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HEGELS DIALEKTIK UND DIE TRANSZENDENTALE DIALEKTIK KANTS

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STORIA E PROBLEMIDELLA DIALETTICA

Hans Friedrich Fulda

HEGELS DIALEKTIK UND DIE TRANSZENDENTALE DIALEKTIK KANTS

Hegel hat einmal seine Auffassung von Dialektik in einem ein­

zigen Satz ausgedrückt. In diesem Satz nannte er die Dialektik

das bewegende Prinzip des Begriffs, als die Besonderungen des Allgemei­

nen nicht nur auflösend, sondern auch hervorbringend (Grundlinien der Philosophie des Rechts, Berlin 1821, § 31 A).

Dem Begriff, von dem da die Rede ist, wird eine — auch dia­

lektisch genannte — Bewegung zugesprochen, die bestehen soll im Hervorbringen und Auflösen von Besonderungen des Allge­

meinen, das der Begriff ist; und das diese Doppelbewegung in Gang bringende Prinzip soll Dialektik heissen. Unter "Besonderungen des Allgemeinen" wird man geneigt sein, Arten zu verstehen, in die sich ein Begriff einteilen lässt, den jemand von etwas haben mag. Dann ist natürlich die Frage: Wie soll das zugehen, dass ein Begriff, als ein die Gattung charakterisierendes Merkmal, sich sel­

ber spezifiziert und seine Spezifikation dann auch wieder rück­

gängig macht? Wie geheimnisvoll gar mag die Dialektik als das Prinzip dieser selbst schon geheimnisvollen Bewegung sein? Wenn man solchen Fragen nicht gleich angewidert den Rücken kehrt, wird man sich Aufschluss über sie heutzutage wohl in erster Linie von Überlegungen zur Logik, Semantik und Pragmatik sprachlicher Äusserungen erwarten. Ich habe mich selbst eine Zeitlang von die­

ser Erwartung leiten lassen. Inzwischen glaube ich nicht mehr, dass

Giomale di Metafisica - Nuova Serie ­ IX (1987), pp. 265­294.

Originalveröffentlichung in: Giornale di Metafisica. Genova, 9.1987, S. 265-293

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m a n auf diesem gleichsam direkten Weg einen Zugang z u m Ver­

ständnis u n d zu einer gerechten Beurteilung der Hegeischen Dia­

lektik gewinnen k a n n . Ein U m w e g , der auf j e d e n Fall eingeschla­

gen w e r d e n muss, f ü h r t ü b e r Hegels A u s e i n a n d e r s e t z u n g mit K a n t s A u f f a s s u n g von V e r n u n f t b e g r i f f e n . D e n n allenfalls sind sie Ver­

w a n d t e dessen, was Hegel in dem o b e n zitierten T e x t d e n "Be­

g r i f f " n e n n t . A b e r auch dieser U m w e g genügt n o c h nicht. Hegels Ü b e r z e u g u n g , dass K a n t s Theorie der V e r n u n f t b e g r i f f e modifiziert w e r d e n muss, hat ihre Wurzeln nämlich in einer Auseinanderset­

zung mit der p r a k t i s c h e n Philosophie Kants. U m sich ins Bild zu setzen, in w e l c h e n P u n k t e n Hegel Kants Theorie der V e r n u n f t b e ­ griffe glaubt m o d i f i z i e r e n zu müssen, darf m a n also auch einen w e i t e r e n U m w e g ü b e r die Kritik der praktischen Vernunft nicht scheuen. U m n i c h t zu weitläufig zu w e r d e n , d e u t e ich diesen Um­

weg n u r an. Der beste A n h a l t s p u n k t , den wir zur Orientierung h a b e n , ist Hegels 8. Habilitationsthese:

M a t e n a postulati rationis, q u o d philosophia critica exhibet, eam ipsam philosophiam destruit, et principium est Spinozismi. (Die Materie des Vernunftpostulats, das die kritische Philosophie aufstellt, zestört eben diese Philosophie u n d ist Prinzip des Spinozismus.)

Was ist d a m i t g e m e i n t ? Ich d e n k e , u n g e f ä h r das Folgende: Eine Philosophie der p r a k t i s c h e n V e r n u n f t , welche die Lehre vom Ob­

j e k t p r a k t i s c h e r V e r n u n f t k o n s e q u e n t e r entwickelt als K a n t dies ge­

lungen ist, muss feststellen, dass die V e r n u n f t nicht sich selbst je­

n e n E n d z w e c k setzt, den K a n t das h ö c h s t e G u t n e n n t , — die wohl­

p r o p o r t i o n i e r t e Ü b e r e i n s t i m m u n g von Sittlichkeit u n d Glückselig­

keit; u n d sie muss an die Stelle des Postulats, dass hinreichende Be­

dingungen erfüllt sind, dieses G u t z u m O b j e k t eines v e r n ü n f t i g e n Willens zu m a c h e n , ein anderes Postulat setzen: die A n n a h m e näm­

lich, V e r n u n f t , deren Kausalität — als reine praktische V e r n u n f t — d e n sittlichen Willen b e s t i m m t , gebiete auch der Welt der Erschei­

n u n g e n u n d ihren empirischen Gesetzen — wenigstens so weit, dass m a n von einer intelligiblen Kausalität mit Wirkungen in der Sinnen­

welt sprechen k a n n u n d sich Kausalität aus Freiheit in Vereinigung mit dem allgemeinen Gesetz der N a t u r n o t w e n d i g k e i t zu den­

k e n vermag (Kritik der reinen Vernunft B 5 6 6 ff.); dass m a n also sicher sein darf, praktische V e r n u n f t k ö n n e sich verwirklichen in

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Hegels Dialektik 267

der Welt der Erscheinungen, in der sie ihr Objekt hat. (Dieses Postu­

lat hatte bereits Fichte in Verbesserung der Kantischen Fassung der Postulatenlehre aufgestellt.) Aber das ist nicht alles: Da die Ursachen, die intelligible Kausalität haben, so viele sind, wie es Subjekte der Willensbestimmung aus reiner praktischer Vernunft gibt, muss man annehmen, dass die Vernunft eine einzige in allen diesen Ursachen und eine ihrer aller Tätigkeit vereinigende Ver­

nunft ist. Sonst käme die Art, wie Vernunft einen sittlichen Willen des einen Subjekts zu seiner Verwirklichung bringt, nicht überein mit der Art, wie sie sittlichen Willen eines anderen Subjekts sich verwirklichen lässt. Ihre Herrschaft wäre nicht Herrschaft eines mit sich Einigen. An die Stelle einer Herrschaft der Vernunft träte Anarchie. Nun hat Kant in der Auflösung der 4. kosmologischen Antinomie festgestellt, dass die vereinzelten Ursachen, die intelli­

gible Kausalität haben, im Unterschied zu dieser Kausalität selber, blosse Erscheinungen und mithin zufällig sind (B 589). Was also liegt näher, als sie in praktischer Hinsicht allesamt als Erscheinun­

gen oder Manifestationen einer einzigen, einzig notwendigen Sub­

stanz zu denken, die die Vernunft gleichsam als natura naturans selber und die sie im Innersten eines vernünftig bestimmten Willens sich selber (als Freiheit) ist? Der Grund unserer Freiheit ist die einzig vernünftige Materie des Postulats; das die kritische Philo­

sophie aufstellt. Man sieht: hier wird die Materie des Kantischen Vernunftpostulats zum Prinzip des Spinozismus gemacht, wenn dieses Prinzip die eine, mit der schaffenden Natur zu identifizie­

rende Substanz ist. Man sieht auch, dass dieses Prinzip, einmal an­

genommen und für letzte Wahrheit gehalten, die kritische Philoso­

phie in einem gewissen Sinn zerstört: Es ist unvereinbar damit, ein notwendiges und höchstes Wesen zu denken, das unabhängig und jenseits von Vernunft, die "wir" sind, existiert. Wie immer man

hierbei über Erkennbarkeit urteilen mag, ob man sagen muss, dass der Verstand nicht erkennen kann, ob es das ens necessarium gibt und was es ist, ob unser ignoramus, ignorabimus hier das letzte Wort sein sollte oder nicht, — denken jedenfalls dürfen wir das in letzter Instanz Notwendige und Freie; allerdings — so meint Hegel gegen Kant — nicht als ein von Vernunft verschiedenes ens; viel­

mehr: denken müssen wir es, wenn wir die praktische Vernunft,

die wir im sittlichen Willen sind, nicht verleugnen wollen. Denken

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dü r f e n wir u n t e r diesem A s p e k t auch nicht, dass die Erscheinun­

gen n u r Erscheinungen " f ü r u n s " oder f ü r unser Erkenntnisver­

m ö g e n sind. Wir müssen vielmehr d e n k e n , dass sie auch an ihnen selbst Erscheinungen u n d im Einen, einzig N o t w e n d i g e n , irgend­

wie " a u f g e h o b e n " oder " b e g r ü n d e t " sind. D a m i t ändert die f ü r die kritische Philosophie im G a n z e n k e n n z e i c h n e n d e Klassifika­

tion ihre B e d e u t u n g : Die A u f t e i l u n g der entia in eine Klasse von Dingen, die G e g e n s t ä n d e als Erscheinungen f ü r uns sind, u n d eine Klasse von G e d a n k e n ­ D i n g e n , die n u r Dinge an sich sind. Diese Klassifikation wird n u n relativiert. Sie gilt f ü r den theoretischen V e r s t a n d e s g e b r a u c h u n d f ü r die theoretische V e r n u n f t , soweit sie im Dienst der S u c h e nach E r k e n n t n i s s e n steht, die der Verstand u n s verschaffen k a n n . F ü r die V e r n u n f t in Beziehung auf sich selbst aber u n d f ü r die praktische V e r n u n f t müssen Begriffe ent­

wickelt w e r d e n , in d e n e n die D i f f e r e n z zwischen Erscheinungen u n d ihrem intelligiblen Wesen kein letztes m e h r ist. Mit anderen W o r t e n : n i c h t die Dualität von Erscheinungen u n d noumena wird hinfällig, w o h l aber der kritizistische Dualismus, der diese Dualität als f ü r die V e r n u n f t u n ü b e r w i n d l i c h b e t r a c h t e t ; — u n d er wird hinfällig u n b e s c h a d e t Kantischer B e a n t w o r t u n g aller Fragen, welche die E r k e n n b a r k e i t von G e g e n s t ä n d e n u n d die Grenzen unserer V e r s t a n d e s e r k e n n t n i s b e t r e f f e n . Der kritizistische Dualis­

mus wird hinfällig im Z u s a m m e n h a n g der Frage, was wir ernst­

h a f t e r w e i s e d e n k e n d ü r f e n oder zu d e n k e n unterlassen müssen, w e n n wir als V e r n u n f t w e s e n ü b e r h a u p t u n d insbesondere als p r a k t i s c h e V e r n u n f t in Ü b e r e i n s t i m m u n g mit uns k o m m e n wol­

len. Ähnliches wäre von der konstitutiven Rolle zu sagen, die der u n e n d l i c h e Progress f ü r d e n p r a k t i s c h e n sowohl wie den t h e o r e t i s c h e n V e r n u n f t g e b r a u c h in der kritischen Philosophie spielt.

