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Menschen, Mäuse und Fliegen Eine wissenssoziologische Analyse der Transformation von Organismen in epistemische Objekte

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22 © F. Enke Verlag Stuttgart Zeitschrift für Soziologie, Jg. 23, Heft 1, Februar 1994, S. 22-40

Menschen, Mäuse und Fliegen

Eine wissenssoziologische Analyse der Transformation von Organismen in epistemische Objekte

Klaus Amann

Universität Bielefeld, Fakultät für Soziologie, Postfach 100131, D-33501 Bielefeld

Z usam m enfassung: Dieser Aufsatz stellt einen Beitrag zur wissenssoziologischen Analyse der epistemischen Kultur der Molekularbiologie dar. Nach einer theoretisch-konzeptuellen Verortung im Kontext der Laborstudien werden einige historische Voraussetzungen der aktuellen Entwicklungen innerhalb der Molekularbiologie skizziert.

Im Mittelpunkt des Beitrags steht die Analyse der gegenwärtigen Entwicklungen dieser Wissenschaft. Auf der Grundlage einer mehrjährigen ethnographischen Untersuchung von Wissensprozessen im naturwissenschaftlichen Labor werden deren translokale Ordnungsmuster bestimmt. Dabei wird der These nachgegangen, daß durch die Molekularbiologie eine ’neue Ordnung der (biologischen) Dinge4 (Foucault) entsteht, die durch eine Transforma­

tion natürlicher Objekte in epistemische Dinge charakterisiert ist. Das Nachzeichnen dieser Entwicklung zeigt die Fruchtbarkeit des ethnographisch-mikrosoziologischen Vorgehens auch für eher traditionelle wissenschaftssoziolo­

gische Fragestellungen.

1. Einleitung

Die soziologische Wissenschaftsforschung hat sich in den letzten zwanzig Jahren in weiten Teilen von einer Untersuchung der institutioneilen und nor­

mativen Bedingungen von Forschung zu einer Analyse der Produktionsformen und Strukturen wissenschaftlichen Wissens gewandelt. Die empiri­

schen Eigenheiten der disziplinären Gegenstände und die praktische Logik ihrer experimentellen Konstitution und Bearbeitung wurden zum Ge­

genstand einer Wissenssoziologie naturwissen­

schaftlichen Wissens.1

Ein konstitutives Merkmal dieses Wandels ist die Auflösung der traditionellen, in der philosophi­

schen Erkenntnistheorie entwickelten Unterschei­

dung eines Entdeckungs- und eines Begründungs­

zusammenhangs wissenschaftlichen Wissens. Die von der funktionalistischen Wissenschaftssoziolo­

gie übernommene Arbeitsteilung zwischen philo­

sophischer Erkenntnistheorie auf der einen und soziologischer Analyse der institutionellen und normativen Erkenntnisbedingungen auf der ande­

ren Seite wurde durch empirische Analysen histo­

rischer und zeitgenössischer Wissensproduktion radikal in Frage gestellt. Neben den frühen A rbei­

ten von Ludwik Fleck (1935) waren es auch die Ar­

beiten von Thomas Kuhn (1962), die andere Unter- 1 Vgl. dazu Knorr-Cetina/Mulkay (1983a) Pickering (1992) und insbesondere Heintz (1993), die eine aus­

führliche Darstellung der verschiedenen neueren Ansätze in der Wissenschaftsforschung gibt.

Scheidungen für die Analyse (naturw issenschaft­

lichen Wissens einforderten.

D er Übergang von ’externen4 Betrachtungen der Strukturen und Institutionalisierungsformen von Wissenschaft zur Betrachtung als Tätigkeiten mit empirisch zu untersuchenden Eigenheiten fand unter dem Einfluß erkenntnistheoretischer Über­

legungen statt.2 Wissenschaftshistorisch und er­

kenntnistheoretisch argumentierende Relativie­

rungen einer aus den wissenschaftlichen Begrün­

dungszusammenhängen kausal ableitbaren ’Logik der Forschung4, der erkenntnistheoretische Nach­

weis der Unterdeterminiertheit von wissenschaft­

lichen Theorien durch Beobachtungen bzw. der Theoriegeladenheit wissenschaftlicher Datenpro­

duktion eröffneten u.a. die Möglichkeit, naturwis­

senschaftliche Wissensproduktion als eine an loka­

le Kontexte gebundene und soziale Tätigkeit zu betrachten und diese soziologische black box mit empirischen Mitteln zu durchleuchten.3

Wenn empirische Beobachtungen - wissenschaft­

liche Tatsachen - in unterschiedlichen Theorien (Erklärungsmodellen) unterschiedliche, aber theoriebezogen konsistente Bedeutungen erlan­

gen können und umgekehrt formulierte wissen­

schaftliche Tatsachen stets als Resultat theorieab­

hängiger Beobachtungen und nicht mehr in einem

2 In diesem Zusammenhang sind u. a. die Arbeiten von Quine (1953), Feyerabend (1975) und Hesse (1980) relevant.

3 Vgl. dazu Knorr-Cetina/Mulkay (1983b),

(2)

Klaus Amann: Menschen, Mäuse und Fliegen 23 naiven Sinne als ’Deskriptionen4 gesehen werden

können, ihr Gegenstand somit nicht mehr als E nt­

deckung eines objektiv Vorhandenen zu bestim­

men ist, dann werden verschiedene praktische Konsequenzen für die Untersuchung und Darstel­

lung moderner Wissenschaften möglich.

U.a. wurden folgende Strategien daraus abgelei­

tet: aus wissenschaftshistorischer Perspektive eine Strategie, die rekonstruktiv Abfolgen von Erklä­

rungsmodellen, Theorien und damit verbundenen Formen der wissenschaftlichen Praxis sowie die Untersuchung von Übergangsphasen zum Gegen­

stand machen kann; aus wissenschaftshistorischer wie -soziologischer Perspektive die systematische Suche und Analyse ’offener’ Situationen im For­

schungsprozeß, nämlich dort wo eine Differenz zwischen Interpretationen von wissenschaftlichen Beobachtungen expliziert und als Kontroverse ausgetragen wird (MacKenzie 1981; Pickering 1984; oder auch Collins 1985); aus wissenssoziolo­

gischer Perspektive die mikroskopische Analyse naturwissenschaftlichen Wissens.4

Gemeinsam ist vielen der jüngeren Arbeiten eine Hinwendung zu empirischen Bearbeitungen ihrer Fragestellungen, die sich nicht allein auf die Ex­

ploration der Darstellungsebene der Wissenspro­

duzenten beschränken, sondern in die Mikropro­

zesse der jeweiligen Lebenswelten Einblick zu nehmen versuchen.5

Zu letzteren gehören insbesondere die Arbeiten von Latour und Woolgar (1979), Lynch (1985) und Knorr-Cetina (1981), die die wissenschaftliche Ar­

beit in Forschungslaboren in den M ittelpunkt der Analyse stellen. Die Konzeption vom Labor als Ort und sozialer Form der Wissensproduktion wird von diesen Autoren in unterschiedlicher Weise weiterentwickelt. Bei Latour (1987), Law und Cal- lon (1988) werden die Verknüpfungen zwischen Akteuren und ’natürlichen4 Gegenständen, zwi­

schen Macht und Wissen als zu sozialen Beziehun­

gen gewebtes und mit rhetorischen und (macht)politischen Mitteln verwobenes Netzwerk konzipiert und exemplarisch rekonstruiert. ’Tech-

4 Bloor (1976) bestimmt diese Wissenssoziologie zu­

erst als ein ’strong programme4, das dann durch das sog. Interessenmodell (Bames/MacKenzie 1979) in­

terpretiert wird. Vgl. dazu auch Heintz (1993):

535 ff. Andere Arbeiten wie die von Latour/Woolgar (1979), Lynch (19^5) und Knorr-Cetina (1981) folgen diesem Ansatz nur bedingt.

5 Oder sie tun dies in einer spezifischen Weise, indem sie Darstellungspraktiken diskursanalytisch behan­

deln (z.B . Mulkay et al. 1983).

nische4 und ’soziale4 Beziehungen werden auf epi- stemologischer Ebene ebensowenig unterschieden wie menschliche und nicht-menschliche Akteure im Sinne semiotischer Konzepte egalisiert werden.

