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Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart

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Deutsche

Literaturgeschichte

Von den Anfängen bis zur Gegenwart

9. Auflage

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Deutsche

Literaturgeschichte

Von den Anfängen bis zur Gegenwart

Von

Wolfgang Beutin, Matthias Beilein, Klaus Ehlert (†), Wolfgang Emmerich, Christine Kanz, Bernd Lutz, Volker Meid, Michael Opitz, Carola Opitz-Wiemers, Ralf Schnell, Peter Stein und Inge Stephan

Neunte, aktualisierte und erweiterte Aufl age Mit 563 Abbildungen

J.B. Metzler

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ISBN 978-3-476-04952-0 ISBN 978-3-476-04953-7 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-476-04953-7

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografi e; detaillierte bibliografi sche Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

J.B. Metzler

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Einbandgestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart (Foto: akg-images)

J.B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature

Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

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Aufklärung

Was ist politisch und gesellschaftlich neu?

Zu Recht ist das 18. Jahrhundert von den Zeitgenossen und später von Histori- kern als eine Epochenwende und als Beginn der modernen Zeit empfunden wor- den. Das deutsche Reich war seit dem Dreißigjährigen Krieg in eine Vielzahl von kleinen und kleinsten Territorien zersplittert und ähnelte mehr einem »Mons- trum« (S. Pufendorf) als einem modernen Staat. Neben über dreihundert souve- ränen Territorien gab es eine Fülle von halbautonomen Gebieten und Städten, die eine kaum zu entwirrende Parzellierung des Reichsgebietes bewirkt hatten. Die Reichsgewalt des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation – so der offi ziel- le Titel – lag zwar bis zum Jahr 1806 beim deutschen Kaiser, sie war aber auf ganz wenige Rechte beschränkt und hatte eine mehr symbolische Bedeutung. Die wichtigen politischen Entscheidungen lagen bei den einzelnen Territorialstaaten, die ihre Gesetzgebung, Gerichtsbarkeit, Landesverteidigung, Polizeigewalt (ein- schließlich der Zensur) usw. unabhängig von der Reichsgewalt ausübten. Das Reich war wenig mehr als eine ›formelle Klammer‹, die das »Monstrum« nur mühsam zusammenhielt. Es gab kaum einen zeitgenössischen Schriftsteller, der sich nicht über die ›Quadratmeilen-Monarchen und Miniaturhöfe‹ lustig machte und nicht die ›Gräuel der deutschen Vielherrschaft‹ beklagte. Man kann das System von kleinen und kleinsten Fürstentümern eigentlich nur als eine Duodez- groteske bezeichnen, die – das sollte man nicht vergessen – zu Lasten der Be- völkerung ging. Die unzähligen Miniaturpotentaten konnten ihre aufwendige Hofhaltung nur durch die rücksichtslose Auspressung ihrer Untertanen aufrecht- erhalten. Tatsächlich waren die Lebensbedingungen der Bevölkerung mehr als dürftig. Bedrückt von feudalen Lasten und fürstlicher Willkür, besaßen die Bau- ern, die zum großen Teil noch Leibeigene ihres jeweiligen Herrn waren, kaum mehr als das Lebensnotwendige, oft sogar, wenn Missernten dazu kamen, noch weniger. Es ist ein düsteres Bild, das man vom 18. Jahrhundert gewinnt, wenn man sich die Lebensbedingungen der Unterschichten, die über zwei Drittel der Gesamtbevölkerung ausmachten, vergegenwärtigt. Auch in den großen Staaten wie Preußen oder Sachsen sah es nicht viel besser aus. Das Bild der ›guten alten Zeit‹ zerrinnt angesichts der von der historischen Forschung erarbeiteten Daten und Fakten zur Misere im damaligen Deutschland.

Woher nehmen die Historiker die Rechtfertigung, dennoch vom Anbruch der modernen Zeit zu sprechen? Wenn man die Lage der Unterschichten isoliert von der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung betrachtet, übersieht man leicht, dass sich im Schoß der feudalen Gesellschaft neue ökonomische Kräfte regten und sich eine neue soziale Schicht herausbildete, die die Moderne prägen sollte: das

Das deutsche Reich – ein Monstrum

Wirtschaft und Gesellschaft

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Handel treibende und Kapital besitzende Bürgertum, das sich vor allem in den Städten entwickelte. Zwar war dieses Bürgertum noch schwach und zahlenmäßig klein, aber es machte doch deutlich, dass der Feudalismus sich zu zersetzen be- gann. Die Kräfteverschiebungen im Verhältnis der einzelnen Stände zueinander brachten Spannungen in die seit dem Mittelalter hierarchisch gegliederte Stände- pyramide, die zur Aufl ösung der Ständegesellschaft und zur Herausbildung der bürgerlich-egalitären Gesellschaft führen sollten. Im 18. Jahrhundert zeigten sich diese Spannungen vor allem als Konfrontation zwischen Adel und Bürgertum.

Die Bürger waren nicht länger gewillt, die politische und kulturelle Vorherrschaft des Adels, der nur einen verschwindend kleinen Bruchteil der Gesamtbevölke- rung ausmachte, als gottgegeben und unveränderlich hinzunehmen. Sie melde- ten ihren eigenen Souveränitätsanspruch an. Berufen konnten sie sich dabei auf die Aufklärung, die das feudale Weltbild ›von Gottes Gnaden‹ durch ein neues, sich auf Vernunft gründendes Denken ersetzen wollte. Die Aufklärung war eine gesamteuropäische Bewegung, die von ihren einzelnen Vertretern unterschiedlich defi niert wurde. Ihre Grundsätze: Berufung auf die Vernunft als Maßstab des persönlichen und gesellschaftlichen Handelns, Hinwendung zum Diesseits, posi- tives Menschenbild, Gleichheit aller Menschen, Einforderung der Menschenrech- te für alle Menschen, Religionskritik, Fortschrittsglauben griffen auf Deutschland zwar erst relativ spät über, wurden aber auch hier zu einem zusammenhängen- den Gedankengebäude, auf das das Bürgertum seinen Emanzipationsanspruch gründete.

Die Öff entlichkeit verändert sich

Der freie Schriftsteller meldet sich zu Wort Der literarische Markt entsteht

Die höfi sch geprägte Literatur des 17. Jahrhunderts war durch Volksferne und extreme Künstlichkeit gekennzeichnet. Als Hofdichtung war sie zu einem steri- len, funktionslosen Gebilde erstarrt. Die dramatischen ›Haupt- und Staatsaktio- nen‹, die verwirrenden Schäfer- und Heldenromane und die schwülstigen eroti- schen Gedichte sprachen immer weniger Leser und Zuschauer an. Zudem fanden immer mehr Fürsten ihre Hofpoeten entbehrlich. Der letzte preußische Hofdich- ter wurde 1713 bei Regierungsantritt Friedrich Wilhelms I. im Zuge von Sparmaß- nahmen entlassen. Die Ablösung von der höfi schen Dichtung vollzog sich zu- meist in den großen reichsunmittelbaren Handelsstädten, die sich zu kulturellen Konkurrenten der Höfe entwickelten und eine eigenständige Literaturgesellschaft ausbildeten. So gab es in Leipzig schon sehr früh ein städtisches Theater, in Ham- burg sogar eine städtische Oper. An die Stelle des fürstlichen Mäzens traten hier und da bürgerliche Geldgeber, wie z. B. in Hamburg die »Patriotische Gesell- schaft«, die bei Autoren literarische Werke in Auftrag gab. Nicht mehr das Lob des Fürsten und die Unterhaltung der höfi schen Gesellschaft, sondern die Würdigung bürgerlichen Lebens und die Aufklärung des bürgerlichen Lesers waren Gegen- stand und Ziel der neuen Dichtung. Dieser Adressaten- und Funktionswandel der Dichtung vollzog sich unter großen Schwierigkeiten, da es ein breites Lesepubli- kum zu der Zeit noch gar nicht gab. Die große Masse der Bevölkerung konnte am Anfang des 18. Jahrhunderts weder lesen noch schreiben, und die wenigen Bür- Hofpoeten und

Analphabeten

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Die Öff entlichkeit verändert sich  153

ger, die alphabetisiert waren, beschränkten ihre Lektüre auf die Bibel und religi- öse Erbauungsschriften. Noch um 1770 machte der Kreis derjenigen, die lesen konnten, höchstens 15 % der Gesamtbevölkerung aus und erreichte erst um 1800 etwa 25 %. Die Gruppe derjenigen, die sich für schöne Literatur interessierten, war natürlich noch kleiner. So rechnete Jean Paul Ende des Jahrhunderts mit ei- nem Publikum von 300 000 Lesern und griff damit sicherlich zu hoch. Tatsächlich dürften nicht mehr als 1 % der Gesamtbevölkerung von 25 Millionen Einwohnern Leserinnen und Leser schöner Literatur gewesen sein. Ein breites Lesepublikum und eine literarisch interessierte Öffentlichkeit mussten also erst geschaffen wer- den.

