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Studien zur Bedeutung des Neuralen Zelladhäsionsmoleküls und der Polysialinsäure in der Entstehung von Valproinsäure-induzierten Neuralrohrdefekten

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Academic year: 2022

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Aus dem Institut für Lebensmitteltoxikologie und chemische Analytik der Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover

Hannover 2004

Studien zur Bedeutung des

Neuralen Zelladhäsionsmoleküls und der Polysialinsäure in der Entstehung von

Valproinsäure-induzierten Neuralrohrdefekten

THESE

zur Erlangung des Grades eines DOCTOR OF PHILOSOPHY

-Ph.D.-

im Fachgebiet Lebensmitteltoxikologie durch die Tierärztliche Hochschule Hannover

vorgelegt von Katrin Hoffmann

aus Diekholzen

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(3)

Supervisor: Prof. Dr. H. Nau

Wissenschaftliche

Betreuung: Prof. Dr. H. Nau

Prof. Dr. R. Gerardy-Schahn Prof. Dr. W. Löscher

1. Gutachten: Prof. Dr. H. Nau, Institut für Lebensmitteltoxikologie und

chemische Analytik, Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover Prof. Dr. R.Gerardy-Schahn, Zentrum Biochemie, Abteilung für Zelluläre Chemie, Medizinische Hochschule Hannover

Prof. Dr. W. Löscher, Institut für Pharmakologie, Toxikologie und Pharmazie, Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover

2. Gutachten: Dr. J. Buschmann, Institut für Toxikologie und experimentelle Medizin, Fraunhofer Gesellschaft

Datum der mündlichen Prüfung: 3. Juni 2004

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In Dankbarkeit meinen Eltern

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INHALTSVERZEICHNIS

1.0 EINLEITUNG... 1

1.1 Embryonalentwicklung und Neuralrohrdefekte ... 2

1.1.1 Embryonalentwicklung... 2

1.1.2 Neuralrohrentwicklung ... 3

1.1.3 Neuralrohrdefekte .... ... 5

1.2 Valproinsäure (VPA)... 7

1.2.1 Anwendung und Bedeutung der VPA... 7

1.2.2 Nebenwirkungen der VPA Anwendung ... 8

1.2.3 VPA Anwendung während der Embryonalentwicklung... 9

1.2.3.1 Epidemiologie von VPA-induzierten Fehlbildungen des Menschen ... 9

1.2.3.2 Teratogene Effekte der VPA in verschiedenen Labortierspezies ... 11

1.2.3.3 Mechanismen der teratogenen Wirkung von VPA und VPA- Derivaten: Kinetik — Stoffwechselwege — Proliferation, Zelldifferenzierung und Zelladhäsion — Kernrezeptoren — Genexpression ... 13

1.2.3.4 Struktur-Aktivitätsbeziehungen der VPA-Derivate im Mausmodell... 17

1.3 Neurales Zelladhäsionsmolekül (NCAM) und α-2,8 Polysialinsäure (PSA)... 20

1.3.1 NCAM... 20

1.3.2 PSA ... 21

1.3.3 Einfluss von PSA-NCAM auf isolierte Nervenzellsysteme ... 24

1.3.4 Funktionen von PSA-NCAM im adulten Organismus ... 25

1.3.5 PSA-NCAM während der Embryonalentwicklung ... 28

2.0 ZIEL DER ARBEIT... 33

(8)

3.0 MATERIAL UND METHODEN... 34

3.1 In-vivo Methodik ... 34

3.1.1 Versuchstiere... 34

3.1.1.1 Mäusestämme ... 34

3.1.1.2 Haltung und Fütterung... 34

3.1.1.3 Zucht der ST8SiaIV(+/+)und ST8SiaIV(-/-) Mäuse ... 34

3.1.1.4 Genotypisierung ... 35

3.1.1.5 Tierversuchsgenehmigungen... 36

3.1.1.6 Randomisierung... 36

3.1.2 Testsubstanzen ... 37

3.1.3 Reproduktionstoxizität... 37

3.1.3.1 Verpaarung und Bestimmung der Trächtigkeit ... 37

3.1.3.2 Zyklusbestimmung ... 38

3.1.3.3 Zyklussynchronisation... 38

3.1.3.4 Exenzephaliemodell ... 38

3.1.3.5 Spina bifida-Modell... 39

3.1.4 Neurotoxizität ... 39

3.1.4.1 Rotarod Toxizitätstest... 39

3.1.5 Somitenzählung... 40

3.1.6 Histologie und Histochemie... 40

3.1.6.1 Probenahme und Fixierung ... 40

3.1.6.2 Paraffineinbettung und Entparaffinierung... 41

3.1.6.3 Technoviteinbettung... 41

3.1.6.4 Hämalaun-Eosin-Färbung ... 42

3.1.6.5 Versilberung nach Bodian ... 42

3.1.6.6 Immunhistochemie: PSA-Färbung — NCAM-Färbung... 43

3.1.6.7 Fotografie ... 44

3.1.7 Quantitative Bestimmung von S-Pentyl-4-yn in Plasma und Gewebe ... 45

3.1.7.1 Probenahme ... 45

3.1.7.2 Probenaufarbeitung... 45

3.1.7.3 Gaschromatographische Trennung und Detektion ... 46

3.1.8 Real time-PCR (RT-PCR)... 47

3.1.8.1 Probenahme ... 47

3.1.8.2 RNA-Isolierung und Erstellung der copyDNA (cDNA) ... 47

3.1.8.3 Real time-PCR (RT-PCR) und Acrylamid-Gelelektrophorese ... 48

(9)

3.1.8.4 Auswertung ... 50

3.1.9 Statistik ... 52

3.1. 9.1 Exenzephaliemodell ... 52

3.1. 9.2 Neurotoxizität... 52

3.1. 9.3 Somitenzählung ... 53

3.1. 9.4 RT-PCR ... 53

3.2 In-vitro Methodik ... 54

3.2.1 Neuritenwachstum in fetalen Hippocampuszellen... 54

3.2.1.1 Präparation von fetalen Hippocampuszellen... 54

3.2.1.2 Hippocampuszellkultur... 55

3.2.1.3 Färbung... 56

3.2.1.4 Bestimmung des Neuritenwachstums... 57

3.2.1.5 Statistik... 58

3.3 Verwendete Chemikalien ... 59

4.0 ERGEBNISSE... 63

4.1 Einfluß des genetischen Hintergrundes auf die Effekte von VPA und S- Pentyl-4-Pentinsäure im Mausmodell ... 63

4.1.1 C57BL/6J-Maus im Spina bifida-Modell ... 63

4.1.2 C57BL/6J-Maus im Exenzephaliemodell... 66

4.1.3 Embryonalentwicklung C57BL/6J im Vergleich zu Hsd:Win NMRI.... 70

4.2 Zyklusdiagnostik bei ST8SiaIV(-/-) und ST8SiaIV(+/+) ... 71

4.3 Embryonalentwicklung der ST8SiaIV(+/+) und ST8SiaIV(-/-) Maus... 72

4.3.1 Geschwindigkeit der Embryonalentwicklung... 72

4.3.2 Immunhistochemische Darstellung der Expression von PSA und NCAM ... 75

4.3.3 Expression von ST8SiaII, ST8SiaIV und NCAM auf mRNA Ebene... 84

4.4 ST8SiaIV(-/-) im Exenzephaliemodell... 90

4.4.1 Teratogene Effekte und Neurotoxizität... 90

4.4.2 Kontrolle der Expression von ST8SiaII, ST8SiaIV und NCAM im Exenzephaliemodell-Experiment... 96

4.4.3 Genotypisierung... 100

(10)

4.5 Gehirn- und Plasmakonzentrationen der S-Pentyl-4-Pentinsäure... 101

4.6 Einfluß von VPA-Derivaten auf die Differenzierung fetaler Hippocampuszellen ... 104

5.0 DISKUSSION... 111

5.1 Einfluß des genetischen Hintergrundes auf die teratogenen Effekte von VPA und S-Pentyl-4-Pentinsäure im Mausmodell... 111