Lynch und andere ethnomethodologische Autoren wie Livingston (1986) oder Garfinkei (Garfinkei et al. 1981) verstehen ihre Beiträge als Teil der

’ethnomethodological studies of work4, in denen sie die besondere Form wissenschaftlicher Labor­

arbeit zu ihrem Gegenstand machen.6

Knorr-Cetina schließlich erweiterte den Laborstu­

dienansatz zu einer kulturanalytischen Konzep­

tion, die im Folgenden Hintergrund meiner Dar­

stellung sein wird. Sie entwickelte auf der Grund­

lage von Laborstudien in der Elementarteilchen­

physik und der Molekularbiologie (z.B. Knorr- Cetina 1992b, Amann/Knorr-Cetina 1988) das Konzept epistemischer Kulturen (1994). Vorrangig geht es dabei um die Systematik der unterscheid­

baren kulturellen Ordnungen, mit denen etwa in biologischen oder physikalischen Kontexten Wis­

sen erzeugt wird. Sichtbar gemacht wird die ’dis­

unity of the sciences4 (Knorr-Cetina) nicht nur als eine Oberflächendifferenz ihrer Forschungspraxis, sondern als Unterschiedlichkeit ihrer Erkenntnis­

kulturen. D er empirische Vergleich von For­

schungsfeldern wird fruchtbar gemacht um diese systematischen Differenzen herauszuarbeiten.7 Die Mikroanalysen wissenschaftlicher Laborarbeit handelten sich in unterschiedlicher Weise den Vor­

wurf ein, zugunsten der Detaillierung und Präzi­

sierung lokaler Ereignisse die translokalen, univer­

sellen Ordnungsmuster von Wissenschaft, The­

men, die bislang in der Wissenschaftsforschung be­

arbeitet wurden, aus dem Blick zu verlieren.8 Hin­

zu kommen kritische Auseinandersetzungen mit den unterschiedlichen Konzeptionen von Kon­

struktivismus, die (nicht nur) in der neueren Wis­

senschaftsforschung und -theorie Verwendung fin­

den.9

Nicht nur aus dieser Kritik wird deutlich, daß sich neben den - hier nicht weiter explizierten - Diffe­

renzen zwischen den aufgeführten Autoren und Arbeiten eine dem wissenssoziologischen Vörge- 6 Vgl. dazu auch die Darstellung von Lynch (1992).

7 Dieses Vorgehen wird in Knorr-Cetina (1992b) auf weitere Bereiche ausgedehnt. Vgl. auch Knorr-Ceti­

na/Amann (1992).

8 Vgl. dazu etwa Nowotny (1984), Cozzens/Gieryn (1990).

9 So z.B . zuletzt Sismondo (1993). Vgl. dazu Knorr- Cetina (1993) und (1989). Darauf kann in diesem Zusammenhang nicht näher eingegangen werden.

(3)

24 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 23, Heft 1, Februar 1994, S. 22-40 hen gegenüber indifferente oder ablehnende Wis­

senschaftsforschung identifizieren läßt.

Diese eher traditionell orientierten wissenschafts­

soziologische Ansätze adaptieren zwar z.T. einen erkenntnistheoretischen Relativismus etwa in Form des radikalen Konstruktivismus, halten je­

doch u.a. an der kognitiven Einheit der Wissen­

schaft fest und explorieren jenseits dieser Voraus­

setzung die sozialen Dimensionen von Wissen­

schaft. Sie interessieren sich insbesondere für Fra­

gen, die eine stärker makroskopische Betrachtung von übergreifenden Entwicklungstendenzen gan­

zer Wissenschaftsbereiche oder des Wissenschafts­

systems schlechthin erfordern und an der Unter­

scheidung von gesellschaftlichen Funktionssyste­

men orientiert sind.10

Die Vermittlung zwischen diesen letztgenannten Ansätzen und der Wissenssoziologie naturwissen­

schaftlichen Wissens ist von verschiedenen wech­

selseitigen Miß- und Unverständnissen gekenn­

zeichnet, die einer eigenen Analyse bedürften und die hier nicht versucht werden soll.11 Ich will dage­

gen im Weiteren ethnographisches, mit mikroana­

lytischen Verfahren gewonnenes Datenmaterial als Basis für die Interpretation translokaler Entwick­

lungen in der Molekularbiologie benutzen. Dazu werde ich aus den Innenansichten lokaler For­

schungsprozesse eine Systematik für deren wis­

senssoziologische Rekonstruktion entwickeln. Mit dieser Rekonstruktion soll die Leerstelle zwischen einer wissenssoziologischen Entzifferung natur­

wissenschaftlicher Tatsachenproduktion und einer von ’außen4, d .h . einer das Wissenschaftssystem und seine Eigenheiten beschreibenden Makroper­

spektive gefüllt werden. Ich werden mich dazu ei­

ner kulturalistischen Perspektive bedienen. In de­

ren M ittelpunkt rücken die besonderen Objekte der Molekularbiologie, deren Konstitution und Transformation.

In Anlehnung an Knorr-Cetina verstehe ich als epistemische Kultur der Molekularbiologie dieje­

10 Um nur exemplarische Beispiele zu nennen: Hohn/

Schimank (1990), Nelkin (1987) oder Luhmann (1990).

11 Einen Beitrag zu dieser Debatte liefern Hasse et al.

(1993). Dies bedeutet nicht, daß gerade an den Stel­

len, an denen es um die empirische Analyse konkre­

ter Wissenschaftsfelder geht, keine konsens- oder an­

schlußfähigen Resultate vorliegen. (Vgl. dazu etwa Bonß et al. 1993). Entsprechendes kann man u.U.

auch von einem Vergleich der noch nicht publizierten Resultate aus dem von Zimmerli geleiteten Projekt zur Technologisierung der Biologie und den in die­

sem Aufsatz diskutierten Phänomenen erwarten.

nigen Einheiten wissenschaftlicher Praxis, die - empirisch nachvollziehbar - zusammenhängende Formen, Strukturen und Mechanismen der Wis­

senserzeugung, Stabilisierung und Diffusion bil­

den. D er praktische Zugang zu diesen Einheiten erfolgt über eine Exploration der Arbeitsplätze, der O rte, an denen die Gegenstände und Themen wissenschaftlichen Wissens in materialer und sym­

bolischer Weise bearbeitet werden. Diese Arbeits­

plätze sind in den experimentellen Wissenschaften Laboratorien.

Über solche Zugänge und mehrjährige ethnogra­

phische Beobachtungen in molekularbiologischen Forschungslabors in Deutschland ist die empiri­

sche Grundlage dieses Aufsatzes entstanden. Ne­

ben einer detaillierten Untersuchung der prakti­

schen Strukturen von Wissensprozessen (Amann 1990) ermöglichten diese Beobachtungen einen Einblick in übergreifende Entwicklungen inner­

halb der modernen (Molekular-)Biologie. Mein Ziel ist, einen zentralen Aspekt ihrer epistemi- schen Kultur in den Mittelpunkt der folgenden Ar­

gumentation zu rücken: die materiale und symboli­

sche Transformation *natürlicher4 Objekte in episte­

mische Dinge.

Naturwissenschaftliches Experimentieren und Wissen ist für uns in selbstverständlicher Weise mit der Vorstellung verbunden, daß das erstere an der Gegenständlichkeit der Welt seinen Ausgang nimmt und das letztere in irgendeiner systemati­

schen Weise ein Resultat dieses gegenstandsorien­

tierten Tuns ist. Für den soziologischen Beobach­

ter im molekularbiologischen Forschungslabor ist die Vielfalt und Massivität solchen Tuns nicht nur ein Grund für anfängliche Verstehensprobleme ge­

genüber dem konkreten Forschungsalltag. Sie be­

deutet auch eine konzeptuelle Herausforderung, eine feldadäquate Rekonstruktion der Einheiten der beobachteten Wissensprozesse zu entwickeln.

Gegenüber einer Trennung in Elemente der Theo­

rie, handelnde Akteure, technische Innovationen und Gegenstände wissenschaftlichen Wissens, die jeweils für sich genommen zum Thema gemacht werden könnten, legt eine empirische Analyse der entsprechenden disziplinären Praktiken die wis­

senssoziologische Rekonstruktion experimenteller Modellsysteme als zentrale Einheiten molekular­

biologischer Wissensprozesse nahe.

Experimentelle Modellsysteme werde ich als den Kern einer besonderen materialen Gestalt und Ge­

staltung molekularbiologischer Forschungsgegen­

stände betrachten. Bei ihrer wissenssoziologischen Analyse werden die dazugehörigen empirischen

(4)

Klaus Amann: Menschen, Mäuse und Fliegen 25 und theoretischen Gegenstände als eine neue Ord­

nung der Dinge (Foucault) bestimmt. Die These dieses Aufsatzes ist folgende: Mit der Molekular­

biologie befindet sich ein zentraler Bereich der modernen Biologie auf dem Weg zu einer Techno- Wissenschaft, zu einer Wissenschaft, die ihre G e­

genstände - Lebewesen und Teile davon - nicht nur mit immer raffinierteren technischen Appara­

turen behandelt, zerlegt, prozessiert, analysiert und verändert. Sie konstituiert vielmehr in einem elementaren und neuen Sinn bio-logische Objekte als Technofakte, die nicht mehr als Veränderungen einer wie auch immer zu bestimmenden ’natürli­

chen N atur4 beschrieben werden können und mit denen zugleich die bisherige (epistemologische und disziplinäre) Ordnung der Biologie ins Wan­

ken gerät.

