• Keine Ergebnisse gefunden

3.2 Materielle Kultur und Natur

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "3.2 Materielle Kultur und Natur"

Copied!
8
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

Kapitel 3

Materielle Grundlagen

3.1 Der r¨aumliche Kontext

1.Abstrakte und materielle R¨aume.

2.K¨onnen R¨aume beschrieben werden?

3.Materielle R¨aume und Einbettungen.

4.Materielle R¨aume als Handlungsbedingungen.

5.Ein empirischer Begriff sozialer R¨aume.

6.Objektive R¨aume und subjektive Raumwahrnehmungen.

7.Bev¨olkerungen sozialer R¨aume.

8.Metaphorisches Reden von sozialen R¨aumen.

3.2 Materielle Kultur und Natur 1.Kultur als Kontrast zur Natur.

2.Differenzierungen des Kulturbegriffs.

3.Erscheinungsformen der materiellen Kultur.

4.Materielle Kultur und Natur.

5.Der poietische Kulturbegriff.

In Kapitel 1 wurde mit einem einfachen Gesellschaftsbegriff begonnen, der mit ‘Gesellschaft’ eine Menge von Menschen meint. Weitere ¨Uberlegungen m¨ussen sich zun¨achst auf die Kontexte beziehen, in denen die Menschen leben, von denen sie abh¨angig sind, die sie aber auch in vielen Aspekten gestalten k¨onnen. In diesem Kapitel werden zuerst r¨aumliche Kontexte thematisiert, in denen Menschen leben. Dann wird daran ankn¨upfend ein Begriff der materiellen Kultur besprochen, an den sich in Kapitel 5 eine Diskussion von Institutionen anschließt.

3.1 Der r¨ aumliche Kontext

Eine fundamentale materielle Bedingung des gesellschaflichen Lebens bil- det ”der Raum“, in dem die Menschen leben. In diesem Abschnitt wird

¨uberlegt, wie sich das genauer verstehen l¨asst.

1. Abstrakte und materielle R¨aume. Von R¨aumen kann in unterschiedli- chen Bedeutungen gesprochen werden. Eine grundlegende Unterscheidung kann zwischen abstrakten und materiellen Raumkonzeptionen gemacht werden. Abstrakte Raumbegriffe werden in der Mathematik ausgearbeitet (insbesondere Vektorr¨aume und topologische R¨aume in ihren verschiede- nen Varianten). Abstrakt sind diese Raumkonzeptionen, weil der ontologi- sche Status der Raumelemente, auf die gedanklich Bezug genommen wird, indem ein Raum als eine Menge von Raumelementen (von

”Punkten“ oder

”Vektoren“) eingef¨uhrt wird, undefiniert bleibt. Dagegen gehen alle Raum- vorstellungen, durch die sich Menschen im praktischen Leben orientieren, von einer gegenst¨andlichen Welt aus, in der sie sich befinden und der sie als k¨orperliche Wesen angeh¨oren. Ich spreche deshalb von einemmateri- ellen Raumbegriff, womit also gemeint sein soll, dass die Existenz eines materiellen Substrats f¨ur die Begriffsbildung vorausgesetzt wird.1

Folgende Bemerkung des Geographen Robert D. Sack kann zur Ver- deutlichung der Unterscheidung dienen:

”The problem of analysing space is compounded because whatever may be said of space at the level of theoretical physics and philosophy, at the terrestrial level, geographic space is not empty. It is filled with matter and energy, or substance. The fact that people discuss this space, describe it, and analyse it, means that they are conceptually – not actually – isolating and separating space from substance. When we refer to space and its properties in this book we are referring therefore to a system which is conceptually, not actually, separable from facts and their relationships.“ (Sack 1980: 4)

Folgt man dieser Ausdrucksweise, ist ein materieller Raum wie auch immer

”gef¨ullt“ mit Materie und Energie, oder anders formuliert: Ein materieller Raum existiert gegenst¨andlich, etwa als ein Geb¨aude, eine Straße, eine Landschaft oder generalisierend als ein Gebiet der Erde.

Weniger klar ist jedoch die Bemerkung, dass abstrakte Raumvorstel- lungen dadurch entstehen, dass sie von den Objekten, aus denen ein ma- terieller Raum besteht, abgel¨ost werden. Denn wollte man versuchen, von diesen Objekten zu abstrahieren, bliebe nichts ¨ubrig, wor¨uber man noch reden k¨onnte. Wohl ist es m¨oglich, sich bei der Darstellung eines materiel- len Raums auf r¨aumliche Aspekte der jeweiligen Objekte zu konzentrieren, d.h. auf r¨aumliche Beziehungen innerhalb und zwischen diesen Objekten.

Dabei wird aber offenbar von den Objekten nicht abstrahiert, vielmehr werden sie in ihren r¨aumlichen Aspekten beschrieben. Man mag hierin immer noch eine Abstraktion sehen, da bei einer solchen Darstellung vie- le (aber keineswegs alle) nicht-r¨aumliche Aspekte der jeweiligen Objekte unber¨ucksichtigt bleiben. Aber es ist nicht diese Abstraktion, durch die die abstrakten R¨aume der Mathematik entstehen. Vektorr¨aume und to- pologische R¨aume sind keine materiellen R¨aume, bei denen man sich die Objekte

”weggedacht“ hat. Es erscheint angemessener, sie als begriffliche Konstruktionen aufzufassen, die sich im ¨ubrigen auch von den r¨aumlichen Vorstellungen, die sich Menschen im Hinblick auf materielle R¨aume bil- den k¨onnen, in der Entwicklung der modernen Mathematik zunehmend entfernt haben.2

1Mit diesem gedanklichen Ansatz soll auch erreicht werden, dass man die m.E. un- fruchtbare Entgegensetzung vonrelationalen“ undBeh¨alterauffassungen des Raums“

außer Acht lassen kann. Man vgl. zu dieser vermeintlichen Kontroverse z.B. die Aus- uhrungen von Dieter L¨apple (1991: 189ff.) und Martina L¨ow (2001: 24ff.).

2Zur historischen Entwicklung des Redens von R¨aumen in der Mathematik vgl. Mehr-

(2)

2. K¨onnen R¨aume beschrieben werden? Anhand dieser Frage kann die Unterscheidung zwischen abstrakten (mathematischen) und materiellen R¨aumen noch einmal erl¨autert werden. In der Mathematik werden R¨aume nicht beschrieben, sondern konstruiert. Man kann auch nicht sinnvoll davon sprechen, dass diese R¨aume wahrgenommen oder gar beobachtet werden k¨onnten, worauf sich dann die Idee einer Beschreibung beziehen k¨onnte.

