abschnitt zusammenfassenden Übersicht bestehen folgende für das Verständnis des Vorschlags der Patientenrichtlinie rele- vante Unterschiede zwischen den beiden Regelungsregimen:

Wanderarbeitnehmerverordnung Patientenrichtlinie

Wurzeln

Personenverkehrsfreiheiten

= akzessorisch, d. h. auf Er- werbstätige und deren Angehö- rige beschränkt

Produktverkehrsfreiheiten

= universalistisch, d. h. unab- hängig vom individuellen so- zioökonomischen Status (Um- setzung der Kohll/Decker- Rechtsprechung)

Funktionen

Kollisionsrecht: Bestimmung des anwendbaren Rechts Sachrecht: Inhaltliche Regelun- gen für die Leistungsinan- spruchnahme

Nur sachrechtliche Regelungen

Anspruchsvorausset- zungen

dauerhafter Aufenthalt:

ohne Einschränkungen vorübergehender Aufenthalt:

nur bei medizinischer Erforder- lichkeit bzw. Genehmigungser- fordernis

uneingeschränkter Anspruch;

Ausnahme: Krankenhausleis- tungen und Spezialbehandlun- gen

Anspruchsinhalt Recht des Behandlungsstaates Recht des Versicherungsstaates Anspruchsabwick-

lung bei Sachleistun-

gen Sachleistungsaushilfe Kostenerstattung

19 So mit kritischem Unterton schon E. Grabitz, Europäisches Bürgerrecht zwischen Marktbürger- schaft und Staatsbürgerschaft, 1970, S. 68.

(14)

dd) Analyse

(1) Das Wahlrecht

Die Kommission sieht in diesen beiden Regelungsregimen „alternative Mecha- nismen für die Kostenübernahme bei grenzüberschreitender Gesundheitsversor- gung.“20 Diese „Alternativität“ wird durch Art. 3 Abs. 2 RL-E näher ausgeführt.

Drei Konstellationen sollen danach zu unterscheiden sein:

• Wird die vorherige Genehmigung beantragt und im Rahmen der VO/EWG 1408/71 erteilt, gelten die Bestimmungen dieser Verordnung.

• Werden hingegen Leistungen in Anspruch genommen, ohne dass eine Ge- nehmigung beantragt wird, werden die Kosten nach Maßgabe der Art. 6-9 RL- E erstattet.

• Sind die Genehmigungsvoraussetzungen nach Art. 22 Abs. 1 lit. c) und Abs. 2 VO/EWG 1408/71 erfüllt, erfolgt die Inanspruchnahme der Leistungen nach Maßgabe der Wanderarbeitnehmerverordnung.

Art. 3 Abs. 2 RL-E regelt also nicht das Verhältnis zur Wanderarbeitnehmerver- ordnung insgesamt, sondern lediglich zu deren Art. 22. Er ist also eine Konkur- renzregel nur für den Fall des vorübergehenden Aufenthalts, nicht aber des Dau- eraufenthalts nach Art. 19 VO/EWG 1408/71. Insoweit soll der Versicherte, der in den persönlichen Anwendungsbereich beider Regelungskomplexe fällt, insbeson- dere also der Erwerbstätige und seine Familienangehörigen, eine Art Wahlrecht zwischen den beiden Beschaffungswegen haben. Diese Regelung wirft zwei Fra- gen auf, die sich bei näherer Betrachtung zu einer Antwort zusammenführen las- sen: Warum regelt Art. 3 Abs. 2 RL-E nur das Verhältnis zu Art. 22 VO/EWG 1408/71 und nicht auch zu Art. 19 VO/EWG 1408/71? Und warum wird Erwerbs- tätigen, die sich nur vorübergehend in einem anderen als dem Versicherungsstaat aufhalten, ein Wahlrecht eingeräumt, anderen Versicherten aber nicht?

Das Wahlrecht versetzt Versicherte, die in den Anwendungsbereich beider Syste- me fallen, in die Lage, bei jeder Leistung den Beschaffungsweg zu wählen. Sie können also theoretisch die ärztliche Leistung nach der VO/EWG 1408/71 in An- spruch nehmen, um etwa Zuzahlungsregelungen im Versicherungsstaat zu entge-

20 KOM(2008) 414 endg., S. 5.

(15)

hen, können aber nachfolgend die Arznei- und Hilfsmittel, die zur Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung erforderlich sind, über die Patientenrichtlinie be- ziehen, weil insoweit der inländische Leistungskatalog vorteilhaft ist. Das Wahl- recht begünstigt also eine sozialpolitisch unerwünschte „Rosinenpickerei“ zwi- schen den unterschiedlichen Gesundheitssystemen der Mitgliedstaaten. Um sach- widrige Ungleichbehandlungen zu vermeiden und ihrer Beratungsverpflichtung (§

14 SGB I) nachzukommen, müssten die Krankenkassen die Versicherten vor der Ausübung des Wahlrechts nach Maßgabe des Günstigkeitsprinzips auf den für sie günstigsten Beschaffungsweg hinweisen. Das dürfte erhebliche bürokratische Probleme und Kosten zur Folge haben, die bei einem einheitlichen Rechtsrahmen nicht auftreten würden.

(2) Lösungsvorschlag

Grundsätzlich ist daher anzustreben, dass ein einheitliches Regime für die grenz- überschreitende Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen gilt – nicht nur, um unnötige Abgrenzungsprobleme, sondern auch, um eine Ungleichbehandlung zwi- schen Erwerbstätigen und Nicht-Erwerbstätigen zu vermeiden. Im deutschen Krankenversicherungsrecht betrifft das Problem der Ungleichbehandlung zwar nur einen relativ kleinen Personenkreis, weil das deutsche Sozialversicherungs- recht vor allem am Tatbestand der Beschäftigung anknüpft (§ 7 SGB IV, für das Krankenversicherungsrecht: § 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V), die Berechtigten also oh- nehin meistens Erwerbstätige und ihre Familienangehörigen (§ 10 SGB V) sind.