Es geht dabei um mehr und um anderes als die populärwissenschaftlich verbreiteten angsterzeu­

genden Thesen von der Technisierung des Leben­

digen4 oder von der ’Verlegung der Schöpfung ins Labor4 implizieren.12 Aus der Beobachtung lokaler Forschungspraxis wird vielmehr die Etablierung einer neuen Ordnung, einer neuen Bio-Logie sichtbar. Im Mittelpunkt dieser neuen Ordnung stehen Modellsysteme, d.h. epistemische Objekte und Identitäten, die die sogenannten natürlichen Objekte - Pflanzen und H ere, Menschen, Mäuse und Fliegen - als in einer externen Natur vorfindli- che Einheiten biologischen Wissens ablösen. Die­

ser Prozeß ist weder abgeschlossen, noch ist er ohne weiteres als Entwicklungslinie in die Zukunft der Disziplin prognostisch zu verlängern. Gleich­

wohl können verschiedene Elemente dieser neuen Ordnung klar bestimmt werden.

2. Von den ’natürlichen A rten 6 zur gentechnischen Grenzüberschreitung Bevor ich die Argumente und empirischen A n­

haltspunkte für meine These darlege, sei - in star­

ker Verkürzung - das im beginnenden 19. Jahrhun­

dert etablierte Bild der Wissenschaft vom Leben­

digen wiedergegeben, das uns heute aus unserer Schulbildung vertraut ist.

Für den Übergang von der Naturgeschichte zur modernen Biologie als der Wissenschaft vom Le­

bendigen gibt Michel Foucault in seiner ’Ordnung der Dinge4 (1971) eine auf die neue Ordnungs-Lo­

gik der Biologie orientierte Darstellung. E r hebt 12 12 Formulierungen, wie man sie stellvertretend für an­

dere bei Herbig (1982) findet.

dabei die neue Konzeption der Lebewesen als or­

ganisierte Entitäten hervor, die nun aufgrund der unterschiedlichen Organisation ihrer elementaren Lebensfunktionen in hierarchische Klassifikatio­

nen geordnet werden und aufgrund von sichtbaren und unsichtbaren Merkmalen voneinander zu un­

terscheiden sind. Eine Ordnung, in der nicht mehr die Geschichte einer Pflanze oder eines Tieres ge­

schrieben wird, zu der auch gehörte, „ . . . zu sa­

gen, welches ihre Elemente und ihre Organe, wel­

ches die Ähnlichkeiten, die man in ihnen finden kann, welches die Kräfte, die man ihnen zu­

schreibt, die Legenden oder Geschichten, mit de­

nen sie vermischt werden, die Wappen, auf denen sie zu sehen sind, und die Medikamente, die man aus ihrer Substanz herstellt, die Nahrungsmittel, die sie bieten, gewesen sind.44 (Foucault 1971:169) Die sezierende und mit den Mitteln der Biochemie und -Physik ausgestattete Biologie folgt - neben den Aufgaben des Sammelns, Ordnens und Be- nennens der Vielfalt des Lebendigen - den früh identifizierten Lebensfunktionen und ihren (mi­

krobiologischen Realisierungsformen. Taxonomi- sche Unterscheidungen und funktionale Struktu­

ren sind dabei auch Möglichkeiten der Abgren­

zung, Unterscheidung und Etablierung subdiszi­

plinärer Einheiten der Biologie.

Funktionale Prinzipien wie Fortpflanzung, Ver­

dauung, Atmung, Körperbau sind zum einen Ähn­

lichkeiten und Differenzen, die als Elemente von Taxonomienbildung fungieren. Mit diesen wird über die Individuen und A rten hinweg ein Gewebe von funktionalen Beziehungen etabliert. Zum an­

deren lassen diese Taxonomien die natürlichen Unterschiede als Unterschiede wirklicher Tiere und A rten fortbestehen und ermöglichen, indivi­

duelle Veränderungen als individuelle Variationen zu identifizieren. Dieses Bild einer Ordnung des Reiches des Lebendigen wird mit Darwin und der Evolutionstheorie zu einem einheitlichen, über die Zeit sich entwickelnden Stammbaum alles Leben­

digen, einer natürlichen Ordnung, geformt.

Die moderne Genetik startet auf diesem Boden der natürlichen Vielfalt des Lebendigen und der Unterscheidbarkeit von A rten, baut aber auf die individuellen Variationen als M utationen, um von ihnen zur Charakterisierung der artspezifischen Normalität zu gelangen. Sie nutzt die sichtbaren Variationen natürlicher Lebewesen sowohl als ge­

nealogischen Effekt - zur Untersuchung der Orga­

nisation der Reproduktionsmechanismen (Men­

del) - als auch als Zeichen genetischer Verände­

rungen. Sie befreit sich schrittweise von der Be­

(5)

26 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 23, Heft 1, Februar 1994, S. 22-40 schränkung natürlicher Variationsbreiten der Ar­

ten, zum einen durch Zuchtwahl, zum anderen durch eigene Mutationsstrategien.13

Mit der Etablierung der DNS als Baustoff und Substanz der Chromosomen, als Träger der Erbin­

formation und als Bauplan des Lebendigen durch die Molekularbiologie ist ein Punkt in der Ent­

wicklung der modernen Biologie erreicht, an dem die Grundfrage ’Was ist Leben?’14mit der Entziffe­

rung der genetischen Schriftrolle eine mögliche Antwort finden kann. Die biochemische und bio­

physikalische Bearbeitung dieser Schriftrollen zeigt die Chance einer großen neuen Vereinheitli­

chung: Leben als Variation des Immergleichen von vier Aminosäuren in Form von Nukleinsäuremole­

külen.

Merkmale und Funktionen, die zusammen Phäno­

typen bilden, lösen sich in die einheitliche Spra­

che, das einheitliche Alphabet der Gene auf. Die Strategien der Entzifferung der Texte, die mithilfe dieses Alphabets geschrieben sind, lösen den mo­

lekularbiologischen Forschungsprozeß schrittwei­

se von den besonderen Organismen und führen zur Akkumulation eines exponentiell wachsenden Korpus von molekulargenetischen und - biologi­

schen Techniken.

In der klassischen Genetik, insbesondere bei der A rbeit mit der Fruchtfliege Drosophila melanoga- ster, wurde ein umfangreicher Wissenskorpus über den Zusammenhang von Veränderungen bestimm­

ter chromosomaler Abschnitte und Veränderungen des Phänotyps erarbeitet (Kohler 1993). Geneti­

sche Karten dokumentieren dieses Verhältnis von Merkmalen und genetischem/chromosomalem Ort. Weniger umfassend, aber ebenfalls intensiv sind die Arbeiten an der Maus. H ier werden syste­

matisch M utationen als Ausgangspunkt für die Etablierung von Tierstämmen genutzt, die einen materiellen Fundus für Forschungsarbeiten bilden.

Aus der Virologie und Bakteriologie kommen E nt­

wicklungen, die Grundlage einer Gentechnologie werden: die Herauslösung und die Vervielfältigung von DNS-Stücken unabhängig von ihrem Ur­

sprungsorganismus. Erst aus der Zusammenfüh­

rung von Genetik und Gentechniken ergibt sich eine neue Ebene der Beschäftigung mit dem Le­

13 Kohler (1993) zeigt in seiner Geschichte der Droso- phÜa-Forschung, wie durch die Entwicklung entspre­

chender Mutationsstrategien eine massive Auswei­

tung der Forschung an der Fruchtfliege zu Beginn dieses Jahrhunderts erfolgen konnte.

14 Die Ausgangsfrage für Erwin Schrödinger (1949).

bendigen: Biologie als Arbeit am genetischen Mate- rial. Wo zuvor ein Vergleich auf die Merkmals- und funktionale Ebene beschränkt war, ergibt sich nun ein basales Vergleichen: die Parallelisierung von Genstrukturen verschiedenster Organismen.

Die Gentechniken überschreiten scheinbar mühe­

los die innerdisziplinären Schranken der Biologie.

Mit ihnen findet eine Homogenisierung der For­

schungspraxis quer zu den bisherigen Unterschei­

dungen statt. Sowohl die professionsbiographische H erkunft von Biologen - und selbst das ist keine Beschränkung mehr, es gibt im molekularbiologi­

schen Labor Mediziner, Chemiker und Physiker ebenso wie Tierernährungskundler - als auch der Ursprung des Untersuchungsmaterials wird irrele­

vant. Es entsteht ein interdisziplinärer Diskurs entlang sich überlagernden Praktiken.

Im folgenden werde ich solche Praktiken und die Systematik der verschiedenen Grenzüberschrei­

tungen auf der Grundlage eines umfangreichen ethnographischen Datenkorpus skizzieren. Dabei wird deutlich werden, daß nicht die Exegese fach­

wissenschaftlicher Lektüre oder die Durchführung von Experteninterviews, sondern nur eine detail­

lierte ’Vor-Ort‘ Exploration diese Systematik ent­

ziffern kann.