Wenn gleichwohl von Eigenschaften solcher R¨aume gesprochen wird, sind Feststellungen gemeint, die sich aus willk¨urlichen Voraussetzungen ablei- ten lassen. In beiden Hinsichten verh¨alt es sich bei materiellen R¨aumen anders. Insofern sie aus Objekten bestehen, k¨onnen sie wahrgenommen und beschrieben werden. Zum Beispiel k¨onnen Wohnungen, G¨arten und Landschaften wahrgenommen und beschrieben werden. Dem entspricht, dass Menschen materielle R¨aume nicht willk¨urlich durch bloß gedankliche Operationen konstruieren k¨onnen, sondern zun¨achst als objektive Gege- benheiten vorfinden. (Diese Feststellung schließt es nat¨urlich nicht aus, dass die vorgefundenen materiellen R¨aume, d.h. die Objekte und ihre An- ordnungen, in vielen F¨allen umgestaltet werden k¨onnen.)

Allerdings zielt die Beschreibung eines materiellen Raums nur indirekt auf die Objekte, die den Raum bilden. Vielmehr geht es um r¨aumliche Aspekte des jeweils gegebenen Arrangements, und zwar in zweierlei Hin- sicht: Einerseits k¨onnen sowohl die jeweils vorhandenen Objekte in ihren r¨aumlichen Ausdehnungen als auch die r¨aumlichen Beziehungen zwischen ihnen beschrieben werden; andererseits kann man versuchen, M¨oglichkei- ten der Bewegung sowohl der vorhandenen als auch hinzugedachter fiktiver Objekte festzustellen. Zum Beispiel kann man sich, wenn man eine Woh- nungals einen Raum thematisiert, einerseits auf die vorhandenen Objek- te beziehen, andererseits aber auch darstellen, wo neue Objekte plaziert werden k¨onnten oder in welcher Weise sich Menschen in der Wohnung aufhalten und bewegen k¨onnten.3

Ich m¨ochte auch betonen, dass materielle R¨aume nicht mit”physikali- schen R¨aumen“ (in der Physik mit physikalischen Begriffsbildungen konzi- tens (1990: 42ff.). Hier muss auch erw¨ahnt werden, dass es noch einen vollst¨andig un- spezifischen Sprachgebrauch gibt, der das Wort ‘Raum’ gleichbedeutend mit dem Wort

‘Menge’ verwendet. Als Beispiel kann man an Merkmalsr¨aume statistischer Variablen denken, die als Mengen von Attributen definiert sind, ohne in irgendeiner Weise auf aumliche Vorstellungen zu verweisen. Ein weiteres Beispiel liefert die Auffassung des Geographen A. Gatrell (1983: 4),thatanyrelation defined on a set of objects creates a space.“ Beispiele f¨ur ein bloß metaphorisches Reden vonsozialen R¨aumen“ werden in§8 besprochen.

3Bezugnahmen auf r¨aumliche Beziehungen spielen also eine zentrale Rolle; dennoch unterscheidet sich der hier verwendete materielle Raumbegriff von einer relationalen Raumauffassung, die von C. A. Hooker (1971: 97) folgendermaßen charakterisiert wird:

The Relational Doctrine of Space is the doctrine that physical space consists of (no more than) relations among physical objects.“ Im Unterschied dazu besteht ein ma- terieller Raum aus materiellen Objekten, nicht aus den Beziehungen zwischen ihnen.

Tats¨achlich f¨uhrt die relationale Raumauffassung, wie Hooker ausf¨uhrlich diskutiert, zu zahlreichen begrifflichen und logischen Schwierigkeiten.

pierten und diskutierten Raumvorstellungen) verwechselt werden d¨urfen.

Wie schon die bisher angef¨uhrten Beispiele verdeutlichen, soll der Begriff eines materiellen Raums in keiner Weise einen Gegensatz zu kulturellen Gestaltungen der menschlichen Umwelt andeuten. Die materiellen R¨aume, in denen Menschen leben, sind immer auch

”Kulturr¨aume“ im Sinne der folgenden Bemerkung von Peter Atteslander:

”Zwar kann ein bestimmter Raum geometrisch ausgemessen werden, gesellschaft- lich betrachtet aber ist er immer und entscheidend Kulturraum, verstanden als sekund¨are Umwelt des Menschen, von ihm angeeignet, transformiert und mit Symbolen belegt.“ (Atteslander 1976: 13)

Einen materiellen Raum zu beschreiben, bedeutet also keineswegs nur oder in erster Linie, ihn physikalisch (mit physikalischen Begriffen) zu be- schreiben. Insofern der Begriff, insbesondere im Kontext empirischer So- zialforschung, auf

”Lebensr¨aume“ von Menschen verweist, sind vielmehr Beschreibungsformen zu verwenden, die zeigen und verst¨andlich machen, wie diese R¨aume von Menschen genutzt werden.

3. Materielle R¨aume und Einbettungen. Insofern materielle R¨aume durch gegenst¨andliche Objekte definiert sind, kann man beliebig viele R¨aume dieser Art empirisch fixieren; zum Beispiel: eine bestimmte Wohnung, eine bestimmte Landschaft, eine bestimmte Stadt, ein bestimmtes Straßennetz.

Jedes empirisch gemeinte Reden setzt implizit oder explizit einen materiel- len Raum voraus, der einen Kontext f¨ur Feststellungen von Sachverhalten bildet. Dabei ist eine genaue Angabe und Abgrenzung der den Raum bil- denden Objekte in den meisten F¨allen weder m¨oglich noch erforderlich.

Man kann zum Beispiel das Geschehen auf einem Kinderspielplatz be- schreiben, ohne im einzelnen alle Objekte anzugeben, deren Gesamtheit den Spielplatz als einen materiellen Raum ausmacht. Wichtig ist indessen die Vorstellung, dass jeder bestimmte materielle Raum in umfassendere R¨aume eingebettet ist. So ist der Spielplatz vielleicht Teil eines Stadtteils, der zu einer Stadt geh¨ort, die wiederum einen Teil der Erdoberfl¨ache bil- det. So kann man schließlich die Vorstellung eines umfassenden materiellen Raums bilden, der alle empirisch fixierbaren materiellen R¨aume enth¨alt.4 4. Materielle R¨aume als Handlungsbedingungen. Fragt man danach, wo und wie Menschen leben, muss offenbar auf materielle R¨aume Bezug ge- nommen werden. Es sind materielle R¨aume, denen die Menschen, insofern

4Die Vorstellungen, die sich Menschen von diesem umfassenden Raum (Welt, Univer- sum) machen k¨onnen, h¨angen von ihren Erfahrungen ab. R¨uckblickend kann man auch von einer menschlichen Geschichte sprechen, in der sich solche Vorstellungen gebildet und ver¨andert haben. Man muss indessen zur Kenntnis nehmen, dass sich¨uber das Universum keine bestimmten Aussagen machen lassen, weil es per Definition nicht von etwas Anderem unterschieden und nicht von außen betrachtet werden kann. – Das dar- aus resultierende Erkenntnisproblem ist gut reflektierbar anhand des RomansWelt am Draht“ von Daniel F. Galouye (1965).