In Mitgliedstaaten mit einer Einwohnerversicherung dürfte der Kreis derjenigen, die zwar als Einwohner gegen Krankheit versichert sind, aber nicht unter die Wanderarbeitnehmerverordnung fallen, aber größer sein. Es fragt sich, warum die Kommission nach wie vor an einem Sonderrecht für Erwerbstätige und damit am dualen System der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen festhalten möch- te. Zur Beantwortung dieser Frage ist die Unterscheidung zwischen Personen, die sich dauerhaft in einem anderen als dem Versicherungsstaat aufhalten und sol- chen, die sich dort nur vorübergehend aufhalten, von entscheidender Bedeutung:

(a) Daueraufenthalt

Im Hinblick auf Personen mit Daueraufenthalt in einem anderen als dem Versi- cherungsstaat lässt sich der fortbestehende Dualismus mit dem Bestreben erklä-

(16)

ren, jegliches Hindernis für die grenzüberschreitende Ausübung der Personenver- kehrsfreiheiten, also der Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 39 EGV) und der Nie- derlassungsfreiheit (Art. 43 EGV), abzubauen. Die durch Art. 19 VO/EWG 1408/71 etablierte Sachleistungsaushilfe hat hier den wesentlichen Vorteil, dass der versicherte Erwerbstätige sich darauf verlassen kann, dass die im Behand- lungsstaat (der ja sein regelmäßiger Aufenthaltsstaat ist) erbrachten Leistungen durch die Träger des Versicherungsstaates vollständig abgedeckt werden. Würde hinsichtlich des Leistungskataloges hingegen das Recht des Versicherungsstaates gelten, liefe der Versicherte stets Gefahr, auf einem Teil der für die Inanspruch- nahme der Leistung im Behandlungsstaat entstandenen Kosten sitzen zu bleiben.

Für Wanderarbeitnehmer, die wegen ihres Daueraufenthalts regelmäßig Leistun- gen außerhalb des Versicherungsstaates in Anspruch nehmen, wäre dies ein er- hebliches Hindernis, das sie vom Gebrauch ihrer Grundfreiheiten abhalten könnte.

Für sie bedeutete es also eine Verschlechterung, wenn sie nur noch auf der Grund- lage der Patientenrichtlinie und damit nach Maßgabe des Rechts des Versiche- rungsstaates (Art. 6 Abs. 1 RL-E) Leistungsansprüche hätten. Umgekehrt wäre es aber auch problematisch, wenn alle Versicherten (also auch bei nur vorüberge- hendem Aufenthalt oder bei fehlender Erwerbstätigkeit) nach Maßgabe des Rechts des Behandlungsstaates unbeschränkt Leistungsansprüche geltend machen könnten. Denn Versicherungsträger in Mitgliedstaaten mit einem weniger um- fangreichen Leistungskatalog (oder mit sehr ausgeprägten Zuzahlungsregelungen) müssten mit erheblichen Mehrkosten rechnen. Ein einheitlicher, auf dem Prinzip der Sachleistungsaushilfe durch den Behandlungsstaat aufbauender Rechtsrahmen ist daher wegen der besonderen Situation des unter Art. 19 VO/EWG 1408/71 fallenden Personenkreises ebenso unrealistisch wie ein einheitliches, allein am Versicherungsstaat anknüpfendes Leistungsrecht.

Fraglich ist aber, ob es notwendig ist, diesem Personenkreis ein Wahlrecht zuzu- gestehen. Man könnte argumentieren, dass insoweit allein Art. 19 VO/EWG 1408/71 gelten sollte, der die Betroffenen ja auch nicht daran hindert, im Versi- cherungsstaat Leistungen nach Maßgabe des Rechts eben des Versicherungsstaa- tes in Anspruch zu nehmen. Nehmen Sie die Leistungen aber im Aufenthaltsstaat in Anspruch, würde eben nur Art. 19 VO/EWG 1408/71 und nicht Art. 6 Abs. 1 RL-E gelten. Davon scheint Art. 3 Abs. 2 RL-E auszugehen, wenn er nur das Verhältnis zu Art. 22 VO/EWG 1408/71 und nicht auch zu Art. 19 VO/EWG

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1408/71 regelt. Nach allgemeinen Grundsätzen der rechtswissenschaftlichen Me- thodenlehre müsste man nämlich aus dieser Regelung den Umkehrschluss ziehen, dass Versicherte, die sich dauerhaft in einem anderen Mitgliedstaat aufhalten, kein Wahlrecht zwischen den beiden Beschaffungswegen haben sollen, sondern stets nach Art. 19 VO/EWG 1408/71 vorgehen müssen.

Gegen diese Auslegung spricht aber der grundfreiheitliche Kontext. Ein Versi- cherter, der sich dauerhaft in einem anderen als dem Versicherungsstaat aufhält, macht von seiner Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 39 EGV) oder seiner Niederlas- sungsfreiheit (Art. 43 EGV) Gebrauch, und diese Rechte werden durch die Wan- derarbeitnehmerverordnung sozialrechtlich unterfüttert. Wenn er aber Gesund- heitsleistungen im Aufenthaltsstaat in Anspruch nimmt, macht er von seiner Wa- renverkehrs- und von seiner Dienstleistungsfreiheit (Art. 28, 49 EGV) Gebrauch.

Diese wird aber durch die Art. 6ff. RL-E konkretisiert. Es wäre eine nicht zu rechtfertigende Ungleichbehandlung gegenüber anderen Versicherten, wenn er von diesen Rechten keinen Gebrauch machen dürfte, wenn diese für ihn vorteil- haft gegenüber Art. 19 VO/EWG 1408/71 sind, konkret also wenn der Leistungs- katalog des Versicherungsstaates eine Leistung vorsieht, die im Behandlungsstaat (auf den es ja bei Art. 19 VO/EWG 1408/71 allein ankommt) nicht zu Lasten der Krankenkassen erbracht werden darf.