3. M odellsystem e als Technofakte und epistem ische O bjekte

Ich werde mich in der weiteren Darstellung zwi­

schen zwei Blickwinkeln auf aktuelle Entwicklun­

gen in der Molekularbiologie bewegen. Auf der ei­

nen Seite stehen Beobachtungen, die translokale Voraussetzungen fü r Lokales beschreiben. Auf der anderen Seite stehen Beobachtungen, die die lo­

kale Organisation von Forschungs- und Wissens­

prozessen beschreiben.

Dazu werde ich im folgenden Abschnitt den Über­

gang von der Untersuchung von Organismen als vorgegebenen Einheiten der Natur zur Bearbei­

tung von biologischem Untersuchungsmaterial darstellen. In Verbindung damit steht die Etablie­

rung von komplexen analytischen Mitteln als laborinterne und externe Infrastruktur von mole­

kularbiologischen Laboratorien. In einem weite­

ren Abschnitt (3.2) werde ich zwei miteinander zu­

sammenhängende neue Strukturelemente darstel­

len, die erkennbar machen, wie die Transforma­

tion natürlicher in epistemische Objekte in der m aterialen Organisation des Forschens vollzogen wird. Die Folge ist das Verschwinden von natürli­

(6)

Klaus Amann: Menschen, Mäuse und Fliegen 27 chen Organismen als Lieferanten biologischen

Materials und als direkte Referenzobjekte des Wissensprozesses, wie zugleich die Entstehung neuer Einheiten. Schließlich werde ich Verknüp­

fungspunkte zwischen der analytischen Infrastruk­

tur und diesen Strukturelementen exemplarisch aufzeigen, an denen die neuen biologischen Ob­

jekte Grundlagen für die Darstellung neuen Wis­

sens liefern. (3.3)

3.1 Biologisches Material und analytische Infrastruktur

Vor der Etablierung von biologischen Technofak­

ten stand die Entwicklung von vielfältigen Verfah­

ren der Umwandlung lebendiger Organismen in biologisches Material. Diese Umwandlung setzt zweierlei voraus. Zum einen erfordert sie eine tay- loristische Betrachtung von Organismen: Organis­

men können danach (auch) als primäre Produk­

tionszusammenhänge von Organen, Zellen oder Biomolekülen (Nukleinsäuren - DNS, RNS - und verschiedenste Proteingruppen) verstanden wer­

den, die durch Zerlegung von Organismen in funk­

tionale oder stoffliche Bestandteile gewonnen (isoliert, gereinigt etc.) werden können. Zum an­

deren bedarf sie der Etablierung einer technischen Bearbeitungsstruktur, in die Isoliertes und Extra­

hiertes eingeführt und mit gegenüber seinem pri­

mären Zusammenhang autonomen Verfahren pro­

zessiert werden kann.

Diese Voraussetzungen sind in den untersuchten Laboratorien gegeben. In den beobachteten Ex­

perimenten besteht eine weitgehende Indifferenz der verwendeten allgemeinen gentechnischen Ver­

fahren gegenüber der Herkunft des Materials aus verschiedenen Organismen. Für die Verfahren sind Fragen der Verfügbarkeit, der Leichtigkeit des Gewinnens, der Stabilität und der Reinheit der Materialien vorrangig vor den Details ihrer Herkunft.15

Sichtbar wird die Autonomie auch in der techni­

schen Identität der Laborordnungen in unter­

schiedlichen Laboratorien, die unabhängig von den konkreten Organismen, die die ’Lieferanten4 des Materials sind, verfügbar sind. Die Erzeugung und Erhaltung einer massiven Infrastruktur durch ein Netz von Laboratorien ist das Resultat der bio-

15 Damit soll selbstverständlich nicht behauptet wer­

den, daß die Wahl des Materials für die konkreten Wissensprozesse irrelevant wäre.

technischen Innovationen der letzten fünfzig, ins­

besondere aber der letzten zwanzig Jahre.16 Mit ihnen hat ein Laboratorisierungsschub biologi­

scher Forschung auf breiter Front stattgefunden.

Wir haben es mit einer doppelten Autonomie der Verfahren zu tun: sie sind zum einen als technische Verfahren in Prozeduren und Apparaturen stabili­

siert; und sie sind zum anderen in ihrer Verwen­

dung in vielfältiger Hinsicht unabhängig von den Unterscheidungen zwischen den Objektklassen der Biologie. Als die in molekularbiologischen La­

boren arrangierten analytischen Mitteln bilden sie einen stabilen apparativ-technischen Rahmen, in dem sich nun weitere Strukturierungen bestimmen lassen.17

3.2 Modellsysteme, Biotope und Laboratope In den Laboren stoßen wir u.a. auf routinisierte Sprechweisen, mit denen unterschiedliche Phäno­

mene der Forschungspraxis als ’Modellsystem4 charakterisiert werden. „Mein Modellsystem ist F944 oder „Dazu verwende ich das Reticolozyten- System“ , oder: „In unserem Modellsystem ist das sehr schwierig darzustellen44 sind Beispiele solcher Sprechweisen, die sich in vielfältiger Weise im eth­

nographischen Datenmaterial zeigen.

Modellsysteme erlauben offenbar theoretische und praktische Operationen als deren Gemein­

samkeit angesehen werden kann, daß sie an denje­

nigen Objekten, für die sie ein Modell sind, entwe­

der nicht möglich sind oder zu aufwendig wären.

So wird die Maus als das Modellsystem für die U n­

tersuchung der Säugetierentwicklung und damit letztlich für die Entwicklung des Menschen, die in vitro Differenzierung von Zellen, die als Zellinien in Laboren kultiviert werden als das Modellsystem für die Mausentwicklung, eine isolierte und gerei­

nigte DNS in einem Transkriptionssystem als das Modell für Differenzierungsprozesse in Körperzel­

len betrachtet.

Ist das Modellsystem ’die Maus4, so wird diese Maus als ein ’natürlicher4 Ersatz für die - aus ver­

schiedensten Gründen nicht zu verwendenden - Menschen und als Prototyp für Säugetiere verstan-

16 Einen kurzen Überblick über die zentralen Innova­

tionen in der Molekularbiologie mit den Hinweisen auf die zugehörigen Fachpublikationen seit 1938 gibt Witkowski (1988).

17 Zu den wissenssoziologischen Eigenheiten dieses Rahmens vgl. Amann (1990).

(7)

28 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 23, Heft 1, Februar 1994, S. 22-40

Ausgangsmaterial Zellen

Rapp zur G e wi nn un g von Pl as ai d- DN S zur K l o n i e r u n g

P r o t ok ol le z u s a a a e n - stellen und üb er ar be it en

H o ch zi eh en von E i n z e l z e l l k u l - ture n aus v o r h a n d e n e n Z e l l i n i e n Fe st l e g u n g von

R e s t r i k t i o n s s c h n i t t e n ia Plasaid und des insert s

D u r c h f ü h r u n g der I n s e r t i o n / K o n t r o l l e über Mi ni g e l

Ve rie h

neuen rung der ''lasaide

P r ä p a r a t i o n , V o r b e - reituno1 von verschie- denen 1Puffer n und S u b s t a n z e n

k o n t r o l l i e r e n und splitten der Zellen

R e s t r i k t i o n s v e r d a u von DNS

Gele gi essen

T r a n s f e k t i o n der Ze llen alt Plasald- D N S , zuvor Koapetent- Machen der Zellen

In fe kt io n der Z e l l e n ait Viren P l a s a i d p r ä p a r a t i o n :

Ba kt er ie n ait Plas ai de n ho chz ieh en , re in ig en und DNS ex tr ah ie re n

4 V

Ernten der Zellen nach einea f e s t g e s e t z t e n Ze it pu nk t

Einzelstrangprobe RNS

H e r s t e l l u n g eine s Z e l l - /

Z e l l k e r n e x t r a k t e s

H e r s t e l l u n g e i n e r E i n z e l s t r a n g ­ probe aus der zu u n t e rs uc he nd en D N S - K o n s t r u k t i o n ait v e r s c h i e d e n e n M e t h o d e n

S 1 - S t r a n g t r e n n u n g M 1 3 *

Ex tr ak ti on der g e ­ bildeten RNS aus den Ze ll ke rn en

in vitro T r a n sk ri pt io n von RNS durch

In ku ba ti on von Z e l l (k e r n )ex tr a k t und P l a s a i d - DNS in A n w e s e n h e i t von v e r s c h i e d e n e n S a l z e n

S t r a n g t r e n n u n g s g e l la de n und la uf en la sse n

E l u i e r e n ei nz el - s t r ä n g i g e r DN S aus den Gel

K i n a s i e r u n g de r

i .