Ich d e n k e , das ist der G r u n d g e d a n k e der Hegeischen Kant­Kri­

tik u n d zugleich ihr wichtigstes S t ü c k . Es gibt allem Weiteren die Perspektive u n d sollte auch dasjenige sein, was uns zur Beschäfti­

gung mit Hegels Dialektik motiviert. D e n n die Fragen, u m die es in dieser Perspektive geht, sind nicht bloss Fragen kontroverser philosophischer S c h u l m e i n u n g oder philosophie­doxographischer Bildung, sondern Fragen, die unser Selbstverständnis u n d in ihm w u r z e l n d e L e b e n s f o r m e n b e t r e f f e n . Vielleicht kann ich das an­

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Hegels Dialektik 269

h a n d eines längeren Hegelzitats — aus Vorlesungen über Ästhetik — zeigen. Es handelt von der Entgegensetzung zwischen d e m , was

" a n u n d f ü r sich" — als solches aber v e r n ü n f t i g — u n d was "äussere R e a l i t ä t " ist, u n d gilt der Überzeugung, dass diese Entgegensetzung sich auch in K a n t s Theorie der Moralität A u s d r u c k v e r s c h a f f t h a t :

Die geistige Bildung, der moderne Verstand bringt im Menschen diesen Gegensatz hervor, der ihn zur Amphibie macht, indem er nun in zwei Welten zu leben hat [...] und, von der einen Seite herübergeworfen zur anderen, unfähig ist, sich für sich in der einen wie in der anderen zu befriedigen. Denn einerseits sehen wir den Menschen in der gemeinen Wirklichkeit und irdischen Zeitlichkeit befangen, von dem Bedürfnis und der Not bedrückt, [...] von Naturtrieben u n d Leidenschaften beherrscht und fortgerissen; andererseits erhebt er sich zu [...] Ideen, zu einem Reiche des Gedankens u n d der Freiheit, gibt sich als Wille allgemeine Gesetze und Bestimmungen, entkleidet die Welt von ihrer belebten, blühenden Wirklichkeit und löst sie zu Abstraktionen auf, — indem der Geist sein Recht u n d seine Würde nun allein in der Recht­

losigkeit und Misshandlung der Natur behauptet,, der er die Not und Gewalt heimgibt, welche er von ihr erfahren hat. Mit dieser Zwiespäl­

tigkeit des Lebens u n d Bewusstseins ist nun aber für die moderne Bildung und ihren Verstand die Forderung vorhanden, dass solch ein Widerspruch sich auflöse. Der Verstand jedoch kann sich von der

Festigkeit der Gegensätze nicht lossagen; die Lösung bleibt deshalb für das Bewusstsein ein blosses Sollen, und die Gegenwart und Wirklichkeit bewegt sich nur in der Unruhe des Herüber und Hinüber, das eine Ver­

söhnung sucht, ohne sie zu finden. Da ergeht denn die Frage, ob solch allseitiger durchgreifender Gegensatz, der über das blosse Sollen u n d Postulat der Auflösung nicht hinauskommt, das an und f ü r sich Wahre und der höchste Endzweck überhaupt sei. Ist die allgemeine Bildung in dergleichen Widerspruch geraten, so wird es die Aufgabe der Philo­

sophie, die Gegensätze aufzuheben, d.i. zu zeigen: weder der eine in seiner Abstraktion noch der andere in gleicher Einseitigkeit hätten Wahr­

heit, sondern seien das Sichselbstauflösende; die Wahrheit liege erst in der [...] Vermittlung beider, und diese Vermittlung sei keine blosse Forderung, sondern das an und für sich Vollbrachte u n d stets sich Voll­

bringende. Diese Einsicht stimmt mit dem unbefangenen Glauben und Wollen überein, das gerade diesen aufgelösten Gegensatz stets vor der Vorstellung hat und ihn sich im Handeln zum Zwecke setzt u n d aus­

führt. Die Philosophie gibt nur die denkende Einsicht in das Wesen des Gegensatzes, indem sie zeigt, wie das, was Wahrheit ist, nur die Auflö­

sung desselben ist und zwar in der Weise, dass nicht etwa der Gegensatz und seine Seiten gar nicht, sondern dass sie in Versöhnung sind. [...]

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Das gewöhnliche Bewusstsein dagegen k o m m t über diesen Gegensatz nicht hinaus und verzweifelt entweder in dem Widerspruch oder wirft ihn fort u n d hilft sich sonst auf andere Weise (95, 136).

Um mich damit nicht zu begnügen, beschäftige ich mich mit Hegels Dialektik. Soviel zur Motivation, und nun zur ganzen Sache, die mein Thema ist: der Beziehung, die Hegels Auffassung von Dialektik auf Kants transzendentale Dialektik hat.

Ich denke, wenn man Kants transzendentale Dialektik in der angegebenen Perspektive betrachtet und überlegt, wie sie modifi­

ziert und ergänzt werden muss, um der Hegeischen Kritik an Kants praktischer Philosophie Rechnung zu tragen, so kann man — ohne allzu anstössige Zusatzannahmen — der Hegeischen Auffassung von Dialektik ein gutes Stück entgegenkommen. Wie weit ich mich dabei zu gehen getraue, will ich im folgenden zeigen. Natürlich muss ich hierzu erst einmal vergegenwärtigen, was Kants transzen­

dentale Dialektik sein sollte. Ich muss dann überlegen, was Hegel von ihr — als für seine Zwecke irrelevant — dahingestellt sein lassen konnte und was ihm an ihr wichtig bleiben musste, und schliesslich Auskunft darüber geben, was an ihr zu kritisieren ist und wieviel man, diese Kritik berücksichtigend, von der Hegel­

schen Dialektik versteht. Ich beschäftige mich also nun nacheinan­

der mit den folgenden Fragen:

1. Was war Kants Dialektik?

2. Was an ihr kann man für die Hegeischen Zwecke dahingestellt sein lassen?

3. Was bleibt wichtig?

4. Was hat zu entfallen — und warum?

5. Was hat an dessen Stelle zu treten und das Kantische Konzept zu ergänzen — und warum?

Leider bedarf die Beantwortung der fünften, wichtigsten Frage so vieler vorbereitender Schritte, dass ich zu ihr nur noch Andeu­

tungen machen kann. Für eine Beurteilung der Hegeischen Auffas­

sung von Dialektik und für ihr volles Verständnis ist das sicher zu

wenig. Aber die vorbereitenden Schritte haben den Vorteil, dass

sie uns zeigen, wie sich in Hegels Augen die Kantische Dialektik

ausnehmen musste; und dass sie das — hoffentlich — besser zeigen,

als es Hegels eigene direkte Äusserungen über Kant tun.

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Hegels Dialektik 271

I. In Beantwortung der ersten Frage fasse ich mich kurz: Die transzendentale Dialektik soll im Hinblick auf Möglichkeiten und Grenzen der Erkenntnis von Gegenständen ermitteln, welchen Ge­

brauch Begriffe und Grundsätze der Vernunft haben. Sie heisst nicht "transzendent", sondern "transzendental", weil sie zeigen will, wie endliche Erkenntnisse von Gegenständen in Richtung aufs Unendliche zu überschreiten sind (vgl. bes. B 689 ff.), aber vor allem zum Ergebnis hat, dass nichts uns berechtigt, bei der Bestim­

mung solcher Gegenstände Begriffe von real Unendlichem anzu­

wenden; dass wir also weder Dinge, die an sich unendlich sind, in Begriffen von Unendlichem zu erkennen vermögen, noch solche Begriffe zur Bestimmung von Erfahrungsgegenständen gebrauchen können, indem wir ein Verfahren analog zu demjenigen der

"transzendenten Mathematik" befolgen, die z.B. lehrt, den Kreis aus unendlich vielen unendlich kleinen Geraden zusammengesetzt zu denken und daraus gewisse seiner Eigenschaften zu bestimmen.