Für diese Interpretation spricht auch die EuGH-Entscheidung Vanbraekel, die zwar zu Art. 22 VO/EWG 1408/71 ergangen ist, aber genau diesen Günstigkeits- vergleich zum Gegenstand hatte.21 Einem belgischen Versicherten war die Ge- nehmigung nach Art. 22 Abs. 1 lit. c) VO/EWG 1408/71 zu Unrecht versagt wor- den. Er machte nunmehr einen Kostenerstattungsanspruch geltend, bei dessen Höhe fraglich war, ob das Recht des aushelfenden Trägers (Frankreich mit einem niedrigeren Satz) oder des Versicherungsstaates (Belgien mit einem höheren Satz) maßgebend war. Der EuGH hat hier mit Recht festgestellt, dass zwar das französi- sche Recht maßgebend sei. Dieses enthalte aber nur eine Mindestregelung, die nicht ausschließe, dass der Versicherte Rechte auch noch aus der Dienstleistungs- freiheit ableite. Aus Art. 49 EGV folgte daher ein Anspruch auch auf den über-

21 EuGH, Rs. C-368/98, Slg. 2001, I-5363 – Vanbraekel.

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schießenden Betrag nach belgischem Recht, um die grenzüberschreitende Inan- spruchnahme nicht schlechter zu stellen als die inländische.22

Personen, die sich dauerhaft in einem anderen als dem Versicherungsstaat aufhal- ten und im Aufenthaltsstaat Leistungen in Anspruch nehmen, machen also von den Personenverkehrsfreiheiten (Art. 39, 43 EGV) und von den Produktverkehrs- freiheiten (Art. 28, 59 EGV) gleichermaßen Gebrauch und müssen daher auch in den Genuss der sekundärrechtlichen Rechte kommen, die diese primärrechtlichen Bestimmungen konkretisieren. Sie haben aus eben diesem Grunde auch ein Wahl- recht. Das müsste der Vorschlag der Kommission in Art. 3 Abs. 2 RL-E zumin- dest klarstellen.

(b) Vorübergehender Aufenthalt

Bei einem nur vorübergehenden Aufenthalt gilt die Konkurrenzregel des Art. 3 Abs. 2 RL-E, die sich auch auf die Rechtsprechung des EuGH stützen kann, der davon ausgeht, dass die Ansprüche aus den Art. 28, 49 EGV grundsätzlich neben Art. 22 VO/EWG 1408/71 stehen.23

Anders als beim dauerhaften Aufenthalt dient der vorübergehende Aufenthalt re- gelmäßig nicht der Verwirklichung der Personenverkehrsfreiheiten: Denn Arbeit- nehmerfreizügigkeit (Art. 39 EGV) und Niederlassungsfreiheit (Art. 43 EGV) sind auf einen dauerhaften Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat angelegt (Mobilität der Person), während bei den Produktverkehrsfreiheiten (Warenver- kehrs- und der Dienstleistungsfreiheit, Art. 28, 49 EGV) regelmäßig die Mobilität des Produkts im Vordergrund steht.24 Wenn also Erwerbstätige im Rahmen ihres vorübergehenden Aufenthalts in einem anderen Mitgliedstaat (etwa als Tourist nach Art. 22 Abs. 1 lit. a) VO/EWG 1408/71) Gesundheitsleistungen in Anspruch nehmen, so werden sie, nicht anders als die Nichterwerbstätigen, allein durch die Produktverkehrsfreiheiten geschützt. Dann fragt es sich aber, warum sie ein Wahl-

22 EuGH, Rs. C-368/98, Slg. 2001, I-5363 Rn. 45 – Vanbraekel. Auch Art. 23 des Vorschlages für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Dienstleistungen im Binnenmarkt, KOM (2004) 2 endg. v. 25. 2. 2004 war von einer entsprechenden Aufstockungspflicht ausgegan- gen (vgl. den 58. Erwägungsgrund). Warum der Vorschlag für die Patientenrichtlinie insoweit schweigt, ist unklar.

23 EuGH, Rs. C-368/98, Slg. 2001, I-5363 Rn. 45 – Vanbraekel; Rs. C-56/01, Slg. 2003, I-12403 Rn. 15ff. – Inizan.

24 Vgl. T. Kingreen, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 28-30 EGV Rn. 30; R. Streinz, Europarecht, 8. Aufl. 2008, Rn. 781.

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recht haben sollen, Nichterwerbstätige, die nicht unter Art. 22 Abs. 1 lit. a) VO/EWG 1408/71 fallen, hingegen nicht.

Anders als bei denjenigen Versicherten, die sich dauerhaft in einem anderen Mit- gliedstaat aufhalten, besteht hier auch keine Notwendigkeit für ein Wahlrecht.

Personen mit einem Daueraufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat bedürfen eines spezifischen Schutzes ja nur deshalb, weil sie neben den Produkt- auch von den Personenverkehrsfreiheiten Gebrauch machen und daher regelmäßig auch nur in diesem anderen Staat Leistungen in Anspruch nehmen. Versicherte, die sich nur vorübergehend in einem anderen Staat aufhalten, machen hingegen nur von ihren Produktverkehrsfreiheiten Gebrauch und nehmen im Übrigen, wegen ihres nur vorübergehenden Aufenthalts, regelmäßig Leistungen nur im Inland in An- spruch.

Mit der Etablierung der Kohll/Decker-Rechtsprechung ist also Art. 22 VO/EWG 1408/71 und mit ihm die Legitimation für das duale Anspruchssystem und das Wahlrecht brüchig geworden.25 Denn das Recht der grenzüberschreitenden Inan- spruchnahme von Gesundheitsleistungen ist mit diesen Entscheidungen als ein Recht nicht nur der Marktbürger, sondern aller Unionsbürger anerkannt worden.

Warum sollte dann ein Erwerbstätiger, der als Tourist (und damit gerade nicht in seiner besonderen Eigenschaft als Erwerbstätiger) in einem anderen Mitgliedstaat erkrankt, hinsichtlich der Leistungsinanspruchnahme noch anders behandelt wer- den als ein Nichterwerbstätiger?

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die beiden Systeme sich in der Praxis ohnehin einander annähern. Bereits der Entscheidung Vanbraekel26 ist at- testiert worden, das System der Leistungsaushilfe nach Art. 22 VO/EWG 1408/71 zu sprengen,27 weil sie den eigentlich am Behandlungsstaat orientierten Anspruch auf Kostenerstattung letztlich doch auf den Tarif des Versicherungsstaates er- streckt, wenn dieser höher ist als im Behandlungsstaat. Im Übrigen hat der Versi- cherte nach Art. 34 Abs. 1 VO 574/72 ohnehin ausnahmsweise einen Kostener- stattungsanspruch gegen den zuständigen Träger, wenn er den Nachweis der Leis-

25 Kritisch zum fortbestehenden Dualismus bereits E. Eichenhofer, Der Zugang zu Leistungen der Kranken- und Pflegeversicherung der EU-Bürger – Situation des Koordinierungsrechts und Ver- änderungsbedarf, in: G. Igl (Hrsg.), Europäische Union und gesetzliche Krankenversicherung, 1999, S. 45 (55ff.).