Hierbei spielten die Moralischen Wochenschriften eine große Rolle. Zeitschrif- ten wie Der Biedermann, Der Patriot und Die vernünftigen Tadlerinnen, die nach englischem Vorbild in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstanden, haben eine wichtige Funktion für die Herausbildung einer bürgerlichen Öffentlichkeit gehabt. Die Moralischen Wochenschriften, in ihrer räsonierenden und informie- renden Form selbst ein Produkt der Aufklärung, setzten sich die Popularisierung aufklärerischen Gedankenguts zum Ziel. Damit wurden sie zu einem wichtigen Bindeglied zwischen höfi scher und bürgerlicher Gesellschaft. Durch ihre kurzen populärwissenschaftlichen Abhandlungen, ihre moralphilosophischen Erörterun- gen und Untersuchungen, ihre neue literarische Verfahrens- und Vermittlungs- weise weckten sie die Aufnahmebereitschaft des Publikums für neue Inhalte und Formen, erschlossen breitere Leserschichten und schufen auf diese Weise erst die

Moralische Wochen- schriften

Geistliche Unterweisung von Analphabeten – Bänkelsänger und Lumpenproletariat auf dem Jahrmarkt

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Voraussetzungen für literarische Bildung und das Entstehen eines literarischen Marktes. Entscheidend gefördert wurde die Entwicklung bürgerlicher Öffentlich- keit durch die Lesegesellschaften. Während die Lesezirkel, die es seit dem Ende des 17. Jahrhunderts in Deutschland gab, der Verbilligung der Lektüre von Zei- tungen, Zeitschriften und Büchern dienten, verstanden sich die Lesegesellschaf- ten als Geselligkeitskreise, in denen private Lektüre einen gesellschaftlichen Rang erhielt. Die große Zahl von Lesegemeinschaften – zwischen 1760 und 1800 wur- den rund 430 solcher Vereinigungen gegründet – zeigt, wie groß das gesell- schaftliche Bedürfnis nach Lektüre und Diskussion darüber war. Die meisten Lesegesellschaften fühlten sich der Aufklärung verpfl ichtet. Ihre aufklärerische Zielsetzung spiegelt sich sowohl in der Lektüreauswahl als auch in den Organisa- tionsstatuten, die die Selbstverwaltung nach demokratischen Prinzipien regelten.

Zutritt zu den Lesegesellschaften hatte prinzipiell jeder Mann von Bildung und Geschmack (Frauen und Studenten waren ausgenommen), doch wurde durch die hohen Mitgliedsbeiträge der Kreis auf wohlhabende Bürger und Adlige be- schränkt. Kleinbürger und die Unterschichten blieben ausgeschlossen und wa- ren – soweit sie lesen konnten – auf die Leihbibliotheken angewiesen, die es aber erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts in nennenswerter Zahl gab. Diese Leihbi- bliotheken markieren zusammen mit den kommerziellen Bibliotheken, die eben- falls erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts gegründet wurden, einen vorläufi gen Endpunkt der gesellschaftlichen Lektüre. Sie schließen die erste Entwicklungs- phase bürgerlicher Öffentlichkeit ab und schaffen die Voraussetzungen für eine Reprivatisierung des Lesens.

Die Abkehr von der höfi sch verankerten Dichtung bewirkte nicht nur einen

»Strukturwandel der Öffentlichkeit« (J. Habermas), sondern sie hatte auch für die Situation des Schriftstellers Konsequenzen. Das Zeitalter des besoldeten Hofdich- ters ging zu Ende; an seine Stelle trat der freie Schriftsteller, der von seiner dich- Lesegesellschaften

Leihbibliotheken

Strukturwandel der Öffentlichkeit Jahrmarkt zu Plunders- weilern oder Die Große Buchhändlermesse

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Die Öff entlichkeit verändert sich  155

terischen Arbeit zu leben versuchte. Dem Vorteil der ›freien‹ Schriftstellerexis- tenz – geistige Unabhängigkeit von fürstlichen und geistlichen Geldgebern – stand ein großer Nachteil gegenüber: die Unsicherheit des Einkommens. Kaum ein Schriftsteller im 18. Jahrhundert konnte angesichts der geringen Aufl agenhöhe und der niedrigen Honorare vom Ertrag seiner Arbeiten leben. Für das Werk eines prominenten Autors galt eine Aufl age von 1000 bis 3000 Exemplaren als normal.

Lessing hatte 1779 für seinen Nathan 2000 Subskribenten, von Klopstocks Ge- lehrtenrepublik wurden gar 6000 Exemplare gedruckt, Goethes Schriften wurden 1787–90 in einer Aufl age von 4000 Exemplaren herausgebracht. Auch Zeitungen und Zeitschriften erreichten nur eine geringe Aufl agenhöhe. Wielands Teutscher Merkur, eine der renommiertesten Zeitschriften des 18. Jahrhunderts, wurde in einer Aufl age von 2000 Exemplaren gedruckt, wobei der Leserkreis natürlich sehr viel größer gewesen sein dürfte. Wirklich hohe Aufl agen erreichten populär ge- schriebene Ratgeber für die Bevölkerung, wie Beckers Noth- und Hülfsbüchlein für Bauern, von dem zwischen 1788 und 1811 über eine Million Exemplare ge- druckt und das von vielen Fürsten gezielt als antirevolutionäre Propaganda an ihre Untertanen kostenlos verteilt wurde.

Die Honorare wurden nach Bogen berechnet. Das normale Bogenhonorar lag zwischen 5 und 7 Talern. Spitzenverdiener wie Klopstock , Wieland und Lessing bekamen für einige ihrer Bücher ein Honorar, das einem Beamtenjahresgehalt entsprach. Das waren aber absolute Ausnahmen, wobei man bedenken muss, dass auch diese Spitzenverdiener nicht jedes Jahr ein Buch schrieben und infol- gedessen über längere Zeiträume von ihrem Honorar leben mussten. So mussten sich die meisten Schriftsteller, sofern sie nicht von Haus aus wohlhabend waren, nach Nebeneinkünften umsehen, sich als Hofmeister, Beamte usw. verdingen oder sich doch wieder um adlighöfi sche Gönner bemühen. Auf Grund ihrer deso- laten fi nanziellen Lage sahen sich viele Schriftsteller gezwungen, ihre Hoffnun- gen auf die Fürsten zu setzen, von denen sie materielle Unterstützung, z. T. sogar die umfassende Organisation und wirtschaftliche Fundierung der Literatur erwar- teten. So arbeiteten Wieland , Klopstock und Herder detaillierte Pläne aus, in de- nen die Förderung der Literatur und der Autoren von gemeinnützigen Anstalten, so genannten Akademien, übernommen werden sollte. Diese wiederum sollten von Fürsten protegiert und fi nanziert werden. Tatsächlich ist keiner dieser Pläne jemals realisiert worden. Die Fürsten zeigten sich uninteressiert. Nur einige wenige Schriftsteller – so z. B. Klopstock – erhielten von fürstlichen Gönnern eine Pension, ohne dafür direkte Dienstleistungen erbringen zu müssen, wie dies z. B. Wieland und Goethe in Weimar als Prinzenerzieher und Fürstenberater tun mussten. Andere sahen sich gezwungen, einen Broterwerb anzunehmen, und konnten nur in ihrer kärglich bemessenen Freizeit schreiben. Wieder andere ver- suchten, als Herausgeber von Zeitschriften und durch journalistische Arbeiten ihre fi nanzielle Lage zu verbessern.

Eingeengt wurde die neue Freiheit des Schriftstellers aber nicht nur durch sei- ne ungesicherte wirtschaftliche Lage, sondern auch durch ganz handfeste Repres- sion, nämlich durch die in den meisten deutschen Staaten herrschende Zensur.

Ein Mitglied der Wiener Bücherkommission, die über die Zensur in Österreich wachte, defi nierte 1761 die Zensur als »die Aufsicht, daß sowohl im Lande keine gefährlichen und schädlichen Bücher gedrucket, als auch, daß dergleichen Bü- cher nicht aus andern Landen eingeführet und verkaufet werden«, und wollte nur solche Bücher gedruckt sehen, die »nichts Gefährliches vor die Religion, nichts zu offenen Verderb der Sitten, und nichts wider die Ruhe des Staats, und

Honorare

Mäzenatentum

Zensur

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wider die, denen Regenten schuldige, Ehrerbiethung in sich enthalten«. Wie stark die Zensur in das öffentliche Leben eingriff, zeigt die berühmt-berüchtigte Ausein- andersetzung zwischen Lessing und dem orthodoxen Pastor Goeze über die Pu- blikation religionskritischer Schriften. Der Herzog von Braunschweig hatte Les- sing ursprünglich von der Zensur befreit, nahm diese Maßnahmen aber auf Betreiben Goezes zurück: Durch mehrere herzögliche Erlasse wurde es Lessing verboten, seine religionskritischen Arbeiten zu publizieren und die Auseinander- setzung mit Goeze weiterzuführen. Auch Goethes Werther wurde – hier hat sich wiederum der orthodoxe Goeze hervorgetan – in einigen Teilen Deutschlands von der Zensur verboten, ebenso Wielands Agathon , dessen Verkaufserfolg durch die Zürcher und Wiener Zensur erheblich behindert wurde. Zwar wurden die Zen- surmaßnahmen in den einzelnen Territorien sehr unterschiedlich gehandhabt – so konnte manches Buch, das in Preußen oder Sachsen nicht gedruckt werden durfte, in Hannover, Braunschweig oder Altona erscheinen –, Vertrieb und Ver- kauf der Bücher wurden aber durch das Bestehen der Zensur generell beeinträch- tigt, wobei besonders eine Folge der Zensur, nämlich die Selbstzensur des Autors beim Schreiben, eine große Belastung für die Entwicklung einer ›freien‹ Schrift- stellerexistenz war. Um obrigkeitlicher Zensur zu entgehen, sparten manche Schriftsteller anstößige Stellen oder ganze als gefährlich eingeschätzte Gedanken- gänge und Argumentationsweisen vorsichtshalber aus und nahmen die öffentli- che Zensur damit vorweg. Zum Teil nahmen sie auch Zufl ucht zur anonymen Veröffentlichung ihrer Schriften. Das Bestehen der Zensur wurde von den meis- ten Schriftstellern als ein ernstes Problem erkannt und bekämpft. Die Forderung nach »Preßfreiheit«, d. h. nach Abschaffung der Zensur, fi ndet sich bei vielen Schriftstellern der damaligen Zeit. So schrieb Wieland 1785: »Freyheit der Presse ist Angelegenheit und Interesse des ganzen Menschen-Geschlechtes. Dieser Frey- heit hauptsächlich haben wir den gegenwärtigen Grad von Erleuchtung, Kultur und Verfeinerung, dessen unser Europa sich rühmen kann, zu verdanken. Man raube uns diese Freyheit, so wird das Licht, dessen wir uns jetzt erfreuen, bald wieder verschwinden; Unwissenheit wird uns wieder dem Aberglauben und dem tyrannischen Despotismus preisgeben; die Völker werden in die scheusliche Bar- berey der fi nstern Jahrhunderte zurücksinken; wer sich dann erkühnen wird, Wahrheiten zu sagen, an deren Verheimlichung den Unterdrückern der Mensch- heit gelegen ist, wird ein Ketzer und Aufrührer heißen, und als ein Verbrecher bestraft werden.« Die politische Funktion der Zensur und der Zusammenhang zwischen Publikationsfreiheit und dem Fortschritt der Gesellschaft wurden insbe- sondere von den der Aufklärung verpfl ichteten Schriftstellern klar herausgestellt.