Die transzendentale Dialektik will — in Richtung aufs Unendliche der Metaphysik gehend — das Erkenntnisvermögen, das die end­

liche Vernunft ist, untersuchen und dabei innerhalb seiner ver­

bleiben. Durch "transzendentale Überlegung" (B 351) soll sie jedem Vernunftbegriff und Vernunftgrundsatz die angemessene

Stelle in der Vernunft und die ihm zukommende Funktion für andere Erkenntnisvermögen anweisen. Die transzendentale Dialek­

tik heisst "Dialektik", insofern sie — ähnlich wie die Dialektik einer formalen Logik — mit Schein zu tun hat; freilich nicht mit empi­

rischem und nicht mit logischem Schein, sondern mit einem dem Gebrauch der Vernunftbegriffe und Vernunftgrundsätze eigen­

tümlichen, wiederum "transzendental" genannten Schein. Kant möchte von diesem Schein zeigen, wie er in der Vernunft unver­

meidlicherweise entspringt und täuscht, worin er besteht und wie man verhindern kann, dass er in Vernunftschlüssen zum Irrtum verleitet. Kant muss darum untersuchen, welche Begriffe der Ver­

nunft eigentümlich sind — im Unterschied zu den Begriffen des Verstandes; und nach welchen Grundsätzen sie gebraucht werden

— wie legitimerweise und wie illegitimerweise. Der oberste Grund­

satz der Vernunft ist, dass sich, wenn irgendein Bedingtes gegeben

ist, die Reihe seiner Bedingungen bis zu einem Unbedingten

erstrecke (B 364 f.). Die Begriffe der Vernunft, Ideen genannt,

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sind allesamt Begriffe von einem solchen U n b e d i n g t e n . Sie entsprin­ gen n a c h diesem G r u n d s a t z , w e n n m a n in Begriffen von Bedingtem das Bedingte in der Reihe seiner Bedingungen bis z u m Unbeding­

ten sich erweitert d e n k t . Dabei k o m m t es zu V e r n u n f t b e g r i f f e n von genau dreierlei U n b e d i n g t e m : d e m U n b e d i n g t e n im d e n k e n d e n oder e r k e n n e n d e n S u b j e k t , d e m U n b e d i n g t e n im Ganzen der Welt u n d d e m U n b e d i n g t e n u n t e r G e g e n s t ä n d e n des D e n k e n s ü b e r h a u p t . Die — natürlich m e h r als drei — möglichen Begriffe von solchem U n b e d i n g t e n sind daher die konstitutiven Begriffe der dreiglie­

drigen traditionellen metaphysica specialis: der rationalen Seelen­

lehre, Kosmologie u n d m e t a p h y s i s c h e n Theologie. Wer den Ge­

b r a u c h dieser Begriffe im Hinblick auf seine Legitimität u n d deren G r e n z e n u n t e r s u c h t , hat festzustellen, ob m a n von gegebenem Be­

dingtem, dessen Existenz u n p r o b l e m a t i s c h ist, berechtigterweise auf die Existenz eines U n b e d i n g t e n schliessen darf, das in solchen V e r n u n f t b e g r i f f e n gedacht wird. Die U n t e r s u c h u n g des Grund­

satzes geht d e m e n t s p r e c h e n d darauf zu p r ü f e n , ob er sich als objektiver G r u n d s a t z , d.h. als G r u n d s a t z bezüglich dessen was der Fall ist, verstehen lässt oder nicht; u n d w e n n nicht, wie er sich d a n n verstehen lässt. Das Ergebnis ist, dass es in allen Fällen des G e b r a u c h s von Ideen n u r so scheint, als lasse sich der Grundsatz als objektiver verstehen, dass es andererseits aber unvermeidlicher­

weise so scheint. Das Ergebnis der kritischen P r ü f u n g ist daher in allen Fällen negativ, destruiert also skeptisch die H o f f n u n g auf E r k e n n t n i s in der M e t a p h y s i k . Als positives Gegenstück ent­

spricht dem das Ergebnis, dass der G r u n d s a t z der V e r n u n f t nur eine Regel ist, die u n s gebietet, im Verstandesgebrauch bei keinem Bedingten stehenzubleiben u n d im Fortschreiten der Forschung nach Ideen zu verfahren, zu denen auch die n u r illegimiterweise von E r k e n n t n i s g e g e n s t ä n d e n ausgesagten V e r n u n f t b e g r i f f e des dreierlei U n d e d i n g t e n gehören. Im "regulativen" Gebrauch der Ideen o r d n e n wir diesen V e r n u n f t b e g r i f f e n "in der I d e e " einen Gegenstand zu, o h n e darauf auszugehen, diesen Gegenstand mit unseren Begriffen zu b e s t i m m e n u n d o h n e a n z u n e h m e n , dass die Gegenstände unserer E r k e n n t n i s aus einem solchen — dem Ge­

b r a u c h der Ideen vorausgesetzten — Gegenstand entsprungen u n d in ihren B e s t i m m u n g e n aus V e r n u n f t b e g r i f f e n zu erklären sind.

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Hegels Dialek tik 273

II. Was an dieser transzendentalen Dialektik k o n n t e Hegel u n t e r Voraussetzung einer mit sich selbst — auch in ihren praktischen Ideen — ü b e r e i n s t i m m e n d e n V e r n u n f t dahingestellt sein lassen?

A u c h in B e a n t w o r t u n g dieser Frage m ö c h t e ich mich mit An­

d e u t u n g e n begnügen. Ich unterscheide dabei zwischen K a n t s Pro­

gramm, der D u r c h f ü h r u n g dieses Programms u n d ihrem Ergebnis.

Generell leitend muss f ü r Hegel natürlich die Frage sein, was — zunächst jedenfalls — an Kants Fassung der t r a n s z e n d e n t a l e n Dia­

lektik auf sich zu b e r u h e n h a t t e , weil es sich speziell auf die Funk­

tion der V e r n u n f t im Verstandesgebrauch u n d z u m Zweck theore­

tischer Erkenntnis bezog; nicht aber auf die V e r n u n f t in ihrem Verhältnis zu sich selbst u n d in der Vereinigung ihres theoreti­

schen u n d praktischen Gebrauchs. Was m o c h t e das im einzelnen heissen? Ich d e n k e , m a n k a n n dazu u n g e f ä h r folgendes sagen: A m Programm der transzendentalen Dialektik musste vor allem dahin­

gestellt bleiben, was vom Ergebnis der transzendentalen Analytik Gebrauch m a c h t . D o c h Hegels G r u n d h i e r f ü r ist nicht, dass das Ergebnis der transzendentalen Analytik zu verwerfen wäre. Hegel ist sich vielmehr mit K a n t v o l l k o m m e n einig, dass der Verstand nur Erscheinungen u n d nichts Ansichseiendes — Hegel wird es später Wirkliches n e n n e n — erkennt. Dass dieses Ergebnis der transzendentalen Analytik das Programm einer allgemeinen Lln­

tersuchung der der V e r n u n f t ursprünglich eigenen Dialektik nicht b e s t i m m e n darf, hat seinen G r u n d also nicht darin, dass das Er­

gebnis falsch wäre; sondern vielmehr darin, dass die V e r n u n f t , w e n n m a n ihr Verständnis in durchgängige Ü b e r e i n s t i m m u n g mit unserem praktischen V e r n u n f t g e b r a u c h bringen will, vorweg un­

tersucht werden muss im G e b r a u c h , den sie f ü r sich selbst von dem m a c h t , was zu ihr gehört. Ihre S e l b s t p r ü f u n g darf nicht einseitig im Hinblick auf ihre F u n k t i o n f ü r den Verstand u n d schon gar nicht von vornherein nur im Hinblick auf ihre Funk­

tion f ü r den theoretischen Verstandesgebrauch erfolgen. D e m e n t ­ sprechend k a n n das Programm auch nicht in der K a n t wesentlich erscheinenden Devise bestehen zu p r ü f e n , ob der oberste Grund­

satz der reinen V e r n u n f t seine objektive Richtigkeit habe oder nicht (B 365). Objektivität mag eine unverzichtbare F o r d e r u n g a n Verstandeserkenntnisse sein. Für das, was V e r n u n f t in bezug auf sich selbst legitimerweise zu leisten b e a n s p r u c h t , ist allererst

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a u s z u m a c h e n , was Objektivität ist u n d was die F o r d e r u n g , Begrif­

fen Objektivität zu b e s c h a f f e n , besagt. Erst recht nicht k a n n die Devise darin b e s t e h e n festzustellen, welche Folgerungen bloss f ü r den empirischen Verstandesgebrauch sich aus dem Resultat der P r ü f u n g des V e r n u n f t g r u n d s a t z e s ergeben (ebda.). Soviel (vorerst) zur U n ü b e r n e h m b a r k e i t des K a n t i s c h e n Programms. Man sieht, dass sie d e m K a n t i s c h e n P r o g r a m m hier n u r relativ u n d zweckbe­

dingt z u g e s p r o c h e n wird. Sie b e s t e h t im Hinblick auf das Interesse an Einheit u n t e r u n s e r e n t h e o r e t i s c h e n wie praktischen V e r n u n f t ­ ideen. Gibt m a n dieses Interesse preis, so bleibt völlig unverständ­

lich, w a r u m K a n t s Analytik der E r f a h r u n g s e r k e n n t n i s d u r c h etwas anderes als ihr transzendental­dialektisches Gegenstück ergänzt w e r d e n soll.

Ähnlich steht es mit u n b r a u c h b a r e n Schritten der D u r c h f ü h r u n g des P r o g r a m m s u n d ihrem Ergebnis. Einerseits gehören hierzu all diejenigen Schritte, die eine einseitige Orientierung an Lehrgehal­

ten der f o r m a l e n allgemeinen Logik e r k e n n e n lassen; insbesondere also K a n t s Versuch, a n h a n d der S t r u k t u r syllogistischen Schliessens das Wesen des reinen V e r n u n f t g e b r a u c h s a u f z u d e c k e n u n d eine Einteilung syllogistischer Schlüsse als L e i t f a d e n zur Auffin­

d u n g aller reinen V e r n u n f t b e g r i f f e zu b e n ü t z e n . Die syllogistisch schliessende V e r n u n f t ist evidentermassen die V e r n u n f t in einem G e b r a u c h , der f u n k t i o n a l f ü r die t h e o r e t i s c h e n Erkenntnisse des Verstandes ist. Man darf nicht h o f f e n , an deren S t r u k t u r e n un­

m i t t e l b a r ablesen zu k ö n n e n , was die V e r n u n f t in Beziehung auf sich selber ist. Andererseits ist an der D u r c h f ü h r u n g des Kanti­

schen D i a l e k t i k p r o g r a m m s natürlich auch all dasjenige n i c h t akzeptabel, was auf einen f u n d a m e n t a l e n Dualismus z u r ü c k g e h t , b z w . ihn bestätigt — z.B. auf einen Dualismus von V e r n u n f t als subjektivem V e r m ö g e n u n d O b j e k t e n , oder von Erscheinungen u n d von Dingen an sich, die den O b j e k t e n der Erscheinungen ir­

gendwie e n t s p r e c h e n . Dazu gehört vor allem die These, Ursache des unvermeidlichen Scheins, den die transzendentale Dialektik a u f z u d e c k e n , zu erklären u n d vom Irrtum­Erzeugen a b z u h a l t e n h a t , sei die Tatsache, dass in der V e r n u n f t als subjektivem V e r m ö g e n Grundregeln ihres G e b r a u c h s e n t h a l t e n sind, die das Ansehen objektiver G r u n d s ä t z e h a b e n , o b w o h l sie doch n u r eine subjekti­

ve N o t w e n d i g k e i t z u g u n s t e n unseres Verstandes besitzen (B 353).