26 Zu dieser bereits oben (a).

27 K.-J. Bieback, in: M. Fuchs (Hrsg.), Europäisches Sozialrecht, 4. Aufl. 2005, Art. 22 VO/EWG 1408/71 Rn. 29.

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tungsberechtigung nicht erbracht und daher die Leistung im Ausland vorfinanziert hat; dieser Fall dürfte wegen des umständlichen, zeitraubenden und fehleranfälli- gen Verfahrens nach Art. 17 VO/EWG 574/72 in der Praxis nicht nur die Aus- nahme sein. Der Träger des Versicherungsstaates kann nach Art. 34 Abs. 4 VO/EWG 574/72 sogar nach den für ihn geltenden Sätzen abrechnen, wenn die Erstattungssumme 1000 nicht übersteigt – ein bei Erkrankungen im Urlaub re- gelmäßig praktiziertes Verfahren.28 Eine solche Erstattung nach den Sätzen des zuständigen Trägers ist nach Art. 34 Abs. 5 VO/EWG 574/72 auch gegen den Willen des Versicherten zulässig, wenn das Recht des aushelfenden Trägers keine Erstattungssätze kennt. Das Wahlrecht, das Art. 3 Abs. 2 RL-E Erwerbstätigen einräumt, produziert damit nicht nur unnötige Abgrenzungsprobleme, sondern stellt auch eine nicht zu rechtfertigende Ungleichbehandlung gegenüber Nichter- werbstätigen dar.

Zum konkreten Lösungsvorschlag: Sinnvoll wäre es, die in Art. 6 Abs. 1 RL-E enthaltene Regelung auf alle Fälle zu erstrecken, in denen Gesundheitsleistungen im Rahmen eines vorübergehenden Auslandsaufenthalts in Anspruch genommen werden. Maßgebend für den Leistungsumfang ist daher, als Ausfluss des nur vo- rübergehenden Kontakts mit dem Behandlungsstaat, das Recht des Versiche- rungsstaates. Damit könnte und müsste Art. 22 VO/EWG mitsamt der in ihm ent- haltenen Einschränkungen (Art. 22 Abs. 1 lit. a) VO/EWG 1408/71: nur medizi- nisch notwendige Leistungen; Art. 22 Abs. 1 lit. c) und Abs. 2 VO/EWG 1408/71:

nur, wenn die Leistungen nicht im Inland erhältlich sind) entfallen.29

Um möglichen Missverständnissen vorzubeugen: Dieser Vorschlag bezieht sich auf die Voraussetzungen, nicht auf die Abwicklung des Anspruchs. Er beinhaltet daher, was die Maßgeblichkeit des Leistungskataloges angeht, eine an Art. 6 Abs.

1 S. 2 und 3 RL-E angelehnte Entscheidung für das Recht des Versicherungsstaa- tes und gegen das Recht des Behandlungsstaates,30 aber noch nicht zwingend für oder gegen ein Kostenerstattungsverfahren wie es in Art. 6 Abs. 2-4 RL-E gere- gelt ist.31

28 Vgl. Beschluss Nr. 176 der Verwaltungskommission für die soziale Sicherheit der Wanderar- beitnehmer, ABl. L 243/1 v. 28. 9. 2000.

29 Vgl. bereits T. Kingreen, Ein neuer rechtlicher Rahmen für einen Binnenmarkt für Gesundheits- leistungen, NZS 2005, 505 (510f.).

30 Dazu noch unten III. 1.

31 Dazu noch unten III. 1.

(21)

b) Das Verhältnis zu leistungserbringungsrechtlichen Rechtsakten

Gemäß Art. 3 Abs. 3 lit. a) RL-E soll die Richtlinie über die Anerkennung von Berufsqualifikationen32 im Kollisionsfall Vorrang vor den Bestimmungen der Patientenrichtlinie haben (dazu im Folgenden aa)). Das Verhältnis zur sog.

Dienstleistungsrichtlinie (RL 2006/123/EG) wird hingegen nicht geregelt (dazu bb)).

aa) Die Berufsqualifizierungsrichtlinie RL 2005/36/EG

Die RL 2005/36/EG stellt in ihren Art. 24-45 Mindestanforderungen für die Aus- und Weiterbildung in bestimmten Gesundheitsberufen (Ärzte, Krankenschwes- tern, Zahnärzte, Apotheker) auf. Werden diese Anforderungen erfüllt, besteht nach Art. 21 Abs. 1 RL 2005/36/EG die Verpflichtung zur automatischen Aner- kennung: Jeder Mitgliedstaat muss die einschlägigen Aus- und Weiterbildungs- nachweise anerkennen und ihnen in Bezug auf die Aufnahme und Ausübung der beruflichen Tätigkeiten in seinem Hoheitsgebiet dieselbe Wirkung verleihen wie den von ihm ausgestellten Nachweisen. Die RL 2005/36/EG versetzt also die An- gehörigen der Gesundheitsberufe in die Lage, in einem anderen als dem Ausbil- dungsstaat Gesundheitsleistungen zu erbringen. Sie erleichtert damit die Wahr- nehmung der Personenverkehrsfreiheiten, d. h. der Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 39 EGV) und der Niederlassungsfreiheit (Art. 43 EGV). Von der vorstehend behandelten VO/EWG 1408/7133 unterscheidet sie sich dadurch, dass es hier um die Erbringung und nicht um die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen in einem anderen Mitgliedstaat geht.