Trotz des Kampfes gegen die Zensur gelang es nicht, sie abzuschaffen. Im Gegen- teil: Nach 1789 kam es im Gefolge der durch die Französische Revolution her- vorgerufenen Revolutionsangst überall in Deutschland zu einer massiven Ver- schärfung der Zensur, die wie eine Vorwegnahme der Zensurmaßnahmen der Vormärzzeit anmutet.

Finanzielle Misere und Zensur waren zwei Faktoren, die die neue Freiheit des Schriftstellers einschränkten; ein dritter Faktor kam hinzu: der literarische Markt, der sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts in Deutschland herausbildete. Zwei Entwicklungen vor allem waren dafür verantwortlich. Erstens der rasche Anstieg der Buchproduktion und zweitens die sprunghafte Zunahme der Schriftsteller.

Zwischen 1740 und 1800 schwoll die jährliche Buchproduktion von 755 auf 2569 Titel an, wobei die so genannte schöne Literatur den Hauptanteil an dieser Stei- gerung hatte. Ihre Produktion wuchs absolut zwischen 1740 und 1800 um das

»Preßfreiheit«

Literarischer Markt Christoph Martin Wieland

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Die Öff entlichkeit verändert sich  157

16fache, ihr relativer Anteil an der Gesamtproduktion von 5,8 % auf 21,5 %. 1766 gab es zwischen 2000 bis 3000 Autoren, 1800 waren es schon über 10 000, von denen 1000 bis 3000 hauptsächlich oder ausschließlich vom Ertrag ihrer schrift- stellerischen Arbeit zu leben versuchten. Die rasche Steigerung der Bücherzahlen machte es notwendig, die Buchproduktion und deren Vertrieb nach marktwirt- schaftlichen Gesichtspunkten zu organisieren. An die Stelle des nach den Geset- zen des Tauschhandels organisierten Buchhandels – der Tauschhandel war von 1564 bis 1764 die vorrangige buchhändlerische Verkehrsform – traten das moder- ne Verlagswesen und der moderne Buchhandel. Diese beruhten auf Barzahlung und Kommissionsverkehr, wodurch ein gewinnorientiertes Handeln Einzug hielt, das zu tief greifenden Veränderungen des literarischen Marktes führte. Verlag und Sortiment, bislang in der Person des Verleger-Sortimenters zusammengefasst, trennten und spezialisierten sich unabhängig voneinander auf die Herstellung bzw. den Vertrieb. Das war die Geburtsstunde des neuzeitlichen Verlegers und Buchhändlers. Erstmals gab es feste Preise. Bücher wurden nun nicht mehr nur einmal im Jahr auf Messen angeboten, sondern konnten auch während des Jah- res über den Buchhändler bezogen werden. Das war von großem Vorteil für die Käufer, die jetzt das Buch wie jede andere Ware ständig kaufen konnten.

Die Expansion und Organisation des literarischen Marktes nach den Gesetzen der Warenproduktion hatten Konsequenzen für die Situation des Autors, sein Selbstverständnis und seine literarische Produktion. Die Schriftsteller mussten sich, wie ein Betroffener bitter beklagte, »in manche Verhältnisse der bürgerli- chen Gesellschaft fügen, die ihnen wehe thun«. Dazu gehörte vor allem die An- passung an den Markt und den literarischen Geschmack des Publikums. Literatur wurde, wie schon die Zeitgenossen klar erkannten, zur »Kaufmannswaare«, der Schriftsteller zum »Lohnschreiber«. Die Abstufungen der wirtschaftlichen Stel- lung des Schriftstellers reichten dabei vom verlagsabhängigen Lohnarbeiter bis zum selbständigen Warenproduzenten. Nicolai berichtet in seinem Roman Sebal-

Selbstverständnis des Autors

Jährlich zu erneuerndes Privileg an die Buch- händler J. B. Metzler und J. G. Cotta – Titelblatt.

Das Dekret links beleuch- tet die Risiken und die Abhängigkeit der Verlage von obrigkeitlicher Zensur.

Mit prachtvoll gestalteten Fürstengenealogien (rechts) erwies der Ver- lag J. B. Metzler seine Reverenz gegenüber der landesherrlichen Obrigkeit in Württemberg.

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dus Nothanker von einem Verleger, »der in seinem Hause an einem langen Tische zehn bis zwölf Autoren sitzen hat und jedem sein Pensum fürs Tagelohn abzuar- beiten gibt«. Renommierte Autoren wie Schiller und Goethe konnten ihren Verle- gern selbstbewusster gegenübertreten. So handelte Schiller mit seinem Verleger eine feste Unterhaltssumme gegen die Abgabe einer ganzen Jahresproduktion aus, Goethe bot seinem Verleger die fertigen Produkte zum Kauf an. Die Abhän- gigkeit vom Verleger wurde allgemein als negativ empfunden und häufi g bitter beklagt. »Was wird denn aus unserer Literatur werden, wenn sich die Autoren so nach dem Willen der Buchhändler bequemen sollen?«, fragte sich manch ein Schriftsteller besorgt. So machten Lessing (Leben und leben lassen. Ein Projekt für Schriftsteller und Buchhändler, ca. 1772–1779, gedr. 1800) und Wieland (Grund- sätze, woraus das mercantilische Verhältnis zwischen Schriftsteller und Verleger bestimmt wird, 1791) Versuche, das Verhältnis zwischen Autoren und Verlegern so zu regeln, dass es nicht einseitig zu Lasten der Autoren ging. Andere Autoren, wie z. B. Klopstock , versuchten, die unliebsame Vermittlungsinstanz des Verlags- wesens ganz zu umgehen und boten ihre Bücher im Selbstverlag an. Dass ein solches Verfahren zur damaligen Zeit bereits anachronistisch war, zeigt der Ban- krott der Dessauer Gelehrtenbuchhandlung, die 1781 von mitteldeutschen Auto- ren als genossenschaftliches Verlagsunternehmen gegründet worden war. Aber auch die Versuche, sich über Subskription und Pränumeration vom Verleger un- abhängig zu machen, scheiterten; denn, so beklagte ein Zeitgenosse, »das Her- ausgeben der Bücher auf Subskription und Pränumeration hat tausend Beschwer- lichkeiten, die man sich vorher nicht hat träumen lassen, und am Ende gewinnt der Verfasser selten so viel, als ihm ein Verleger gegeben haben würde«.

Als besonders gravierend empfanden die Autoren, dass sie nicht Eigentümer ihrer Schriften waren; die Eigentumsrechte lagen vielmehr bei den Verlegern, die mit den Manuskripten willkürlich umgehen konnten. Akut wurde die Frage des geistigen Eigentums durch das Nachdruckunwesen. Ohne Rücksicht auf Autoren- und Verlegerrechte druckten fi ndige Buchhändler beliebte und gefragte Bücher für ihre eigene Tasche nach und schmälerten damit dem ursprünglichen Verleger und mittelbar auch dem Autor die fi nanziellen Einnahmen. Erst 1837 (Preußen) bzw. 1845 wurde durch Beschluss des Deutschen Bundes der willkürliche Nach- druck durch gesetzliche Regelungen unterbunden. Die Diskussion über den Schutz des geistigen Eigentums bzw. des Urheberrechts dauerte aber noch bis 1870/71 an. Im 18. Jahrhundert lebte der einzelne Schriftsteller also in einer rechtlich noch völlig ungesicherten Situation und war den Gesetzen des Marktes schutzlos ausgeliefert. Erschwerend kam der starke Konkurrenzdruck unter den Autoren hinzu. Auf dem literarischen Markt überleben konnten nur die Autoren, denen es gelang, sich weitgehend dem Publikumsgeschmack anzupassen, oder solche Autoren, deren Werke durch Originalität in Inhalt und Form das Interesse der literarischen Kenner spontan auf sich ziehen konnten. Die Auffassung bzw.

Propagierung des Dichters als ›Originalgenie‹ hat darin einen guten Grund.