5.2 Embryonalentwicklung von C57BL/6J, ST8SiaIV(+/+) und ST8SiaIV (-/-) im Vergleich zu Hsd:Win NMRI ... 114

5.3 Paarungsverhalten von ST8SiaIV(-/-) und hormonelle Zyklussynchronisation ... 118

5.4 Studien zur Expression von ST8SiaII, ST8SiaIV, PSA und NCAM während der frühen Embryonalentwicklung der ST8SiaIV(-/-) Maus... 121

5.5 Die ST8SiaIV(-/-) Maus im Exenzephaliemodell ... 125

5.6 S-Pentyl-4-Pentinsäure... 131

5.7 Einfluß von VPA-Derivaten auf die Differenzenzierung fetaler Hippo- campuszellen ... 134

5.8 Ausblick ... 138

6.0 ZUSAMMENFASSUNG... 140

7.0 SUMMARY... 143

8.0 LITERATUR... 146

9.0 ANHANG... 167

9.1 Abbildungsverzeichnis ... 167

9.2 Tabellenverzeichnis... 170

9.3 Ct-Werte der RT-PCR Studie... 171

(11)

ABKÜRZUNGEN

4en-VPA... Propyl-4-Pentensäure 4-yn VPA ... Propyl-4-Pentinsäure Abb... Abbildung

AK... Antikörper

C0...Konzentration zum Zeitpunkt 0 CHO ... Chinese Hamster Ovary Cells Cmax ...Maximale Konzentration cDNA ... copy DNA

DNA ... Desoxyribonukleinsäure dpi... dots per inch

E ... Tag der Embryonalentwicklung EndoN ... Endoneuraminidase N

Fa... Firma

HDAC ... Histondeacetylase i.p... intraperitoneal Ig ... Immunglobulin

Iso-4-yn ... Isobutyl-4-Pentinsäure k... Eliminationskonstante KGW ... Körpergewicht

LTP... Long Term Potentation M. ... Mittelwert

Min. ... Minute n... Anzahl

NCAM... Neurales Zelladhäsionsmolekül NCAM (-/-)... B6.129P2-Ncam1tm1Cgn/J

p.o... peroral

PPAR... Peroxisomen-Proliferations-aktivierender-Rezeptor PSA ... Polysialinsäure

RNA ... Ribonukleinsäure

rpm ... Umdrehungen pro Minute

RT-PCR... Real time Polymerase Chain Reaction s.c. ... subcutan

S.D... Standardabweichung S-Pentyl-4-yn ... S-Pentyl-4-Pentinsäure ST8SiaIV(-/-)... B6.129P2-Siat8dtm1Zch Std. ... Stunde

t1/2 ...Halbwertszeit Tab. ... Tabelle VPA... Valproinsäure

ZNS ... Zentrales Nervensystem

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(13)

1- EINLEITUNG

Carbonsäuren sind Substanzen, die sowohl im Fach der Lebensmitteltoxikologie als auch in der pharmakologischen Forschung von Interesse sind. Funktionelle Nahrungsinhaltsstoffe, wie z.B. konjugierte Linolsäurederivate (CLA´s), sind als gesundheitsfördernde Substanzen ein Gegenstand intensiver Forschung im Lebensmittelbereich. Toxikologisch relevante verzweigte Fettsäuren sind beispielsweise Phthalate, die als Weichmacher in Kunststoffen eingesetzt werden und als Nahrungsmittelkontaminanten von Bedeutung sind.

Die Valproinsäure ist eine kurzkettige und verzweigte Fettsäure, die als Arzneimittel einen weiten Anwendungsbereich hat und als Modellsubstanz zur Erforschung von Neuralrohrdefekten eingesetzt wird. Ursprünglich als Antiepileptikum etabliert, erweiterte sich der Einsatz der VPA auf die Prophylaxe von Migräneerkrankungen, Therapie manisch- depressiver Erkrankungen und auf die Bekämpfung verschiedener Tumoren. Dieser breiten Anwendung stehen zwei schwere, lebensbedrohliche Nebenwirkungen gegenüber: die Hepatotoxizität und die Teratogenität. Das Thema dieser Arbeit sind die teratogenen Effekte der VPA und der VPA-Derivate. Bei den Fehlbildungen handelt es sich um ein spezielles Schädigungsmuster: die VPA schädigt gezielt das Neuralrohr. Beim Menschen tritt diese Schädigung klinisch als Spina bifida aperta in Erscheinung, in der Maus kann als einzigem Modelltier ebenfalls ein Neuralrohrdefekt erzeugt werden. Der Schluß des Neuralrohres ist ein komplexer Vorgang aus fein regulierten Einzelschritten, und es gibt über 100 Mausmodelle, die diese Defekte zeigen. Kein einziger Mausstamm zeigt jedoch isoliert, ohne andere Defekte, einen offenen Rücken. Dies verdeutlicht die multifaktorielle Genese der Erkrankung, und stellt wahrscheinlich einen Grund dar, warum diese schwere Fehlbildung des Menschen vergleichsweise wenig erforscht ist.

Diese Arbeit beschäftigt sich mit dem neuralen Zelladhäsionsmolekül (NCAM) und der Polysialinsäure (PSA) als Zielstruktrur in der Genese der Neuralrohrdefekte. Die gezielte Vermittlung von Annäherung und Abstand stellt ein Leitprinzip in der Embryonalentwicklung dar, das bei einer Störung des Gleichgewichts zu Defekten führt. Die wichtige Funktion des PSA-NCAM in dem Prozess des Neurulation ist bereits dokumentiert, andererseits ist bekannt, dass VPA in-vitro NCAM zu beeinflussen vermag. In dieser Arbeit soll aus beiden Bausteinen ein möglicher Mechanismus zur Entstehung der Neuralrohrdefekte durch teratogene VPA-Derivate in-vivo abgeleitet werden.

(14)

1.1- Embryonalentwicklung und Neuralrohrdefekte

1.1.1- Embryonalentwicklung

Die Lehre von der Embryologie beschäftigt sich mit der Entwicklung des Individuums von der Befruchtung bis zur Geburt. Nach morphologischen Gesichtspunkten läßt sich die Entwicklung in die Blastogenese, Embryonal- und Fetalperiode einteilen. Die Embryonalperiode beginnt mit dem Aufreten des Primitvstreifens als Voraussetzung zur Bildung des Neuralrohres und beeinhaltet die Bildung aller Organanlagen. In der Fetalperiode differenzieren sich die meisten Organe bis zur Geburt aus. Der zeitliche Verlauf der frühen Individualentwicklung ist in Tabelle 1 für den Menschen und die Hausmaus (Mus musculus) gezeigt. Im Gegensatz zu den großen zeitlichen Differenzen der embryonalen Entwicklungsstufen zwischen Mensch und Hausmaus sind die sichtbaren Somitenpaare wie ein inneres Uhrwerk, das in der Geschwindigkeit der Embryonalentwicklung tickt (Macdonald et al., 1998). Die Somiten sind unabhängig von dem Zeitpunkt der Entwicklung ein Kennzeichen der Reife des Embryos und charakterisieren damit spezifisch die Phase der Embryonalentwicklung.

Tabelle 1.1: Morphologische Kennzeichen der Embryonalentwicklung im zeitlichen Verlauf und im Vergleich zur Anzahl der Somiten beim Menschen und der Hausmaus.

Maus(1) Mensch(2)

Embryonale Entwicklungsstufe Tag Somiten

(n)

Tag Somiten (n)

Befruchtung der Eizelle 0 - 0 -

Anheftung der Blastozyste 4,5 - 5-6 -

Implantation des Embryos 5 - 7-12 -

Primitivgrube sichtbar 7 - 18 -

1. Somitenpaar sichtbar, Neuralrohr schließt sich im Hals-/Kopfbereich

8-8,5 1-7 20 1-3 Formation des rostralen Neuroporus 9-9,5 13-20 24 13-20 Formation des caudalen Neuroporus,

Gliedmaßenknospe vorne sichtbar

9,5- 10,25

21-29 26 21-29 Schluß des caudalen Neuroporus, Gliedmaßen-

knospe hinten sichtbar

10,25- 10,75

>30 27-29 >30 1: (Kaufman, 1999)und (Theiler, 1972), 2: (O´Rahilly & Müller, 1987)

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1.1.2- Neuralrohrentwicklung

Das Neuralrohr ist der embryonale Vorläufer von Gehirn und Rückenmark, es entsteht im Verlauf der Neurulation. Die Neurulation läßt sich in 3 Abschnitte unterteilen: neurale Induktion, Bildung der Neuralfalten und Schluß des Neuralrohres (siehe Abb. 1.1). Während der neuralen Induktion entsteht die Neuralplatte aus multipotenten Stammzellen des embryonalen Ektoderm (Coop et al., 1990).