Der Entwurf einer Patientenrichtlinie hat damit eine in doppelter Hinsicht andere Zielrichtung als die RL 2005/36/EG. Sie ist erstens ein leistungsrechtlicher, kein leistungserbringungsrechtlicher Rechtsakt, und sie soll zweitens die Wahrneh- mung der Produktverkehrsfreiheiten, also der Warenverkehrsfreiheit (Art. 28 EGV) und der Dienstleistungsfreiheit (Art. 59 EGV), nicht aber der Personenver- kehrsfreiheiten erleichtern. Während es bei der RL 2005/36/EG um die Anerken- nung ausländischer Befähigungsnachweise für die Leistungserbringung im Versi- cherungsstaat geht, regelt der Entwurf der Patientenrichtlinie die Voraussetzungen

32 Richtlinie 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. September 2005 über die Anerkennung von Berufsqualifikationen, ABl. L 255/22.

33 Vgl. a).

(22)

für die Erstattung von Leistungen, die nicht im Versicherungsstaat in Anspruch genommen wurden. Im zuerst genannten Fall überschreitet also der Leistungserb- ringer, im zweiten hingegen der Versicherte die Grenzen zwischen den Mitglied- staaten.

Angesichts dessen ließe sich fragen, warum überhaupt das Verhältnis zwischen beiden Rechtsakten geregelt werden muss, wo sich doch ihre Anwendungsberei- che gar nicht überschneiden. Die Antwort ergibt sich aus der bereits angesproche- nen Kohll/Decker-Rechtsprechung des EuGH. Die Mitgliedstaaten hatten nämlich die Genehmigungsvorbehalte für die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen in einem anderen als dem Versicherungsstaat mit der Notwendigkeit der Quali- tätskontrolle gerechtfertigt. Unter Hinweis auf die Vorgängerbestimmungen der RL 2005/36/EG hat der EuGH dieses Argument aber für unerheblich erklärt. Die- se Richtlinien enthalten, so der EuGH, die Garantie für eine der inländischen gleichwertige Leistungserbringung im Ausland.34 Darüber lässt sich zwar streiten, weil hier aus der Gleichwertigkeit der Berufszugangsvoraussetzungen etwas zu selbstverständlich auf die Gleichwertigkeit der Berufsausübung geschlossen wird.35 Die Rechtsprechung belegt aber, dass die RL 2005/36/EG nicht nur die Ausübung der Personenverkehrsfreiheiten für die Leistungserbringer erleichtern soll, sondern insgesamt einen europaweit gültigen Standard für die Aus- und Wei- terbildung in den Gesundheitsberufen aufstellt, der auch für den Fall der Mobilität des Versicherten von Bedeutung ist. Deshalb bezieht auch § 13 Abs. 4 S. 2 SGB V den Anspruch auf Kostenerstattung für die in anderen Mitgliedstaaten in An- spruch genommenen Leistungen auf diejenigen Leistungserbringer, die diesem Mindeststandard genügen. Nicht ganz klar ist lediglich, warum Art. 3 Abs. 3 RL- E das Verhältnis zur RL/2005/36/EG in einem gesonderten Absatz regelt und nicht in den Katalog der unberührt bleibenden Rechtsakte des Absatzes 1 integ- riert. Die beiden Rechtsakte stehen zwar nach dem Gesagten in einem gewissen Zusammenhang; regelungsbedürftige Kollisionen sind aber nicht ersichtlich.

bb) Die Dienstleistungsrichtlinie RL 2006/123/EG

Das Zusammenspiel mit der RL 2005/36/EG belegt allerdings, dass auch ein leis- tungsrechtlicher Rechtsrahmen wie die Patientenrichtlinie leistungserbringungs-

34 EuGH, Rs. C-120/95, Slg. 1998, I-1831 Rn. 42f. – Decker; Rs. C-158/96, Slg. 1998, I-1931 Rn.

47f. – Kohll.

35 Dazu noch unten II. 2.

(23)

rechtliche Implikationen hat. Das wirft die Frage auf, ob die Patientenrichtlinie die in Art. 2 Abs. 2 lit. f) RL 2006/123/EG (Dienstleistungsrichtlinie) angeordnete Bereichsausnahme für Gesundheitsdienstleistungen umgehen könnte.

Die Dienstleistungsrichtlinie soll Hindernisse für die grenzüberschreitende Inan- spruchnahme von Dienstleistungen abbauen und damit die Rahmenbedingungen für grenzüberschreitende Transaktionen verbessern. Das geschieht allerdings nicht durch die schlichte Regelung, dass jeder Dienstleistungserbringer in jedem Mit- gliedstaat zu den Bedingungen seines Herkunftsstaates Dienstleistungen erbringen könnte. Vielmehr wird die Erbringung der Dienstleistungen in vielfältiger Weise reguliert und damit gerade sichergestellt, dass die Entgrenzung wirtschaftlicher Transaktionen nicht zu einem Verlust politischer Steuerung führt. Die Dienstleis- tungsrichtlinie schützt daher das Interesse der Allgemeinheit an der Qualität der Leistungserbringung und damit auch das Interesse der Empfänger von Dienstleis- tungen.

Die Dienstleistungsrichtlinie schafft also einen Markt, indem sie ihn reguliert.36 Sie ist ein Rechtsrahmen für Leistungserbringer mit unmittelbaren Auswirkungen auch auf die Leistungsempfänger und damit ein Beleg dafür, dass Leistungs- erbringung und -inanspruchnahme keine unterschiedlichen Welten bilden können:

Denn es geht ja, wenn auch aus unterschiedlicher Perspektive, stets um ein- und denselben wirtschaftlichen Vorgang. Aus diesem Grunde enthält natürlich auch die Patientenrichtlinie leistungserbringungsrechtliche Regelungen, und zwar vor allem in Art. 5, der den materiell-rechtlichen Standard für die Erbringung der Ge- sundheitsleistungen im Behandlungsstaat sicherstellt. Insoweit ist auch die Patien- tenrichtlinie eine Dienstleistungsrichtlinie, und muss es wegen des untrennbaren Zusammenhanges zwischen Leistungs- und Leistungserbringungsrecht auch sein:

Dieser Zusammenhang beruht auf dem Umstand, dass die Krankenkassen als ver- sicherungs- und leistungsrechtliche Schaltstelle zwischen Leistungsempfänger und Leistungserbringer fungieren: Versicherter und Arzt regeln ihre Rechtsbezie- hungen nicht unmittelbar untereinander, sondern durch ihre jeweiligen Rechtsbe- ziehungen mit den Krankenkassen. Die Krankenkassen sind es daher auch, die den Inhalt, den Preis, die Qualität und die Abwicklung der erbrachten Leistungen wesentlich steuern und damit über das Leistungs- ebenso wie über das Leistungs- erbringungsverhältnis mitentscheiden. Deshalb prüft der EuGH in der

36 Vgl. zu dieser Notwendigkeit transnationaler politischer Regulierung noch unten II.

(24)

Kohll/Decker-Rechtsprechung regelmäßig auch die leistungserbringungsrechtli- chen Implikationen des grenzüberschreitenden Leistungsanspruchs und enthält der leistungsrechtliche § 13 Abs. 4 S. 2 SGB V Anforderungen auch an den Erbringer der grenzüberschreitend in Anspruch genommenen Gesundheitsleistung.