Abhängigkeit vom Verleger

Urheberrecht

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Die aufklärerischen Literaturtheorien  159

Die aufklärerischen Literaturtheorien von Gottsched über Lessing

bis zum Sturm und Drang

Das Ende des höfi schen Dichters bedeutete auch das Ende der höfi schen Litera- tur. An deren Stelle trat eine neue Literatur, die die zentralen Kategorien der Aufklärung, Vernunft, Nützlichkeit und Humanität, auf alle Gattungen der Litera- tur zu übertragen versuchte. Johann Christoph Gottsched (1700–1766) war der erste, der die längst fällige Neuorientierung theoretisch und praktisch vollzog und wegweisend für die Entstehung der neuen Literatur wurde. In seinem bedeuten- den theoretischen Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen (1730) brach er mit den formalistischen, noch in der feudalen Gesellschaft verwurzelten Regel- und Anweisungspoetiken des Barock, verurteilte die Barockdichtung vom aufklärerischen Standpunkt aus und forderte eine Literatur, die aufklärerische Ideen auf gemeinverständliche und angenehme Weise vermitteln, Nutzen und Vergnügen (»prodesse et delectare«) verbinden und breite bürgerliche Bevölke- rungsschichten erreichen sollte. Im Mittelpunkt von Gottscheds Poetik stand der aristotelische Grundsatz von der Nachahmung der Natur und die horazische For- derung, wonach »prodesse et delectare« die Aufgaben der Dichtung seien. Die Regeln der Vernunft waren für Gottsched gleichbedeutend mit den Gesetzen der Natur. Infolgedessen war für ihn Regeltreue identisch mit Naturnachahmung.

Dabei verstand Gottsched unter Naturnachahmung keine realistische Wirklich- keitswiedergabe, sondern die »Ähnlichkeit des Erdichteten mit dem, was wirklich zu geschehen pfl egt«. Mit diesem Wahrscheinlichkeitsprinzip begründete Gott- sched auch seine Forderung nach der strengen Einhaltung der aristotelischen drei Einheiten (Zeit, Ort, Handlung) im Drama, die Lessing wenige Jahre später vehe- ment kritisierte. Auch den dichterischen Schaffensprozess wollte Gottsched nach den Regeln der Vernunft organisieren: »Zu allererst wähle man sich einen lehrrei- chen moralischen Satz, der in dem ganzen Gedichte zum Grunde liegen soll, nach Beschaffenheit der Absichten, die man sich zu erlangen vorgenommen.

Hierzu ersinne man sich eine allgemeine Begebenheit, worin eine Handlung vor- kömmt, daran dieser erwählte Lehrsatz sehr augenscheinlich in die Sinne fällt.«

Nicht weniger bedeutsam war die gottschedsche Zementierung der so genannten Ständeklausel, wonach in der Tragödie, in Staatsromanen und Heldengedichten nur Fürsten und Adlige als Handelnde auftreten sollten, in der Komödie, in Schä- fergedichten und Romanen dagegen nur Bürger und Landleute. Die moralpädago- gische Indienstnahme der Dichtung hatte auch Konsequenzen für die Stellung des Dichters. Dieser wurde zum Lehrmeister und Erzieher des Publikums und damit in seiner Bedeutung moralisch und intellektuell aufgewertet, zugleich aber auch in seinem künstlerischen Spielraum beschränkt.

So bedeutsam und bahnbrechend Gottscheds rastlose Bemühungen auf den Gebieten des Journalismus, des Dramas und der Poetik auch gewesen sind, so zeigten sich schon früh die Grenzen seiner Auffassungen. Die mechanistische Ansicht vom Schaffensprozess des Dichtens, die einengende Vorstellung von wirklichkeitsgetreuer Nachahmung der Natur, das starre Beharren auf der Einhal- tung der drei Einheiten und der Ständeklausel erwiesen sich als hinderlich für die Entwicklung einer neuen bürgerlichen Literatur und wurden von den Zeitgenos- sen frühzeitig kritisiert. Der wichtigste Kritiker der gottschedschen Literaturtheo-

Gottscheds Reform Titelblatt von 1730

Gottsched und Gottschedin

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rie und -praxis war Lessing (1729–1781). In seinem Briefwechsel mit Mendelssohn und Nicolai über das Trauerspiel (1756/57) setzte er sich sowohl von den drei Einheiten und der Ständeklausel als auch vom mechanischen Nachahmungsprin- zip und der moraldidaktischen Funktionalisierung der Dichtung bei Gottsched ab, ohne dabei freilich mit dem aufklärerischen Anspruch zu brechen. Innerhalb der Aufklärungsbewegung vertrat Gottsched einen Standpunkt, der von Zuge- ständnissen an die feudale Gedankenwelt noch nicht ganz frei war, während Lessing eine Position einnahm, mit der die feudale Literaturtheorie und -praxis in Deutschland endgültig überwunden wurde. Er konnte sich dabei auf Entwicklun- gen im literarischen Bereich stützen, die in Frankreich zur Ausbildung des bür- gerlichen Lustspiels (von Gegnern verächtlich als »weinerliches Lustspiel« be- zeichnet) und in England zur Ausbildung der bürgerlichen Tragödie geführt hatten.

In den Dramen der Franzosen und Engländer fand Lessing die Aufhebung der alten feudalen Ständeklausel, die das erwachende bürgerliche Selbstgefühl belei- digte, bereits in dichterische Praxis umgesetzt: Der Bürger war tragödienfähig geworden. Lessing überwand die feudale Ständeklausel dadurch, dass er den Menschen abgelöst von seiner ständischen Gebundenheit zum Handelnden ma- chen wollte: »Die Namen von Fürsten und Helden können einem Stück Pomp und Majestät geben; aber zur Rührung tragen sie nichts bei. Das Unglück derje- nigen, deren Umstände den unsrigen am nächsten kommen, muß natürlicherwei- se am tiefsten in unsre Seele dringen; und wenn wir mit Königen Mitleiden ha- ben, so haben wir es mit ihnen als mit Menschen und nicht als mit Königen.«

Diese Berufung Lessings auf das Menschliche hing eng zusammen mit seinem Bemühen um eine neue, differenzierte Funktionsbestimmung der Literatur. Nicht moralische Belehrung im gottschedschen Sinne, sondern sittliche Läuterung woll- te Lessing erreichen. Ziel der Tragödie war es, Furcht und Mitleid beim Zuschau- er bzw. Leser zu erregen. Durch Furcht und Mitleid sollte die Tragödie zur Reini- gung der Leidenschaften (Katharsis) führen. Der Zuschauer sollte sich mit dem Helden identifi zieren, bei seinem Unglück Mitleid empfi nden und zugleich von der Furcht ergriffen werden, das gleiche Unglück könne auch ihn treffen. Eine solche Absicht war nur zu verwirklichen, wenn der Held keine idealtypisch ge- zeichnete Person im gottschedschen Sinne war; er musste eine realistische Figur abgeben, einen »gemischten Charakter«, d. h. einen Menschen, der »weder nur gut noch völlig böse angelegt« war. Dieser psychologische Realismus Lessings wird an seinem Begriff der poetischen Nachahmung deutlich. Der Dichter soll die Dinge nicht naturalistisch wiedergeben, sein Ziel soll vielmehr die poetische Wahrheit sein. Diese wird erreicht, wenn der Dichter alles Unwichtige, Zufällige und Nebensächliche weglässt und sich ganz darauf konzentriert, das Wesentliche und Typische wiederzugeben. »Auf dem Theater sollen wir nicht lernen, was dieser oder jener einzelne Mensch getan hat, sondern was ein jeder Mensch von einem gewissen Charakter unter gewissen Umständen tun werde.«

Lessings Funktionsbestimmung der Literatur eröffnete neue künstlerische Möglichkeiten. Das Prinzip der poetischen Nachahmung, das er gegen das Prin- zip der Nachahmung der Natur setzte, machte eine künstlerische Gestaltung im modernen Sinne überhaupt erst möglich. Zugleich bedeutete die lessingsche Funktionsbestimmung auch eine Aufwertung des Dichters, der erstmals als künstlerisches Subjekt begriffen und legitimiert wurde. Nicht minder bedeutsam als seine Leistungen als Theoretiker, die am deutlichsten in seiner Schrift Laoko- on oder über die Grenzen der Malerei und Poesie (1766) – einer bahnbrechenden Nachahmung der Natur

Titelblatt von 1768

Entlassung der Dienstmagd wegen eines Fehltritts

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Die aufklärerischen Literaturtheorien  161

Arbeit über das Verhältnis der verschiedenen Künste zueinander – zutage treten, war Lessings Tätigkeit als Kritiker. Seine kritischen Schriften Briefe, die neueste Literatur betreffend (1759), die er mit seinen Freunden Nicolai und Mendelssohn herausgab, und die Hamburgische Dramaturgie (1767–69), in der er die in Ham- burg aufgeführten Dramen besprach, sind Muster einer »produktiven Kritik«, wie der Romantiker Friedrich Schlegel noch Jahrzehnte später lobend hervorhob. Mit Lessings literaturkritischen Arbeiten setzten eine neue Ära der literarischen Aus- einandersetzung in Deutschland und ein Aufschwung des literarischen Lebens insgesamt ein.