(3)

sie selbst materielle Objekte sind, angeh¨oren. Im Unterschied zu abstrak- ten R¨aumen k¨onnen die materiellen R¨aume, in denen Menschen leben, auch als Handlungsbedingungen aufgefasst werden, von denen ihre Hand- lungsm¨oglichkeiten mehr oder weniger abh¨angig sind. Als Beispiel kann man daran denken, dass r¨aumliche Bewegungsm¨oglichkeiten von der Be- schaffenheit des materiellen Raums abh¨angig sind (wobei diese allgemeine Formulierung auch und insbesondere Gestaltungen des materiellen Raums zur Erm¨oglichung r¨aumlicher Bewegungen meint, also Gestaltungen durch Wege, Straßen, Br¨ucken, Eisenbahnverbindungen usw.).

In der Literatur wird gelegentlich betont, dass man sich die Abh¨angig- keit von materiellen R¨aumen nicht als eine ”kausale Determination“ vor- stellen soll. So wendet sich B. Werlen gegen einen

”Geodeterminismus“, den er folgendermaßen definiert:

”Geodeterminismus, h¨aufig auch synonym f¨ur Umwelt- oderNaturdeterminis- mus verwendet, ist ein Sammelbegriff f¨ur Ans¨atze geographischer Forschung, welche die kausale (Vor-) Bestimmtheit menschlichen Handelns durch den Raum bzw. die Natur postulieren. Gem¨aß der Grundthesen des Geodeterminismus sind alle menschlichen Kulturen und Gesellschaften als Ausdrucksformen nat¨urli- cher Bedingungen anzusehen und urs¨achlich auf diese zur¨uckzuf¨uhren.“ (Werlen 2000: 383)

Wird”Geodeterminismus“ auf diese Weise definiert, handelt es sich offen- sichtlich um eine falsche Auffassung, denn die Annahme, dass Menschen in ihrem Verhalten vollst¨andig durch ihre jeweilige materielle Umwelt deter- miniert werden, ist offenbar falsch. Allerdings f¨uhrt diese Kritik bei Werlen nicht zu der relevanten Anschlussfrage:wieMenschen von ihrer materiellen Umwelt abh¨angig sind und durch sie beeinflusst werden, sondern er ver- sucht, dieser Frage gewissermaßen ihre Grundlage zu entziehen, indem er sich grunds¨atzlich gegen materielle Raumbegriffe wendet, etwa in folgender Weise:

”In der klassischen Anthropogeographie wird»Raum«gem¨aß Bartels (1974) mit

»physischer Umwelt«gleichgesetzt. In der geodeterministischen Variante wird sie als die Verursacherin menschlicher T¨atigkeiten begriffen, in der possibilistischen als Begrenzungsinstanz menschlicher Selbstverwirklichung. Beide Konzeptionen setzen aber »Raum«mit »physischer Umwelt« gleich, und die Verdinglichung setzt schon ein, bevor man sich bewußt wird, daß»Raum«eigentlich immer nur

»Raumbegriff«heißen kann.“ (Werlen 1997: 231)

Diese Kritik am materiellen Raumbegriff ist jedoch nicht hilfreich. Denn erstens handelt es sich nicht um eine

”Verdinglichung“ eines eigentlich ab- strakten Raumbegriffs, sondern der Begriff meint explizit einen Komplex materieller Objekte.5Zweitens zielt der materielle Raumbegriff nicht auf

5Ahnlich verfehlt ist deshalb auch die Kritik von M. L¨¨ ow (2001: 35) am

territorialen Raumbegriff“ der Stadt- und Regionalsoziologie, dem sie vorwirft, dass es sich

um eine Verdinglichung von R¨aumen zu Territorien“ handelt. Dass mit diesem Raumbegriff von unterschiedlichen subjektiven Wahrnehmungen und Bewertungen individueller Hand-

eine”physische Umwelt“, wenn damit (wie im ersten Zitat nahegelegt wird) ein Gegensatz zu einer durch Menschen kulturell gestalteten Umwelt ge- meint ist. Die Begriffsbildung ist vielmehr vollst¨andig neutral gegen¨uber Unterscheidungen zwischen Natur und Kultur (darauf wird im n¨achsten Abschnitt genauer eingegangen).

5. Ein empirischer Begriff sozialer R¨aume. Will man der Frage nachge- hen, wie Menschen von materiellen R¨aumen abh¨angig sind und durch sie

”bestimmt“ werden, ist es zun¨achst erforderlich, sich aufsoziale R¨aumezu beziehen, in denen Menschen leben. Mit diesem Begriff sind hier also ma- terielle R¨aume gemeint, in denen Menschen leben und die von ihnen mehr oder weniger umfassend als ihre Lebensr¨aume gestaltet worden sind.6Inso- fern handelt es sich um einen empirischen Begriff sozialer R¨aume, der von bloß metaphorischen Redeweisen (mit denen wir uns in§8 besch¨aftigen) zu unterscheiden ist.

Eine weitgehend ¨ahnliche Bedeutung hat der von A. Giddens (1988:

170) vorgeschlagene Ortsbegriff:

”In Orten (»locales«) wird der Raum alsBezugsrahmenf¨ur Interaktion verf¨ugbar gemacht, w¨ahrend umgekehrt diese Interaktionsbezugsrahmen f¨ur die Spezifizie- rung derKontextualit¨atdes Raumes verantwortlich sind. [. . .] Es ist normalerwei- se m¨oglich, Orte unter Rekurs auf ihre physischen Eigenschaften zu bezeichnen, entweder als Eigenschaften der materiellen Welt oder, gebr¨auchlicher, als Kombi- nationen jener Eigenschaften und menschlicher Artefakte. Aber es ist ein Irrtum, anzunehmen, daß Orte ausschließlich in dieser Perspektive beschrieben werden k¨onnen – dieselbe Form des Irrtums, die der Behaviourismus im Hinblick auf die Beschreibung menschlichen Handelns begangen hat. Ein»Haus«wird als solches nur erfaßt, wenn der Beobachter erkennt, daß es sich um eine»Wohnung«mit ei- ner Reihe anderer Eigenschaften handelt, die sich aus dem jeweiligen spezifischen Gebrauch im menschlichen Handeln ergeben.

Orte gibt es in den verschiedensten Gr¨oßenordnungen: es kann sich handeln um ein Zimmer in einem Haus, um eine Straßenecke, um die Gewerber¨aume einer Fabrik, um Kleinst¨adte so gut wie Großst¨adte, schließlich sogar um die von Nationalstaaten beanspruchten territorial begrenzten Gebiete.“

Wie Giddens von einer Pluralit¨at von Orten k¨onnen wir von einer Vielzahl sozialer R¨aume sprechen. Dies entspricht der in§3 getroffenen Feststellung, dass man empirisch beliebig viele R¨aume fixieren kann, wobei jedoch stets die M¨oglichkeit besteht, sie in umfassendere R¨aume einzubetten. Wichtig ist weiterhin Giddens Hinweis, dass Beschreibungen sozialer R¨aume einen gedanklichen R¨uckgriff auf Menschen erfordern, die diese R¨aume nutzen lungsr¨aume abstrahiert wird, kann sicherlich nicht zur Kritik an der Begriffsbildung verwendet werden. (Vgl. auch unten§6.)