Es wäre daher nicht sachgerecht, die leistungsrechtliche Patientenrichtlinie nur deshalb abzulehnen, weil sie mit den leistungsrechtlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Leistungen auch die Erbringung dieser Leistungen mitre- gelt. Das Verhältnis zu Art. 2 Abs. 2 lit. f) RL 2006/123/EG wäre nur im Hinblick auf solche Bestimmungen der Patientenrichtlinie prekär, die das Leistungserbrin- gungsrecht aus dem Kontext des Leistungsrechts herauslösen und damit gewis- sermaßen verselbständigen; insoweit könnte man von nicht-akzessorischen, d. h.

vom Leistungsrecht unabhängigen Leistungserbringungsrecht sprechen. Die Pati- entenrichtlinie ist aber insoweit im Wesentlichen unproblematisch: Nicht- akzessorisches Leistungserbringungsrecht enthält nämlich nur Art. 15 RL-E (Eu- ropäische Referenznetze), der die gesundheitspolitische Kooperation zwischen den Mitgliedstaaten aber nur fördern soll und nicht erzwingen kann,37 also kein eigenständiges verbindliches europäisches Dienstleistungsrecht im Gesundheits- bereich schafft. Alle anderen Bestimmungen mit leistungserbringungsrechtlichen Regelungsgehalten, insbesondere die Art. 5 RL-E,38 sind notwendige Bestandteile des leistungsrechtlichen Rechtsrahmens.

Gerade wegen des engen Zusammenhangs zwischen Leistungs- und Leistungs- erbringungsrecht ist es allerdings angezeigt, das Verhältnis zwischen Patienten- richtlinie und Dienstleistungsrichtlinie zu regeln. Die Kommission hält zwar das Verhältnis zu diversen Rechtsakten des Gemeinschaftsrechts für regelungsbedürf- tig, führt aber ausgerechnet die RL 2006/123/EG nicht auf. Man wird das der poli- tischen Strategie der Kommission zuzuschreiben haben, die Patientenrichtlinie als ein aliud gegenüber der Dienstleistungsrichtlinie zu präsentieren, das mit dieser in keinem Zusammenhang steht. Der Zusammenhang ist aber offensichtlich und da- her auch regelungsbedürftig. In Art. 3 RL-E sollte daher klargestellt werden, dass (1) die Patientenrichtlinie leistungsrechtliche und leistungserbringungsrechtliche

Bestimmungen enthält, letztere aber nur zur Gewährleistung einer wirtschaft-

37 Dazu unten V.

38 Zu diesen unten II. und III.

(25)

lichen und qualitätvollen Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen durch die Versicherten, und dass

(2) die Bereichsausnahme für Gesundheitsleistungen in Art. 2 Abs. 2 lit. f) RL 2006/123/EG im Übrigen unberührt bleibt.

3. Begriffsbestimmungen, Art. 4 RL-E

Art. 4 RL-E enthält eine Fülle von Begriffsbestimmungen. Mit der Definition der Gesundheitsversorgung als einer Gesundheitsdienstleistung, die von einem Ange- hörigen der Gesundheitsberufe in Ausübung ihres Berufs oder unter ihrer Aufsicht erbracht wird, und zwar unabhängig von Organisation und Finanzierung, wird der sachliche Anwendungsbereich des Richtlinienvorschlages konkretisiert. Es fallen daher alle im SGB V aufgeführten Sach- und Dienstleistungen in den Anwen- dungsbereich des Richtlinienvorschlages. Bei Gesundheitsleistungen, die außer- halb des SGB V erbracht werden, bedarf dies hingegen näher Prüfung:

Fraglich ist insbesondere, ob auch Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung (SGB XI) erfasst sind. Dafür spricht, dass der EuGH zu den Leistungen bei Krankheit i. S. v. Art. 4 Abs. 1 lit. a) VO/EWG 1408/71 auch Leistungen der deutschen Pflegeversicherung zählt. Er begründet das damit, dass die Pflegeversi- cherung die Leistungen der Krankenversicherung ergänze und mit dieser auch organisatorisch verknüpft sei.39 In einer weiteren Entscheidung hat der EuGH das österreichische Pflegegeld als Leistung bei Krankheit eingeordnet. Zwar war das Pflegegeld eher der Unfall- und Alterssicherung zuzurechnen, weil es nur für Be- zieher einer Rente aufgrund eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit oder einer Pension nach dem allgemeinen Sozialversicherungsgesetz gewährt und von den Trägern der Unfall- und Pensionsversicherung ausgezahlt wurde. Mittelbar wurde es aber über eine Erhöhung der Beiträge zur Krankenversicherung finan- ziert, die deshalb erforderlich geworden war, weil die Einführung des Pflegegel- des durch die Kürzung des Beitrags des Pensionsversicherungsträgers an die Krankenversicherung finanziert worden war.40 Leistungen bei Krankheit sind schließlich auch die Beiträge zur Rentenversicherung, die die Träger der Pflege- versicherung für nicht erwerbstätige Pflegepersonen entrichten (§ 44 SGB XI).