Viele Gedanken Lessings waren zukunftweisend. Insbesondere seine Ableh- nung einer normativen Poetik im gottschedschen Sinne, sein Konzept der poeti- schen Wahrheit und die damit verbundene differenzierte Realismusauffassung, die dem Dichter einen schöpferischen Spielraum ließ, wurden für die nachwach- sende Autorengeneration wichtig. Vor allem die Stürmer und Dränger, eine Grup- pe von jungen Dichtern, die ihren Namen von Klingers Drama Sturm und Drang (1776) herleiteten, griffen lessingsches Gedankengut auf und verbanden es mit eigenen Anschauungen zu einer neuen Konzeption von Literatur. Nicht mehr die Regelpoetik, sondern das Genie, d. h. die schöpferische Kraft des dichterischen Individuums, stand im Mittelpunkt der neuen ästhetischen Auffassungen. Der Geniekult der Stürmer und Dränger hob den Dichter über das gewöhnliche Menschenmaß hinaus. Kunst war nicht länger erlernbar (»Schädlicher als Bey- spiele sind dem Genius Principien« – Goethe), der Künstler schöpft aus dem ihm eigenen Genie. Wesentliche Anregungen erhielt die Genieauffassung durch die Shakes peare-Rezeption. Hatte Gottsched Shakespeare noch wegen seiner Regel- losigkeit abgelehnt, so eröffnete die Entdeckung Shakespeares seit den 50er Jah- ren des 18. Jahrhunderts den Stürmern und Drängern eine neue Welt und ermög- lichte die Ablösung von der französischen klassizistischen Dichtung. In Goethes von Herder beeinfl usstem programmatischem Aufsatz »Zum Shäkespears Tag«

(1771) bricht sich die Begeisterung für den englischen Dichter und seine psycho- logische Charaktergestaltung emphatisch Bahn: »Ich erkannte, ich fühlte aufs lebhafteste meine Existenz um eine Unendlichkeit erweitert.« Shakespeare wird zum Sinnbild des genialen Dichters und zum Vorbild der eigenen dichterischen Praxis. So zeigt sich Goethe in seinem Götz von Berlichingen (1773) ebenso von Shakespeare beeinfl usst wie Klinger in seinem Drama Die Zwillinge (1776).

Die Übersteigerung des Geniekultes bei einigen Stürmern und Drängern wird auf dem Hintergrund des sich verschärfenden Konkurrenzdrucks auf dem litera- rischen Markt verständlich. Lenz hat in seinem Pandämonium Germanikum (1775, postum 1819), einer Satire auf den Literaturbetrieb seiner Zeit, die Konkur- renzsituation zwischen den Autoren in bissiger Weise zum Thema gemacht. Die Betonung des genialischen und subjektiven Moments im künstlerischen Schaf- fensprozess war nicht zuletzt eine Folgeerscheinung der wachsenden Zahl von Schriftstellern und des Konkurrenzkampfes untereinander. Genialität konnte in dieser Situation eine »Waffe im Konkurrenzkampf« und Subjektivität eine »Form der Selbstreklame« (A. Hauser) sein. Dabei dürfen negative Aspekte des Genie- kultes nicht übersehen werden. Das irrationale Element des Geniebegriffs stand in merkwürdigem, unaufgelöstem Widerspruch zum aufklärerischen Prinzip der Rationalität. Genialität, Spontaneität, Individualität, Gefühl, Empfi ndung, Natür- lichkeit und Originalität waren die Schlagworte der neuen Literaturbewegung, mit der diese sowohl gegen den normativen Anspruch Gottscheds und seiner Schüler als auch, ungeachtet der Hochschätzung von Lessings Leistungen, gegen

Sturm und Drang

Geniekult

Gotthold Ephraim Lessing

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normierende Vorstellungen Lessings und seiner Freunde Sturm liefen. Wie es falsch ist, Lessing und Gottsched als unversöhnliche Widersacher zu sehen, auch wenn sie sich selbst so verstanden, ist es falsch, den Kampf der Stürmer und Dränger gegen Gottsched und Lessing als unüberbrückbare Gegnerschaft zu ver- stehen. Mit den Stürmern und Drängern tritt die Aufklärungsbewegung, die bei Gottsched eingesetzt und in Lessing ihren Höhepunkt erreicht hatte, in eine neue Phase. Das in der frühen Aufklärungsbewegung vorherrschende, z. T. einseitig betonte Prinzip der Rationalität wurde nicht ersetzt, sondern ergänzt durch den Gefühlskult der Stürmer und Dränger. Die beiden Pole der Aufklärung, Verstand und Gefühl, wurden zu einer neuen, nicht unproblematischen Einheit zusam- mengefügt.

Dass der Sturm und Drang keine Gegenbewegung zur Aufklärung war, son- dern diese vielmehr weiterführte, bereicherte, z. T. auch radikalisierte, wird deutlich an der Literaturauffassung der Stürmer und Dränger. So verstärkte Schiller in seiner Schrift Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet (1784) die gesellschaftskritischen Momente, die bereits bei Lessing in dessen Theorie des bürgerlichen Trauerspiels und in seiner Forderung nach einem bür- gerlichen Nationaltheater vorhanden gewesen waren, wenn er von der Bühne forderte, dass sie »Schwert und Waage« übernehmen und die Laster und Verbre- chen der Mächtigen vor den »Richterstuhl« der Vernunft bringen solle. Eine sol- che Literaturauffassung veränderte auch die Rolle des Schriftstellers. Dieser wur- de zum Sachwalter der unterdrückten Vernunft und zum Kämpfer für die Rechte des Bürgertums. Realisiert werden konnte eine solche Funktionszuweisung nur durch eine Literatur, welche die aktuellen Hemmnisse der bürgerlichen Emanzi- pationsbewegung thematisierte. Das Interesse an den Problemen des so genann- ten gemeinen Mannes zeigt, dass die Stürmer und Dränger in den Emanzipati- onskampf des Bürgertums auch den Kleinbürger einschließen wollten. So war es nach Lenz für die Dichter von Vorteil, wenn sie »in die Häuser unserer soge- nannten gemeinen Leute gingen, auf ihr Interesse, ihre Leidenschaften Acht ge- ben« würden, und Herder forderte den Dichter auf, sich in den Dienst des »ehr- würdigsten Theils der Menschen, den wir Volk nennen«, zu stellen. In der Praxis bedeutete das eine Abkehr von einer Dichtung, die nur einem kleinen Kreis von Intellektuellen verständlich war. So forderte Gottfried August Bürger eine Kunst,

»die zwar von Gelehrten, aber nicht für Gelehrte als solche, sondern für das Volk ausgeübt werden muß«. »Popularität eines poetischen Werkes« war für ihn »das Siegel seiner Vollkommenheit«. Der Dichter sollte zum »Volksdichter«, die Dich- tung zur »Volkspoesie« werden. Die Konzeption der Volkspoesie macht den wei- ten Bogen deutlich, den die aufklärerische Literaturtheorie in nur fünfzig Jahren von Gottsched über Lessing bis hin zu den Stürmern und Drängern zurückgelegt hat.

Die aufklärerische Praxis im Drama

Im aufklärerischen Selbstverständnis nahm das Drama eine bevorzugte Stellung ein. Ihm wurde stärker als den anderen literarischen Gattungen eine erzieheri- sche, gesellschaftsverändernde Kraft zugemessen. Als »weltliche Kanzel« (Gott- sched ), als »Schule der moralischen Welt« (Lessing ), als »moralische Anstalt«

(Schiller ) von den Aufklärern begriffen, wurde das Theater in wenigen Jahren Schriftsteller als Sach-

walter der Vernunft Gellert als gekrönter Dichter – Geniekult von 1770

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Die aufklärerische Praxis im Drama  163

zum wichtigsten Erziehungs- und Bildungsinstitut. Weder vorher noch nachher hat das Theater jemals wieder eine solche Hochschätzung und eine solche Blüte- zeit erfahren wie im 18. Jahrhundert. Die Intelligenz wurde von einer regelrech- ten »Theatromanie« erfasst. Zahlreiche Bürgersöhne strebten zum Theater und versuchten sich als Schauspieler. Die Romane Anton Reiser (1785–90) von Karl Philipp Moritz und Wilhelm Meisters theatralische Sendung (1776–85) von Goethe legen von der Theaterleidenschaft der jungen Generation ein deutliches Zeugnis ab. Gerade die bürgerlichen Intellektuellen suchten auf dem Theater die Rolle zu spielen, die ihnen im gesellschaftlichen Leben versagt blieb.

Die atemberaubende Entwicklung, die das Theater in wenigen Jahren erlebte, ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass sie gleichsam beim Nullpunkt begann. »Lauter schwülstige und mit Harlekins = Lustbarkeiten untermengte Haupt = und Staats = Actionen, lauter unnatürliche Romanstreiche und Liebes- verwirrungen, lauter pöbelhafte Fratzen und Zoten waren dasjenige, so man da- selbst zu sehen bekam«, so beschrieb Gottsched 1724 das Leipziger Theaterleben.

Gottscheds abschätzige Äußerung bezieht sich auf die Wanderbühnen, die nach Aussage des berühmten Schauspielers Konrad Ekhof aus »umreisenden Gaukler- truppen« bestanden, »die durch ganz Deutschland von einem Jahrmarkt zum anderen laufen und den Pöbel durch niederträchtige Possen belustigen«. Da- neben gab es noch das angesehene und privilegierte Hoftheater, das der Un- terhaltung der aristokratischen Hofgesellschaft diente und von fest engagierten französischen und italienischen Schauspieltruppen getragen wurde. Beide Thea- terformen – das so genannte Pöbeltheater und das feudale Hoftheater – waren mit dem aufklärerischen Literaturprogramm nicht zu vereinbaren. Es zeugt von Gottscheds Weitblick, dass er mit seinen Reformversuchen beim verachteten Pö- beltheater ansetzte. In Zusammenarbeit mit Schauspieltruppen unternahm er den Versuch, das Niveau der Wanderbühnen zu heben und das Theater für ein bürgerliches Publikum interessant zu machen. Unterstützung fand Gottsched bei Caroline Friederike Neuber (1697–1760), die als Schauspielerin und Leiterin einer eigenen Theatertruppe einen entscheidenden Anteil an der Begründung des deut- schen Nationaltheaters hatte. Von ihren eigenen Schauspielen haben sich nur die Deutschen Vorspiele (1734) erhalten, die sie als eine begabte Künstlerin auswei- sen, die sich selbstbewusst in die Debatten um die Verbesserung des Theaters

Vom Harlekin zum bürgerlichen Helden Wanderkomödianten auf dem Anger in München (Gemälde von Joseph Stephan, um 1770)

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einschaltet. Angelika Mechtel hat der Neuberin, wie sie zumeist genannt wird, in dem Roman Die Prinzipalin (1994) ein Denkmal gesetzt.

