Die Covid-19-Pandemie als Herausforderung für die psychische Gesundheit
Online-Vortrag im Rahmen der Corona-Wissenschaftsreihe
„Die Pandemie aus unterschiedlichen Blickwinkeln der Wissenschaft“
veranstaltet von der Universität des Saarlandes
Prof. Dr. Tanja Michael
Klinische Psychologie und Psychotherapie Universität des Saarlandes
Definition psychische Gesundheit
• Psychische Gesundheit ist ein Zustand des Wohlbefindens, in dem eine Person ihre Fähigkeiten ausschöpfen, die normalen Lebensbelastungen bewältigen, produktiv arbeiten und einen Beitrag zu ihrer Gemeinschaft leisten kann.
• Psychische Störungen stellen Störungen der psychischen Gesundheit einer Person dar, die oft durch eine Kombination von belastenden Gedanken, Emotionen, Verhaltensweisen und Beziehungen zu anderen gekennzeichnet sind. Beispiele für psychische Störungen sind Depressionen, Angststörungen, Verhaltensstörungen, bipolare Störungen und Psychosen.
▫ Bedeutsames Leiden oder Behinderung hinsichtlich sozialer oder berufs- /ausbildungsbezogener und anderer wichtiger Aktivitäten
Annas Geschichte
Wenn ich wirklich krank bin und die Stimme meines inneren Teufels stark ist, versuche ich manchmal, mir einen Arm oder ein Bein oder einen anderen Knochen zu brechen. Dann stelle ich mir vor, wenn ich einen gebrochenen Knochen habe, dann können die Menschen sehen, dass etwas nicht in Ordnung ist und ich Schmerzen habe.
Nachzulesen unter:
https://www.euro.who.int/de/health-topics/noncommunicable-diseases/mental-health/data-and-resources/personal-stories/annas- storych Schmerzen habe.
Psychische Störungen sind häufig und führen zu frühzeitigem Tod
27% ( 82.7 Millionen) der erwachsenen EU Bevölkerung hatte in den letzten 12 Monaten mind. eine psychische Störung
Besonders häufig:
- Depressive Störungen - Angststörungen
- Substanzgebrauchsstörungen
Wittchen et al. (2011). The size and burden of mental disorders and other disorders of the brain in Europe 2010. European Neuropsychopharmacology
• Im Rahmen der Globalen Krankheitslast Studie entwickelt
▫ WHO, Weltbank, Harvard School of Public Health
• Maß zur Erfassung von Sterblichkeit und Beeinträchtigung des normalen, beschwerdefreien Lebens durch eine Krankheit
DALY: disability-adjusted life years
Figure 3The global burden of mental and substance use disorders, Alzheimer's disease and other dementias, and suicide (self-harm) in DALYs across the life course Data are Global Burden of Disease health data (2016). One DALY represents 1 lost year of healthy life. The sum of DALYs across the population, or the burden of disease, is a measurement of the gap between current health status and an ideal health situation in which the entire population lives to an advanced age, free of disability and disease. DALY=disability-adjusted life-year.
“Mental health problems kill more young people than any other cause around the world”
Global burden of 369 diseases and injuries in 204 countries and territories, 1990-2019 (Lancet, 2020)
Leading causes of DALYS in 2019
All ages 10-24 years 25-49 years
Einflüsse auf die psychische Gesundheit
Die Covid-19 Pandemie ist ein multidimensionaler Stressfaktor für die psychische Gesundheit
- Langanhaltendes Bedrohungsgefühl - Subjektiver Kontrollverlust
- Vermehrtes Grübeln
- Erschöpfung der individuellen Bewältigungsstrategien, …. .
- Weniger Schutzfaktoren, insb. soziale Kontakte & Tagesstruktur
- Eingeschränkter Zugang zu Hilfe- und Unterstützungssystemen
- Höhere Arbeitsbelastung (Eltern, bestimmte Berufe)
- Weniger positive Erlebnisse -Erhöhter Alltagsstress, … .
-Bedrohung der langfristigen Bildungs–und Arbeitsmöglichkeiten
- Bedrohung des SES
-Eingeschränkte Lebensgestaltungsmöglichkeiten , … . Beeinträchtigte
psy. Gesundheit
Gruber et al. 2020. Mental health and clinical psychological science in the time of COVID-19. American Psychologist
• Das Diathese-Stress-Modell
- beschreibt die Wechselwirkungen zwischen Diathese (Krankheitsneigung) und Stress.
- Zentrale Annahme: beide Faktoren sind nötig für die Entwicklung einer psychischen Störung.