6Man kann vermuten, dass eine solche Idee sozialer R¨aume auch sprachlich den Aus- gangspunkt f¨ur allgemeinere Raumbegriffe gebildet hat; vgl. die Hinweise bei O. F. Boll- now (2000: 33).

(4)

und ggf. auch gestaltet haben.7

6. Objektive R¨aume und subjektive Raumwahrnehmungen.Es ist allerdings wichtig, den Begriff eines sozialen Raums nicht nur von physikalischen Raumdefinitionen bzw. Raumbeschreibungen zu unterscheiden, sondern auch von subjektiven Raumwahrnehmungen. Wenn von sozialen R¨aumen gesprochen wird, sind objektivierbare Sachverhalte im Unterschied zu sub- jektiven Raumwahrnehmungen oder -vorstellungen gemeint. Als Beispiel kann man an eine Straßenkreuzung denken. Wenn man sie als einen sozia- len Raum beschreibt, meint man einen empirisch zug¨anglichen materiellen Sachverhalt, eben die Straßenkreuzung als einen objektiv gegebenen Rah- men f¨ur bestimmte Handlungsm¨oglichkeiten, zu dem nat¨urlich auch ggf.

anwesende Verkehrsteilnehmer geh¨oren. Andererseits kann man sich dar- auf beziehen, wie diese Straßenkreuzung von Menschen wahrgenommen, erinnert, erlebt, gef¨urchtet oder wie auch immer als bedeutsam empfun- den wird; aber dann redet man nicht ¨uber die Straßenkreuzung, sondern

¨uber Vorstellungen und Emotionen von Menschen.

Wenn man diese Unterscheidung nicht trifft, kommt es leicht zu Ver- wechslungen zwischen realen R¨aumen und subjektiven Einbildungen,8oder es entsteht eine falsche Dichotomie, wie z.B. in folgenden Ausf¨uhrungen von U. Herlyn (1990: 13):

”Sozialwissenschaftliche Er¨orterungen des Raumsproblems beginnen in der Re- gel mit der Feststellung, daß nicht der physikalische Raum in seiner objektiven

7Das ist auch von anderen Autoren betont worden, wie folgende Ausf¨uhrungen von B. Hamm zeigen:Wie immer wir Raum wahrnehmen, wie immer wir ihn f¨ur unse- re Zwecke verwenden, ihn uns aneignen, indem wir uns darin bewegen, darauf bauen oder darin nach Bodensch¨atzen suchen, immer ist dieser Vorgang sozial vermittelt, will heißen: durch soziale Erfahrung vorgepr¨agt. Es gibt f¨ur uns keinen

Raum an sich“, es gibt f¨ur uns nur R¨aume, denen wir mehr oder weniger Bedeutung zuschreiben. Und dieses Zuschreiben von Bedeutung, dieses Symbolisieren, ist keine Eigenschaft, die ein

Raum an sich“ in sich tr¨uge, es ist einedurch seelische Inhalte erzeugte“ Tatsache (Simmel 1908: 461), eine Eigenschaft, die dem Raum deswegen zukommt, weil er in sozia- len Abl¨aufen produziert und seine Wahrnehmung in sozialen Prozessen erlernt worden ist. T¨uren und Fenster, Verkehrszeichen und Wirtshausschilder, Wege und Parkanlagen, urme und Br¨ucken, Teppiche und Spiegel werden nicht alsPh¨anomene an sich“ wahr- genommen, sondern immer in einer sozialen Bedeutung interpretiert und fortlaufend daraufhin befragt, welche Verhaltensweisen sie nahelegen oder ausschließen.“ (Hamm 1982: 24f.)

Diese Ausf¨uhrungen setzen offenbar voraus, dass soziale R¨aume als materielle aume betrachtet werden, aber gleichwohl nicht (oder jedenfalls nicht nur) in einer physikalischen Betrachtungsweise, sondern im Hinblick auf eine den Raum nutzende und gestaltende menschliche Praxis.

8Diese Verwechslung findet man z.B. in M. L¨ows Arbeit zur Raumsoziologie, in der sie an mehreren Stellen (S. 43, 53, 112) nahe legt, dass es an einem Ort gleichzeitig meh- rere R¨aume geben kann. Die Autorin meint vermutlich, dass derselbe materielle Raum von mehreren Menschen unterschiedlich wahrgenommen werden kann. Aber man kann dann bestenfalls metaphorisch davon sprechen, dass diese Menschen in unterschiedlichen aumen leben.

Realit¨at gemeint ist, sondern”immer der im Erleben und Handeln erschlosse- ne Raum“ [. . .].“ (S. 9)

”Die Subjektivit¨at im Aneignungskonzept bedeutet, daß bestimmte R¨aume von verschiedenen sozialen Gruppen je nach ihrer Sozialisa- tion und ihrer sozio-kulturellen Situation ganz unterschiedlich wahrgenommen, verf¨ugbar gemacht und bewertet werden.

”Je nach Erziehung, Schulbildung, Be- ruf – kurz: je nach sozialer Lage nehmen Menschen ihre Umwelt unterschiedlich wahr“ (Siewert 1974: 147), weil je nach sozialer Lage die kulturellen Werte und insofern auch die Bedeutungen, die der dinglichen Umwelt zugeschrieben werden und wahrscheinlich ebenfalls die die Bedeutungen repr¨asentierenden Symbole, variieren werden.“

Nat¨urlich m¨ochte ich nicht bestreiten, dass man sich f¨ur subjektive Raum- wahrnehmungen interessieren kann. Aber selbst dann ist es erforderlich, zun¨achst von objektivierbaren Aussagen ¨uber die sozialen R¨aume auszu- gehen, in denen Menschen tats¨achlich leben. Wie bereits betont worden ist, sind diese R¨aume nicht damit identisch, was in der Sprache der Physik

¨

uber sie gesagt werden kann.9

7. Bev¨olkerungen sozialer R¨aume. Die Idee, dass Menschen als Teile eines materiell definierten sozialen Raums betrachtet werden k¨onnen, findet sich bereits bei Emile Durkheim. In einer Notiz ¨uber ”soziale Morphologie“

(1898) schrieb Durkheim:

”Social life rests upon a substratum which is determinate both in its extent and in its form. It is composed of the mass of individuals who comprise the society, the manner in which they are disposed upon the earth, and the nature and configuration of objects of all sorts which affect collective relations. Depending on whether the population is more or less sizable, mor or less dense; depending on whether it is concentrated in cities or dispersed in the countryside; depending on the way in which the cities and the houses are constructed; depending on whether the space occupied by the society is more or less extensive; depending on the borders which define its limits, the avenues of communication which traverse it, and so forth, this social substratum will differ. From another point of view, the constitution of this substratum directly or indirectly affects all social phenomena, just as all psychic phenomena are placed in mediate or immediate relationship with the brain. Thus, we have a whole collection of problems which are of obvious interest to sociology and which, because they all refer to a single and identical object, must come within the jurisdiction of a single science. It is this science which we propose to callsocial morphology.“ (S. 88)

Diese Ausf¨uhrungen zeigen, dass sich soziale Morphologie im Sinne Durk- heims auf soziale R¨aume bezieht, wie sie oben definiert wurden.10

9Auch folgende Bemerkung von R. D. Sack (1973: 26) ist deshalb irref¨uhrend:If we distinguish between a “psychological” space or a space of our senses and the space of physics, the latter, not the former, satisfies the criteria necessary for public identificati- on and individuation of events.“ Der soziale Raum, in dem sich Menschen intersubjektiv orientieren und verst¨andigen, ist zwar keinpsychologischer Raum“, aber er ist ande- rerseits auch kein

physikalischer Raum“.