Maßstab für Gottscheds Reformbemühungen war das klassizistische französi- sche Drama, das er mit eigenen »regelmäßigen« Schauspielen, d. h. Schauspielen, die den Regeln entsprachen (gebundene Rede, feste Aktzahl, Einhaltung der drei Einheiten von Ort, Zeit und Raum, der Ständeklausel usw.), umzusetzen suchte.

Mit dem Trauerspiel Sterbender Cato (1732) versuchte Gottsched, ein praktisches Beispiel seiner eigenen Dramentheorie zu geben. Mit »Kleister und Schere«, wie Gottscheds schärfster Kritiker Bodmer später bissig anmerkte, schrieb er auf der Grundlage der Cato-Stücke von Addison und Deschamps »die erste deutsche Ori- ginaltragödie«. Tatsächlich besteht das Stück über weite Strecken aus Übersetzun- gen; nur 174 der insgesamt 1648 Alexandriner des »Originaldramas« stammen aus Gottscheds eigener Feder. Es wäre jedoch falsch, ihm daraus einen Vorwurf zu machen. Er verstand sich nicht als »Originaldichter« im Sinne der späteren Sturm-und-Drang-Zeit, sondern als Wegbereiter eines neuen »regelmäßigen Dra- mas«. Durch Übersetzung und Überarbeitung vorhandener Stücke, vor allem aus dem französischen, aber auch aus dem englischen Sprachraum, versuchte er, ein dramatisches Modell zu entwickeln, das auch für die Praxis anderer Autoren vorbildlich werden sollte. Das Stück Sterbender Cato ist aber nicht nur als Muster eines ›regelmäßigen‹ Trauerspiels interessant, sondern auch als ein Dokument der antifeudalen Tendenzen, die schon im Drama der Frühaufklärung zu fi nden sind.

So betonte Gottsched in seiner Erläuterung und Verteidigung des Cato gegenüber zeitgenössischen Kritikern gerade die politischen Komponenten des Stückes, wenn er schrieb, »daß die wahre Größe eines Helden in der Liebe seines Vaterlan- des und einer tugendhaften Großmuth bestehe; die Herrschsucht aber und die mit einer listigen Verstellung überfi rmste Tyrannei unmöglich eine rechte Größe sein könne«. In der Konfrontation zwischen Caesar und Cato arbeitet Gottsched den Unterschied zwischen Tyrannis und Republik heraus, wobei seine Sympathi- en erklärtermaßen bei der Figur des Cato liegen. Der Erfolg des Stückes war für die damalige Zeit ungeheuer, es wurde das erfolgreichste Theaterstück der nächs- ten Jahrzehnte und erlebte zahlreiche Neuaufl agen und Aufführungen.

Wie Gottsched durch seine eigenen Stücke für das Trauerspiel Pionierarbeit leistete, so vollbrachte dies für die Komödie seine Frau, Luise Adelgunde Kulmus (1713–1762), die zu ihrer Zeit eine bekannte Gelehrte und zugleich produktive Autorin war. Ihre Pietisterey im Fischbein- Rocke (1736), die wie Gottscheds Cato auf ausländischen Vorbildern basiert, zeugt wie ihre anderen Lustspiele (Die un- gleiche Heyrath, 1743; Die Hausfranzösin, 1744; Das Testament, 1745; Der Witz- ling, 1745) von »einer bemerkenswerten satirischen Ader, von Witz und insge- samt von einem dichterischen Talent«, wie in der neueren Forschung zunehmend bemerkt wird. Das Stück der Gottschedin ist nicht nur unter den formalen Aspek- ten einer neuen Komödienform wichtig, sondern auch als ein Dokument des an- tiklerikalen Kampfes der Frühaufklärung anzusehen. Mit Spott und Ironie zieht Luise Gottsched gegen den Pietismus ihrer Zeit zu Felde und brandmarkt alle obskurantistischen und mystischen Züge, die sie in dieser Bewegung vorzufi nden glaubt. In Herrn und Frau Glaubeleicht, in Magister Scheinfromm, im jungen Herrn von Muckersdorff und zahlreichen anderen Personen mit sprechenden Na- men spießt sie falsche Frömmigkeit und religiöse Schwärmerei auf und formuliert eine Kritik am Pietismus, die in ihrer Entschiedenheit und Schärfe auch später von den Romanen Der redliche Mann am Hofe (1740) von Michael von Loen und Leben und Meinungen des Magisters Sebaldus Nothanker (1773) von Friedrich Eine schreibende Frau:

die Kulmus Konrad Ekhof auf der Bühne – Anbruch eines natürlichen Spiels: »durch Kunst der Natur nach- ahmen und ihr so nahe kommen, dass Wahr- scheinlichkeiten für Wahr- heiten angenommen werden müssen oder geschehene Dinge so natürlich wieder vor- stellen, als wenn sie erst jetzt geschehen«

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Die aufklärerische Praxis im Drama  165

Nicolai nicht eingeholt wurde. Nicht zuletzt als bitterböse Satire auf den deut- schen Pietismus war das Stück umstritten und rief die Obrigkeit auf den Plan.

König Friedrich Wilhelm I. nannte die Pietisterey in einer Kabinettsorder 1737

»eine recht gottlose Schmäh Schrifft«. In Berlin und Königsberg wurde das Stück verboten, Buchhändler wurden verhört und zahlreiche Exemplare beschlag- nahmt. Die Verfasserin selbst geriet nicht in die Schusslinie. Sei es aus falscher Bescheidenheit oder sei es wegen der politischen Brisanz des Stückes – sie ließ es anonym und mit falscher Verleger- und Ortsangabe erscheinen. Ihr Mann, der das Stück als Kampfschrift in der Auseinandersetzung mit der Gegenaufklärung hoch schätzte, verzichtete vorsichtshalber darauf, die umstrittene und verfolgte Pietis- terey in seine sechsbändige Deutsche Schaubühne (1740–45), eine Mustersamm- lung von vorbildlichen Stücken, aufzunehmen.

In der Wahrnehmung der Zeitgenossen bildeten Gottsched und seine Frau, die Gottschedin, ein ideales Paar. Zusammen mit Klopstock und seiner Frau Meta Moller , deren Hinterlassene Schriften ihr Mann 1759 herausgab, sind die Gott- scheds ein frühes Beispiel für eine Paarbeziehung, in der beide Partner künstle- risch bzw. wissenschaftlich tätig sind. Dass die Ehe- und Produktionsgemein- schaft zwischen den beiden so ungleichen Partnern nicht unproblematisch war, zeigen die Briefe, die die Freundin der Gottschedin Friederike Dorothea Henriette Runckel 1771 postum herausgab und die inzwischen als gekürzte Leseausgabe (1999) wieder zugänglich sind. In dem Roman Idylle mit Professor (1986) hat Renate Feyl ein einfühlsames Porträt von Luise Adelgunde Gottsched entworfen, die an ihrer Rolle als »Gehülfi n« zerbrochen ist.

Die Orientierung an ausländischen Vorbildern, insbesondere am klassizisti- schen französischen Drama, die Gottsched, seine Frau, deren Anhänger und Nachfolger kennzeichnet, verbesserte zwar spürbar das Niveau der Spielpläne, engte die Dichter aber in ihrer Gestaltungsfreiheit stark ein. Gegen die starre Re- geldogmatik Gottscheds und seiner Freunde regte sich daher schon bald Wider- spruch. Lessing ging so weit, Gottsched alle Verdienste an der Schaffung eines deutschen Theaters abzusprechen (17. Brief, die neueste Literatur betreffend), und beklagte die vorgefundene Theatersituation in den 60er Jahren mit den nicht ganz zutreffenden Worten: »Wir haben kein Theater. Wir haben keine Schauspie- ler. Wir haben keine Zuhörer«. Tatsächlich unterschieden sich die Vorstellungen,

Orientierung am  französischen Klassizismus

Weimarer Hoftheater (1784)

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die Gottsched und Lessing vom Theater hatten, so erheblich, dass Lessing nicht im Stande war, die Leistungen Gottscheds zu würdigen. Hatte Gottsched seine Reformversuche in erster Linie auf eine Verbesserung des Repertoires konzen- triert, so hatte Lessing sich vorgenommen, ein Theater für die ganze Nation zu schaffen. Dieses Theater sollte frei von hemmendem ausländischem Einfl uss sein und aktuelle Probleme aufgreifen. Nur ein bürgerliches Theater konnte nach Les- sing diese Forderungen erfüllen. Die Idee des Nationaltheaters und die Konzepti- on des bürgerlichen Dramas bilden bei Lessing wie auch später bei Schiller und den Stürmern und Drängern eine untrennbare Einheit. Mit der Gründung einer stehenden Bühne und der Einrichtung eines festen Ensembles in Hamburg (1765) schien es so, als ob die lessingsche Nationaltheateridee bereits realisiert wäre.

Tatsächlich blieben aber wesentliche Forderungen der Nationaltheater-Program- matik unerfüllt. Die Initiative zur Gründung war nicht von der Bürgerschaft aus- gegangen, sondern von Privatleuten, und das Theater wurde auch nicht öffent- lich subventioniert. So war es nicht verwunderlich, dass es schon nach zwei Spielzeiten an fi nanziellen Schwierigkeiten scheiterte. In der Folgezeit wurde die Nationaltheateridee von den Fürsten vereinnahmt. 1776 erhob Joseph II. die Wie- ner Hofbühne zum Nationaltheater, 1778 wurde das Mannheimer Nationalthea- ter gegründet. Wenn es auch nicht gelang, die Nationaltheater-Programmatik im Sinne einer rein bürgerlichen Institution organisatorisch zu verwirklichen, so konnte Lessing doch der Entwicklung des bürgerlichen Dramas Auftrieb geben.