Der EuGH begründet diese weite Auslegung damit, dass auch diese an sich der

39 EuGH, Rs. C-160/96, Slg. 1998, I-843 Rn. 23f. – Molenaar.

40 EuGH, Rs. C-215/99, Slg. 2001, I-1901 Rn. 25ff. – Jauch.

(26)

Alterssicherung der Pflegeperson dienenden Beiträge „zum eigentlichen Pflege- geld akzessorisch“ seien.41

Der EuGH ordnet mit dieser die Grenzen des Wortlauts strapazierenden Ausle- gung das gesamte Leistungsspektrum der Pflegeversicherung den „Leistungen bei Krankheit“ zu. Er verhindert damit auch, dass die Mitgliedstaaten durch die Ab- grenzung der Sozialversicherungszweige einzelne mit der Gesundheitsversorgung im weitesten Sinne zusammen hängende Leistungen dem Anwendungsbereich der Wanderarbeitnehmerverordnung zu entziehen.42 So belegen gerade die Abgren- zungsschwierigkeiten zwischen der Kranken- und der Pflegeversicherung, etwa zwischen der in die Zuständigkeit der Krankenkassen fallenden häuslichen Kran- kenpflege nach § 37 SGB V und der von den Pflegekassen erbrachten Grundpfle- ge nach § 14 Abs. 4 SGB XI,43 dass die europarechtliche Einordnung von Leis- tungen nicht von der mitgliedstaatlichen Abgrenzung der Sozialversicherungs- zweige abhängig sein kann.

Aus diesem Grunde gehören etwa Leistungen der medizinischen Rehabilitation auch dann zur Gesundheitsversorgung i. S. v. Art. 4 lit. a) RL-E, wenn sie nicht von den Krankenkassen, sondern von einem anderen Träger (vgl. § 6 SGB IX) erbracht werden. Der Richtlinienentwurf erfasst also auch die von den Trägern der gesetzlichen Renten- und Unfallversicherung erbrachten Gesundheitsleistungen.

Unklar ist, ob der Richtlinienentwurf darüber hinaus auch für Hilfen zur Gesund- heit gelten soll, die die Träger der Sozialhilfe nach den §§ 47ff. SGB XII erbrin- gen. Orientiert man sich auch insoweit an den Bestimmungen der Wanderarbeit- nehmerverordnung, so dürften diese Leistungen nicht erfasst sein, weil die Ver- ordnung nach Art. 4 Abs. 4 VO/EWG 1408/71 auf die Sozialhilfe nicht anwend- bar ist. Ob damit allerdings auch die von den Sozialhilfeträgern erbrachten Leis- tungen bei Krankheit ausgeschlossen sind, ist umstritten.44 Eine Klarstellung im Richtlinienentwurf, in welche Richtung auch immer, wäre daher hilfreich.

Die Definition der „Gesundheitsversorgung“ in Art. 4 lit. a) RL-E bezieht sich auf den Leistungserbringer, nicht auf das System, in dem die Leistung erbracht wird.

41 EuGH, Verb. Rs. C-502/01 und C-31/02, Slg. 2004, I-6483 Rn. 27 – Gaumain-Cerri/Barth.

42 M. Fuchs, in: M. Fuchs (Hrsg.), Europäisches Sozialrecht, 4. Aufl. 2005, Art. 4 VO/EWG 1408/71 Rn. 8.

43 Dazu S. Rixen, in: U. Becker/T. Kingreen (Hrsg.), SGB V. Gesetzliche Krankenversicherung, 2008, § 37 Rn. 9ff.

44 M. Fuchs, in: M. Fuchs (Hrsg.), Europäisches Sozialrecht, 4. Aufl. 2005, Art. 4 VO/EWG 1408/71 Rn. 8.

(27)

Das hat zur Konsequenz, dass nicht nur im Rahmen des SGB V erbrachte Leis- tungen, sondern alle Gesundheitsleistungen erfasst werden. Wegen der Unter- schiedlichkeit der mitgliedstaatlichen Systeme ist das grundsätzlich sinnvoll, sol- len nicht die Systementscheidungen in den Mitgliedstaaten über den Anwen- dungsbereich der Patienten-Richtlinie entscheiden. Sollte die Erstreckung auf au- ßerhalb des Krankenversicherungsrechts erbrachte Leistungen allerdings politisch unerwünscht sein, müsste der Begriff der „Gesundheitsversorgung“ in Art. 4 lit. a) RL-E systembezogen definiert werden.

II. Kapitel II: Zuständige Behörden der Mitgliedstaaten 1. Aufspaltung der Steuerungsverantwortung

Die grenzüberschreitende Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen bedeutet, dass Behandlungsstaat und Versicherungsstaat nicht identisch sind. Ein Rechts- rahmen für diesen Vorgang muss daher die Frage beantworten, ob die Behörden des Behandlungs- oder des Versicherungsstaates zuständig sind. Der Richtlinien- vorschlag differenziert hier wie folgt:

Nach Art. 5 RL-E sind die Behörden des Behandlungsmitgliedstaates für alle mit der Durchführung der Behandlung zusammenhängenden Fragen zustän- dig, also insbesondere für die Qualitätssicherung, die Information der Patien- ten und die Haftung der Leistungserbringer.

Die Behörden und Unternehmen des Versicherungsstaates bestimmen hinge- gen nach Art. 6 RL-E Inhalt und Umfang des für die Abrechnung der Leistun- gen maßgeblichen Leistungskataloges. Der Versicherte hat daher Anspruch auf Erstattung von Kosten nur in dem Umfang wie im Inland. Darüber hinaus gehende Leistungen muss er selbst bezahlen.45

Der Richtlinienvorschlag führt daher im Hinblick auf die grenzüberschreitende Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen zu einer Aufspaltung der Steue- rungsverantwortung: Während der Behandlungsmitgliedstaat für die Qualitäts- steuerung zuständig ist, erfolgt die Preis- und Mengensteuerung durch den Versi- cherungsstaat. Wegen des untrennbaren Zusammenhangs zwischen der Qualität und dem Preis einer Leistung mag diese Aufteilung der Zuständigkeiten prima vista vielleicht befremden. Doch steht sie letztlich stellvertretend für die Entwick-

45 Dazu ausführlich unten III. 1.

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lung vom Nationalstaat klassischer Prägung hin zum europäischen Staaten- und Verfassungsverbund und damit für den Abschied von der traditioneller Staatlich- keit verhafteten Vorstellung monozentrischer Steuerung politischer Vorgänge.46 Der Richtlinienvorschlag hat in diesem, auch den Sozialstaat erfassenden Europä- isierungs- und Internationalisierungsprozess die Funktion, grenzüberschreitende Transaktionen zu verrechtlichen und damit auch zu regulieren; darauf ist im Fol- genden näher einzugehen.