E i n z e l s t r a n g p r o b e

G e w i n n u n g t r a n s k r i b i e r t e r RNS durch A u f r e i n i g u n g

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H e r s t e l l u n g eines H y b r i d l s i e r u n g 8 a i x e s zur H y b r id is ie ru ng von RNS und g e b i l d e t e r E i n z e l s t r a n g p r o b e

S1 -V e r d a u nach H y b r i d i s i e r u n g

Film

In te rp re ta ti on des Gels anhand des ex po ni er te n Files

V o r b e r e i t u n g eines an al yt i s c h e n Ge ls zur Ko nt r o l l e der H y b r i d i s i e r u n g von sp ez if i s c h e r RN S und e i n z e l s t r ä n g i g e r DNS

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Ge l laden, laufen lassen

Ex po ni er un g eines Filas auf dea Gel

Abb. 1 Prozessierung von biologischem Material (schematisch).

(8)

Klaus Amann: Menschen, Mäuse und Fliegen 29 den.18 Zu zeigen ist hier, daß dieses Repräsenta­

tionsverhältnis zwischen verschiedenen biologi­

schen Objekten, der Modellcharakter, lediglich ei­

nen Darstellungsaspekt der jeweiligen Teilbereiche der Molekularbiologie zeigt. Handelte es sich bei diesen Modellsysteme lediglich um eine - mögli­

cherweise vorübergehende - technische oder sozi­

ale Schwierigkeiten überbrückende Forschungs­

strategie, mit der ersatzweise andere Organismen statt der ’eigentlich’ interessierenden in ihre mate­

rialen Komponenten zerlegt werden, so ergäbe sich daraus keine systematisch neue Perspektive auf die Gegenstände der Biologie.

Neue Struktureinheiten werden Modellsysteme je­

doch als instrumentell-technische Rekonstruktio­

nen oder Rekonfigurationen der biologischen Ge­

genstände. Ich betrachte sie als komplexe Einhei­

ten von experimentellen Modellierungsprozessen im Labor und nicht als natürliche Repräsenta­

tionssysteme. Das biologische Labor gewinnt mit ihnen jenseits seiner Eigenschaft als ein techni­

sches Arrangement zur Dekonstruktion von Lebe­

wesen, das zur Produktion eines Wissens um deren Eigenschaften und Funktionsweisen genutzt wer­

den kann, die Bedeutung einer zweiten Natur. Es tritt als Bezugsgröße der Wissensproduktion an die Stelle einer ’natürlichen N atur4, in der wir noch mit vertrauten oder unvertrauten Organismen ei­

ne Lebenswelt bewohnen.

In dieser Lebenswelt, in der wir uns etwa als Teil der Biotope eines Wohnhauses begreifen können, das neben uns die Mäuse im Keller, die Fliegen an der Lampe, die Bakterien im Darm und die Viren im Krankenbett umfassen kann - befinden sich die genannten Organismen in einem Zustand, den man gegenüber der zweiten Natur des Labors als primären Produktionszusammenhang biologi­

schen Materials beschreiben könnte.19 Nicht nur die Organismen, sondern auch das Wissen und un­

sere Erfahrungen aus der Mitwohnerschaft mit den genannten Lebewesen wird bei der Gewin­

nung von biologischem Material nahezu irrelevant und verschwindet mit der Lebendigkeit der getöte­

ten Organismen aus der Wissenschaft vom Leben­

digen.

18 Dafür gibt es eine Reihe ausformulierter theoreti­

scher wie forschungstechnischer Gründe: z.B. die evolutionäre Nähe der Maus zum Menschen einer­

seits, die leichte Handhabbarkeit der Maus gegen­

über anderen Säugern andererseits.

19 Dieses Beispiel soll deutlich machen, daß mit primär weder ’ursprüngliche* noch ’wilde4 Natur oder ähnli­

ches assoznert werden sollte.

Die zweite Natur im Labor bildet die lokal stabili­

sierte Umwelt für den epistemologisch bedeutsa­

men Übergang von der Maus als lebensweltlichem Organismus zu einem Modellsystem mit dem Na­

men Maus. In den letzten Zuckungen eines getöte­

ten Tieres liegen die letzten sichtbaren Ähnlichkei­

ten biologischen Materials mit dem lebensweltlich erkennbaren Tier. Die entscheidenden Möglich­

keiten jeder analytischen labor-wissenschaftlichen Bearbeitung beginnen mit dem Ende des Lebens:

Lebendigkeit ist insbesondere für die epistemi- schen Objekte der modernen Biologie eine vor­

übergehende Erscheinung.

Aber nicht erst der Tod und die Zerlegung markie­

ren den Bruch, durch den sich der Objektcharak­

ter von Labortieren und anderen Tieren unter­

scheiden. Auch wenn die in lebensweltlichen oder

’natürlichen* Konfigurationen wie dem eben be­

schriebenen Biotop des Hauses vorkommenden,

’Hausmäuse* genannten Mitbewohner dem unbe­

darften Besucher eines Labors noch als Verwandte der Labormäuse erscheinen mögen, so sind sie dies für uns in keinem wissenssoziologisch vernünf­

tigen Sinn mehr.

Die Unterstellung einer Verwandtschaftsbezie­

hung zwischen der Maus im Keller und der Maus im Laborstall verkennt gerade die wissenschaftli­

chen Rekonfigurationsleistungen der Laborbiolo­

gie, die beide voneinander trennt und sie wechsel­

seitig als fundamental unterschiedene Objekte konstituiert. Die Identifizierung beider Objektty­

pen miteinander ist bestenfalls das Resultat einer theoretischen Operation, die praktische Nichtun­

terscheidbarkeit unter Umständen das Resultat ei­

ner Unaufmerksamkeit der Tierpfleger oder Wis­

senschaftler, die einen Stall offengelassen haben.

Plakativ gesagt: Natur im ursprünglichen Sinne des Wortes hat als Gegenstand keinen Platz (mehr) innerhalb der Grenzen des Labors.20 Modellsyste­

me haben als ihr strukturelles Resultat die Auto- nomisierung von Lebewesen aus ihren bisherigen Existenzbedingungen, deren Rekonfiguration als epistemische Dinge, und ihre dauerhafte Erhal­

tung als epistemische Objekte innerhalb von loka­

len Labor-Infrastrukturen, die eine zweiten Natur etablieren.

Mein Bild des molekularbiologischen Labors zeigt nun zweierlei: auf der einen Seite das komplexe 20 Was nicht heißt, daß man in Laboren keine Haus­

mäuse finden könnte. Ich habe selbst meine erste Maus im Labor, eine Hausmaus, unter einem Schreibtisch am Butterbrot eines Wissenschaftlers nagen sehen.

(9)

30 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 23, Heft 1, Februar 1994, S. 22-40 Arrangement einer technischen Infrastruktur zur

Gewinnung und Analyse biologischen Materials.

Auf der anderen Seite eine Autonomisierung der Bezugsobjekte des Wissensprozesses, die zugleich die Konstitution lokal prozessierter neuer biologi­

scher Objekte darstellt.

Um dieses lokale Prozessieren zu ermöglichen, werden Räume innerhalb von Laboren etabliert, die ich im Unterschied zu Biotopen als Laboratope bezeichnen will.21 Laboratope sind Umwelten für die neuen Objekte, die Technofakte der Biologie, die innerhalb von Laboratorien erzeugt werden.22 Es geht nun nicht mehr nur darum, daß einzelne . Lebewesen technisch verändert oder Teile von ih­

nen modifiziert und isoliert behandelt werden können. Diese neuen Objekte sind vielmehr Ele­

mente in wissenschaftlich-technisch durchstruktu­

rierten Umwelten. Sie sind beispielsweise nur dann und nur so lange ’lebendig4 wie innerhalb von Laboratorien entsprechende technische Arrange­

ments aufrechterhalten werden.

Man könnte nochmals einwenden, daß die Identi­

tät der Lebewesen im Labor nach wie vor gewahrt bleibt: in den Tierställen sind Lebewesen versam­

melt, deren Vorfahren irgendwann ’wild4 gelebt hatten. Sie werden gezüchtet und ’verbraucht4.

Züchtung ist - zumindest für unsere Gesellschafts­

form - eine auch lebensweltlich etablierte Praxis, die hier lediglich für andere Zwecke und an ande­

ren Lebewesen optimiert erscheint.23 * Diese Beob­

21 Dabei will ich zugunsten der begrifflichen Gegen­

überstellung die Bildung eines Sprachhybrids aus griechischen und lateinischen Stämmen hinnehmen.

22 Ich betrachte hier lediglich diejenigen Entwicklun­

gen innerhalb der Molekularbiologie, die gegenüber einem ’Rücktransport4 ihrer neuen Objekte in Bioto­

pe gegenwärtig indifferent sind. Allerdings vermute ich, daß der zentrale Punkt in der laufenden öffentli­

chen Debatte über die ’Freisetzung gentechnisch ver­

änderter Organismen4 mit der von mir unternomme­

nen Unterscheidung zwischen ’Organismen4 und bio­

logischen ’Technofakten4 genauer bestimmt werden könnte.