Mit Emilia Galotti (1772), Minna von Barnhelm (1767) und Nathan der Weise (1779) sind ihm Theaterstücke gelungen, die richtungweisend für das Drama im 18. Jahrhundert wurden. Zusammen mit den Dramen der Sturm-und-Drang-Zeit, mit Schillers Räubern (1781) und Kabale und Liebe (1784), mit Goethes Götz von Berlichingen (177/73) und Lenz’ Hofmeister (1774) und den Soldaten (1776), bilden die lessingschen Dramen einen Fundus, der noch heute zum festen Reper- toire der Bühnen gehört. In weniger als zwanzig Jahren entwickelte sich aus provinzieller Enge ein deutsches Theater, das den Vergleich mit Frankreich und England nicht zu scheuen brauchte.

Die Bedeutung des Nathan reicht dabei weit über die engere Theatergeschichte hinaus. Mit dem Bild des »edlen Juden« – eine Vorform fi ndet sich bereits in dem frühen Lustspiel Die Juden (1749) – brach Lessing mit der bisherigen Theatertra- dition, nach der Juden nur als lasterhafte und lächerliche Figuren auf der Bühne geduldet waren. Zugleich stellte er die herrschenden antisemitischen Vorurteile in Frage, die trotz offi zieller Emanzipationspolitik (Toleranzedikt, 1781) auch in der Aufklärungszeit noch keineswegs überwunden waren. Zusammen mit Christian Wilhelm Dohms Manifest Über die bürgerliche Verbesserung der Juden (1781), Mendelssohns Schrift Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum (1783) gehören Lessings Lustspiel Die Juden und sein »dramatisches Gedicht« Nathan zu den Dokumenten eines in Deutschland stets gefährdeten Toleranzdiskurses.

Die Aufführungsgeschichte des Nathan ist ein Barometer für den jeweiligen Zu- stand der »deutsch-jüdischen Symbiose« (P. Gay), an dessen tödliche Konsequen- zen für die Juden Walter Jens in seiner Rede über »Lessings Nathan aus der Sicht von Auschwitz« erinnert hat. Zwischen 1933 und 1945 durfte Lessings Stück auf keiner deutschen Bühne gespielt werden und war auch aus dem Lektürekanon der Schulen verschwunden. Erst nach 1945 kehrte Nathan auf die deutschen Bühnen zurück: Das Deutsche Theater in Berlin eröffnete die neue Spielzeit 1945/46 programmatisch mit Lessings utopischem Entwurf einer harmonischen Gesellschaftsordnung, in der die unterschiedlichen Religionen friedlich miteinan- Idee eines deutschen

Nationaltheaters

Vom »edlen Juden« – gegen antisemitische Vorurteile

Ernst Deutsch als Nathan der Weise

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Die aufklärerische Praxis im Drama  167

der leben. Trotz aller dramaturgischen und thematischen Besonderheiten gehört Lessings Nathan in den Kontext der bürgerlichen Dramen, mit denen in den 70er und 80er Jahren des 18. Jahrhunderts eine neue theatergeschichtliche Epoche eröffnet wurde.

›Bürgerlich‹ waren diese Dramen nicht nach heutigem Sprachgebrauch. Im 18. Jahrhundert diente die Bezeichnung ›bürgerlich‹ dazu, die private, häusliche, nicht standesgebundene Sphäre gegen die öffentliche Sphäre des Hofes abzuset- zen. In der kontrastierenden Gegenüberstellung von ›bürgerlich-privat‹ und ›hö- fi sch-öffentlich‹ lag nichtsdestoweniger ein starkes gesellschafts-kritisches Ele- ment; die private Sphäre der Familie wurde als ›allgemein-menschliche‹

reklamiert, der gegenüber die höfi sche Sphäre als unpersönlich, kalt und men- schenfeindlich erschien. Bürgerlich waren diese Dramen also, weil in ihnen Tu- genden wie Humanität, Toleranz, Gerechtigkeit, Mitleidsfähigkeit, Sittlichkeit, Gefühlsreichtum usw. dargestellt wurden, und nicht, weil in ihnen bürgerliche Helden im strengen Wortsinne auftraten. So stammt Lessings Emilia Galotti aus dem niederen Adel, verkörpert aber durch ihre Moralität das bürgerliche Tugen- dideal, das sich durch den Immoralismus des Hofes nicht korrumpieren lässt. Karl Moor in Schillers Räubern (1781) ist, obwohl er der Sohn des regierenden Grafen von Moor ist, ein antifeudaler Rebell wie Goethes Götz von Berlichingen, der, obgleich dem Adel entstammend, das Hofl eben verachtet und sich für die sozial Unterdrückten einsetzt. Erst in Schillers Kabale und Liebe (1784) tritt eine wirk- lich bürgerliche Heldin auf: Luise, die Tochter des Stadtmusikanten Miller. In Kabale und Liebe wird ein ähnliches Thema behandelt wie in Emilia Galotti und Miss Sara Sampson (1755); mit beiden Stücken hat Lessing in Anlehnung an Lillos The London Merchant (1731) und Diderots Le père de famille (1758) die Tradition des Bürgerlichen Trauerspiels für Deutschland begründet, die bis ins 19. Jahrhun- dert zu Hebbels Maria Magdalene (1843) reicht. In den beiden Dramen Lessings und in dem von Schiller geht es um das Motiv der ›verführten Unschuld‹; in allen drei Dramen stehen Frauen im Mittelpunkt der Auseinandersetzung zwischen Adel und Bürgertum, alle drei Dramen enden mit dem Tod der Heldin.

Miss Sara Sampson erliegt dem Charme des Libertins Mellefont, der sie aus dem Vaterhaus entführt und ihr die Ehe versprochen hat, vor der Legalisierung des Verhältnisses aber zurückschreckt, weil er seine Freiheit nicht gefährden möchte. Die tugendhafte Sara wird zwischen der Sehnsucht nach dem verlasse- nen Vater und der Liebe zu ihrem Ent- und Verführer Mellefont hin- und herge- rissen. Sie stirbt schließlich durch das Gift, das von der ehemaligen Geliebten Mellefonts stammt. Mellefont tötet sich angesichts der Leiche Saras. Vater Samp- son beschließt das Drama mit der versöhnlichen Würdigung des Verführers:

»Ach, er war mehr unglücklich als lasterhaft.« – Pointierter erscheint der politi- sche Konfl ikt in Emilia Galotti (1772). Dort versucht der Prinz von Guastalla, ein typischer Vertreter schrankenloser Tyrannenwillkür und erotischer Libertinage, die tugendhafte Emilia in seine Gewalt zu bringen und schreckt dabei auch vor dem Mord an Emilias Bräutigam Appiani nicht zurück. Emilia ihrerseits ist nicht unempfänglich für die erotischen Lockungen, die von dem Prinzen, ganz im Ge- gensatz zu dem »guten Appiani«, ausgehen. »Verführung ist die wahre Gewalt! – Ich habe Blut, mein Vater, so jugendliches, so warmes Blut als eine. Auch meine Sinne sind Sinne. Ich stehe für nichts« – mit diesen Worten, die den Zeitgenossen übrigens höchst anstößig vorkamen, fordert Emilia vom Vater den Dolch, um sich zu töten. Doch ist es schließlich der Vater, der ihr den Tod gibt, weil er nicht zu- lassen kann, dass die Tochter die Waffe gegen sich selbst richtet. In dem Vater

Das deutsche Theater holt auf

›gemischte Charaktere‹

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Odoardo und dem Prinzen von Guastalla treten feudaler Fürst und Privatmann unversöhnlich gegeneinander. Odoardo verachtet das Hofl eben und lebt in seiner selbst gewählten Einsamkeit auf dem Land in rousseauistischer Abgeschieden- heit, fernab von den Verlockungen des Hofes. In der Tugend der Tochter sieht er den Garanten der eigenen moralischen Überlegenheit über den Feudalherren, den er verachtet.

In Kabale und Liebe (1784) ist der Konfl ikt anders nuanciert. Luise Millerin – nach ihr hatte Schiller sein Drama ursprünglich benannt – stammt nicht nur aus dem Bürgertum, die von Schiller erzählte Geschichte spielt auch in der deutschen Gegenwart, während Lessing seine Sara in England und Emilia in einem italieni- schen Kleinstaat in einer vergangenen, nicht genau bestimmbaren Zeit spielen lässt. Deutlich wird hier die Entwicklung des bürgerlichen Dramas von einer re- lativen Abstraktheit hin zu einer Präzisierung der politischen und sozialen Kon- fl iktlage. Vergleichbar ist Luise aber mit ihren Vorgängerinnen Sara und Emilia in ihrer Tugendhaftigkeit, die ein unzerstörbarer Teil ihres Wesens ist. Ihr Geliebter Ferdinand ist nicht mehr der gewissenlose Verführer, sondern er will die Klassen- schranken überwinden und Luise heiraten. Damit aber rüttelt er an den Grund- festen der feudalen Gesellschaft und fordert die tödliche »Kabale« des Hofes her- aus. Durch Intrigen an der Tugendhaftigkeit und Treue Luises irregeführt, vergiftet er seine Geliebte und trinkt selbst aus dem Giftbecher, als er erfährt, dass Luise

»unschuldig« ist.