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Hegels Dialektik 275

Auch hiervon mag Hegel denken, dies sei wohl wahr, aber relevant nur im Zusammenhang einer dem eigentlichen Geschäft nachge­

ordneten Untersuchung.

Ähnlich steht es auch mit den Ergebnissen der transzendentalen Dialektik. Unmassgeblich ist hier die Begrenzung des theoretischen Gebrauchs der Vernunftideen auf eine bloss regulative Funktion für die Erfahrungserkenntnis; zu restriktiv ist die Behauptung, Ver­

nunft dürfe ein höchstes Wesen "bloss relativ, zum Behuf der systematischen Einheit der Sinnenwelt" unterstellen (B 707), — als ob die Vernunft dieses Wesen und zwar als sich selbst nicht mindestens ebensosehr zum Behuf der systematischen Einheit der Sinnenwelt mit der Vernunft, insbesondere aber mit der prakti­

schen Vernunft unterstellen müsste! Zu vermeiden ist auch die Suggestion, mit dem Ergebnis der transzendentalen Dialektik sei die Vernunft in vollem Umfang ihres möglichen spekulativen Ge­

brauchs ausgemessen; erst recht zu vermeiden ist die vulgärkantia­

nische, aber unkantische Meinung, ausser dem legitimen, regulati­

ven Gebrauch, den Vernunftbegriffe und Vernunftgrundsätze in der theoretischen Erkenntnis haben, gebe es nur einen — illegiti­

men — Gebrauch der Vernunft in bezug auf Gegenstände , die der Verstand denkt und die, um erkennbar zu sein, gegeben sein müssten, aber — leider — nicht gegeben sind.

III. Was bleibt nach all diesen Abstraktionen von Kants trans­

zendentaler Dialektik übrig? Wahrscheinlich legt der Eindruck, den das bisher Vorgetragene hinterlassen hat, hier die Antwort nahe:

So gut wie nichts bleibt übrig, oder jedenfalls nichts, das geeignet wäre, einem neuen Konzept von Dialektik Form zu geben. Der Eindruck mag sich verstärken, wenn man registriert, dass Hegel auf den Gedankengang, in dem Kant seine transzendentale Dialektik entwickelt, zeitlebens nur in groben Umrissen zu sprechen ge­

kommen ist und dass er sich wenig auf Argumente Kants eingelas­

sen hat, die diesen Gedankengang stützen. Dies wiederum passt zu der Tatsache, dass Hegel für seine Gedankenentwicklung in den eigenen Anfängen von Kants Philosophie nur deren praktischen Teil produktiv verarbeitet hat; und beides zusammen deutet da­

rauf hin, dass sein Gegensatz zur transzendentalen Dialektik, wie

ich ihn umrissen habe, auf externen Vorentscheidungen beruht,

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nicht aber auf einen Versuch z u rü c k g e h t , die transzendentale Dia­

lektik von ihren eigenen Voraussetzungen aus zu ü b e r w i n d e n . Man k ö n n t e darin einen G r u n d gegen die B e h a u p t u n g sehen, Hegel v e r d a n k e sein eigenes D i a l e k t i k k o n z e p t einer Auseinandersetzung mit K a n t s t r a n s z e n d e n t a l e r Dialektik. D o c h dieser Eindruck sollte verschwinden, sobald m a n sich k l a r m a c h t , dass die Züge des Kanti­

schen U n t e r n e h m e n s , die bisher Berücksichtigung g e f u n d e n haben, gar n i c h t wesentlich dazu beitragen, K a n t s Dialektik als Dialektik k e n n t l i c h zu m a c h e n , w ä h r e n d es sich u m g e k e h r t verhält mit den­

jenigen M e r k m a l e n der t r a n s z e n d e n t a l e n Dialektik, die Hegel in sein eigenes V o r h a b e n ü b e r n o m m e n h a t : Sie sind z u m grossen Teil k o n s t i t u t i v d a f ü r , dass die Kantische U n t e r s u c h u n g der Möglich­

keiten u n d G r e n z e n reinen V e r n u n f t g e b r a u c h s mit Sinn "Dialek­

t i k " g e n a n n t w e r d e n k o n n t e . Hegel m o c h t e also das Bewusstsein h a b e n , dass er die Kantische Dialektik n u r von einer f ü r sie als Dialektik u n w e s e n t l i c h e n Metaphysik der E r f a h r u n g befreie, w e n n er sie in sein eigenes K o n z e p t u m f o r m t e . Fragen wir also: Welches sind die wichtigen Merkmale der t r a n s z e n d e n t a l e n Dialektik, hin­

sichtlich deren dies f ü r Hegel gelten d ü r f t e ? Ich zähle einige dieser Merkmale auf u n d erlaube mir dabei die Ungenauigkeit, Unter­

schiede in der E n t w i c k l u n g der Hegeischen A u f f a s s u n g von Dia­

lektik (zwischen 1 8 0 1 u n d 1812) zu vernachlässigen.

1. Das Dialektische ist nicht Sache des Verstandes, sondern der V e r n u n f t . Es h a t in der V e r n u n f t seinen Ursprung u n d findet auch sein E n d e in ihr. Die V e r n u n f t , zu der die Dialektik gehört, ist U r s p r u n g von Prinzipien; E r k e n n t n i s aus Prinzipien aber ist eine E r k e n n t n i s , in der ich das Besondere im Allgemeinen d u r c h Begriffe e r k e n n e (B 365 f.). Oder, nach einer besonders ein­

prägsamen F o r m u l i e r u n g der R e f l e x i o n e n : "Das allgemeine zuerst e n t w e r f e n zu k ö n n e n u n d das b e s o n d e r e in ihm, ist die V e r n u n f t " (705). Die Begriffe, die in einer solchen Erkenntnis g e b r a u c h t w e r d e n u n d die es nicht ohne V e r n u n f t gibt, sind Ideen. Ideen sind Begriffe von einem U n b e d i n g t e n , Unendli­

chen. Eine ausgezeichnete Weise, in der das Besondere im Allgemeinen d u r c h Begriffe e n t h a l t e n ist, bzw. als enthalten e r k a n n t wird, ist der Schluss; u n d irgendwie e n t s t e h t dasjenige, was dialektisch g e n a n n t zu w e r d e n verdient, im Z u s a m m e n h a n g

(13)

Hegels Dialektik 2 7 7

des Besonderen u n d Allgemeinen bzw. in der versuchten Er­

kenntnis dieses Z u s a m m e n h a n g s . Dialektik als Disziplin, die sich mit dem befasst, was dialektisch ist, ist eine U n t e r s u c h u n g der V e r n u n f t u n d des an ihr Dialektischen. Als eigene Disziplin ist sie Bestandteil — "Teildisziplin" — einer " L o g i k " .

2. Dialektik als solche Disziplin ist nicht "eristische" Dialektik im Sinn einer Kunst, logischen Schein zu erzeugen u n d zu sophisti­

schen Trugschlüssen a u s z u n u t z e n oder im Sinn einer Kunst­

lehre hierzu; sondern sie ist ein U n t e r n e h m e n , durch das sich die V e r n u n f t beim Versuch ihrer Selbsterkenntnis zu disziplinieren hat. Transzendentale Dialektik ist eine Logik der Entlarvung von Schein u n d der V e r m e i d u n g von I r r t ü m e r n , die unentlarv­

ter, täuschender Schein erzeugen mag; u n d sie befasst sich nicht mit zufälligerweise e n t s t a n d e n e m Schein; sondern mit einem Schein, den der Verstand u n d die von ihm beherrschte V e r n u n f t n o t w e n d i g erzeugen, u n d mit Täuschungen, denen sie unver­

meidlicherweise erliegen.

3. Es bedarf der Disziplinierung der V e r n u n f t durch die Dialektik.

Es bedarf ihrer für ein D e n k e n , das als philosophisches die Möglichkeiten wissenschaftlicher E r k e n n t n i s im Bereich der Me­

taphysik ausschöpfen m ö c h t e ; u n d es bedarf ihrer zu Z w e c k e n , die der V e r n u n f t wesentlich sind, ja zu ihren höchsten Z w e c k e n gehören: dem Zweck der V e r n u n f t , sich selbst k e n n e n z u l e r n e n , in Ubereinstimmung mit sich zu k o m m e n u n d auf rechtmässige Weise zur A n e r k e n n u n g ihrer Inhalte zu gelangen.

4. Die Disziplinierung der V e r n u n f t durch Dialektik f ü h r t einen W eg, der dem von Plato durch Dialektik g e b a h n t e n ähnlich ist.

Sie f ü h r t nämlich

a. von natürlichen Täuschungen. I r r t ü m e r n und täuschenden Voraussetzungen, kurz: von Scheinwissen zu w a h r h a f t e m Wissen;

b. von der Unwissenheit der V e r n u n f t über ihre eigenen inneren Wissensvoraussetzungen zur Selbstaufklärung der V e r n u n f t ; u n d

c. vom Streit zwischen entgegengesetzten Auffassungen zur Beendigung dieses Streits. Par excellence handelt es sich dabei um den Widerstreit zweier Parteien, von denen die eine ge­

dankenlos die Sache des gesunden Menschenverstandes ver­

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tritt, i n d e m sie die V e r n u n f t h a r t g e s o t t e n aufs Empirische u n d Sinnliche fixiert, wä h r e n d die andere Partei auf eine un­

kritische Weise grundlegende R e c h t e des G e d a n k e n s vertei­

digt u n d n i c h t v o r h a n d e n e Möglichkeiten, übersinnliche G e h a l t e zu e r k e n n e n , wie z.B. die Freiheit u n d das, was die Welt "im I n n e r s t e n z u s a m m e n h ä l t " , in A n s p r u c h n i m m t . Der Weg, den die Dialektik in Beendigung dieser Streithändel f ü h r t , ist also ähnlich wie bei Plato zugleich einer, auf dem sich f ü r den, der ihn b e t r i t t , E r k e n n t n i s u n d Paideia miteinan­

der verbinden; u n d die Paideia, sowie die Beendigung des Streits sind n u r von einer dialektischen U n t e r s u c h u n g zu er­

w a r t e n ; sie erfolgen in Verteidigung des Interesses, das die V e r n u n f t an Inhalten hat, die n u r sie ins Spiel bringen kann.