Diathese-Stress-Modell
Übersichtsarbeiten zeigen weltweite Zunahme von psychischen Symptomen
• Depression
• Angst
• Traumafolge-Symptome
• Risikofaktoren
▫ Jüngeres Alter (< 40)
▫ Vorherige psychische Probleme
▫ Arbeitslosigkeit / finanzielle Schwierigkeiten
▫ niedriger sozioökonomischer Status und Bildungsniveau
▫ Soziale Isolation
▫ Hoher Konsum an Nachrichten über Covid-19 in Sozialen Medien
▫ Weibl. Geschlecht
▫ Kinderanzahl
▫ Pandemiestatus in Region
Substanzkonsumstörungen ???
(nicht erfasst wegen Selbstbericht)
Xiong et al., (2021). Impact of COVID-19 Pandemic on Mental Health in the General Population: A Systematic Review. Journal of Affective Disorders
Kowal et al., (2020). Who is the Most Stressed During the COVID-19 Pandemic? Data From 26 Countries and Areas. Applied Psychology: Health and Well-Being
Spezielle Gruppen ???
- Personal in sensiblen medizin. Einheiten - AltenheimbewohnerInnen
- Häusliche Gewalt
Schweizer Bevölkerungsstudie: Anteil (%) mit klinisch relevanten Depressionssymptomen in 2020
3
9
12
18
0 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20
Februar April Mai November
PHQ-9
Aerni et al., (submitted). The Swiss Corona Stress Study: second pandemic wave, November 2020
N = 11 612
Kernsymptome:
• gedrückte oder traurige Stimmung, z.T. als vermehrte Reizbarkeit
• Interessenverlust oder Freudlosigkeit
• verminderter Antrieb oder gesteigerte Ermüdbarkeit
Zusatzsymptome:
• Verlust des Selbstvertrauens bzw. des Selbstwertgefühls
• vermindertes Denk- oder Konzentrationsvermögen
• Selbstvorwürfe oder unangemessene Schuldgefühle
• psychomotorische Hemmung oder Unruhe
• Schlafstörungen
• verminderter (selten auch gesteigerter) Appetit mit Gewichtsänderung
• Suizidgedanken oder Suizidhandlungen
Depressive Episode
nach ICD-10Anteil (%) mit klinisch relevanten
Depressionssymptomen nach Altersgruppe
29%
21%
17%
14%
13%
6%
14-24 25-34 35-44 45-54 55-64 65 +
Aerni et al., (submitted). The Swiss Corona Stress Study: second pandemic wave, November 2020
COPSY-Studie des Universitätsklinikum Hamburg- Eppendorf
• Repräsentative Online-Studie von Familien mit Kindern zwischen 7 und 17 Jahren (n = 1586)
• Erhebungszeitpunkt: 26. Mai bis 10. Juni 2020; Vergleich mit BELLA Studie (n = 1556)
Ravens-Sieberer, Kaman, erhart, Devine, Schlack, & Otto (2021). Impact of the Covid-19 pandemic on quality of life and mental health in children and adolescents in Germany. European Child & Adolescent Psychiatry.
COPSY-Studie des Universitätsklinikum Hamburg- Eppendorf
Ravens-Sieberer, Kaman, erhart, Devine, Schlack, & Otto (2021). Impact of the Covid-19 pandemic on quality of life and mental health in children and adolescents in Germany. European Child & Adolescent Psychiatry.
COPSY-Studie des Universitätsklinikum Hamburg- Eppendorf
• Hauptrisikofaktoren:
▫ Niedriger sozio-ökonomischer Status
▫ Migrationshintergrund
▫ Beengte Wohnverhältnisse
Ravens-Sieberer, Kaman, erhart, Devine, Schlack, & Otto (2021). Impact of the Covid-19 pandemic on quality of life and mental health in children and adolescents in Germany. European Child & Adolescent Psychiatry.
JuCo-Studie der Universitäten Hildesheim & Frankfurt
• Online-Studie mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen zwischen 15 und 30 Jahren (n = 7000)
• Erhebungszeitpunkt: November 2020
• Hauptergebnisse:
▫ Psychische Belastung: 64 %
▫ Einsamkeit: 60,7 %
▫ Zukunftsängste: 68 %
Andresen, Heyer, Lips, Rusack, Schröer, Thomas, & Wilmes (2021). „Die Corona-Pandemie hat mir wertvolle Zeit genommen“ –Jugendalltag 2020.
https://doi.org/10.18442/163
Corona Jugendstudie in Österreich
• Online-Studie mit 14 bis 20 Jährigen (n = 3052)
• Erhebungszeitpunkt: Februar 2021
• Klinisch relevante Symptome in folgenden Bereichen:
▫ Essstörungen: 64 %
▫ Depression: 55 %
▫ Angststörungen: 47 %
▫ Insomnie: 23 %
▫ Suizidgedanken: 16 %
Pieh, Plener, Probst, Dale, & Humer (2021). Mental health in adolescents during Covid-19-related social distancing and home-schooling. Public Preprint (unreviewed).