10Es ist allerdings fragw¨urdig, sie als eine eigenst¨andige Wissenschaft zu konzipieren.

(5)

8. Metaphorisches Reden von sozialen R¨aumen. Wenn in der Literatur von sozialen R¨aumen gesprochen wird, sind nicht immer die materiellen R¨aume gemeint, in denen Menschen leben und denen sie als k¨orperliche Wesen selbst angeh¨oren, sondern es gibt auch zahlreiche Varianten eines bloß metaphorischen Redens von sozialen R¨aumen. Eine dieser Varianten kn¨upft an den Begriff eines Merkmalsraums (f¨ur statistische Variablen) an.

Zur Illustration kann der Sozialstrukturbegriff P. M. Blaus dienen:

”Social structure is conceptualized as the distribution of a population among social positions in a multidimensional space of positions.“ (Blau 1977: 26) Dabei ist mit dem Ausdruck ‘multidimensional space of positions’ ein mehrdimensionaler Merkmalsraum gemeint, dessen Komponenten (bei Blau u.a. Alter, Einkommen und Bildung) zur Charakterisierung der Mit- glieder einer Gesellschaft verwendet werden k¨onnen. Wenn solche Merk- malsr¨aume als”soziale R¨aume“ bezeichnet werden,11 handelt es sich of- fenbar um einen bloß metaphorischen Sprachgebrauch. Viele g¨angige For- mulierungen kn¨upfen hier an. So wird z.B. von”sozialer Mobilit¨at“ gespro- chen, die man sich jedoch nur metaphorisch als Bewegung innerhalb eines

”sozialen Raums“ vorstellen kann, denn tats¨achlich meint der Ausdruck, dass sich bestimmte Merkmale einer Person ver¨andern.

Besonders ausgepr¨agt findet man solche Anspielungen in Pitirim A.

Sorokins Buch ¨uber

”Social and Cultural Mobility“ (1959, zuerst 1927).

Es beginnt mit folgender Bemerkung:

”Expressions like “upper and lower classes,” “social promotion,” “N.N. is a climber,” “his social position is very high,” “they are very near socially,” “right and left party,” “there is a great social distance,” and so on, are quite commonly used in conversation, as well as in economic, political, and sociological works. All these expressions indicate that there is something which could be styled “social space.” And yet there are very few attempts to define social space and to deal with corresponding conceptions systematically.“ (Sorokin 1959: 3)

Bemerkenswert ist, dass Sorokin nicht daran denkt, dass in den angef¨uhr- ten Formulierungen bestenfalls eine r¨aumliche Metaphorik zum Ausdruck kommt, sondern dass er sie als Hinweise auf die objektive Existenz ei- nes”sozialen Raums“ auffasst, der sich zwar von den materiellen Lebens- r¨aumen der Menschen unterscheidet, den man aber in ¨ahnlicher Weise beschreiben und vermessen kann.12 Bei Sorokin wird auch eine weitere Man vgl. dazu auch den Lexikon-Beitrag zum Stichwort ‘soziale Morphologie’ von Ren´e onig (1958b: 257ff.). Dieser Beitrag zeigt im ¨ubrigen deutlich die Neigung vieler So- ziologen,

materielles Substrat“ so zu betrachten, als ob es erst durch

psychische und geistige Prozesse“ – K¨onig spricht auch noch unklarer vonStrukturen“ – sozial rele- vante Bedeutungen erh¨alt.

11Wie zum Beispiel von H.-P. M¨uller (1992: 111ff.). Bei Blau selbst findet sich der Ausdruck ‘sozialer Raum’ dagegen eher selten (ein Beispiel ist etwa Blau 1994: 17).

12Ganz ¨ahnliche Vorstellungen findet man etwa zur gleichen Zeit bei Leopold von Wiese.

In seinerBeziehungslehre“ (1933: 110f.) heißt es z.B.:Unsere dritte Hauptkategorie

Verwechslung bzw. Vermischung deutlich. Denn einerseits definiert Soro- kin seine fiktiven

”sozialen R¨aume“ durch Eigenschaften, bestimmt sie also begrifflich (wie Blau) als Merkmalsr¨aume; andererseits bezieht er sich aber auf die Menschenmengen, denen diese Eigenschaften zugerechnet werden k¨onnen (wenn er z.B. auf S. 4 sagt,”that social space is a kind of universe composed of the human population of the earth”).

Ahnliche Vorstellungen findet man bei Pierre Bourdieu. Folgende Aus-¨ f¨uhrungen in seiner Arbeit ¨uber

”Sozialen Raum und Klassen“ (1985: 9f.) k¨onnen zur Illustration dienen:13

”Auf einer ersten Stufe pr¨asentiert sich die Soziologie als eine ArtSozialtopologie.

Dementsprechend l¨aßt sich die soziale Welt in Form eines – mehrdimensionalen – Raums darstellen, dem bestimmte Unterscheidungs- bzw. Verteilungsprinzipien zugrundeliegen; und zwar die Gesamtheit der Eigenschaften (bzw. Merkmale), die innerhalb eines fraglichen sozialen Universums wirksam sind, das heißt dar- in ihrem Tr¨ager St¨arke bzw. Macht verleihen. Die Akteure oder Gruppen von Akteuren sind anhand ihrerrelativen Stellunginnerhalb dieses Raums definiert.“

Bemerkenswert ist nicht nur Bourdieus Neigung, diesen Raum zu objek- tivieren (er sei

”ebenso wirklich wie der geographische“, S. 13), sondern auch die pseudo-kausale Rhetorik, die noch deutlicher in folgender sich anschließenden Passage zum Ausdruck kommt:

”Insoweit die zur Konstruktion des Raums herangezogenen Eigenschaften wirk- sam sind, l¨aßt sich dieser auch als Kr¨aftefeld beschreiben, das heißt als ein Ensemble objektiver Kr¨afteverh¨altnisse, die allen in das Feld Eintretenden ge- gen¨uber sich als Zwang auferlegen und weder auf die individuellen Intentionen der Einzelakteure noch auf deren direkteInteraktionen zur¨uckf¨uhrbar sind.“

Bourdieus Versuch, metaphorisch als

”soziale R¨aume“ bezeichnete Zusam- menfassungen von Eigenschaften (Merkmalsr¨aume) als”Kr¨aftefelder“ zu deuten, denen sich kausale Wirkungen zuschreiben lassen, ist offenbar pro- blematisch und in der von ihm vorgeschlagenen sprachlichen Form nicht haltbar. Allerdings kann man einen anderen Gedankengang verfolgen: dass ggf. die Sachverhalte, auf die mit den Eigenschaften verwiesen wird,als Be- dingungen (im Unterschied zu Ursachen) f¨ur Handlungsm¨oglichkeiten von Akteuren verstanden werden k¨onnen.