5. Die Dialektik ist ein unerlässlicher Beitrag zur Erfüllung der o b e r s t e n A u f g a b e , die die V e r n u n f t dem Philosophieren setzt:

ein System zu p r o d u z i e r e n u n d d a d u r c h zur Ausbildung eines G a n z e n von Wissen beizutragen (B 708 ff.). Sie leistet diesen Beitrag, sofern dasjenige, was V e r n u n f t ganz eigentümlich über Verstandeserkenntnisse verfügt u n d zustandezubringen sucht, das Systematische der E r k e n n t n i s ist (B 673).

Alle diese Merkmale des Kantischen Dialektik­Verständnisses h a t Hegel wahrscheinlich bereits in ein K o n z e p t von Dialektik ü b e r n o m m e n , das er sich u m 1801 ausdachte. Es verstand Dialek­

tik als Disziplin u n d vermutlich als d r i t t e n Teil einer zur spekula­

tiven V e r n u n f t e r k e n n t n i s h i n f ü h r e n d e n " L o g i k " endlicher Gedan­

k e n f o r m e n . Ich m ö c h t e auf die Einzelheiten dieses K o n z e p t s hier nicht näher eingehen. Wenn es n u n n o c h einer Ergänzung b e d a r f , u m den E i n d r u c k zu verstärken, dass es sich beim Hegeischen u n d beim K a n t i s c h e n Verständnis von Dialektik u m eine — im Kern wenigstens — gemeinsame Sache handelt, so k a n n m a n diese Er­

gänzung u n s c h w e r geben. Man muss dazu nur den von K a n t aufge­

d e c k t e n dialektischen Schein näher in Betracht ziehen u n d die K o n s e q u e n z e n ins Auge fassen, die aus seiner A u f d e c k u n g gezogen w e r d e n . Zählen wir also weiter:

6. Im Hinblick auf den dialektischen Schein bzw. auf T ä u s c h u n g u n d I r r t u m , die aus ihm entspringen, gilt f ü r Hegel wie f ü r Kant

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Hegels Dialektik 2 7 9

eine ganz ähnliche A n t w o r t auf die Frage, worin die T ä u s c h u n g besteht: Für beide besteht sie darin, dass das nicht durch Dia­

lektik aufgeklärte philosophische D e n k e n glaubt, V e r n u n f t i n ­ halte behandeln zu k ö n n e n wie Begriffe von O b j e k t e n einer Er­

kenntnis, die der Verstand hat. — Auch in der A n t w o r t auf die Frage, woraus der dialektische Schein u n d mit ihm die T ä u s c h u n g entspringt, stimmt Hegel mit K a n t überein: Der dialektische Schein entspringt daraus, dass V e r n u n f t systematische Einheit nicht anders denken kann als dadurch, "dass sie ihrer Idee zugleich einen Gegenstand gibt", von dem doch die E r f a h r u n g niemals ein Beispiel geben kann (B 709, 1). Letztlich r ü h r t der Schein daher, dass die V e r n u n f t ihre Erkenntnis zum Unbe­

dingten zu erweitern strebt. — Ü b e r e i n s t i m m u n g zwischen K a n t u n d Hegel besteht schliesslich auch in der Frage, was das Vorlie­

gen von Schein indiziert: Bei beiden ist es das A u f t r e t e n einer T e n d e n z zur Verwechslung von logischen S u b j e k t e n einerseits u n d das A u f t r e t e n einer T e n d e n z zu widersprüchlichen Aussa­

gen andererseits.

7. Nicht n u r im Hinblick auf die Diagnose des dialektischen Scheins, sondern auch in der Meinung bezüglich vieler K o n s e q u e n z e n , die m a n aus der Diagnose ziehen muss, stimmen K a n t u n d Hegel weitgehend überein. Beide sind sich beispielsweise einig darin, dass die V e r n u n f t keine von ihr verschiedenen, an sich seienden Entitäten erkennt. Beide gelangen zu der Überzeugung, dass m a n nicht voraussetzen darf, die Begriffe, die die Metaphysik gebildet hat, seien, wie sie sind, zur vernünftigen Erkenntnis tauglich; dass man vielmehr seine A u f m e r k s a m k e i t auf den Inhalt dieser Bestimmungen richten muss u n d dabei auf den Unterschied von Verstandes­ u n d V e r n u n f t b e g r i f f e n zu achten hat; u n d dass m a n insbesondere die richtige D e u t u n g der Ver­

n u n f t b e g r i f f e normieren, ihre falsche D e u t u n g hingegen de­

struieren muss.

IV. N u n mag der u m g e k e h r t e Eindruck entstanden sein: dass man Mühe hat zu begreifen, was Hegel an Kants transzendentaler Dialektik f u n d a m e n t a l k o r r e k t u r b e d ü r f t i g finden musste u n d was ihn veranlassen k o n n t e , diese Dialektik in der eigenen, spekulati­

ven Logik bis zur Unkenntlichkeit zu verändern. Hegels direkte.

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kantkritische Äusserungen zur transzendentalen Dialektik Kants sind wenig geeignet, einem diese Mühe zu ersparen. Man kann sie zur Kenntnis n e h m e n u n d wird in der Regel doch ratlos bleiben, w e n n m a n wissen will, w a r u m sich Hegel mit seiner Dialektik von K a n t so weit e n t f e r n t hat, wie er es allem Anschein nach tat. In der Ratlosigkeit hierüber haben viele sich die Meinung gebildet, Hegel habe eben Kants kritische Begrenzung der menschlichen Er­

k e n n t n i s a n s p r ü c h e nicht ertragen k ö n n e n u n d sei deshalb ins Gehäuse der Metaphysik zurückgeflohen, dessen Baufälligkeit K a n t mit seiner Dialektik gerade aufgewiesen hatte. In Wahrheit ist es u m g e k e h r t . U n b e s c h a d e t der Kantischen A n t w o r t auf die Frage nach der E r k e n n b a r k e i t von Gegenständen ist Hegel be­

züglich f u n d a m e n t a l e r G e d a n k e n , die die Metaphysik entwickelt hat u n d die auch in K a n t s V e r n u n f t t h e o r i e eingegangen sind, viel skeptischer als K a n t . Das Besse sich an vielen Details der implizi­

ten u n d expliziten Kantkritik Hegels zeigen. Ich beschränke mich hier auf zwei P u n k t e . Der erste b e t r i f f t radikalisierende Modifika­

tionen, die Hegel an dem bis j e t z t exponierten, ihm mit Kant ge­

meinsamen Dialektikverständnis v o r g e n o m m e n t hat. Der zweite P u n k t hingegen den fürs Ergebnis der Kantischen Dialektik wich­

tigsten Begriff: den Begriff eines transzendentalen Ideals.

Z u m ersten: Ich h a t t e bezüglich der K o n s e q u e n z e n , die man aus der Diagnose des dialektischen Scheins ziehen muss, gesagt, Hegel sei sich mit K a n t darin einig, dass die V e r n u n f t keine von ihr verschiedenen, an sich seienden E n t i t ä t e n erkennt, u n d dass der Verstand an von ihm verschiedenen E n t i t ä t e n nur deren Erschei­

n u n g erkennt. Dieses skeptische Resultat wird von Hegel dahin­

gehend verschärft, dass m a n gar keinen vernünftigen G r u n d hat a n z u n e h m e n , es gebe von der V e r n u n f t verschiedene E n t i t ä t e n ; u n d dass das einzige, w o v o n m a n mit Sinn erwarten u n d fordern kann, die V e r n u n f t solle es — a l s V e r n u n f t — erkennen oder be­

greifen, die V e r n u n f t selber ist. — Ich hatte auch gesagt, Hegel sei sich mit K a n t darin einig, dass V e r n u n f t k r i t i k die richtige D e u t u n g der V e r n u n f t b e g r i f f e n o r m i e r e n müsse. Hegels Radikalisierung dieser F o r d e r u n g besteht darin, dass er die Forderung auf die Verstandesbegriffe ausdehnt, sofern diese zur Aufstellung von V e r n u n f t b e g r i f f e n dienen. Noch deutlicher wird die Radikali­

sierung der Skepsis im Hinblick auf Charakter, Ursprung u n d In­

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Hegels Dialektik 281

dikation des dialektischen Scheins: Die Tä u s c h u n g , so m e i n t He­

gel, bestehe nicht n u r darin, dass ein D e n k e n , das nicht durch Ver­

n u n f t k r i t i k u n d ihre Dialektik aufgeklärt ist, natürlicherweise meint, V e r n u n f t i n h a l t e b e h a n d e l n zu k ö n n e n wie Begriffe von O b j e k t e n einer Erkenntnis, die der Verstand hat. Die T ä u s c h u n g b e s t e h t nach Hegels A u f f a s s u n g vielmehr b e r e i t s in einer Vor­