23 Die Tierzucht als Grundlage menschlicher Ernäh­

rung hat in Form der modernen Tierstallproduktion einige Parallelen zum Laboratop der Wissensproduk­

tion. Auch hier werden natürliche Organismen über gezielte Mechanismen der Zuchtwahl und der Orga­

nisation des Tierstalles (Ernährung, Beleuchtung etc.) zu Produktionsstätten von Lebensmitteln und erlangen eine zweite Natur als Produktionsmittel.

Siehe auch Latours Arbeit über Pasteur (1988) in der die Verwissenschaftlichung der Tierhaltung durch Laboratorisierung analysiert wird.

achtung scheint auf einen unveränderten Kern von natürlichem und Labortier hinzuweisen: fortbeste­

hende Lebendigkeit. Die weitere Beobachtung er­

gibt ein anderes Bild, das den Bezug zwischen bei­

den Objektformen schrittweise auflöst. Am Ende des Auflösungsprozesses steht als ein Resultat die Rekonfiguration von Lebewesen als epistemische Objekte, als Produkte und Träger wissenschaftli­

chen Wissens.

Um von Organismen zu diesen neuen Objekten zu kommen und in lokalen Wissensprozessen über die dafür notwendigen stabile Infrastrukturbedingun­

gen zu kommen, bedurfte es einer Reihe von R e­

konfigurationsschritten im Umgang mit ’natürli­

chen4 Organismen. Sind für die jeweiligen Lebe­

wesen vielfältig und unterschiedlich weit gediehen und könnten sowohl disziplingeschichtlich als auch einzelfallorientiert rekonstruiert werden.

Ich will die wichtigsten für das hier weiter zu ver­

folgende Beispiel ’Maus4 zumindest nennen. Es sind infrastrukturelle Rahmenbedingungen, die heute als gegeben angesehen werden können:

• die Systematisierung der Züchtung durch pro­

fessionelle und kommerzielle Labors

• die Erzeugung von ’reinen4 Rassen durch Züch­

tungsverfahren

• die Standardisierung von Haltungsbedingungen

• die Dokumentation von Forschungsergebnissen an und mit Varianten

• die Erhaltung und ’Pflege4 der Varianten

• die rigorose Kontrolle des Zugangs von ’neuem 4 Material in die forschungsinterne Prozessierung.

Die Maus ist wohl das mit Abstand am besten un­

tersuchte Säugetier. Umfangreiche Literatur fin­

det sich zur Entwicklung oder zur Genetik der Maus; ebenso zur Haltung, zur Manipulation, zur Züchtung. Ohne Maus keine Reproduktionsmedi­

zin, keine Tests medizinisch-pharmazeutischen Wissens und Könnens. A ber eine Integration ’wil­

der4 Mäuse oder Hausmäuse, ihr Transport in lo­

kale Laboratope ist meines Wissens nirgendwo Praxis in Laboren, die wie die Molekularbiologie an Mäusen Forschung betreiben. Was wir dagegen finden sind Mäusefabrikationsstätten wie etwa das US-amerikanische Jackson Labor oder internatio­

nal operierende Firmen, die über Kataloge Mäuse als käufliche Ware anbieten, entweder als Lebend- M aterial oder als DNS-Substanz. In deren Katalo­

gen sind verschiedenartigste Produkte im Angebot und die jeweiligen Produkteigenschaften spezifi­

ziert. Selbst über Waren, die nicht (mehr) herge­

stellt werden, finden wir Informationen etwa: ’aus­

gestorben4. Diese Produktionsstätten sindTeü der

(10)

Klaus Amann: Menschen, Mäuse und Fliegen 31 Infrastruktur (Ökologie und Ökonomie) von

Laboratopen.24

Neben diesen Produktionsstätten gehört als ein weiteres Element die Tätigkeit von Klassifikations­

institutionen zur äußeren Infrastruktur der mole­

kularbiologischen ’Mausforschung*. Diese sorgen für die Einhaltung und Weiterentwicklung der Be­

nennung von Bestandteilen des genetischen M ate­

rials, das weltweit in Laboren analysiert, auf der genomischen Karte der Maus lokalisiert und dann allgemeinverbindlich eingetragen wird.

Das Labortier ’Maus*, dem wir heute in For­

schungslaboratorien begegnen, ist demnach schon immer ein wissenschaftliches Produkt, das einen Namen bzw. eine Stamm-Nummer und eine Viel­

zahl forschungsrelevanter Eigenschaften besitzt, die ihm abgerungen und/oder zugefügt wurden.

Das gilt auch für die ’Wildtyp-Maus*, die als Kon­

trollorganismus Verwendung findet und keinesfalls irgendeine von Wissenschaftlern im Institutskeller gefangene Maus ist, sondern eine wohldefinierte Rasse bei deren Selektion u.a. auf ihre Pflege­

leichtigkeit unter Laborbedingungen geachtet wurde.

3.3 Die lokale Etablierung von Laboratopen und ihre Einbettung in eine analytische

Infrastruktur

Die bisherigen Ausführungen bezogen sich vorran­

gig auf infrastrukturellen Voraussetzungen für die jeweils lokalen Möglichkeiten der Teilhabe an der Erforschung von Objekten einer zweiten Natur.

Anders gesagt: in der Schaffung und Erhaltung dieser Infrastruktur stecken die Bedingungen, daß nicht mit beliebigen zweiten, ideosynkratischen

’Naturen* inkommensurable Erkenntnisse gene­

riert werden. Um auf der Ebene der Wissenspro­

duktion mit diesen neuen Objekten zu Resultaten zu kommen, für die Geltung beansprucht werden kann, muß auf lokaler Ebene ein funktionsfähiges Arrangement von Laboratopen und analytischer Infrastruktur erzeugt werden.

Als Gründungspaar einer Mauszucht im eigenen Haus (Forschungsinstitut) bedürfen die dafür er­

worbenen Exemplare einer Reihe von Behandlun­

gen, um sie zu den Ureinwohnern eines Labora- tops innerhalb eines konkreten Labors zu machen:

den Abschluß gegen eine verschmutzende Umwelt einschließlich aller Personen im Labor, eine lokale 24 Bislang meines Wissen nicht Gegenstand soziologi­

scher Untersuchung.

Tierstallinfrastruktur mit Pflege, Zucht, Buchhal­

tung, Beauftragtem für den Tierschutz etc.

Die auf einen oder wenige Stämme mit ’homoge­

nisiertem genetischem background*25 konzentrier­

te Tierhaltung schafft die lokale Voraussetzung für die Kontrolle wichtiger Randbedingungen des weiteren experimentellen Geschehens. Jedes wei­

tere Ergebnis, das mit dem darauf errichteten lo­

kal spezifizierten System gewonnen werden kann, ist auf den Nachweis angewiesen, daß die erzeug­

ten und beschriebenen Effekte keine Effekte einer von bestimmten Normierungen abweichenden ge­

netischen, hygienischen oder gar epidemiologi­

schen Ursache - der ’Durchseuchung eines Tier­

stalls* mit Krankheitserregern - sind. Die ’Kon- trollmaus* (häufig die Wildtyp-Maus) muß ebenso wie die untersuchte Maus ein immer wieder mit ei­

nem Standardtyp hinreichend identisches Exem­

plar darstellen.

Die Produkte (’Bewohner*) der Laboratope ste­

hen in einer systematischen Wechselwirkung mit den analytischen Bearbeitungsverfahren biologi­

schen Materials. Sie werden dabei als Material be­

nutzt und verbraucht.26 Sie werden nicht nur in ei­

nem theoretischen Sinne in ihre Bestandteile auf­

gelöst, sondern sind das Ausgangsmaterial, das nun immer wieder neu gewonnen werden kann und muß, um gentechnische Untersuchungen durchzuführen. Dabei kommt es zu einer weiteren Rekonfiguration im Prozeß ihrer Analyse, die die ursprünglichen Bewohner nun zu Repräsentanten experimenteller Effekte und Resultate macht.

In den beobachteten Laboren geht es in weiten Bereichen um zwei Klassen von Materialien, die aus Mäusen (aber auch Zellen und Bakterien) prä­

pariert werden: sogenannte Schnittpräparate (nur von Mäusen) und DNS- bzw. RNS-Fraktionen.

Schnittpräparate sind das Produkt von getöteten Mäusen oder Mausembryonen, die mit Schneide­

apparaturen in hauchdünne Scheiben geschnitten

25 Mit diesem Teilnehmerbegriff ist u.a. die Praxis der Etablierung von sogenannten Inzuchtstämmen ge­

meint, deren genetische Varianz durch Züchtung mi­

nimiert wurde.

26 Die ethische Problematik dieses Umgangs mit Lebe­

wesen erscheint mir aus meinen Beobachtungen durchweg mit einem überaus hohen Maß an Verant­

wortung und Bewußtsein für das einzelne Tier ver­

knüpft: es gibt systematische Kontrollen und Überle­

gungen, das Ausmaß der Verwendung von Tieren so gering wie möglich zu halten. Dies wird diejenigen allerdings kaum beruhigen, die Tierversuche per se für verwerflich halten.