2. Art. 5 RL-E: Verrechtlichung der grenzüberschreitenden Leistungsinan- spruchnahme

Art. 5 RL-E entwickelt die Kohll/Decker-Rechtsprechung in einem bedeutenden Punkt weiter. In den Verfahren Kohll und Decker hatten mehrere der beteiligten Regierungen die Genehmigungsvorbehalte für die Inanspruchnahme von Leistun- gen im Ausland damit zu rechtfertigen versucht, dass sie durch die Einbeziehung ausländischer Leistungserbringer die Möglichkeit verlören, die Qualität der Ge- sundheitsleistungen in dem erforderlichen Maße zu kontrollieren.47 Den EuGH hat das seinerzeit nicht überzeugt: Die grenzüberschreitende Freizügigkeit medizini- scher Leistungserbringer sei Gegenstand mehrerer Koordinierungs- oder Harmo- nisierungsrichtlinien, in denen die gegenseitige Anerkennung von Befähigungs- nachweisen geregelt werde. Hieraus folge, dass die in anderen Mitgliedstaaten niedergelassenen Leistungserbringer als ebenso qualifiziert anerkannt werden müssten wie im Inland niedergelassene.48

Tatsächlich stellt die Richtlinie 2005/36 über die Anerkennung von Berufsqualifi- kationen die Gleichwertigkeit der Berufsausbildung auch von Leistungserbringern im Gesundheitswesen sicher.49 Der EuGH schließt aber nun aus der Gleichwertig- keit der Berufsausbildung auf die Gleichwertigkeit der Berufsausübung, was sei- nerzeit mit Recht kritisiert worden ist:50 Denn die durch das Sekundärrecht festge-

46 Vgl. dazu nur A. von Bogdandy, Supranationaler Föderalismus als Wirklichkeit und Idee einer neuen Herrschaftsform, 1999, sowie speziell im Hinblick auf den Sozialstaat etwa S. Leibfried/P.

Pierson, Halbsouveräne Wohlfahrtsstaaten: Der Sozialstaat in der Europäischen Mehrebenenpoli- tik, in: S. Leibfried/P. Pierson (Hrsg.), Standort Europa, 1998, S. 58ff.

47 Vgl. dazu bereits oben I. 2. b) aa).

48 EuGH, Rs. C-120/95, Slg. 1998, I-1831 Rn. 42f. – Decker; Rs. C-158/96, Slg. 1998, I-1931 Rn.

47f. – Kohll.

49 Vgl. dazu oben I. 3. b).

50 R. Giesen, Die Vorgaben des EG-Vertrages für das Internationale Sozialrecht, 1999, S. 106; S.

Hollmann/W. Schulz-Weidner, Der Einfluss der EG auf das Gesundheitswesen der Mitgliedstaaten, ZIAS 1998, 191 (208f.); U. Kötter, Die Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften

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schriebene Gleichwertigkeit der Berufszugangsvoraussetzungen ändert nichts dar- an, dass die Berufsausübung sich im Rahmen der geltenden Vorschriften halten und durch die zuständigen Stellen überwacht werden können muss. Es besteht daher grundsätzlich ein über die Zulassung hinaus gehendes legitimes Interesse an der Qualitätssicherung, dem nicht allein mit dem Hinweis auf die Gleichwertig- keit der Berufszugangsvoraussetzungen begegnet werden kann. Aus diesem Grunde unterscheidet auch das SGB V zwischen dem Zulassungsrecht (für Ver- tragsärzte etwa §§ 95ff. SGB V) und dem Recht der Qualitätssicherung in den §§

135ff. SGB V.

Die EuGH-Rechtsprechung hatte zur Konsequenz, dass die Krankenkassen die Kosten für Gesundheitsleistungen erstatten mussten, deren Qualität sie nicht beur- teilen und beeinflussen konnten. Eine ausreichende Patienteninformation war e- benso wenig gewährleistet wie eine Übermittlung von Behandlungsdaten zwi- schen dem aus- und dem inländischen Leistungserbringer, ganz zu schweigen von den ungelösten haftungsrechtlichen Fragen. Aus diesem Grunde muss § 13 Abs. 4 S. 2 SGB V den Anspruch auf grenzüberschreitende Inanspruchnahme von Ge- sundheitsleistungen nach wie vor auf jeden in einem anderen Mitgliedstaat zuge- lassenen Leistungserbringer erstrecken. Anforderungen an die Berufsausübung kann er nicht stellen. Bereits die Rechtsprechung des EuGH hat also eine Aufspal- tung der Steuerungsverantwortung zwischen Behandlungs- und Versicherungs- staat bewirkt. Allerdings fehlten für die Steuerung der Qualität der Leistungs- erbringung jegliche Standards.

Im Prinzip ist es durchaus sinnvoll, dass bei grenzüberschreitenden Vorgängen nur ein Staat die Verantwortung für die Qualitätssicherung hat. Denn wenn Waren und Dienstleistungen in zwei Staaten Beschränkungen unterworfen sind, die dem gleichen Ziel dienen und die auch qualitativ gleichwertig sind, liegt darin eine Benachteiligung ausländischer gegenüber inländischen Leistungserbringern, die nur einem Kontrollvorgang unterliegen.51 Allerdings darf die Konzentration der Zuständigkeit bei einem Mitgliedstaat, dessen Maßnahmen dann von den anderen Mitgliedstaaten als gleichwertig anerkannt werden, nicht zu von Mitgliedstaat zu

in den Rechtssachen Decker und Kohll: Der Vorhang zu und alle Fragen offen?, VSSR 1998, 233 (245).

51 C.-D. Classen, Auf dem Weg zu einer einheitlichen Dogmatik der EG-Grundfreiheiten?, EWS 1995, 97 (101f.); J. Tiedje/P. Troberg, in: H. von der Groeben, J. Schwarze (Hrsg.), Vertrag über die Europäische Union und Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft Bd. 1, 6. Aufl.

2003, Art. 49 EGV Rn. 62ff., 77ff.

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