Wie in Emilia Galotti und Miss Sara Sampson spielt auch in Kabale und Liebe die Beziehung zwischen Vater und Tochter eine entscheidende Rolle. Dieses Ver- hältnis wird nicht nur als ein zärtliches Familienverhältnis, sondern zugleich auch als ein Besitzverhältnis charakterisiert. Die Töchter sind ›Eigentum‹, ›Ver- mögen‹ und ›Ware‹ des Vaters, ihre Tugend ist nicht nur ein ideelles, sondern

»Kabale und Liebe «

Väter – Töchter Illustrationen

Chodowieckis zu Kabale und Liebe (1786)

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Die aufklärerische Praxis im Drama  169

auch ein materielles Gut. Das Vokabular aus dem bürgerlichen Erwerbsleben ist verräterisch: Es verweist auf die Ökonomisierung der Beziehungen, und es zeigt zugleich, wie sich die bürgerliche Gesellschaft in der Propagierung der väterli- chen Gewalt als patriarchalische Ordnung neu zu begründen sucht: Die Tugend der Töchter ist die Macht der Väter. Als ›Ware‹ wird die Tochter zum Objekt des Austauschs zwischen Männern und zum Gegenstand der Auseinandersetzung zwischen Adel und Bürgertum. Die Töchter sind Opfer in doppeltem Sinne: Sie dürfen sich nicht einmal selbst töten, wie dies die Männer tun, sie werden umge- bracht. Als entsinnlichte, engelhafte Wesen sind sie lange vor ihrem eigentlichen Bühnensterben dem Tod geweiht. Die Auseinandersetzung zwischen Adel und Bürgertum wird also nicht als eine politische geführt, sondern sie wird privatisiert und moralisiert und als ein Konfl ikt zwischen bürgerlicher Rechtschaffenheit und absolutistischer Willkür auf der Bühne ausgespielt. Dabei ist eine zunehmende Konkretisierung und Präzisierung der sozialen Konfl iktlage zu beobachten. Wur- de am Anfang des bürgerlichen Dramas die Konzeption privater Humanität noch mit Personen aus dem Adel in Verbindung gebracht, so wird sie wenige Jahre später bei den Stürmern und Drängern bereits auf die Person des Bürgers übertra- gen. Diese Verlagerung hat Konsequenzen für die gesellschaftskritische Stoßrich- tung der Gattung. Die soziale Präzisierung des Sujets, des Figurenaufbaus und der Konfl iktlage konkretisiert zugleich das gesellschaftskritische Element. Die moralische Kritik am Feudalismus wird ins Politische gewendet.

Diese Zunahme und die Konkretisierung des sozialkritischen Elements lässt sich besonders gut an den Dramen von Jakob Michael Reinhold Lenz (1751–

1792) beobachten. Im Hofmeister (1774) gestaltet Lenz die Schwierigkeiten der damaligen Intelligenz, sich in die bestehende Ständegesellschaft einzufügen, und greift damit ein aktuelles Problem seiner Zeit auf. Läuffer, der Sohn eines Stadt- predigers, ist nach seinem Studium gezwungen, seinen Lebensunterhalt als Hof- meister, d. h. als Erzieher im Hause eines adligen Majors zu verdienen und wird dort nicht besser als das übrige Dienstpersonal behandelt. Die demütigende Posi- tion als Hofmeister wird durch Läuffers Liebesbeziehung zur Tochter des Hauses noch verstärkt. Am Ende sieht Läuffer keinen anderen Ausweg, als sich selbst zu kastrieren. Erst durch seine Selbstverstümmelung wird der soziale Frieden wieder hergestellt. Auch in den Soldaten (1776) ist das gesellschaftskritische Element sehr viel stärker ausgeprägt als z. B. in den frühen Dramen von Lessing. Lenz siedelt seine Dramen in der Gegenwart an, die Konfl ikte ergeben sich aus den sozialen Spannungen der damaligen Gesellschaftsordnung. Befasst sich Lenz im Hofmeister mit dem Problem der Hofmeisterexistenz, unter der nicht nur er, son- dern zahlreiche Intellektuelle und Schriftsteller seiner Zeit zu leiden hatten, so greift er in den Soldaten ebenfalls ein aktuelles Zeitproblem auf: die Gefahren des

»ehelosen Standes der Herren Soldaten« für die Tugend der Bürgermädchen. Mit seinem Stück Der neue Menoza oder Geschichte des cumbanischen Prinzen Tandi (1774) schaltet sich Lenz ebenfalls in einen aktuellen Diskurs ein. Das Bild des

›edlen Wilden‹, das in der Aufklärung zivilisationskritisch gegen die Verhältnisse in Europa gewendet wurde, erscheint bei Lenz satirisch gebrochen. Mit seiner Provinzposse unterläuft Lenz ironisch den Exotismus seiner Zeitgenossen und entwirft ein Bild des Fremden, das für Idealisierungen untauglich ist.

Faszinierend an Lenz’ Dramen ist nicht nur die Konsequenz des sozialen Enga- gements, die sich in der realistischen und differenzierten Gestaltung der Personen und der Konfl ikte ausdrückt, sondern auch die Vermischung von Tragischem und Komischem. Die ehemals starre Trennung zwischen Komödie und Tragödie, wie

Die Tugend der Töchter ist die Macht der Väter

Zur Lage der Intelligenz

Ein Hofl ehrer: Der Gerechte erbarmt sich seines Viehes (1791)

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sie Gottsched vertreten und Lessing noch praktiziert hatte, wurde bei Lenz zugunsten einer neuen Dramenform aufgehoben, in der sich Tragisches mit Komischem, Satirisches mit Ernstem verbanden. Hier, nicht nur in der politi- schen Stoßrichtung seiner Dramen, liegt die Modernität von Lenz , die Autoren des 19. Jahrhunderts (vgl. Büchners Novelle Lenz) und des 20. Jahrhunderts (vgl. Brechts Bearbeitung des Hofmeister und Kipphardts Bearbeitung der Solda- ten) immer wieder zu produktiven Auseinandersetzungen angeregt hat. Nach 1968 kam es im Umkreis der Studentenbewegung und im Kontext der »Neuen Subjektivität« zu einer Neuentdeckung von Lenz . Zu nennen sind hier z. B. Peter Schneiders Erzählung Lenz (1973) und Gert Hofmanns Novelle Die Rückkehr des verlorenen Jakob Michael Reinhold Lenz nach Riga (1981).

Wegweisend für die Moderne ist Lenz aber nicht nur wegen seiner Dramen- form, sondern auch wegen seiner Dramenfi guren. Die idealtypische Zeichnung der Charaktere, wie sie noch im frühen bürgerlichen Theater üblich gewesen war, ist bei Lenz aufgegeben. Obwohl Lessing in seiner Trauerspieltheorie die rich- tungweisende Konzeption des »gemischten Helden« entwickelt hatte, waren die Helden bzw. Heldinnen seiner Stücke doch eher Vertreter eines abstrakten bür- gerlichen Tugendideals denn realistisch gezeichnete Charaktere. Besonders deutlich wird dies in Nathan der Weise : Der edelmütige Jude Nathan stellt eine Verkörperung des aufklärerischen Toleranz- und Humanitätsideals dar. Erst die Stürmer und Dränger schufen in ihren Dramen zwiespältige Charaktere, wobei aber sowohl Goethe im Götz als auch Schiller in den Räubern zur Übersteigerung ihrer Helden neigten. Die kraftgenialischen Züge, die Götz oder auch Karl Moor tragen und die sie für heutige Zuschauer noch immer interessant machen, hatten keine Entsprechung in der Realität. Sie waren Wunschgestalten der Autoren. Lenz verzichtete nicht nur auf den »gemischten« Helden, er verzichtete sogar ganz auf Helden. Zwar gibt es bei ihm Haupt- und Nebenfi guren, die Personen sind aber weder Tugendgestalten noch stilisierte Kraftgenies oder Schurken, sondern Men- schen, deren Charakter und Verhalten von den sozialen Verhältnissen bestimmt werden, in denen sie leben.

Eine wichtige, nicht unproblematische Gemeinsamkeit der bürgerlichen Dra- men in jener Zeit liegt in der Darstellung und Konzentrierung auf die bürgerliche Kleinfamilie, die als private Sphäre gegen die öffentliche Sphäre des Hofes ge- setzt ist. Die Entdeckung der bürgerlichen Kleinfamilie durch die Dramatiker des 18. Jahrhunderts hängt zusammen mit tief greifenden sozialen Veränderungen.

Mit der Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft im Verlauf des 18. Jahrhun- derts zerfi el der in der Feudalzeit vorherrschende Typus des adligen Familien- verbandes bzw. der bäuerlichen Großfamilie, die als Produktions- und Güter- gemeinschaft bestanden hatte. Die fortschreitende Arbeitsteilung zerriss den ursprünglichen Zusammenhang von Produktion und Reproduktion und brachte eine Trennung der Bereiche. Die Produktion lief getrennt von der Familie, der Vater arbeitete außer Haus, die Familie wurde reduziert auf Reproduktionsfunk- tionen, d. h. die Frau wurde ganz auf den häuslichen Bereich und die Kinderer- ziehung verwiesen. Die neue Lebens- und Organisationsform der bürgerlichen Kleinfamilie beruhte auf der strengen Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau, wobei die männliche Tätigkeit anerkannt und bezahlt wurde, während die Frau im Haus unbezahlte Arbeit leistete, in fi nanzielle Abhängigkeit vom Mann geriet und Anerkennung nur in Form von Lob und Hochschätzung erfuhr. Der Mann hatte in der bürgerlichen Kleinfamilie eine so starke Stellung, dass er praktisch Besitzer der Frau war. Dieses Besitzverhältnis, das juristisch abgesichert war, Zwiespältige Charaktere

bei J. M. R. Lenz

Thema Familie

Thema Ehe

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