(11)

32 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 23, Heft 1, Februar 1994, S. 22-40

Figure 6. Hox Gene Expression in RA-Exposed Embryos

Day 12.5 embryos exposed to RA on day 7, 4 hr (a-e) or unexposed (f-k) were analyzed as described in the text, (b), (d), (g), and (i) are bright-field exposures of (a), (c), (0, and (h), respectively. The probes were specific for the following genes: Hox-1.1, (a) and (f); Hox-3.1, (c) and (h); and Hox-1.5, (e) and (k). Spinal ganglia and prevertebrae are numbered; in the dark-field exposures the first number indicates the anterior boundary of expression.

The arrowhead in (e) points out the RA-induced Hox-1.5 expression domain ventral to the basioccipital bone anlage. Note the anterior shifts of expression domains induced by RA exposure as discussed in the text.

Abb. 2 E m b r y o s c h n i t t e - B i l d e r a u s e i n e r m o l e k u l a r b i o l o g i s c h e n P u b l i k a t i o n ( a u s : C e l l , V o l . 6 7 : 9 5 , O c t . 1 9 9 1 ) .

(12)
(13)

34 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 23, Heft 1, Februar 1994, S. 22-40 Strukturen zur Stabilisierung einer zweiten Natur,

die Unterhaltung von lokalen Laboratopen als Voraussetzung zur Teilhabe an den dazugehörigen Wissensprozessen.

Daraus entstehen in den Laboren Einheiten, die im wissenssoziologischen Sinne Modellierungssy­

steme sind. In ihnen werden z. B. Mäuse als episte- mische Objekte modelliert. Es sind Systeme, in denen aus einzelnen Mäusen Träger theoretischer Eigenschaften werden. Sie sind nicht mehr nur pas­

sive ’natürliche’ Objekte, die in experimentellen Arrangements etwas von ihrem inneren Zusam­

menhalt preisgeben. Sie bringen als Resultat ihrer Modellierung vielmehr ein theoretisches Konzept zur körperlichen Erscheinung und liefern sich selbst als Material. Sie werden in ihrer zu (visuel­

len) Repräsentationen aufbereiteten Form zu em­

pirischem Beweismaterial.

D am it Mäuse (oder andere H ere) diese Leistung vollbringen können, müssen sie in den skizzierten Hinsichten transformiert und in ein technisches System eingebettet werden. Dazu gehört, daß sie in eine praktische Relation zu den Bewohnern an­

derer Laboratope (meist innerhalb desselben La­

bors) gebracht werden. Mäuse sind in den betrach­

teten Forschungskontexten ein Objekttypus, der in einem Laboratop eine neue Identität erhält und gewinnt. Daneben gibt es beispielsweise als soge­

nannte Zellinien etablierte Körperzellen unter­

schiedlicher Herkunft und insbesondere Bakte­

rien, die Forschungs- und Produktionsaufgaben übernehm en müssen. Mäuse werden zu einer Ka­

tegorie von Bezugsobjekten der Forschung. Inner­

halb von Modellierungssystemen liefern sie M ate­

rialien zu ihrer eigenen Erforschung. Andere La­

boratope im Kontext der untersuchten Labore be­

herbergen zelluläre oder bakterielle Systeme. D ie­

se bakteriellen Systeme etwa können so ins Labor integriert sein, daß sie selbst nicht vorrangig der

’eigentliche4 Gegenstand der Forschung sind.29 Sie sind dann die mit gentechnischen Mitteln systema­

tisch veränderten lebendigen Fabriken oder Pro­

duktionssysteme, mit denen Material, beispiels­

weise Nukleinsäuren (genomische Sequenzen) aus der Maus prozessiert werden können. Sie könnten im Prinzip ebenso Sequenzen aus menschlichen oder anderen tierischen Organismen verarbei-

29 Was nicht bedeutet, das ’dieselben4 Bakterien in an­

deren Kontexten nicht doch der Kern eines Modell­

system sein könnten: etwa für den Test der Funktion einer Nukleinsäuresequenz, die selbst aus einem an­

deren, z.B. tierischen Organismus stammt.

ten.30 Die für diese Systeme notwendigen Labora­

tope werden mithilfe von Gefrierschränken, Warmräumen, Nährlösungen und Schüttelkolben etabliert, in denen die jeweiligen Exemplare mas­

senhaft bevorratet, angezüchtet, vervielfältigt und zum A rbeiten gebracht werden: zur Vervielfälti­

gung und Transformation von genetischem M ate­

rial.31 Ihre Bewohner fristen ein kontrolliertes D a­

sein innerhalb vollständig artifizieller Laboratope.

Sie sind eingebunden in eine Forschungsökologie und -Ökonomie, die neue Lebensfunktionen von den Bewohnern verlangt: z.B . die Produktion

’fremder4 Substanzen, eine entgrenzte Lebensfä­

higkeit, die Konzentration auf eine Lebensfunk­

tion, die Suspendierung von evolutionären Mecha­

nismen bzw. die Instrumentalisierung isolierter Mechanismen wie etwa Selektionsdruck.

Diese Laboratope sind hochempfindliche, künstli­

che Produktionssysteme. Hilfsmittel zu ihrem Er­

halt sind biologische und biochemische Substan­

zen, die als biologische Werkzeuge zur Aufrechter­

haltung des Laboratops, aber auch zur systemati­

schen Dekonstruktion seiner Bewohner genutzt werden können.

Ihre Unterscheidbarkeit als Exemplare mit redu­

zierten, arbeitsteilig organisierten und exakt zuge­

schnittenen Eigenschaften macht sie zu keinen neuen Arten im Sinne der klassischen Systematik.

Die neuen taxonomischen Ordnungsmuster, die für diese biologischen Technofakte etabliert wur­

den, sind vielmehr technischen Spezifikationen vergleichbar wie man sie beispielsweise für Ele­

mente elektronischer Schaltungen in der Elektro­

technik kennt. Ihre Individualität und Identität er­

gibt sich einerseits in rudimentärer Weise aus dem Ursprungsstamm eines Bakteriums, andererseits aber aus einer forschungstechnischen Bio­

graphie.32 * Sie haben eine lokale Nummer, einen Konstrukteur, eine Referenz und Spezifikationen ihrer Haltungsbedingungen. (Vgl. Abbüdung 4) 30 Im Prinzip heißt, daß es natürlich sehr unterschied­

lich konstruierte Fabrikationssysteme sind, die je­

weils biologisches Material produzieren. Bekannte­

stes Produkt solcher Systeme ist das biotechnisch hergestellte Human-Insulin.

31 Neuere Entwicklungen, deren Erfinder 1993 mit dem Nobelpreis honoriert wurden, substituieren teil­

weise diese lebendigen Fabriken durch biochemische Prozeßautomaten: PCR-Maschinen.

32 Wobei auch hier wiederum güt, daß es sich um nur wenige unterschiedliche Stämme handelt, die durch Generationen von Laboratorien domestiziert, sele- giert und buchstäblich auf elementare Teüe ’zurück­

gestutzt4 wurden.

(14)

Klaus Amann: Menschen, Mäuse und Fliegen 35

rlasmid-Name : Py CAT (-PvuII-4) Ausgangs-Plasmid : PyF9-1 CAT

Labor-Nummer : 403

Bakterienstamm : E.coli HB101

Resistenz : amp.

Beschreibung : Böhnlein et al. (1985)

Abb. 4 Plasmidkarte - lokale Datenbankeinträge für ein gentechnisches Instrument.

In dieser Form werden sie als ’Werkzeuge4 charak­

terisiert und in Datenbanken registriert, viele auch als kommerzielle Systeme in Katalogen beschrie­

ben und zum Kauf angeboten. In ihrer Existenz sind sie vollständig abhängig von der Sorge der La­

boratorien und ihrer Produzenten. Sie sind nicht rückführbar in lebensweltliche Biotope.33

An diesem Beispiel wird deutlich, daß der Produk­

tionsaspekt und der Modellierungsaspekt von Technofakten voneinander unterscheidbar werden.

Die Voraussetzung für die kontinuierliche Produk­

tion biologischen Materials mit (bio-)technischen Verfahren liegt im Übergang von einem ursprüng­

lich, d. h. im Konstitutionsprozeß epistemisch defi­

nierten und etablierten Ding zu materiellen Objek­

ten, zu technischen Apparaturen. Die Besonder­

heit dieser Materialisierungen ist, daß sie das R e­

sultat eines Transformationsprozesses sind, in dem sie über eine Phase der Abtrennung und Aufspal­

tung ’natürlicher4 Einheiten zum Kern von Model­

lierungssystemen und damit zu Gegenständen von Wissensprozessen werden, aus denen schließlich re- konfigurierte technische Einheiten (Technofakte) 33 Hoffentlich nicht rückführbar - wie u.a. auch die

Kritiker der Gentechnik einfordem.

entstehen, die in eine wissensbasierte Produktions­

logik eingebettet sind und als materiale Wissenspro­

dukte Realität gewinnen.