Abb. 1.1:

Neuralrohrentwicklung (Langmann, 1975) a: Chorda dorsalis b: Neuralleistenzellen c: Neuralgrube

d: Oberflächenektoderm e: Neuralrohr

1: rostraler Neuroporus 2: Neuralfalten

3: Somiten

4: caudaler Neuroporus

Die treibende Kraft für diese Induktion der Differenzierung ist umstritten. Traditionell wird angenommen, dass das initiale Signal zur Differenzierung in den Stammzellen selbst begründet ist (Roux, 1885). Eine neue Sichtweise geht von intrinsischen und extrinsischen Signalen des Notochord und paraxialem Mesoderm aus (Schoenwolf & Smith, 1990). Die lateralen Kanten der Neuralplatte verdicken sich und heben sich über die Oberfläche hervor, wobei sich zwischen den beiden entstehenden Neuralfalten die Neuralgrube bildet. Die Neuralgrube vertieft sich mit der fortlaufenden Entwicklung der Neuralfalten. Die Neuralfalten durchlaufen einen Richtungswechsel, falten sich in mediane Richtung und

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nähern sich aneinander an. Während des Schlusses des Neuralrohres fusionieren die Neuralfalten in der Medianen und über dem geschlossenen Rohr bildet sich eine epidermale Deckschicht (Schoenwolf & Smith, 1990; Coop et al., 1990).

Der Neuralrohrschluß beginnt von 4 verschiedenen initialen Fusionspunkten aus (siehe Abb.

1.2). Die Zeitspanne der Neurulation läuft in verschiedenen Mäusestämmen unterschiedlich ab, die morphologischen Kennzeichen sind allerdings gleich (Golden & Chernoff, 1993). Die beschriebene primäre Neurulation findet bis zur Kreuzbeinregion statt. Das Rückenmark des caudalen Kreuzbeins und des Schwanzes entsteht durch sekundäre Neurulation, bei der sich mesenchymale Zellen verdichten und kanalisieren, ohne zuvor Neuralfalten gebildet zu haben. Die sekundäre Neurulation spielt beim Menschen eine untergeordnete Rolle, bei der Maus nimmt sie fast die Hälfte der Rückenmarksentwicklung ein (Schoenwolf, 1984).

Abb. 1.2: Initiale Punkte des Neuralrohrschlusses (Harris & Juriloff, 1999)

(Golden & Chernoff, 1993)

1- Übergang von cervikaler zu thorakaler Achse 2- Vorderhirn-/Mittelhirngrenze

3- rostraler Rand des Vorderhirns

4- Stammhirn und cervikale Körperachse

Die Pfeile geben die Richtung des fortlaufenden Neuralrohrschlusses an.

Die Entwicklung des Neuralrohres wird nicht isoliert, sondern im Zusammenspiel mit der Morphogenese der gesamten Körperachse betrachtet. Einige Säugetiere, wie z.B. die Rodentiae, durchlaufen in ihrer frühen Embryonalentwicklung eine Rotation der Körperachse.

Der dorsal konkave Embryo rotiert während des Neuralrohrschlusses zu einem dorsal konvexen Embryo. Der menschliche Embryo durchläuft diese Rotation nicht (Rugh, 1968).

Weiterhin ist die Entwicklung der Neuralleiste eng mit dem Neuralrohr verbunden. Aus Zellen der Neuralleiste entstehen periphere Gliazellen (Schwann´sche Zellen), Melanoblasten, chromaffine Zellen der Nebenniere und Neuroblasten der Spinalganglien (Schnorr, 1996).

(17)

1.1.3- Neuralrohrdefekte

Neuralrohrdefekte sind die häufigsten, angeborenen Defekte des zentralen Nervensystems (ZNS). Eine große Studie aus Ungarn über 2,1 Millionen lebend- und totgeborene Kinder stellt die Neuralrohrdefekte mit 1206 Fällen als zweithäufigste, schwere isolierte Fehlbildung nach den kongenitalen Herzdefekten heraus (Czeizel et al., 2001). Neuralrohrdefekte entstehen durch eine Störung der primären oder sekundären Neurulation; eine Ruptur nach vollständigem Schluß des Neuralrohres ist selten, aber beschrieben (Hook, 1992).

Unterschieden werden die partielle Rachischisis, eine Spaltbildung in Teilen des Neuralrohres, und die komplette Rachischisis. Die partielle Rachischisis wird nach Körperregionen unterteilt. Als craniale Neuralrohrdefekte werden Fehlbildungen des Gehirns, als caudale Neuralrohrdefekte werden Fehlbildungen des Rückenmarks bezeichnet. Die Defekte werden durch eine Beschreibung der beteiligten Strukturen genauer charakterisiert:

eine Meningocele bezeichnet einen blasenartig erweiterten Subarachnoidalraum mit intaktem Nervengewebe, bei der Myelomeningocele (Fehlbildung des Rückenmarks) bzw.

Craniomeningocele (Fehlbildung des Gehirns) ist das Nervengewebe in der blasenartigen Erweiterung verlagert und verformt. Die Myeloschisis bzw. Cranioschisis beschreibt den Zustand des nicht geschlossenen Neuralrohrs, der Defekt ist unbedeckt von Haut oder Schädelknochen. Im lumbalen Bereich wird dieser Defekt als Spina bifida aperta (offener Rücken) bezeichnet, im cranialen Bereich als Anenzephalie bzw. Exenzephalie (Patten, 1953).

Die Ursachen von Neuralrohrdefekten sind multifaktoriell. Formell werden genetische und umweltbedingte Ursachen unterschieden, man geht aber von einer Interaktion der genetischen Prädisposition mit einem auslösenden Agens aus (Carter, 1974). Epidemiologische Studien zeigen beim Menschen den Einfluß des Herkunftlandes und eine Geschlechtsprädisposition für Anencephalie bei Frauen (Chatkupt et al., 1994; Dolk et al., 1991). Die Prävalenz von Spina bifida und Anencephalie ist rückläufig. Eine US amerikanische Studie verzeichnet einen Rückgang der Neuralrohrdefekte von1991 bis 2001 um 23% und führt diesen Rückgang auf die staatliche Folsäure-Supplementierung in Getreideprodukten zurück (Mathew et al., 2002). Die Wirsamkeit der Folsäuresupplementierung zur Prävention von Neuralrohrdefekten ist sowohl für nicht-prädisponierte als auch für prädisponierte Familien gezeigt (Czeizel &

Dudas, 1992; MRC Vitamin Study Research Group, 1991).