Warum werden manche Menschen psychisch krank und
andere bleiben gesund?
Studie I der UdS zum Einfluss von psychischer
Belastung durch die Pandemie auf Angstlernprozesse
Friesen, Michael, Schäfer, & Sopp (under review). COVID-19-related distress predicts analog PTSD symptoms after exposure to an analog stressor.
Studie II der UdS zum Einfluss von psychischer
Belastung durch die Pandemie auf Angstlernprozesse
Hauck, Ferreira de Sa, & Michael (in preparation). Fear learning and generalization during pandemic fear: how COVID-19 related anxiety affects classical fear conditioning with traumatic film clips
Ergebnisse der Studien zeigen, dass eine hohe psychische Belastung durch die Pandemie Menschen vulnerabler für dysfunktionale Angstreaktionen macht.
Die angstauslösenden Stressoren
müssen keinen direkten
Zusammenhang zur Pandemie haben.
Resilienz
... bezeichnet das Phänomen, dass einige Personen trotz starker Belastungen und Risiken gesund bleiben oder sich relativ schnell von Störungen erholen, während andere unter vergleichbaren Bedingungen wesentlich anfälliger für Störungen und Krankheiten sind.
Die Covid-19-Pandemie und psychologische Resilienz
• Reaktionen auf Stressoren sind heterogen
• Erfahrungen im Umgang mit anderen systemischen Stressoren (z.B.
SARS-Pandemie) zeigen, dass die Mehrheit der Personen keine Psychopathologie in Folge der Belastung entwickelt
Chen, S. & Bonnano, G.A. (2020). Psychological Adjustment During the Global Outbreak of Covid-19_A Resilience Perspective.Psychological Trauma: Theory, Research, Practice, and Policy.
Galatzer-Levy, I. R., Huang, S. H., & Bonanno, G. A. (2018). Trajectories of resilience and dysfunction following potential trauma: A review and statistical evaluation.Clinical Psychology Review.
Kohärenzerleben
• Kohärenzerleben als zentrales Element des Salutogenese-Konzepts
Dis-ease
Krankheit
Ease
Gesundheit
7
„Eine globale Ausrichtung, die ausdrückt, inwieweit man ein
allgegenwärtiges und dauerhaftes, wenn auch dynamisches Gefühl des Vertrauens hat, dass die internen und externen Umgebungen
vorhersehbar sind und dass die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass die Dinge so gut funktionieren, wie es vernünftigerweise erwartbar ist.“
(Antonovsky, 1979, p. 10)
Geringes Kohärenzerleben
Dis-ease
Krankheit
Ease
Gesundheit
• Kohärenzerleben als zentrales Element des Salutogenese-Konzepts
8
„Eine globale Ausrichtung, die ausdrückt, inwieweit man ein
allgegenwärtiges und dauerhaftes, wenn auch dynamisches Gefühl des Vertrauens hat, dass die internen und externen Umgebungen
vorhersehbar sind und dass die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass die Dinge so gut funktionieren, wie es vernünftigerweise erwartbar ist.“
(Antonovsky, 1979, p. 10)
Kohärenzerleben
• Kohärenzerleben als zentrales Element des Salutogenese-Konzepts
Dis-ease
Krankheit
Ease
Gesundheit
9
„Eine globale Ausrichtung, die ausdrückt, inwieweit man ein
allgegenwärtiges und dauerhaftes, wenn auch dynamisches Gefühl des Vertrauens hat, dass die internen und externen Umgebungen
vorhersehbar sind und dass die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass die Dinge so gut funktionieren, wie es vernünftigerweise erwartbar ist.“
(Antonovsky, 1979, p. 10)
Kohärenzerleben
Hohes Kohärenzerleben
Die Covid-19-Pandemie und Kohärenzerleben:
Ergebnisse einer Panelstudie der UdS (n = 2 162)
T0 T1 T2 T3 T4 T5 T6
Schäfer, Sopp, Schanz, Staginnus, Göritz & Michael, T. (2020). Impact of COVID-19 on public mental health and the buffering effect of sense of coherence. Psychotherapy and Psychosomatics / Schäfer, Sopp, Bläsing,. Göritz, & Michael (in preparation.) Sense of Coherence Buffers the Effect of COVID-19 on Mental Health: Findings From a Longitudinal Study in the German General Population
Hauptergebnisse:
- März 20:
- 15% zeigen klinisch relevante akute Stresssymptome
- Bis Jan. 21:
- Signifikanter Anstieg genereller Psychopathologie über die Zeit - Kohärenzempfinden (SOC) ist
signifikanter neg. Prädiktor für Psychopathologie
Kohärenzempfinden puffert Belastungen ab
Schäfer, Sopp, Schanz, Staginnus, Göritz & Michael (2020). Impact of COVID-19 on public mental health and the buffering effect of sense of coherence. Psychotherapy and Psychosomatics / Schäfer, Sopp, Bläsing,. Göritz, & Michael (in preparation.) Sense of Coherence Buffers the Effect of COVID-19 on Mental Health: Findings From a Longitudinal Study in the German General Population.