Mäuse erscheinen gegenüber Bakterien als un­

gleich komplexere Organismen, deren Transfor­

mation in ein nahezu vollständig kontrollierbares technisches Ding gegenwärtig unwahrscheinlich erscheint.34 Die Erzeugung von Produktionssyste­

men, die neben dem Laboratop der Maus noch weitere Räume innerhalb von Laboren strukturie­

ren, macht es jedoch möglich, über eine temporä­

re, vollständige Entleiblichung biologischen M ate­

rials aus der Maus und durch seine Prozessierung in artifiziellen Laboratopen wie denen von bakte­

riellen Systemen eine neue Qualität biologischen Wissens zu etablieren. Diese entsteht u.a. da­

durch, daß technische Möglichkeiten entwickelt wurden, mit denen über die Grenzen von Arten und Klassen hinweg nicht nur Merkmale und Rea­

lisierungen von Lebensfunktionen verglichen wer­

den können, sondern auch ’natürliche4 Merkmals­

differenzen von Lebewesen in experimentell-tech­

nische Instrumente zur Wissensproduktion trans­

formiert werden können. Menschen, Mäuse und Fliegen können nicht mehr nur verglichen, sie können zur wechselseitigen materialen Ressource ihrer Erforschung gemacht werden.

So haben beispielsweise zu Beginn der achtziger Jahre Drosophila-Genetiker - nun ausgestattet mit den technischen Möglichkeiten der Molekularbio­

logie und nicht allein der klassischen Genetik - die (Teilstücke der) DNS eines Genes identifizieren und isolieren können, dessen Defekt eine Desor­

ganisation der Fliege erzeugt.35 Dieses Gen(stück) konnte dann als in ein Bakterium integriertes DNS-Stück durch andere Forschungslaboratorien bezogen werden. Gentechnische Verfahren er­

möglichten es zu diesem Zeitpunkt, beliebige DNS-Stücke als Detektoren oder Sonden für die Suche nach ähnlichen Sequenzen in verschieden­

sten Organismen zu verwenden. Vorausgesetzt, man gehörte zu denjenigen, die diese Sonde beka­

men und die zugleich über ein Laboratop verfüg­

ten, in dem die gerade beschriebenen Verfahren einer Extraktion von genetischem Material aus ei­

nem bestimmten Organismus bereits funktionier- 34 Wenngleich auch ein Biologe mir gegenüber genau solche (für ihn überaus bedenkliche) Visionen als Perspektive dieser Molekularbiologie formuliert hat.

35 Vgl. dazu eine populärwissenschaftliche Darstellung des Entdeckers W. Gehring in Bild der Wissenschaft (1984) oder den Fachartikel von McGinnis et al.

(1984a).

(15)

36 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 23, Heft 1, Februar 1994, S. 22-40 ten, konnte nun die Suche beginnen. Im April 1985

erschien, als ’article4 in Nature veröffentlicht, eine Publikation, die den Erfolg dieser Strategie de­

m onstrierte.36

Die dazugehörige experimentelle Arbeit vollzieht einen wichtigen und großen Schritt weg von einer Beschränkung der molekularbiologischen For­

schung in den Grenzen ’natürlicher’ A rten, hin zu einer experimentellen wie konzeptuellen Transfor­

mation von unterschiedlichen Tierarten zu Model­

lierungssystemen. Aus einer verglichen etwa mit der Erfindung von Nukleinsäure-Sequenzierungs­

techniken unscheinbaren Erweiterung technischer Möglichkeiten folgen aber auch disziplinäre, die soziale Organisation der Wissensprozesse verän­

dernde Konsequenzen.

Es verändert sich also nicht nur der Gegenstand der jeweiligen Spezialisten von einem ’externen4 oder ’natürlichen4 Objekt zu einem Träger episte- mischer Eigenschaften, auch subdisziplinäre Grenzziehungen entlang den ’natürlichen4 Einhei­

ten wie Maus, Fliege oder Hefepilz werden obso­

let. Die A rbeit mit und an einem bestimmten Orga­

nismus ist nun in einer neuen Weise zugleich von praktischer Relevanz und Beliebigkeit. Relevant wird sie dann, wenn dieser Organismus den Kern eines lokal etablierten Modellierungssystems bil­

det. Dieses System kann dann zum A rbeiten ge­

bracht werden und dazu dienen, mit vielfältigen Importen aus sehr unterschiedlichen Zusammen­

hängen neue Erkenntnisse zu produzieren.

Entscheidend wird es für die Forschung, über ein Arrangem ent von Laboratopen zu verfügen, mit dessen Hilfe biologisches M aterial erzeugt, pro­

zessiert und die Resultate in einem lokal handhab­

baren Modellsystem integriert werden können.37 * * * * * * Daraus ergeben sich veränderte Kommunikations­

und Interaktionsbeziehungen, die nun nicht mehr vorrangig entlang der traditionellen Differenzie­

rungen der Biologie verlaufen, sondern an geneti­

schen M ustern, ihren Ähnlichkeiten und Differen­

zen entlang entstehen. Die technischen Eigenlogi­

36 Colberg-Poley (1985), kurz zuvor McGinnis (1984b).

’Article4 in NATURE bedeutet in der community die höchste Priorität einer Veröffentlichung und steht je­

weils für einen zentralen Beitrag zur Weiterentwick­

lung der Disziplin.

37 Bei genauerer Betrachtung unterschiedlicher Mo­

dellsysteme wird deutlich, daß es für deren Wahl komplexer Entscheidungsprozesse bedarf und zum Zeitpunkt einer Entscheidung für ein bestimmtes Sy­

stem keine genaue Perspektive seiner Leistungsfä­

higkeit angegeben werden kann. Dies kann hier nicht weiter verfolgt werden.

ken der jeweiligen Systeme sind an der Bearbei­

tung von bestimmten Materialien orientiert, deren Eigenschaften weitgehend unabhängig von kon­

kreten Organismen erscheinen. Die Einführung der Gentechniken hat zu einer großen Vereinheit­

lichung der technischen Infrastrukturen geführt:

„Du kannst überall auf der Welt hingehen. Die mo­

lekularbiologischen Labore sehen alle gleich aus44, so ein Laborleiter im Gespräch.

Die Unterschiede, und damit auch verschiedene Zugangsmöglichkeiten und Teilhabe von Forscher­

gruppen an der Forschungsfront ergeben sich nun nicht allein aus den materialen Ressourcen der La­

bore oder dem Wissen um die Besonderheiten ei­

nes für die Fachwelt interessanten Organismus oder bestimmter Funktionskomplexe. M itent­

scheidend wird, daß für einen gewählten Organis­

mus lokal Rekonfigurationsleistungen realisiert und Produktions- und Verarbeitungsverfahren für biologisches Material verfügbar sind, mit deren Hilfe neues Wissen generiert und dargestellt wer­

den kann.

In molekularbiologischen Labors, so eine der Konsequenzen dieser Überlegungen, werden Mäuse nicht nur als ’Modellsysteme für andere Säuger4 analysiert. Als Exemplare einer Kategorie innerhalb der biologischen Systematik erleiden sie im Prozeß ihrer infrastrukturellen ’Disziplinie­

rung4 in Laboren einen drastischen Bedeutungs­

und körperlichen Identitätswandel. Die Hausmaus wird durch Labormäuse ersetzt, die Produkte und Bestandteile von Laboratopen sind. Als Labor­

maus ist ihre natürliche Herkunft gegenüber ihrer Züchtungsbiographie rudimentär. Hergebrachte Klassifikationen werden durch neue, davon radi­

kal verschiedene ersetzt. Während die bereits er­

wähnte Veränderung der Klassifikationslogik und -praxis im Bereich der bakteriellen Technofakte zunächst als eine Randerscheinung und Nebenfol­

ge der Technisierung biologischer Forschung be­

handelt werden kann, erscheint die Transforma­

tion verschiedener anderer, vor allem höherer Or­

ganismen als Modellsysteme die bisherige Klassifi­

kationspraxis der Biologie an zentralen Stellen zu untergraben. Aus der einheitlichen A rt der taxono- misch identifizierten Maus, z.B . mus musculus, werden komplexe, autonome Taxonomien gene­

riert und mit Technofakten bevölkert. Es handelt sich um reverse Taxonomien, Ordnungen, die das klassische Taxonomieprinzip verkehren: wo tradi­

tionell die ’natürliche4 Einheit des Klassifizierten intendiert war, wird Variabilität maximiert. Diese Variationen können nur noch in geschlossenen Sy­

stemen von Laboratopen als Bestandteile einer sy­

Abbildung

Abb. 1  Prozessierung von  biologischem Material  (schematisch).
Figure 6.  Hox Gene  Expression  in  RA-Exposed  Embryos
Abb.  4  Plasmidkarte  -   lokale  Datenbankeinträge  für  ein gentechnisches  Instrument.

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