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Die epidemiologische Erfassung von Neuralrohrdefekten ist ausgesprochen schwierig, da aufgrund einer häufig unzureichenden Erfassung von Schwangerschaftsabbrüchen sowie Tot- und Frühgeburten die gezählte Häufigkeit nicht der wahren Inzidenz entspricht (Frey &

Hauser, 2003). Als teratogener Effekt wird ein Defekt der physiologischen Organogenese durch ein auslösendes Agens bezeichnet. Fetale Anomalien infolge toxischer Einflüsse sind dagegen unspezifisch, wie eine gehemmte Knochenentwicklung mit verschmolzenen Rippenpaaren oder ein verringertes Körpergewicht (Black & Marks, 1992). Im Tiermodell sind zahlreiche Substanzen bekannt, die Neuralrohrdefekte in-vivo induzieren können. Hierzu zählen:

ƒ Arzneimittel: Retinoide (Ehlers et al., 1992)

Valproinsäure (Nau et al., 1981)

ƒ Suchtmittel: Ethanol (Bannigan & Burke, 1982)

Lysergsäurediethylamid (LSD) (Geber, 1967)

ƒ Pflanzeninhaltsstoffe: Solanumalkaloide (Keeler et al., 1978)

ƒ Physikalische Einflüsse: Röntgenstrahlung (Friedberg et al., 1987) Hyperthermie (Webster & Edwards, 1984)

ƒ Schwermetalle: Cadmium (Webster & Messerle, 1980)

ƒ Weichmacher: Phtalate (DEHP, DBP) (Shiota & Nishimura, 1982)

ƒ Azofarbstoffe: Trypanblau (Lendon, 1974)

Es gibt nur wenige Teratogene, die bei beiden Spezies, beim Menschen und einem Labornager, Neuralrohrdefekte induzieren, hierzu zählen Retinoide und Valproinsäure. Die meisten teratogenen Substanzen, die in Versuchstieren Neuralrohrdefekte erzeugen, verursachen beim Menschen keine Fehlbildung des Neuralrohrs (Übersicht siehe Coop et al., 1990)

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1.2- Valproinsäure (VPA)

1.2.1- Anwendung und Bedeutung der VPA

Die 2-Propylpentansäure (Valproinsäure, VPA) ist eine kurzkettige und einfach verzweigte Fettsäure. Die Synthese dieser Substanz gelang dem Chemiker Burton erstmalig 1882 (Burton, 1882). Die antikonvulsive Wirksamkeit der VPA wurde durch Zufall von Pierre Eymard entdeckt, der den Wirkstoff als Lösungsmittel für andere Substanzen verwendete (Meunier et al., 1963). VPA wurde 1967 zuerst in Frankreich als Arzneimittel gegen die Epilepsie zugelassen, darauffolgend in über 100 anderen Ländern und ist heute eines der am häufigsten verwendeten antikonvulsiven Medikamente (Löscher, 2002; Perucca, 2002).

Klinische Studien zeigen die hohe Wirksamkeit als Monotherapeutikum gegen partielle und generalisierte tonisch-klonische Krämpfe sowohl bei Erwachsenen (Heller et al., 1995) als auch bei Kindern (de Silva et al., 1996). Die Erfahrungen der langjährigen Anwendung zeigen, dass die VPA wahrscheinlich das weiteste antikonvulsive Spektrum aller etablierten Antiepileptika hat (Davis et al., 1994). Die optimalen therapeutischen Plasmaspiegel der Valproinsäure als Antikonvulsivum werden beim Menschen mit 50- 100 µg/ml angegeben, das entspricht 350- 700 µmol/ml; einige Patienten sprechen allerdings auch außerhalb dieses Bereiches auf die Therapie an (Davis et al., 1994; Commission on Antiepileptic drugs, 1993).

COOH

H

Abb. 1.3: Chemische Struktur der Valproinsäure

Molekulargewicht: 144,21 g/Mol Schmelzpunkt: 120- 121°C pKa: 4,56

log P (Wasser/Oktanol): 2,72

Ein weiterer Anwendungsbereich der VPA ist die Migräneprophylaxe. 1988 beschreibt Sørensen in einer offenen, prospektiven Studie die vorbeugende Wirkung auf Migräneattacken (Sörensen, 1988). Dieser Untersuchung folgen verblindete, Placebo- kontrollierte Studien, die die Wirksamkeit der VPA in der Migräneprophylaxe bei Kindern und erwachsenen Patienten bestätigen (Klapper, 1997; Serdaroglu et al., 2002). Die therapeutischen Plasmaspiegel sind in der Migräneprophylaxe niedriger als die empfohlenen

(20)

Spiegel in der Epilepsiebehandlung. Eine aktuelle Studie empfiehlt Dosierungen, die zu einem Plasmaspiegel unter 50 µg/ml führen (Kinze et al., 2001).

VPA wird seit Ende der 70er Jahre gegen schwere Psychosen eingesetzt. Bowden beschreibt 1994 die gute Wirksamkeit von VPA und Lithium bei der Behandlung akuter Psychosen in einer Placebo-kontrollierten, verblindeteten Studie an 179 Patienten (Bowden et al., 1994).

Eine andere Studie vergleicht Carbamazepin und VPA in ihrer Effizienz und Verträglichkeit bei der Behandlung manischer Erkrankungen. Beide Substanzen sind als gut wirksam beschrieben, der Autor kommt allerdings im direkten Vergleich zu dem Ergebniss, dass VPA eine schnellere Wirksamkeit und weniger Nebenwirkungen als Carbamazepin hat. Die wirksame Plasmakonzentration beträgt in dieser Studie 50- 100 µg/ml (Vasudev et al., 2000).

Eine aktuelle Entwicklung in der Anwendung der VPA ist die Therapie bösartiger Gliazelltumoren im Kindesalter. 1996 entdeckt die Arbeitsgruppe um Jindrich Cinatl die antitumorale Wirkung von VPA auf humane Neuroblastomzellen in-vitro (Cinatl Jr. et al., 1996). 2 Jahre später zeigt Driever die Induktion der Differenzierung von Gliomzellen in- vitro und beschreibt VPA als sinnvolle Konsolidierungstherapie nach Chemo- oder Strahlentherapie bei malignen Gliomen im Kindesalter (Driever et al., 1999). Aufgrund der vorklinischen Ergebnisse wird die VPA in einer klinischen Testphase I an Patienten mit malignen Gliomen angewendet (Gesellschaft deutschsprachiger Neuropediatrie und pediatr.

Onkologie und Hämatologie, HIT-GBMc Studie, Deutsche Kinderkrebsstiftung DKS 2000.03).

1.2.2- Nebenwirkungen der VPA-Anwendung

Der größte Anteil der Nebenwirkungen, die während der Behandlung mit VPA beobachtet werden, sind von geringer Schwere, meist in der frühen Phase der Therapie zu beobachten und erzwingen keine Veränderung der Dosierung (Schmidt, 1984). Jeavons berichtet, dass in einem Zeitraum von 6 Jahren bei über 500 Patienten im üblichen Dosierungsbereich der Epilepsiebehandlung keine schweren Nebenwirkungen beobachtet wurden (Jeavons, 1982).

Als eine der häufigsten Nebenwirkungen tritt eine Gewichtszunahme auf sowie gastrointestinale Störungen und neurologische Effekte, wie Müdigkeit, Tremor, Kopfschmerzen und Schwindelanfälle. Weiterhin wird vorübergehender Haarausfall

(21)

beschrieben (Davis et al., 1994). Die starke Gewichtszunahme durch die VPA-Therapie ist nicht unumstritten. Easter et al. (1997) stellten fest, dass zwischen einer VPA- und einer Carbamazepin behandelten Gruppe von Kindern keine Unterschiede in der Gewichtsentwicklung festzustellen sind. Im Vergleich zu anderen Antiepileptika werden gastrointestinale häufiger als neurologische Nebenwirkungen beobachtet (Schmidt, 1984). Bei weiblichen Patienten werden endokrinologische Störungen wie polyzystische Ovarien und Hyperandrogenismus beschrieben (Isojärvi et al., 1996).

Gegenüber den beschriebenen häufigeren, aber nicht lebensbedrohlichen Nebenwirkungen, ist die VPA-Therapie assoziiert mit zwei schweren, aber seltenen Nebenwirkungen: der akuten schweren Hepatotoxizität und der Teratogenität. Eine englische Studie wertet 331 Todesfälle von Kindern im Zusammenhang mit einer Arzneimitteltherapie in den Jahren von 1964 bis 2000 aus. Von den 331 Todesfällen werden 31 mit einer VPA-Therapie assoziiert, hiervon starben 21 Kinder an einem akuten, schweren Leberversagen (Clarkson & Choonara, 2002).