aussetzung, die K a n t mit der vorkritischen Metaphysik u n d mit dem common sense teilt: in der Voraussetzung, das V e r n ü n f t i g e müsse sich, w e n n es ü b e r h a u p t e r k e n n b a r oder begreiflich sein soll, erkennen lassen in Sätzen, in denen ein e r k e n n e n d e s S u b j e k t , das Verstand hat, einem "logischen" S u b j e k t einzelne begriffliche Bestimmungen als Prädikate beilegt. Was den Ursprung des Scheins b e t r i f f t , m e i n t Hegel, w i e d e r u m die Skepsis radikalisierend, nicht nur die vergegenständlichende T e n d e n z der V e r n u n f t sei das Schein Erzeugende, sondern ebensosehr die Angewiesenheit der V e r n u n f t auf " V e r s t a n d e s b e s t i m m u n g e n " — das heisst auf Bestim­

m u n g e n , die gegeneinander endliche, von der R e f l e x i o n fixierte sind. Indikatorisch f ü r den Schein schliesslich ist nicht n u r das A u f t r e t e n einer T e n d e n z zur Verwechslung von logischen Subjek­

ten einerseits u n d das A u f t r e t e n einer T e n d e n z zu widersprüchli­

chen Aussagen andererseits; vielmehr: dieser T e n d e n z k a n n m a n sich durch V e r n u n f t k r i t i k gar nicht erwehren. Es ist auch kei­

neswegs so, dass die Verwechslung von logischen S u b j e k t e n nur in einem Paralogismus von Aussagen v o r k o m m t , die m a n ü b e r sich selbst als D e n k e n d e n m a c h e n m ö c h t e ; u n d dass sich die T e n d e n z zu Widersprüchen nur in Aussagen ü b e r den Gegenstand der kosmologischen Idee findet. Beide sind so u m f a s s e n d wie der Gebrauch von Verstandesbegriffen seitens einer ü b e r sich selbst Aufschluss gebenden V e r n u n f t .

Vielleicht lassen diese M o d i f i k a t i o n e n bereits a h n e n , in welche R i c h t u n g gehend sich die Hegeische Dialektik­Konzeption von der Kantischen e n t f e r n t . Aber m a n wird dabei nicht viel von den G r ü n d e n sehen k ö n n e n , aus denen dies geschieht. D a d u r c h m a g sich leicht die Meinung wieder geltend m a c h e n , Hegels G r ü n d e , sich von K a n t zu e n t f e r n e n , seien eben G r ü n d e einer von K a n t destruierten Metaphysik. J e d e n f a l l s sei mangelnde Skepsis gegen­

über Metaphysik verantwortlich d a f ü r , dass Hegel eine Konzep­

tion von Dialektik zu entwickeln versuchte, in der die Kantische

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K o n z e p t i o n auf den ersten u n d zweiten Blick jedenfalls nicht wie­

d e r z u e r k e n n e n ist.

Wenn m a n m e i n t , K a n t sei in Hegels Augen hinsichtlich der Me­

taphysik zu skeptisch, so wird m a n sich w o h l vor allem darauf be­

r u f e n , dass Hegel K a n t tadelnderweise vorhält, die V e r n u n f t sei bei ihm, K a n t , ein Leeres f ü r die Erkenntnis, u n d V e r n u n f t g e g e n s t ä n d e seien f ü r ihn prinzipiell u n e r k e n n b a r . Doch hier darf m a n sich n i c h t d u r c h die H o m o n y m i e zweier Begriffe von philosophischer E r k e n n t n i s verwirren lassen. Derjenige Begriff philsophischer "Er­

k e n n t n i s " , den Hegel entwickeln u n d dessen erfolgreichen Ge­

b r a u c h er in A n s p r u c h n e h m e n m ö c h t e , ist von K a n t gar nicht un­

t e r s u c h t w o r d e n ; bezüglich desjenigen Begriffs philosophischer Er­

k e n n t n i s aber, den K a n t u n t e r s u c h t h a t , ist Hegel nicht weniger skeptisch als K a n t , s o n d e r n bezüglich seiner ist ihm K a n t nicht skeptisch genug. Die 7. Habilitationsthese Hegels lautet in ihrer zweiten H ä l f t e :

philosophia critica [...] imperfecta est Scepticismi forma. (Die kritische Philosophie ist eine unvollkommene Form des Skeptizismus.)

Die U n v o l l k o m m e n h e i t der Kantischen Skepsis b e s t e h t darin, dass K a n t an d e n G e g e n s t ä n d e n der dogmatischen Metaphysik n u r deren U n e r k e n n b a r k e i t nachweist, aber nicht bestreitet, dass m a n einige von ihnen vernünftigerweise so d e n k e n kann, wie die Meta­

physik sie d a c h t e . So m e i n t e K a n t beispielsweise — u n d auch dies g e h ö r t z u m Ergebnis seiner t r a n s z e n d e n t a l e n Dialektik —, dass

" n i c h t das m i n d e s t e " uns h i n d e r t , die V e r n u n f t i d e e n " a u c h als objektiv u n d h y p o s t a t i s c h a n z u n e h m e n " — ausser der kosmolo­

gischen Idee vom Weltganzen, bei der die V e r n u n f t in eine Antino­

mie gerät, w e n n sie sich diese Idee bilden will (B 701, 2); er m e i n t e z.B., dass m a n d u r c h die V e r n u n f t d u r c h a u s berechtigt ist, G o t t als omnitudo realitatis, ens originarium, summum ens u n d Welturhe­

ber zu d e n k e n (B 6 0 3 ff., 6 1 3 f.); u n d dass j e d e r von uns durch die V e r n u n f t berechtigt ist, sich als einfache Substanz zu d e n k e n , die

— an sich selbst — u n w a n d e l b a r ist, sich aber mit anderen wirkli­

chen Dingen in G e m e i n s c h a f t b e f i n d e t (B 710, 2). Diesen Behaup­

tungen steht bei Hegel die Überzeugung entgegen, dass Kant dieje­

nige Frage, die in diesem Z u s a m m e n h a n g vorrangiges — Hegel m e i n t sogar: alleiniges — Interesse hat, a u f z u w e r f e n versäumt; die

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Hegels Dialektik 283

Frage nämlich, ob es v e r n ü n f t i g ist, also mit d e m , was die V e r n u n f t an ihr selber ist, sich vereinbaren lässt, einen Begriff zu bilden wie z.B. denjenigen eines endlichen Subjekts mit den definitorischen Bestimmungen der Substantialität u n d Einfachheit (vgl. L II 4 3 4 , 2; WG 19, 5 7 8 f.; Enc. § 47); oder denjenigen eines h ö c h s t e n Seienden mit der definitorischen B e s t i m m u n g einer Allheit nega­

tionsloser Realitäten (L I, 75, 1; 99; II, 61, 2). Hegel w i r f t diese Frage auf u n d verneint sie mit Entschiedenheit. Dass er d a f ü r

— auch u n t e r Kantischen Voraussetzungen — gute G r ü n d e h a t , m ö c h t e ich wenigstens an einem dieser Beispiele zeigen. D a m i t bin ich beim zweiten der beiden angekündigten P u n k t e .

Der Begriff einer negationslosen o m n i t u d o realitatis (eines "ens realissimum"), m e i n t Hegel, ist ein Unbegriff, da m a n mit Spinoza sagen muss: omnis determinatio est negatio. Die Allheit negations­

loser Realitäten ist die an Realität leere Menge; sie enthält nicht alle Realitäten, sondern keine Realität, ist also das gänzlich Un­

b e s t i m m t e , das reine Sein. Die dogmatische Metaphysik hat ge­

meint, m a n k ö n n e dieses Ergebnis vermeiden, i n d e m m a n etwa folgendermassen zu Werke geht: Man d e n k e sich zunächst aus der Menge aller möglichen, sachhaltigen Prädikate diejenigen ausge­

schieden, die als abgeleitet d u r c h andere schon gegeben oder n i c h t mit anderen verträglich sind; m a n d e n k e sich des weiteren, dass nach diesem Ausscheidungsverfahren i m m e r n o c h einige Prädikate übrig sind u n d zwar so, dass jedes von ihnen j e ein b e s c h r ä n k t e s Stück des ganzen K u c h e n s an Realität, den es gibt, enthält. Vor­

ausgesetzt wird dabei, dass die Ausscheidung unverträglicher Prä­

dikate nichts von aller Realität, die es gibt, verlorengehen Hess.

N u n denke m a n sich die Allheit dieser b e s c h r ä n k t e n , aber ver­

träglichen Realitäten in der Relation der Folge zu ihrem G r u n d : zu dem einen, in sich u n b e s c h r ä n k t e n u n d d a r u m auch negations­

losen K u c h e n nämlich, aus dem sie d u r c h Teilung hervorgehen sollen.

K a n t hält die Bildung eines solchen Begriffs f ü r vernünftiger­

weise möglich; u n b e f u g t erscheint ihm n u r die B e h a u p t u n g , dass die solcherart gedachte Realität objektiv gegeben sei u n d selbst ein Ding ausmache (B 5 8 0 , 2). Aber sogar n o c h in dieser Hinsicht gehen seine Konzessionen viel weiter, als die exoterische Lehre der Kantischen Philosophie gewöhnlich zugibt. A u c h der bloss regula­