(neben sozialem Prozeß und Abstand) ist die dessozialen Raumes(oder – im gleichen Sinne – der sozialen Sph¨are). Der soziale Raum ist das Universum, in dem sich die sozialen Prozesse abspielen. Er ist vomphysischen Raume zu unterscheiden.[. . .] Unsere Forschungen und Aussagen ¨uber Abstand, Messung, Quantifizierung in der Soziologie beziehen sich nicht auf die Materie, die Welt der physischen Stoffe und Kr¨afte, sondern stets auf Vorg¨ange im unk¨orperlichen sozialen Raume.“

13Man vgl. auch Bourdieus AufsatzPhysischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum“ (1991).

(6)

3.2 Materielle Kultur und Natur

Die materiellen R¨aume, in denen Menschen leben, werden von ihnen mehr oder weniger weitgehend gestaltet. Hieran anschließend kann in einer be- stimmten Bedeutung von

”Kultur“ gesprochen werden. Das soll im Fol- genden etwas n¨aher besprochen werden.14

1. Kultur als Kontrast zur Natur. Beginnen wir mit dem Wort ‘Natur’.

Damit kann in einer allgemeinen Bedeutung auf die gesamte durch Men- schen (direkt oder indirekt) wahrnehmbare Welt Bezug genommen wer- den. Bereits in diesem Wortverst¨andis liegt ein Kontrast: zwischen einer sinnlich wahrnehmbaren Welt einerseits und einer nur vorstellbaren nicht- sinnlichen Welt andererseits. Neben diesem Kontrast, der f¨ur den moder- nen Naturbegriff konstitutiv ist,15 gibt es einen weiteren, der sich gewis- sermaßen innerhalb der wahrnehmbaren Welt bewegt: zwischen Natur und Kultur. Prim¨ar aus diesem Kontrast gewinnt das umgangssprachliche Re- den von Natur seine im Vergleich zum allgemeinen Naturbegriff engere Bedeutung: Natur bzw. nat¨urlich sind dann diejenigen Aspekte der wahr- nehmbaren Welt, die noch nicht durch T¨atigkeiten von Menschen ver¨andert worden sind; in einer Formulierung von C. F. v. Weizs¨acker:

”Die Natur ist ¨alter als der Mensch. Der Mensch ist ¨alter als die Naturwissen- schaft. In der Welt, die vor ihm da war, und die er selbst sp¨ater die Natur genannt hat, hat sich der Mensch einen k¨unstlichen Lebensraum geschaffen, den wir die Kultur nennen.“ (v. Weizs¨acker 1977: 91)

Diese Formulierung verweist auch auf einen Zusammenhang zur Idee ei- nes materiellen Raums, der als Kultur bezeichnet werden kann, wenn und insoweit er als ein Lebensraum von Menschen gestaltet worden ist.16 2. Differenzierungen des Kulturbegriffs. Offenbar gelangt man auf diese

14Zur Geschichte und Verwendung von Kulturbegriffen vgl. man etwa Perpeet (1976) und Ort (2003). Informative Beitr¨age enth¨alt auch der von K. P. Hansen herausgegebene SammelbandKulturbegriff und Methode“ (1993).

15So heißt es etwa bei Descartes (1644/1992: 242):

Nur das von den Sinnen Wahrge- nommene gilt als Naturerscheinung.“ Dem entspricht bei Kant dieNatur in materieller Bedeutung“, n¨amlichals der Inbegriff aller Dinge, so fern sie Gegenst¨ande unserer Sin- ne, mithin auch der Erfahrung sein k¨onnen, worunter also das Ganze aller Erscheinun- gen, d.i. die Sinnenwelt, mit Ausschließung aller nicht sinnlichen Objekte, verstanden wird.“ (Kant 1786/1968: 11) In einer ganz anderen, auch von Kant unterschiedenen Be- deutung spricht man von derNatur einer Sache“ und meint damit die Gesamtheit der ur sie wesentlichen Eigenschaften. Beide Verwendungsweisen des Naturbegriffs m¨ussen offenbar deutlich unterschieden werden. Wir verwenden den Naturbegriff in diesem Text ausschließlich in seiner materiellen Bedeutung.

16Diese Feststellung ist wichtig, da in der Literatur, etwa von dem Geographen Benno Werlen (1993: 242), auch die Auffassung vertreten wurde,

daß weder Gesellschaft noch Kultur r¨aumliche Ph¨anomene sind“. Es sei aber auch angemerkt, dass ein materieller und somit auch r¨aumlicher Kulturbegriff in der ¨alteren Kulturgeographie durchaus eine zentrale Rolle gespielt hat; man vgl. dazu den ¨Uberblick bei Popp (1993).

Weise zu einem sehr allgemeinen und weit gefassten Kulturbegriff, wie auch folgende Formulierung aus der Brockhaus-Enzyklop¨adie (20. Aufl., Band 12: 612) zeigt:

”In seiner weitesten Verwendung kann mit dem Begriff Kultur alles bezeichnet werden, was der Mensch geschaffen hat, was also nicht naturgegeben ist.“

F¨ur diesen allgemeinen Kulturbegriff ist ausschließlich der Kontrast zu einer (noch) nicht gestalteten Natur wesentlich. Allerdings wird nur darauf Bezug genommen,

”was der Mensch geschaffen hat“. Tats¨achlich findet man in der Literatur noch umfassendere Definitionen wie z.B. die folgende, die aus einer Einf¨uhrung in die Kulturwissenschaft von H. B¨ohme, P. Ma- tussek und L. M¨uller (2000: 104f.) stammt:

”Das Wort<Kultur>ist aus lateinischcolere(<pflegen>,<urbar machen>,<aus- bilden>) abgeleitet und eine Eindeutschung von lat.cultura. Das deutsche Wort ist seit Ende des 17. Jahrhunderts belegt und bezeichnet das Gesamt der Ein- richtungen, Handlungen, Prozesse und symbolischen Formen, welche mithilfe von planm¨aßigen Techniken die<vorfindliche Natur>in einen sozialen Lebensraum transformieren, diesen erhalten und verbessern, die dazu erforderlichen Fertig- keiten (Kulturtechniken, Wissen) pflegen und entwickeln, die leitenden Werte in besonderen Riten befestigen (<cultus>) und insofern soziale Ordnungen und kommunikative Symbolwelten stiften, welche kommunit¨aren Gebilden Dauer ver- schaffen.“

Offenbar ist diese Definition nicht nur sehr allgemein und umfassend, son- dern sie vereinigt mehrere grunds¨atzlich unterschiedliche Aspekte, insbe- sondere die folgenden:

a) Gestaltungen der materiellen R¨aume, in denen Menschen leben, die in dem Zitat als

”Einrichtungen“ angesprochen werden;

b) menschliche T¨atigkeiten, also die Gesamtheit dessen, was die Mitglie- der einer Gesellschaft tagt¨aglich tun;

c) das in einer Gesellschaft vorhandene Wissen (wobei die Wissensbe- st¨ande unabh¨angig von den Formen ihrer Tradierung gemeint sind);

d) die sowohl subjektiven als auch kodifizierten Vorstellungen, die es in einer Gesellschaft dar¨uber gibt, wie sich ihre Mitglieder in bestimmten Situationen verhalten sollten.