Eine Studie aus Deutschland und der Schweiz dokumentiert 8 Todesfälle bei Kindern-von 1988 bis 1996 durch ein VPA-assoziiertes Leberversagen (Konig et al., 1994). Die Hepatopathie wird im Zusammenhang mit dem VPA-Metaboliten 2-Propyl-4-Pentensäure diskutiert, die Mechanismen sind aber unbekannt (Siemens & Nau, 1991).

1.2.3- VPA-Anwendung während der Embryonalentwicklung

1.2.3.1- Epidemiologie von VPA-induzierten Fehlbildungen des Menschen

Die Einnahme von VPA während der Schwangerschaft ist korreliert mit verschiedenen Fehlbildungen bei den Nachkommen. Robert und Guibaud berichten 1982 erstmals von dem vermehrten Auftreten von Meningozelen bei Kindern von epilepsiekranken Müttern während der VPA-Therapie (Robert & Guibaud, 1982). Im gleichen Jahr werden 9 Fälle von Myelomeningozelen im französischen Rhônes-Alpes von 1976 bis 1982 während VPA- Behandlung dokumentiert (Bjerkedal et al., 1982) und das Risiko einer Spina bifida durch VPA auf ca. 1% der exponierten Embryos kalkuliert. Diese Risikoeinschätzung von ca. 1%

wird von Lindhout et al. 1984 bestätigt (Lindhout & Meinardi, 1984). Eine internationale Studie beschreibt 1986 das Risiko für Spina bifida nach VPA-Exposition im ersten Trimester

(22)

der Schwangerschaft als 1-5% gegenüber einer Inzidenz in der Normalbevölkerung von 0,05 bis 0,3% in Holland, Helsinki und Montreal (Lindhout & Schmidt, 1986). Metaanalysen großer Patientenzahlen belegen das erhöhte Risiko für Neuralrohrdefekte nach VPA- Exposition. Das Risiko wird in einer europäischen Studie bei Tagesdosen >1000 mg als besonders hoch und signifikant höher als nach Carbamazepin-Exposition eingestuft. Neben der Spina bifida aperta werden auch Phocomelie, Herzdefekte und Porenzephalie mit der VPA-Einnahme korreliert (Samren et al., 1997; Arpino et al., 2000). Die sensible Phase der Neuralrohrentwicklung und damit der Zeitpunkt der Schädigung des Embryos durch VPA liegt beim Menschen ungefähr zwischen dem 20. und 30. Tag der Embryonalentwicklung, das entspricht der 4. bis 5. Schwangerschaftswoche (siehe Tabelle 1.1). Zu diesem frühen Zeitpunkt wird der Mutter meist mit dem Ausbleiben der Menstruationsblutung die Schwangerschaft bewußt, die Schädigung des Embryos ist aber bereits irreversibel.

Die VPA-Therapie wird neben den schweren, lebensbedrohlichen Fehlbildungen auch mit weniger schweren Anomalien des Gesichtes und der Hände in Zusammenhang gebracht (Koch et al., 1983; Huot et al., 1987; Arpino et al., 2000). Ein Fehlbildungssyndrom des Gesichts, der Hände und der Gliedmaßen wird von einigen Autoren als fetales Valproat- Syndrom bezeichnet (Verloes et al., 1990; Sarnakava et al., 1990). Die VPA-Exposition des Embryo ist weiterhin verantwortlich für die vermehrte Ausbildung einer Hypospadie (Lindhout & Meinardi, 1984; Lindhout et al., 1992; Arpino et al., 2000).

Die Inzidenz von Neuralrohrdefekten und anderen Fehlbildungen bei Epilepsiekranken ohne Einfluß des Antiepileptikums ist nicht unumstritten. Die Prävalenz von Neuralrohrdefekten pro 10.000 geborener Kinder in der gesamten Bevölkerung wird aktuell für Sachsen-Anhalt zwischen 15,8 für das Jahr 1990 und 11,5 für das Jahr 2001 angegeben (Rösch et al., 2002).

Das Risiko einer Spina bifida aperta nach VPA-Exposition ist ungefähr 20mal größer als in der Allgemeinbevölkerung und 10mal höher als bei Kindern, deren Mütter während der Schwangerschaft mit einem anderen Antiepileptikum behandelt worden sind (Lindhout &

Schmidt, 1986). Zahlreiche Studien belegen den Zusammenhang zwischen der Epilepsieerkrankung und leichten Fehlbildungen des Gesichts und der Hände (Rating et al., 1987; Koch et al., 1983; Gaily et al., 1988; Thomas et al., 2001; Nulman et al., 1997). Die Korrelation zwischen schweren Fehlbildungen und der Epilepsieerkrankung wird von einigen Autoren bestätigt (Koch et al., 1983; Lindhout et al., 1992; Durner et al., 1992), entweder

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aufgrund einer genetischen Prädisposition oder aufgrund maternaler Krampfanfälle während der Schwangerschaft. Eine amerikanische Studie findet keine Korrelation zwischen dem Risiko für Fehlbildungen und der Erkrankung an Epilepsie. In dieser Untersuchung wird die teratogene Wirkung der VPA auch an nicht-epilepsiekranken Patienten gezeigt (Holmes et al., 2001).

1.2.3.2- Teratogene Effekte der VPA in verschiedenen Labortierspezies

Die Teratogenität von Valproinsäure unterliegt starken Unterschieden zwischen den Spezies.

Während beim Menschen der weitaus häufigste Neuralrohrdefekt die Meningomyelocele oder Spina bifida aperta im Lumbalbereich ist, ist der häufigste Neuralrohrdefekt im Versuchstier die Exenzephalie in der Maus. Das Exenzephaliemodell (siehe Abb.1.4) wurde im NMRI- Auszuchtstamm 1981 etabliert (Nau et al., 1981). Die sensible Phase zur Induktion der Exenzephalie liegt bei Tag 8,0 der Trächtigkeit, außerhalb dieses Zeitrahmens fällt die Exenzephalierate der Feten deutlich ab (Nau, 1985). Der optimale Zeitpunkt wurde in nachfolgenden Arbeiten bei Tag 8,25 für den NMRI Stamm festgelegt (Elmazar & Nau, 1992). Der teratogene Effekt im Mäusefetus hängt von den erreichten Plasmapeaks im maternalen Blut ab, während die embryotoxischen Effekte, gemessen als Embryolethalität und fetaler Gewichtsrückgang, direkt vom Konzentrations-/Zeitverhältnis (area under the curve in einer Konzentrations-/Zeitkurve) abhängen (Nau, 1985).

Die Induktion der Spina bifida aperta ist im NMRI-Stamm mit hohen Dosen von VPA möglich. Die weitaus häufigste Mißbildung im Spina-bifida Modell (siehe Abb. 1.4) der Maus ist allerdings die Spina bifida occulta, die als Spaltbildung im pathologisch erweiterteten knöchernen Wirbelkanal gemessen wird (Ehlers et al., 1992). Die Mißbildung des Neuralrohres tritt bei sehr hohen Dosen ( 600 mg/kg) in der Maus gemeinsam mit Knochenmißbildungen des Schädels und der Wirbelsäule auf (Padmanabhan & Hameed, 1994), bei niedrigeren Dosen (125 und 250 mg/kg) sind dosisabhängig zusätzliche Rippen zu beobachten (Chernoff & Rogers, 1992).

(24)

Abb. 1.4: Exenzephalie- Modell und Spina bifida- Modell.

Die Modelle unterscheiden sich in den Zeitpunkten der Substanzapplikation und in den benötigten Dosierungen. Der teratogene Effekt der VPA ist abhängig von der sensiblen Phase des Neuralrohrs als Zielorgan.

Exenzephaliemodell

18

Tag der Trächtigkeit

0 8.25

18 0 9.0, 9.25, 9.5

Verpaarung Behandlung Sektion Tag der Trächtigkeit Spina bifida- Modell

Durch Verabreichrung von VPA an zwei Zeitpunkten an Tag 9 der Trächtigkeit wird Ektrodaktylie induziert (Scott et al., 1997), und der ausgeprägte Zirkadianrythmus der Maus kann die Embryotoxizität der VPA zusätzlich beeinflussen (Ohdo et al., 1995). Bis heute ist die Maus die einzige Versuchstierspezies, die nach VPA-Behandlung deutlich erkennbare und signifikant vermehrt Neuralrohrdefekte zeigt. Zwischen den verschiedenen Mäusestämmen sind allerdings erhebliche Unterschiede in der Empfindlichkeit auf die teratogenen Effekte der VPA beschrieben (Naruse et al., 1988; Faiella et al., 2000).