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tive V e r n u n f t g e b r a u c h ist mit der Unterstellung eines Gegenstan­

des f ü r m e i n e n V e r n u n f t b e g r i f f v e r b u n d e n . Ich bin z.B., m e i n t K a n t , im regulativen V e r n u n f t g e b r a u c h n i c h t allein b e f u g t , son­

der auch genötigt, die Idee eines unbegreiflichen Wesens, welches das Weltganze ist, zu "realisieren", d.h. ihr einen wirklichen Ge­

genstand zu setzen; allerdings n u r als ein Etwas ü b e r h a u p t , das ich an sich selbst gar nicht k e n n e (B 705 f.). Aber u n g e a c h t e t der U n b e s t i m m t h e i t , die dieser G e g e n s t a n d f ü r m i c h hat, soll das Rea­

lisieren seiner Idee einschliessen, dass ich dem Etwas Eigenschaften beilege, die den V e r s t a n d e s b e g r i f f e n im empirischen G e b r a u c h ana­

logisch sind; dass ich mir also ein Wesen d e n k e , das Eigenschaften besitzt, wie z.B. Substantialität, Kausalität, N o t w e n d i g k e i t , u n d zwar j e d e v o n i h n e n in der h ö c h s t e n V o l l k o m m e n h e i t . Ich d e n k e mir das h ö c h s t e Wesen d u r c h lauter Begriffe, die eigentlich n u r auf die S i n n e n w e l t A n w e n d u n g h a b e n ; u n d ich darf d a n n am E n d e dieses Wesen sogar von der Welt u n t e r s c h e i d e n , o h n e d o c h aufzu­

h ö r e n , ihm E i g e n s c h a f t e n z u z u d e n k e n , die lediglich zur Sinnen­

welt gehören (ebda.). So weit Kant. Der E i n w a n d , der n u n von He­

gels Seite aus zu erheben ist, liegt auf der H a n d : Was eigentlich be­

rechtigt m i c h zu der A n n a h m e , dass nach Ausscheiden aller unver­

träglichen Prädikate n o c h Realität übriggeblieben ist, ja sogar alle Realität? Was berechtigt mich zu dieser A n n a h m e angesichts der K a n t i s c h e n Voraussetzung, dass alle Materie zu Begriffen e n t w e d e r aus der sinnlichen A n s c h a u u n g oder aus dem reinen Verstand ge­

s c h ö p f t ist? Dass ich mir d e n k e , der Gegenstand meiner Idee be­

sitze die E i g e n s c h a f t e n , f ü r welche m e i n e Begriffe stehen, "in der h ö c h s t e n V o l l k o m m e n h e i t " , soll zunächst nur b e d e u t e n , dass ich mir die e i n s c h r ä n k e n d e n Bedingungen w e g d e n k e , u n t e r d e n e n diese Begriffe auf G e g e n s t ä n d e der E r f a h r u n g A n w e n d u n g h a b e n . N u n mag ich versuchen, d a d u r c h auch die Verträglichkeit meiner Be­

griffe zu sichern. Sobald ich Spinozas " o m n i s d e t e r m i n a t i o est ne­

g a t i o " berücksichtige, muss ich f ü r c h t e n , dass ich meinen Begrif­

fen d u r c h Weglassen jeder e i n s c h r ä n k e n d e n Bedingung alle Be­

s t i m m t h e i t n e h m e . Spätestens w e n n ich von der Vielfalt ihrer b e s c h r ä n k t e n Realitäten zu deren einzigem G r u n d — dem ens rea- lissimum — z u r ü c k z u g e h e n versuche, m a c h e ich aus m e i n e n Be­

griffen, wie K a n t einmal selbst sagt, "leere Titel zu Begriffen, o h n e allen I n h a l t " . Auf leere Titel aber sollte m a n im D e n k e n ver­

(21)

Hegels Dialektik 285

nünftigerweise keinen Anspruch erheben. Aber selbst wenn ich nicht bis zum ens realissimum gehen würde, sondern bei der All­

heit von beschränkten Realitäten stehenbliebe, wäre ich nicht bes­

ser daran. In diesem Fall wäre der Inbegriff aller Realitäten zwar etwas Bestimmtes. Aber eben dadurch wäre er auch der Inbegriff aller ursprünglichen Negationen. Jeder in diesen Inbegriff fallen­

den realitas A läge ihr Negat Ä gegenüber, durch das sie allererst eine bestimmte Realität ist; und dieses Negat Ä käme dem Gegen­

stand meines Inbegriffs ebenso, ja in derselben Hinsicht zu wie sein Gegenstück A. Im Fall einer jeden Realität A wäre also in bezug auf diesen Gegenstand meines Inbegriffs der Satz des Widerspruchs verletzt, sofern dieser Satz in seiner metaphysischen Bedeutung für Kant besagt: Keinem Ding kommt ein Prädikat zu, welches ihm widerspricht. Der Inbegriff aller Realitäten wäre zugleich der Inbe­

griff aller ursprünglichen Widersprüche.

Schlechter noch als vom Begriff eines ens realissimum muss man in der Hegeischen Perspektive wohl über die Weise denken, in der Kant von diesem Begriff aus zu den besonderen Prädikaten des Ge­

genstandes der traditionellen rationalen Theologie übergeht und deren Inhalt in den Gehalt der regulativen Grundsätze hinüber­

nimmt. Der Grundmangel ist dabei, dass Kant — erklärtermassen — im Rahmen seiner Vernunftkritik die eigentümliche Methode einer Fundamentalphilosophie, die für ihn Transzendentalphilosophie ist, nicht zum Thema macht und auch nicht in erkennbarer Weise eine solche Methode befolgt. Die Exposition der Idee des dritten Unbedingten, des transzendentalen Ideals, führt zunächst zu einem gänzlich Unbestimmten; dessen Anreicherung mit begriffilichen Bestimmungen wird dann kurzerhand am Gehalt der rationalen Theologie ausgerichtet, weil nur unzulängliche Mittel bereitstehen, um auszumachen, in welchen Bestimmungen, wie strukturiert, wir diese Vernunftidee vernünftigerweise zu denken haben und wie der begriffliche Gehalt in bezug auf die theoretische Erkenntnis und die praktisch fundierte Ansicht der Welt fungiert. Man mag Kant darin folgen, dass die Idee des dritten Unbedingten durch Entschränken der Bedingung endlicher Bestimmungen gebildet werden muss. Aber dabei darf die Bestimmtheit endlicher Bestim­

mungen nicht einfach entfallen, sondern sie muss in einer Weise

berichtigt werden, die es erlaubt, sie in den zu bildenden Begriff

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des d r i t t e n U n b e d i n g t e n einzubringen. Da K a n t h i e r fü r kein Pro­

gramm entwickelt hat, verdient sein V e r f a h r e n der V e r w e n d u n g von V e r s t a n d e s b e g r i f f e n im K o n t e x t der E x p o s i t i o n u n d des regu­

lativen G e b r a u c h s von V e r n u n f t b e g r i f f e n k a u m , ein V e r f a h r e n ge­

n a n n t zu w e r d e n . S o f e r n es nichts zur berichtigenden D e u t u n g der Verstandesbegriffe beiträgt, ist es unkritisch u n d leistet nicht ein­

mal f ü r d e n regulativen V e r n u n f t g e b r a u c h , was m a n sich von ihm versprechen sollte. S o f e r n es die angeblich analogisch verwendba­

ren E r f a h r u n g s b e g r i f f e (B 5 9 4 ) d u r c h E n t g r e n z u n g letztlich ebenso u n b e s t i m m t m a c h e n muss wie den Gegenstand der Idee, o b w o h l diese Begriffe d o c h dazu dienen sollen, der Idee einen Inhalt zu geben, lässt es gar nicht zu, Ideen in einem vollen Sinn zu d e n k e n ; u n d sofern K a n t sich dies nicht eingesteht, muss m a n ihm vorhal­

ten, er scheue vor der skeptischen K o n s e q u e n z z u r ü c k , die von sei­

n e n eigenen V o r a u s s e t z u n g e n aus zu ziehen wäre. Schlimmer n o c h : Sofern Ideen j e u n t e r s c h i e d e n e , b e s t i m m t e Begriffe von einem Un­

b e d i n g t e n sein sollen, w ä h r e n d d o c h das D e n k e n eines solchen Un­

b e d i n g t e n , genau besehen, in U n b e s t i m m t h e i t zerfliesst u n d den eigenständigen Inhalt der Ideen verlorengehen lässt, kann K a n t seinen eigenen A n s p r u c h , V e r n u n f t als V e r m ö g e n der Ideen zu begreifen, gar nicht einlösen. Hegels 7. Habilitationsthese lautet daher in ihrem vollen Wortlaut:

Philosophia critica caret ideis et imperfecta est Scepticismi forma. (Die kritische Philosophie ermangelt der Ideen und ist eine unvollkommene Form des Skeptizismus.)

V. Kritik ist wohlfeil — wie aber k a n n m a n h o f f e n , es besser zu m a c h e n als K a n t ? U n d wie mag m a n dabei mit halbwegs plausiblen G r ü n d e n zur Hegeischen A u f f a s s u n g von Dialektik gelangen? Das ist der Gegenstand meiner letzten Frage. Ich kann, was ich zu ihm a u s f ü h r e n m ö c h t e , n u r n o c h thesenartig a n d e u t e n .

1. S o w o h l aus der eingangs e r w ä h n t e n Kritik an Kants praktischer Philosophie als auch aus dem j e t z t deutlich gewordenen Deside­

rat der Begriffsberichtigung ergibt sich, dass m a n Kants drittes U n b e d i n g t e s — das U n b e d i n g t e u n t e r " G e g e n s t ä n d e n " des Den­

kens ü b e r h a u p t — nicht als w e l t t r a n s z e n d e n t verstehen darf, s o n d e r n als gegenüber der Alternative Welt­Immanenz oder ­Tran­

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Hegels Dialektik 287

szendenz indifferent; und dass man die Realit ät im Begriff die­

ses Unbedingten nicht als weit­transzendente Realität konzi­

pieren darf, sondern als eine, in der sich die Realität, die Be­

griffe von Endlichem in sich haben, und die Realität in Be­

griffen von Unendlichem vereinigen. Daraus ergibt sich für Hegel ein neues Konzept von Idee. Entsprechend lautet Hegels 6. Habilitationsthese in ihrer ersten Hälfte:

Idea est synthesis infiniti et finiti.

Synthesis ist dabei verstanden nicht als äusserliche Zusammen­

setzung, sondern als Wieder­Eins­Setzung dessen, was zuvor geschieden worden ist; als Rückgängigmachen einer Abstraktion und Wiederherstellen einer Identität, von der die Reflexion, die endliche Bestimmungen einander gegenüberstellt, abstrahiert hatte.