Ob es sinnvoll ist, einen Kulturbegriff zu verwenden, der alle (oder auch nur mehrere) dieser unterschiedlichen Aspekte vereinigt, sei dahingestellt.

Jedenfalls m¨ussen sie schon wegen ihrer ontologischen Unterschiede be- grifflich unterschieden werden, und zwar selbst dann, wenn man sie als Aspekte eines umfassenden Begriffs zusammenfassen m¨ochte. W¨ahrend in der Literatur oft die Aspekte (b) – (d) betont werden,17 gehe ich in den

17Dies gilt bereits f¨ur die oft zitierte Definition des Ethnologen Edward B. Tylor. Sein BuchPrimitive Culture“ (1871), hier zitiert nach der deutschen ¨Ubersetzung (1873),

(7)

weiteren ¨Uberlegungen von einemmateriellen Kulturbegriff aus, wie er un- ter (a) angedeutet wird.18Nur dieser Aspekt entspricht auch zun¨achst dem anf¨anglichen Gedanken, dass Kultur aus Gestaltungen einer vorgegebenen Natur entsteht.

3. Erscheinungsformen der materiellen Kultur.Wenn man materielle Kul- tur als Gestaltungen materieller R¨aume definiert, kann man zun¨achst an Gestaltungen von Landschaften durch Anlegen von Wegen, Feldern, Sied- lungen usw. denken. Dies entspricht der urspr¨unglichen lateinischen Bedeu- tung des Wortes ‘cultura’. Der im vorangegangenen Abschnitt eingef¨uhrte Begriff eines materiellen Raums umfasst jedoch alle Arten materieller Ge- genst¨ande, und dies gilt dann sinngem¨aß auch f¨ur den materiellen Kultur- begriff. Folgende Bereiche k¨onnen grob unterschieden werden:

– Dauerhafte Gestaltungen eines materiellen Raums, zum Beispiel Felder, Wege, Straßen, Br¨ucken, Kan¨ale und Geb¨aude;

– Artefakte, zum Beispiel Werkzeuge, Maschinen, Wohnungseinrichtun- gen, Kunstgegenst¨ande;

– Pflanzen, die durch Menschen angebaut und modifiziert werden; ebenso Tiere, die f¨ur Zwecke des Menschen domestiziert und als Haustiere oder Fleisch- und Rohstofflieferanten gehalten werden;

– schließlich auch Menschen selbst, insofern sie ebenfalls zu den materi- ellen R¨aumen geh¨oren, in denen Menschen leben, und sowohl Subjekte als auch Objekte kultureller Gestaltungen sind.

Zwar gibt es keine vollst¨andig scharfen Unterscheidungen zwischen diesen vier Bereichen; in allen F¨allen entsteht jedoch Kultur dadurch, dass Men- schen in die materiellen R¨aume, in denen sie leben und denen sie selbst beginnt mit folgender Definition:

Cultur oder Civilisation im weitesten ethnographi- schen Sinne ist jener Inbegriff von Wissen, Glauben, Kunst, Moral, Gesetz, Sitte und allen ¨ubrigen F¨ahigkeiten und Gewohnheiten, welche der Mensch als Glied der Gesell- schaft sich angeeignet hat.“ Dieser Definition, die die materielle Kultur ausblendet, folgt auch das Lehrbuch der Kulturanthropologie von Marvin Harris (1989: 20). Ebenso findet man in der soziologischen Literatur oft Definitionen, bei denen von materiellen Aspekten vollst¨andig abstrahiert wird. Zum Beispiel schreibt R. A. Peterson in seinem Ubersichtsartikel (1979: 137) – ¨¨ ubrigens im Anschluss an die Definition Tylors –:In con- temporary parlance [der Soziologie?] culture consists of four sorts of elements: norms, values, beliefs, and expressive symbols.“ ¨Ahnlich heißt es bei L´opez und Scott (2000: 21):

Culture is what makes human beings distinctively human. It consists of the beliefs, ideas, sentiments, and symbols – in short, the collective representations – that people share.“ Eine etwas andere Formulierung findet sich im Soziologie-Lexikon von Reinhold (2000: 375):im soziologischen Sinne meint Kultur das gesamte soziale Erbe, bestehend aus dem Wissen, den Glaubensvorstellungen, den Sitten und Gebr¨auchen und den Fer- tigkeiten, die ein Mitglied eine Gesellschaft ¨ubernimmt.“ Ohne Begr¨undung ¨außern sich auch Lipp und Tenbruck (1979: 396):

Die Kultursoziologie muß es ablehnen, die Kultur substantiell zu reifizieren.“ Und H.-P. M¨uller (1994: 142) stellt dementsprechend fest:

Kultur bezeichnet Ideen und Weltbilder.“

18In der neueren kulturwissenschaftlichen Literatur wird dieser Aspekt von Martin Scharfe (2002) betont.

angeh¨oren, gestaltend und ver¨andernd eingreifen. Somit gibt es auch einen engen Zusammenhang zu dem im vorangegangenen Abschnitt entwickelten empirischen Begriff sozialer R¨aume: Der materielle Kulturbegriff bezieht sich auf diejenigen Aspekte eines sozialen Raums, die durch Menschen ge- staltet worden sind.

4. Materielle Kultur und Natur. Einige Verwirrungen k¨onnen leicht dar- aus entstehen, dass in zwei unterschiedlichen Bedeutungen von

”Natur“

gesprochen werden kann: einerseits in der allgemeinen Bedeutung, die zu Beginn dieses Abschnitts erl¨autert wurde, andererseits in einer speziellen Bedeutung, in der Natur als das (noch) nicht durch Menschen Gestaltete und Ver¨anderte erscheint. Der Philosoph John St. Mill hat diesen Unter- schied einmal so formuliert:

”Es ergiebt sich demnach, daß wir dem Worte”Natur“ mindestens zwei Hauptbe- deutungen zuerkennen m¨ussen. In dem einen Sinne bedeutet es alle in der ¨außern und innern Welt vorhandenen Kr¨afte und alles was verm¨oge dieser Kr¨afte ge- schieht. In einem andern Sinne bedeutet es nicht alles was geschieht, sondern nur das, was ohne die Mitwirkung, oder ohne die freiwillige und absichtliche Mitwirkung des Menschen geschieht.“ (Mill 1875: 7)

Die Unterscheidung ist deshalb wichtig, weil sich je nachdem das logische Verh¨altnis zwischen den Begriffen ‘Natur’ und ‘Kultur’ ver¨andert. Geht man vom allgemeinen Naturbegriff aus, ist Kultur eine Erscheinungsform der Natur, ‘Kultur’ ist Unterbegriff zum Oberbegriff ‘Natur’. Geht man andererseits vom speziellen Naturbegriff aus, schließen sich Kultur und Natur wechselseitig aus und wird es m¨oglich, beide in einen gedanklichen Gegensatz zu bringen.