Die Teratogenität der VPA wurde auch in anderen Labortierspezies untersucht. Der Rhesusaffe reagiert mit erhöhter Embryolethalität, retardiertem Wachstum und Mißbildungen des Gesichts und verschiedener Skelettanteile (Mast et al., 1986) (Hendrichx et al., 1988).

Häufiger ist die VPA-Behandlung während der Embryonalentwicklung der Ratte beschrieben;

auch in dieser Spezies werden zahlreiche Skelettdeformationen (Menegola et al., 1998;

Ceylan & Duru, 2001) und abhängig vom Somitenstadium deformierte Somiten, Spinalnerven und Spinalganglien beobachtet (Menegola et al., 1999). Ein vergleichbares Bild mit Skelettmißbildungen und zusätzlichen Defekten des Herzens und Urogenitaltraktes zeigt das

(25)

Kaninchen (Petrere et al., 1986). Die VPA erzeugt auch im Zebrafisch (Brachydanio rerio), im Axolotl (Ambystoma mexicanum) und im Krallenfrosch (Xenopus laevis) keine Neuralrohrdefekte (Oberemm & Kirschbaum, 1991; Dawson et al., 1992; Herrmann, 1993).

Ein in-ovo Hühnchen-Modell beschreibt neben verschiedenen anderen Defekten auch eine Deformation des Neuralrohres (Whitsel et al., 2002).

1.2.3.3- Mechanismen der teratogenen Wirkung von VPA und VPA-Derivaten Kinetik

Die teratogenen Effekte eines Wirkstoffes sind direkt abhängig von seiner Aufnahme, Verteilung, Metabolisierung und Ausscheidung. Die Liphophilie einer Subststanz kann mit dem Wasser-Oktanol-Verteilungskoeffizient als Modell für biologische Membranen, abgekürzt als log P Wert, beschrieben werden. VPA ist mit einem log P Wert von 2,72 eine lipohile Substanz (Bojic et al., 1996). Nach einer oralen Gabe von 50 mg/kg werden für die Maus folgende pharmakokinetische Daten im Ein-Kompartment Modell angenommen:

Halbwertszeit: 0,8 Stunden

Verteilungsvolumen: 0,3 l/kg

Gesamtclearance: 400 – 900 ml/Std./kg Proteinbindung: 30 – 50%

Bei einem pKa von 4,56 liegt die schwache Säure bei physiologischem Blut-pH von 7,4 zu 99,9% ionisiert vor. Die VPA unterliegt in der Maus einem ausgeprägten first-pass Effekt;

nach oraler Gabe erreichen die Plasmaspiegel nur 50% der Konzentration im Vergleich zur subcutanen Injektion (Löscher & Esenwein, 1978; Löscher, 1978; Nau & Löscher, 1984; Nau, 1985; Nau & Löscher, 1986). Die Gewebeschichten zwischen maternalem Blut und Fetus sind beim Menschen und der Maus mit einer Placenta haemochorialis ähnlich ausgeprägt. In-vitro ist ein aktiver, pH-abhängiger Transport in humanen Chorionkarzinomzellen beschrieben, der zu einer Anreicherung der VPA auf der fetalen Seite führt (Ushigome et al., 2001).

In-vivo ist für die VPA eine deutliche Akkumulation im embryonalen Neuroepithel nachgewiesen; diese Anreicherung einer schwachen Säure im Embryo erklärt sich durch einen höheren pH Wert des Embryos im Vergleich zum maternalen Gewebe (Dencker et al., 1990;

Nau & Scott, 1986). Die VPA wird zu verschiedenen pharmakologisch aktiven Substanzen

(26)

metabolisiert, die Metaboliten sind jedoch nicht verantwortlich für den teratogenen Effekt.

Von den Metaboliten ist nur die 2-Propyl-4-Pentensäure (4-en-VPA) teratogen, und diese Substanz liegt deutlich geringer konzentriert als die Ausgangssubstanz VPA im Plasma vor.

Die Teratogenität der VPA folgt einer Dosis-Wirkungsbeziehung, die Metaboliten steigen aber aufgrund von Sättigungsmechanismen nicht proportional zur Dosis an. Die Vorbehandlung mit Phenobarbital induziert einige Metabolisierungswege, verstärkt aber nicht die Teratogenität (Nau, 1986).

Stoffwechselwege

Als mögliche Mechanismen für die Teratogenität der VPA werden verschiedene Stoffwechselwege diskutiert. Die Supplementierung von Folsäure ist wirksam zur Prävention von Neuralrohrdefekten, die Prävention von VPA-induzierten Defekten durch Folsäure wird widersprüchlich diskutiert. In einer randomisierten, Doppel-Blind-Studie beschreiben Trotz et al. eine dosisabhängige, signifikante Reduzierung der Exenzaphlieraten in NMRI Mäusen nach gemeinsamer Verabreichung von Folsäure und VPA (Trotz et al., 1987). Die protektive Wirkung der Folsäure wird von Hansen et al. in CD-1 Mäusen nicht bestätigt (Hansen et al., 1995). Einen Hinweis auf die Interaktion der Teratogenität der VPA mit dem Folatstoffwechsel geben Arbeiten über den protektiven Effekt von Vitamin B6 und B12. Die Vitaminsupplementierungen führen zu einer Reduktion der VPA-induzierten Exenzephalie und Spina bifida occulta (Elmazar et al., 1992). Ein Folsäure- oder Vitamin B12 Mangel kann einen Methioninmangel verursachen. Auch die zusätzliche Verabreichung von Methionin reduziert die VPA- induzierte Spina bifida (Ehlers et al., 1996). Der Dihydrofolatreduktase- Inhibitor Trimethoprim verstärkt hingegen die teratogenen Effekte der VPA (Elmazar & Nau, 1993).

Ein weiterer Zusammenhang besteht zwischen der Teratogenität der VPA und den antioxidativen Effekten von Vitamin E. Die kombinierte Verabreichung von Vitamin E und hohen Dosen VPA führte zu signifikant geringeren Exenzephalierate und einer verringerten Embryotoxizität (Al Deep et al., 2000). Der Retinoidmetabolismus spielt in der Embryonalentwicklung eine wichtige Rolle. Eine Studie an Kindern und Jugendlichen zeigt, dass VPA und andere antikonvulsiv wirkende Medikamente den Retinoidmetabolismus beeinflussen (Nau et al., 1995).

(27)

Proliferation, Zelldifferenzierung und Zelladhäsion

VPA besitzt anti-proliferative Wirkung in verschiedenen Nervenzellkulturen. Dieser Effekt wird sehr exakt auf eine Unterbrechung der Interphase in der mittleren G1-Phase der Mitose in C6-Gliomazellen terminiert. Die Unterbrechung des Zellzyklus in der G1-Phase ist assoziiert mit einer verstärkten Expression des Proteins Cyclin D3. Embryonalen Zellen durchlaufen Phasen intensiver Zellteilung und die Hemmung der Interphase könnte ein Teratogenitätsmechanismus sein (Bacon et al., 2002; Martin & Regan, 1991). Eine Studie in Ratten zeigt, dass VPA einen Einfluß auf die Vaskularisierung der Plazenta während der Trächtigkeit hat. Die Sprossung und Proliferation von Kapillaren der fetalen Seite ist verringert und der Durchmesser der Nabelvenen verkleinert (Khera, 1992).