2. Trotz dieses neuen Verständnisses von Idee, das an die Stelle von Kants Gedanken eines transzendentalen Ideals tritt, kann Hegel dem Kantischen Verständnis von Idee in vielen Punkten folgen. Er kann zum Beispiel

— mit Kants Alterswerk sagen, dass die Vernunft in Ideen, ihren Inhalt bestimmend, sich selber setzt;

— die Idee verstehen als Begriff von einem Einzelnen, nämlich der einen Vernunft selbst;

— alle Bestimmungen, die zusammen in systematischer Einheit diese Idee bilden, als Bestimmungen denken, für die man in Urteilen zunächst nur einen gänzlich unbestimmten, bloss vorausgesetzten Gegenstand besitzt; aber so, dass es ein Irr­

tum ist zu meinen, dieser Gegenstand werde im Gebrauch der Bestimmungen, die die Idee exponieren, bestimmt;

— Kant darin zustimmen, dass die Existenz eines solchen Ge­

genstandes in theoretischer Hinsicht problematisch, in prak­

tischer Hinsicht aber gewiss ist. Für die Vernunft in Bezie­

hung auf sich selbst hingegen, kann er sagen, sei die Existenz dieses vorausgesetzten Gegenstandes kein Thema, also weder problematisch noch gewiss.

3. Eng verbunden mit dem schon erwähnten Unterschied zwischen

Kants transzendentalem Ideal und Hegelscher Idee sind zwei

weitere Unterschiede; bezüglich ihrer kann Hegel sich auf Kant

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als Zeugen zugunsten seiner abweichenden Position berufen, wenn man ihm das Recht und die bisher geltend gemachten Gründe einer Neubestimmung der Vernunftidee zugibt, a) Während für Kant die Struktur der Realität im Begriff des

ens realissimum gänzlich unbestimmt bleibt und das Verhält­

nis dieser Realität zur Realität irgendwelcher Begriffe von Endlichem dasjenige einer Einschränkung ist, ist strukturbil­

dend für den begrifflichen Gehalt der Idee im Hegeischen Verständnis das synthetische Verhältnis paarweise auftreten­

der Bestimmungen, die im Hinblick auf ein vorausgesetztes Substrat in einer Gegensatzbeziehung stehen, welche der Kantischen Realopposition zumindest eng verwandt ist. (Sie widerstreiten einander, ohne dass eine das kontradiktorische Gegenteil zur anderen wäre; sie sind alle beide — für sich ge­

nommen — positiv und nur im Verhältnis zueinander als Po­

sitives und Negatives ausgezeichnet; sie verneinen nur etwas, was durch die andere gesetzt ist, und heben dabei Folgen von­

einander auf.) Und: das Verhältnis solcher Bestimmungen zur Realität irgendwelcher Begriffe von Endlichem ist nicht dasjenige einer Einschränkung, sondern eines der Berichti­

gung. Soweit der Unterschied zwischen Kant und Hegel. Be­

züglich der Gründe für Hegels Abweichung von Kant ist zum einen darauf aufmerksam zu machen, dass Kant selbst den Vernunftbegriffen die Funktion der Berichtigung — ja sogar Zensur (B 668) unserer Vernunft zugeschrieben hat. Zum an­

deren aber hat Kant in seinem Alterswerk ausdrücklich fest­

gehalten:

D i e E i n t e i l u n g in G o t t u n d W e l t ist n i c h t a n a l y t i s c h ( l o g i s c h ) , son­

d e r n s y n t h e t i s c h , d.i. d u r c h R e a l o p p o s i t i o n (op. post. I, 2 2 ) .

Gegen Kants Auffassung von Vernunftbegriffen gehalten möchte man sich da natürlich fragen: Was soll hier eingeteilt sein? Nicht so bei Hegel. Und: Wenn man diesem einmal den Gedanken zubilligt, in der Idee müsse die begriffliche Be­

stimmtheit von Begriffen des Unendlichen und des Endlichen vereinigt sein, so ist aus dem Kantischen Konzept einer syn­

thetischen Einteilung in Gott und Welt immerhin ein Argu­

ment zugunsten des Hegeischen Versuchs zu machen, den

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Hegels Dialektik 289

begrifflichen Gehalt der — gegenüber dem Unterschied von G o t t u n d Welt i n d i f f e r e n t g e m a c h t e n — Idee d u r c h Bestim­

m u n g e n zu strukturieren, die in so etwas wie einem Verhält­

nis der R e a l o p p o s i t i o n stehen,

b) Hegel d e n k t nicht nur, dass die Beziehungen zwischen paar­

weise a u f t r e t e n d e n B e s t i m m u n g e n , die den Gehalt der Idee bilden, Beziehungen einer O p p o s i t i o n sind, die n i c h t d u r c h die logische O p e r a t i o n der Negation gebildet ist; sondern er b e h a u p t e t ein nicht­analytisches Oppositionsverhältnis auch zwischen d e m Bereich dieser B e s t i m m u n g e n u n d ihrem Sub­

strat in b e z u g auf einen ihrem G e b r a u c h vorausgesetzten Ge­

genstand. Hegel m a c h t d a m i t z u m T h e m a einer begrifflichen D e u t u n g , was K a n t durchgängig a n n i m m t — sowohl in seiner U n t e r s c h e i d u n g zwischen Dingen an sich u n d Erscheinungen, als auch in seiner U n t e r s c h e i d u n g zwischen der Realität, die der Idee des h ö c h s t e n Wesens i n n e w o h n t , u n d dem Gegen­

stand dieses Begriffs, der vorausgesetzt wird. Nach der He­

gelschen D e u t u n g b e f i n d e t sich der Bereich entgegengesetzter B e s t i m m u n g e n u n d deren Substrat in einem Gegensatz sub­

stratloser, selbständiger R e f l e x i o n s b e s t i m m u n g e n . Man k a n n auch verstehen, w a r u m eine solche D e u t u n g n u n vorgenom­

m e n w e r d e n muss: Wenn es gilt, unser Selbstverständnis im theoretischen u n d praktischen Verhalten zur Einheit zu brin­

gen, o b w o h l V e r n u n f t b e g r i f f e im t h e o r e t i s c h e n Verhalten keine objektive Realität besitzen, w o h l aber im p r a k t i s c h e n Verhalten, w e n n es sich aus reiner V e r n u n f t b e s t i m m t , d a n n k a n n m a n das Verhältnis der V e r n u n f t b e g r i f f e zu d e m ihrem G e b r a u c h vorausgesetzten Gegenstand nicht so begrifflich u n g e d e u t e t lassen, wie K a n t es tat.

4. Michael Wolff h a t in seiner aufschlussreichen Studie ü b e r den Begriff des Widerspruchs gezeigt, wie Hegel vom Begriff solch substratloser, selbständiger Entgegengesetzter zur E i n f ü h r u n g eines n e u e n K o n z e p t s von Widerspruch k o m m t u n d zur These, dass dieser Widerspruch sich auflöse; dass der Widerspruch dabei aber nicht — wie der analytische Widerspruch in Kants Ver­

ständnis — ein Ding, dessen B e s t i m m u n g e n er a n h a f t e , ins nihil negativum a u f h e b e ; sondern dass er in einen G r u n d zurückgehe u n d dass dieser G r u n d nicht bloss gedacht w e r d e n k a n n als

(26)

Ergebnis der A u f h e b u n g von Folgen jener Bestimmungen, die in R e a l o p p o s i t i o n stehen, u n d als nichts sonst. Man mag in Wolffs Studie nachlesen, wieviel von K a n t in dieser K o n z e p t i o n verarbeitet ist. Wichtig in m e i n e m Z u s a m m e n h a n g ist — über das von Michael Wolff A u s g e f ü h r t e hinaus —, dass der G r u n d , in den die den Widerspruch bildende B e s t i m m u n g zurückgeht, ein neues Substrat f ü r weitere Gegensatzpaare abgibt, so dass die paarweisen B e s t i m m u n g e n , die d e n begrifflichen Gehalt der Idee a u s m a c h e n , n u n eine lineare A n o r d n u n g erhalten. N i m m t m a n zusätzlich an, dass die so a n g e o r d n e t e n Bestimmungen in einer d u r c h sie selbst festgelegten R i c h t u n g zu d e n k e n sind, so mag m a n auch sagen, dass die V e r n u n f t sich selbst setzt, indem die a u f e i n a n d e r f o l g e n d e n B e s t i m m u n g e n einen Prozess bilden, der den Inhalt der V e r n u n f t b e s t i m m t . Dieser s t u f e n f ö r m i g e Prozess dauert so lange, bis sich ein G r u n d herstellt, der zugleich das S u b j e k t der B e s t i m m u n g e n ist.

5. N u n zeichnet sich vielleicht d o c h ein Stück eines Wegs z u m He­

gelschen Verständnis von Dialektik als Bewegungsprinzip ab.

D o c h ehe ich dieses S t ü c k n o c h ins Auge fasse, m ö c h t e ich auf einen P u n k t a u f m e r k s a m m a c h e n , der — vielleicht überraschen­

derweise — nicht auf diesem Weg liegt. Man ist geneigt, w e n n m a n sich mit Hegels Verständnis u n d Verarbeitung der Kanti­

schen transzendentalen Dialektik befasst, zuerst an die Anti­

thetik der reinen V e r n u n f t zu d e n k e n — also an die sogenannten vier kosmologischen A n t i n o m i e n . Ich h a b e selbst lange versucht, mir durch Beschäftigung d a m i t ein besseres Veständnis der He­

gelschen A u f f a s s u n g von Dialektik zu verschaffen. Inzwischen glaube ich einzusehen, w a r u m das ein vergebliches B e m ü h e n war. K a n t ist der Auffassung, eigentlich gebe es f ü r die reine V e r n u n f t gar keine A n t i t h e t i k (A 743). So ist es in einem gewis­

sen Sinn auch f ü r Hegel. Der Sinn von Widerspruch, von dem Hegel m e i n t , er sei allen Dingen wesentlich, ist j a weder der ana­

lytische, n o c h der auf Kants dialektischer Opposition b e r u h e n d e , scheinbar unvermeidliche Widerspruch. Zugleich aber verallge­

meinert Hegel Kants A u f f a s s u n g von den k o n t i n g e n t e n Bedin­

gungen, u n t e r denen es zu einer A n t i t h e t i k k o m m t ; u n d zwar in einer Wreise, die m a n nicht aus der Lehre der V e r n u n f t a n t i t h e t i k , sondern n u r aus der Hegeischen V e r w a n d l u n g des Begriffs vom

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