Seit Aristoteles ist meistens die zweite Variante verfolgt worden; viel- leicht als eine Folge der Vorstellung, dass sich Menschen gegen ihre Umwelt zu behaupten haben. Diese Variante erzeugt jedoch einen durchaus proble- matischen Gegensatz, wie er zum Beispiel in folgender Formulierung zum Ausdruck kommt:

”In its commonest and most fundamental sense, the term ‘nature’ refers to ev- erything which is not human and distinguished from the work of humanity. Thus

‘nature’ is opposed to culture, to history, to convention, to what is artificially worked or produced, in short, to everything which is defining of the order of humanity.“ (Soper 1995: 15)

Problematisch ist nicht nur die Vorstellung eines einfachen Gegensatzes von Natur und Kultur, bei der ganz unber¨ucksichtigt bleibt, dass Kultur aus Umgestaltungen einer vorg¨angigen Natur oder bereits vorhandenen Kultur entsteht. Vielleicht noch problematischer ist, dass gewissermaßen grunds¨atzlich Natur und

”das Menschliche“ einander entgegengesetzt wer- den; denn die Vorstellung eines solchen Gegensatzes verhindert einen an- gemessenen Zugang zu der Frage, in welcher Weise Menschen ein Teil der

(8)

Natur sind.19

5. Der poietische Kulturbegriff.Geht man von dem eingangs (in§1) erl¨au- terten Naturbegriff aus, wird deutlich, dass Menschen und die Gegenst¨ande ihrer T¨atigkeiten Teil der Natur sind. Orientiert man sich an diesem Na- turbegriff, kann also Kultur nicht als etwas anderes, insbesondere nicht als ein Gegensatz zur Natur bestimmt werden. Folgt man dem tradierten Sprachgebrauch, muss man sich vielmehr darauf beziehen, dass kulturel- le Gegenst¨ande und Sachverhaltedurch menschliche T¨atigkeiten gestaltet werden. Um auf diese Bedeutung zu verweisen und zur Unterscheidung von anderen Varianten eines (materiellen) Kulturbegriffs, soll im Weiteren von einempoietischen Kulturbegriff gesprochen werden.

Zu beachten ist, dass bei dieser Begriffsverwendung ‘Kultur’ zu einem Unterbegriff von ‘Natur’ wird. Somit ver¨andert sich das logische Verh¨altnis der Begriffe im Vergleich zur traditionellen Entgegensetzung von Kultur und Natur.20Ein Autor, der diesen Gedanken gut entwickelt hat, ist Serge Moscovici. In seinem

”Versuch ¨uber die menschliche Geschichte der Natur“

(1982, zuerst 1968) heißt es zum Beispiel:

”Menschliche Kunst dr¨angt nicht die Natur zur¨uck: vielmehr wird ein Zustand dieser Natur durch das Erscheinen eines anderen Zustands umgest¨urzt. Das be- deutet jedoch nicht die Umwandlung der nat¨urlichen in eine technische Welt, sondern die Evolution der nat¨urlichen Welt als solcher.“ (S. 42)

Nat¨urlich schließt diese zugespitzte Formulierung nicht die Erkenntnis aus, dass Menschen im Vergleich zu anderen Lebewesen viel radikalere und weitergehende M¨oglichkeiten zur Umgestaltung ihrer nat¨urlichen Umwelt und ihrer eigenen Verfassung entwickelt haben und weiterhin entwickeln.

19Man vgl. hierzu die ¨Uberlegungen von Stephen Horigan (1988) sowie auch die Hinweise bei Hubert Markl (1998).

20Das hat erhebliche Konsequenzen f¨ur das Reden von Kultur. Man betrachte z.B. die folgende Aussage:Kultur ist die Emanzipation des Lebewesens Mensch aus der Na- tur, eine Bewegung, die auf ihre Naturbasis angewiesen bleibt.“ (R. Maurer 1973: 823) Offenbar kann man sie in dieser Formulierung nicht aufrechterhalten, wenn ein begriff- licher Gegensatz zwischen Kultur und Natur verschwindet. – Selbst die Formulierung A. Gehlens (1958: 113),daß wir alles Nat¨urliche am Menschen nur in der Impr¨agnie- rung durch ganz bestimmte kulturelle F¨arbungen erfahren k¨onnen“, ¨uberwindet diesen Gegensatz noch nicht, wie seine sich anschließende ¨Uberlegung zeigt:

Wenn die Kul- tur dem Menschen nat¨urlich ist, so bekommen wir auch umgekehrt seine Natur nie als solche, sondern nur in der Durchdringung mit je ganz bestimmten kulturellen Zusam- menh¨angen zu Gesicht.“

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Bedauerlich ist insbesondere, daß der Be- reich des weltlichen Rechts vernachlässigt erscheint, weil weder die Geschichte der Uberlieferung der Kapitulariensammlung des Ansegis

noch ihn in seinen Loncepten irre machen z Nichts dcsto- weniger aber wird ihme eine gute Salbe iin Vorrath zugc-. richtet werden / damit man Ihm der Gebühr nach zu seiner..

In Aufgabenteil (a) haben wir bereits gesehen, dass T dann beispielsweise genau alle bez¨ uglich der diskreten Metrik offenen Mengen von M enth¨ alt, dem- nach also mit der von

Der Westen Malis etwa, geprägt durch eine über Jahrzehnte dauernden Migration vor allem nach Frankreich, lebt im Wesentlichen von den Rücküberweisungen und

Wir w¨ahlen unsere Koordinaten so, dass S eine Drehung um die z-Achse um den Winkel

die Beschreibung einer phantastischen Reise durch Gärten, wobei ihm Flora und Fauna im &#34;stummen Ausdruck&#34; (lisän al-~äl), durch Gesten und Winke eine verfeinerte,

Komplexe Nullstellen eines Polynoms mit reellen Koeffizienten treten aber immer in komplex konjugierten Paaren auf und somit ist die Anzahl der echt komplexen Nullstellen eine

Ein topologischer Raum heißt kompakt falls er Hausdorff ist und jede offene Uberdeckung eine endliche Teil¨ ¨ uberdeckung (¨ aquivalent, endliche Verfeinerung) be- sitzt..