VPA und VPA-Derivate zeigen in verschiedenen in-vitro Systemen einen ausgeprägten Einfluß auf die Proliferation von Nervenzellen. In Korrelation zu ihrer teratogenen Potenz hemmen VPA-Derivate die Proliferation von C6-Gliomzellen (Courage-Maguire et al., 1997;

Bojic et al., 1998). In verschiedenen Neuroblastomzelllinien hemmen VPA-Derivate analog ihrer Teratogenität die Verzweigung von Neuriten sowie die Motilität der Zellen und beeinflussen verschiedene Proteine des Zytoskeletts, wie F-Aktin und ß-Tubulin (Walmod et al., 1998; Skladchikova et al., 1998). In einer primären Kultur von Kleinhirnzellen hemmt VPA die Formation von Nervenfasern und die Aggregation der Nervenzellen (Maar et al., 1997). Die Beeinflussung von Proliferation und Zellmotilität kann auch während der Embryonalentwicklung eine Ursache für die gestörte Neurulation sein. In F9- Teratokarzinomazellen induzieren teratogene VPA-Derivate in-vitro eine verstärkte Expression des Neuralen Zelladhäsionsmoleküls (NCAM, siehe Abschnitt 1.3.1, bisher unveröffentlichte Ergebnisse von Dr. Dr. Alfonso Lampen aus dem eigenen Arbeitskreis), ein Protein, das Wanderung, Adhäsion und Kommunikation zwischen Zellen regulieren kann.

Das hochteratogene Derivat rac-Pentyl-4-yn (siehe Abschnitt 1.2.3.4) induziert in der Neuroblastomzelllinie neuro-2A die Differenzierung der Zellen, vermehrte Neuritogenese und dosisabhängig einen Anstieg der NCAM-Expression in Konzentrationen von 0,5 bis 2,0 mM (Bojic et al., 1998). Der Effekt von VPA-Derivaten auf die Adhäsion von Zellen wird in-vivo im Meerwasserpolypen Hydractinia gezeigt; konzentrationsabhängig verhindern die Substanzen eine Integration bestimmter Zellgruppen in den Larvenkörper (Berking, 1991).

(28)

Kernrezeptoren

Ein möglicher Bestandteil einer Zellkaskade als Ursache der teratogenen Effekte der VPA sind Rezeptoren des Zellkerns. Die peroxisome proliferator-activated receptors (PPAR´s) gehören zu einer Superfamilie von Kernrezeptoren, die nach Aktivierung über eine DNA- bindende Domäne direkt die Transkription verschiedener DNA-Abschnitte beeinflussen. Die teratogenen VPA-Derivate induzieren eine Zelldifferenzierung in F9-Teratokarzinomzellen und in Chinese Hamster Ovary Zellen (CHO). Mit Hilfe eines Luciferase-Reportergenassays wird gezeigt, dass nur die teratogenen VPA- Derivate den PPARδ Rezeptor aktivieren. Die nicht-teratogenen Derivate induzieren weder die Differenzierung, noch aktivieren sie den PPARδ Rezeptor (Lampen et al., 1999; Lampen et al., 2001; Lampen et al., 2001). Einen komplexen Einfluß auf die Transkription verschiedener Gene kann VPA über die Hemmung von Histondeacetylasen (HDAC) nehmen. HDACs bestimmen die Verpackung der Nukleosomen und damit den direkten Zugriff auf die genetische Information. Zeitgleich beschreiben zwei Arbeitsgruppen VPA als potenten HDAC-Inhibitor (Göttlicher et al., 2001;

Phiel et al., 2001). Phiel et al. korrelieren die Inhibition von HDACs mit der teratogenen Wirkung und zeigen, dass nicht-teratogene VPA-Derivate HDAC nicht hemmen. Die Inhibition von HDAC ist bekannt als Strategie zur Krebstherapie, andererseits ist der HDAC- Inhibitor Trichostatin A ein Teratogen und verursacht Neuralrohrdefekte (Svensson et al., 1998).

Genexpression

Die unterschiedliche Sensibilität verschiedener Mäusestämme für die teratogenen Effekte der VPA wirft die Frage nach den genetischen Ursachen und möglichen molekularen Zielstrukturen auf (Naruse et al., 1988; Faiella et al., 2000). In verschiedenen Mäusestämmen werden abhängig von der Sensibilität auf die VPA-Behandlung Gene aus dem Folsäurestoffwechselweg aktiviert. Auch ohne die VPA-Behandlung zeigt der hochempfindliche SWV-Inzuchtstamm während der Neurulation eine schwächere Expression wichtiger Gene für den Folatstoffwechsel (Finnell et al., 1997); dies könnte eine Ursache für die hohe Sensibilität auf die teratogenen Effekte der VPA sein. In Reaktion auf eine VPA- Behandlung in teratogenen Dosisbereichen werden mehrere Gene verstärkt exprimiert; hierzu zählen Transkriptionsfaktoren (Emx-1, Emx-2, c-fos, c-jun, creb), regulatorische Gene des

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Zellzyklus (p53 und bcl-2) und verschiedene Wachstumsfaktoren. Die direkte Bedeutung der zumeist sehr komplexen Zusammenhänge zwischen Genexpression und Teratogenität bleibt allerdings unklar (Wlodarczyk et al., 1996; Bennett et al., 2000).

Ein spezielles Enzym des Zellzyklus, die Ribonukleotidreduktase (RNR), wird in 2 Untereinheiten codiert (RNR-r1 und RNR-r2). RNR-r1 wird spezifisch an der Stelle der gestörten Neurulation nach VPA-Behandlung erhöht exprimiert und stellt eine mögliches Zielgen dar (Craig et al., 2000). VPA beeinflußt neben der Neurulation auch die Knochen- und Knorpelentwickung, inbesondere bei hohen Dosierungen und außerhalb der sensiblen Phase der Neuralrohrentwicklung. Als möglicher Mechanismus wird eine verringerte Expression von Knorpelmatrixgenen (Kollagen Typ IX und aggrecan core Protein) im Hühnerembryo beschrieben (Basu & Wezemann, 2000).

Ausgehend von der Beobachtung, dass die VPA-induzierten Skelettdefekte oftmals keine strukturelle Veränderung, sondern nur eine Verschiebung oder Verdopplung beeinhalten (homeotic transformations), gelingt der Nachweis einer veränderten Expression verschiedener Gene der HOX Familie (Faiella et al., 2000). Das activator protein-1 (AP-1) ist ein Komplex aus verschiedenen Produkten der Transkriptionsfaktorfamilien Fos und Jun. Diese Faktoren spielen eine zentrale Rolle in der Regulation von Apoptose und Differenzierung der Zelle.

VPA verstärkt die Expression der verantwortlichen Gene in Gliom- und Neuroblastomzellen in-vitro und könnte auf diese Weise auch in die Embryogenese eingreifen (Chen et al., 1999).

Die Mikroarray-Technik ermöglicht die Expressionsanalyse vieler verschiedener Gene gleichzeitig. Zwei Studien haben VPA-behandeltes Fetalgewebe untersucht, detailierte Beschreibungen und Bewertungen der Ergebnisse stehen allerdings noch aus (Stodgell et al., 2003; Horsley et al., 2003)

1.2.3.4- Struktur- Aktivitätsbeziehungen der VPA-Derivate im Mausmodell

Die teratogene Wirkung der VPA im Exenzephaliemodell folgt sehr engen Strukturmerkmalen. Durch die gezielte Veränderung des VPA-Moleküls können die Zusammenhänge zwischen chemischer Struktur und biologischem Effekt genau beschrieben werden. Das α-C Atom muß in einem teratogenen Derivat eine freie Carboxylgruppe tragen (Nau et al., 1991), die Kohlenstoffkette ist am C2-Atom verzweigt und das C2-Atom

(30)

verbindet 2 Alkylketten. Zusätzlich tragen teratogene Derivate am C2-Atom einen Wasserstoffrest (Bojic et al., 1998). Die Einführung einer Methylgruppe an C2, C3 oder C4 führt zu starker Abnahme oder zum Verschwinden der Teratogenität (Bojic et al., 1996).