Die Covid-19-Pandemie und Kohärenzerleben:
Ergebnisse einer Panelstudie der UdS (n = 2 162)
• Hypothese: Der flexible Einsatz verschiedener Verhaltens- und Regulationsstrategien (regulatorische Flexibilität) sollte einen kritischen Einfluss auf die Bewältigung multidimensionaler Langzeitstressoren wie die COVID-19-Pandemie haben
Studie der Bar-Ilan Universität (Israel) und der UdS zur Bewältigung der COVID-19-Pandemie:
Welche Rolle spielt regulatorische Flexibilität?
Hemi, Sopp, Michael, & Levy-Gigi (in preparation) Adapting to crisis: A binational study on latent profiles of regulatory flexibility and their impact on coping with COVID-19
Regulatorische Flexibilität und Bewältigung der COVID-19-Pandemie: Ergebnisse einer Studie der Bar- Ilan Universität (Israel) und der UdS
60 65 70 75 80 85 90
Niedrig Hoch
Bewätigungder COVID-19-Pandemie
Kognitive Flexibilität
Israel
Niedrige soziale Unterstützung Hohe soziale Unterstützung
60 65 70 75 80 85 90
Niedrig Hoch
Bewältigungder COVID-19-Pandemie
Kognitive Flexibilität
Deutschland
Niedrige soziale Unterstützung Hohe soziale Unterstützung
N = 2330 N = 742
Hemi, Sopp, Michael, & Levy-Gigi (in preparation) Adapting to crisis: A binational study on latent profiles of regulatory flexibility and their impact on coping with COVID-19
• Hauptergebnisse:
▫ Kognitive Flexibilität ist (länderübergreifend) der stärkste Prädiktor für die Bewältigung der Pandemie, danach kommt soziale Unterstützung
▫ Kognitive Flexibilität und soziale Unterstützung haben unabhängige Vorhersagebeiträge
➢ Individuelle und Familien-/Gemeinschaftsbezogene Resilienzfaktoren spielen zusammen ohne sich gegenseitig zu ersetzen
• Kognitive Flexibilität:
▫ Bewusstsein, dass in jeder gegebenen Situation Optionen und Alternativen zur Verfügung stehen
▫ Bereitschaft, flexibel zu sein und sich an eine bestimmte Situation anzupassen
▫ Selbstwirksamkeitsüberzeugung flexibel sein zu können
Regulatorische Flexibilität und Bewältigung der COVID-19-Pandemie: Ergebnisse einer Studie der Bar- Ilan Universität (Israel) und der UdS
Hemi, Sopp, Michael, & Levy-Gigi (in preparation) Adapting to crisis: A binational study on latent profiles of regulatory flexibility and their impact on coping with COVID-19
Zusammenfassung & Diskussion
• Die psychische Gesundheit von Teilen der Bevölkerung ist weltweit durch die Covid-19 Pandemie deutlich beeinträchtigt
• Das Risiko von starker psychischer Belastung ist ungleich verteilt
• Die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie sind ungut für die psychische Gesundheit, aber eine langanhaltende, unkontrollierte Pandemie wäre noch schlechter für die psychische Gesundheit
▫ Wenn Lockerungen gewagt werden können, sollten insbesondere junge Menschen davon profitieren
• Die psychischen Langzeitfolgen lassen sich folgendermaßen schätzen:
▫ Viele Menschen werden mit Resilienz reagieren
▫ Ein bedeutsamer Anteil der Bevölkerung wird chronische psychische Probleme davon tragen
Was kann ich tun?
• Bleiben Sie flexibel
• Seien Sie achtsam mit Ihren Mitmenschen und bieten Sie soziale Unterstützung an, wenn es Ihnen gut geht
• Nehmen Sie persönliche und professionelle Hilfe in Anspruch, wenn es Ihnen schlecht gut
Allgemeine Strategien für ein glückliches/ausgeglichenes Leben:
▫ Beruhigen Sie Ihren Geist (“Grübeln ist Gift für die Seele”)
▫ Bemerken Sie die guten Momente
▫ Seien Sie gütig mit sich selbst und anderen
Herzlichen Dank für Ihre
Aufmerksamkeit !
Prof. Dr. Tanja Michael
Klinische Psychologie und Psychotherapie Universität des Saarlandes