Ebenso sind Derivate mit Doppelbindungen zwischen C2/C3 oder C3/C4 nicht oder nur sehr schwach teratogen (Nau et al., 1991). Eine randständige Doppel- oder Dreifachbindung am C4 Atom hingegen verstärkt die teratogene Aktivität. Propyl-4-Pentinsäure (4-yn VPA) ist das erste Derivat der VPA, das stärker teratogen als die Muttersubstanz ist. Eine wichtige Erkenntis ist, dass sich die chiralen Derivate in der teratogenen Aktivität ihrer Enantiomere stark unterscheiden. Das S-Enantiomer der 4-yn VPA ist achtfach stärker teratogen als das R- Enantiomer (Abb. 1.5) und S-Propyl-4-Pentensäure verursacht ca. viermal mehr Exenzephalie im Mausmodell als R-Propyl-4-Pentensäure (Hauck & Nau, 1989; Hauck & Nau, 1992). Die Erkenntnisse aus den Studien der Struktur-Aktivitäten werden gezielt zur Synthese neuer Substanzen umgesetzt, auf diese Weise entsteht die (S)-Pentyl-4-Pentinsäure (S-Pentyl-4-yn, siehe Abb. 1.5). S-Pentyl-4-yn hat einen TeraD50-Wert von 0,72 mmol/kg, R-Pentyl-4-yn von 3,11 mmol/kg und VPA hat einen TeraD50-Wert von 3 mmol/kg in-vivo in der NMRI Maus (Dissertation J. Volland 2002). Durch die Verzweigung der Seitenkette des 4-yn VPA entsteht Isobutyl-4-Pentinsäure, eine Substanz ohne teratogene Aktivität (Bojic et al., 1996).

(31)

C O 2

C O 2H

C O 2H

H CO2H H C O 2H CO2H

Kettenverlängerung

(S)-Pentyl-4-yn 4-yn -VPA

(S)-4-yn -VPA (R) - 4 - yn - VPA Dreifachbindung

Enantiomere

COOH H

Valproinsäure

zunehmende Teratogenität

COOH

Abb. 1.5: Struktur-Aktivitätsbeziehungen verschiedener VPA-Derivate.

Durch das Einfügen einer Dreichfachbindung zwischen das vierte und fünfte Kohlenstoffatom der Seitenkette entsteht 4-yn-VPA, ein Derivat mit stärkerer Teratogenität als VPA. Das S- Enantiomer zeigt zusätzlich eine deutlich stäkere Teratogenität als das R-Enantiomer. Durch Verlängerung einer Seitenkette kann die Teratogenität ebenfalls gesteigert werden. Aus der Kombination dieser 3 Struktur-Aktivitätsbeziehungen entsteht (S)-Pentyl-4-yn, eines der teratogensten VPA-Derivate in-vivo und in-vitro.

(Bojic et al., 1996), (Dissertation U. Gravemann, Hannover 2001)

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1.3- Neurales Zelladhäsionsmolekül (NCAM) und α2,8-Polysialinsäure (PSA)

1.3.1- NCAM

Die Moleküle an der Oberfläche von Nervenzellen fügen die einzelne Zelle in ein komplex koordiniertes Gesamtsystem ein. Eine Möglichkeit zur Koordination von Zellen ist die Vermittlung von Abstand oder Annäherung. Das neurale Zelladhäsionsmolekül NCAM ist ein Glykoprotein und wird in die Großfamilie der Immunglobulin-artigen Zelladhäsionmoleküle eingeordnet. Innerhalb dieser Familie ist NCAM das erste Zelladhäsionsmolekül, das entdeckt wurde (Rutishauser et al., 1976). Die Grundstruktur aller Immunglobulinproteine der Klasse 3 sind sich wiederholende Motive, sogenannte Ig-artige Domänen und Fibronektin Typ III Sequenzen. Alle NCAM-Isoformen basieren auf der gleichen Polypeptidkette und besitzen extrazellulär 5 Ig-artige Domänen mit 2 Fibronektin Typ III Sequenzen (Cunningham et al., 1987; Hoffmann et al., 1982). Die Basen- und Aminosäuresequenz des NCAM-Proteins ist beschrieben bei Cunningham et al. (1987).

Durch alternatives Splicing des primären Transkripts des einzigen Gens entstehen 3 Isoformen des NCAM (Owens et al., 1987). Diese Isoformen haben eine Molekülmasse von 120, 140 und 180 kDa und besitzen einen ähnlichen extrazellulären Anteil. Die 140 und 180 kDa Isoformen sind über eine transmembrane Domäne mit einem intrazellulären Anteil verbunden, während die kleinste 120 kDa Isoform extrazellulär über einen Glykophosphatidyl-Inositol Anker an die Zellmembran geknüpft ist (Cunningham et al., 1987). Weitere Isoformen des NCAM werden gewebe- und zellspezifisch durch alternatives Splicing des extrazellulären Anteils gebildet (Santoni et al., 1989; Small et al., 1988). Die 140 kDa Isoform wird auf humanen Leukozytenfraktionen exprimiert (natural killer cells) und in diesem Zusammenhang als CD56 bezeichnet (Lanier et al., 1991).

NCAM ist phylogenetisch zwischen verschiedenen Wirbeltierspezies stark konserviert und stellt in der Stammesentwicklung ein bewährtes Prinzip zur Vermittlung zellulärer Interaktionen dar (Hoffmann et al., 1984). NCAM vermittelt Bindungsreaktionen zwischen verschiedenen Zellen, und zwar sowohl homophile NCAM-NCAM-Bindungen (Hoffmann et al., 1984), als auch heterophile Bindungen mit anderen Proteoglykanen wie Heparansulfat- und Chondroitinsulfat-Proteoglykanen (Burg et al., 1995; Friedlander et al., 1994). NCAM reagiert mit weiteren Adhäsionsmolekülen entweder auf der eigenen Zelloberfläche in Form

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einer cis-Interaktion oder mit Adhäsionmolekülen gegenüberliegender Zellen in einer trans- Interaktion, wobei sich große Adhäsionskomplexe bilden. Durch die Bindungsreaktion von NCAM werden intrazelluläre Signalkaskaden beeinflußt. Den ersten Hinweis für den Einfluß von NCAM auf intrazelluläre Signalwege erbringt Schuch (Schuch et al., 1989); er blockiert die NCAM-Bindung in-vitro durch spezifische Antikörper und steigert dadurch den intrazellulären Calciumspiegel, senkt den intrazellulären pH und reduziert verschiedene Moleküle des Phosphoinositol-Signalweges. Weitergehende Studien zeigen, dass die Aktivierung von second messenger Systemen zwischen verschiedenen Zellsystemen variiert, und dass eine generalisierte Aussage zur intrazellulären Signalübertragung schwierig ist (von Bohlen und Halbach et al., 1992).

1.3.2- PSA

Die PSA wird im embryonalen Vertebratenhirn aufgrund ihrer unüblichen Größe und Zusammensetzung erstmals als Pronase-resistentes Makromolekül beschrieben (Finne, 1982).

PSA ist ein Kohlenhydratpolymer, dessen Einzelbausteine im Wirbeltierorganismus aus 5-N- Acetyl-Neuraminsäure bestehen. Die einzelnen Zuckermoleküle sind zu Sialinsäure verknüpft und die Sialinsäuredimere bilden über α2,8-glycosidische Bindungen die PSA (siehe Abb. 1.6). Die Modifikation mit PSA ist einzigartig, und NCAM ist der einzige natürliche Akzeptor (Tomasiewicz et al., 1993; Acheson et al., 1991).

6

5

4

3

2 O

1COOH

OH O

N O

8 7

6

5

4

3

2 O

1COOH

OH CH OH2

O OH

N O

8 7

6 CH OH2

OH 9 9

n > 4 Abb. 1.6: Sialinsäuredimer aus 5-N-Acetylneuraminsäure

(34)

Diese Erkenntnis wird vor allem durch die Konstruktion der NCAM-knockout-Maus (B6.129P2-Ncam1tm1Cgn/J) gestützt. Der Verlust von NCAM führt bei dieser Maus zu einem nahezu völligen Verlust von PSA (Cremer et al., 1994). Zwei Jahre vor der Konstruktion der NCAM-knockout-Maus wird der Nachweis von PSA an Natriumkanälen im adulten Rattengehirn beschrieben (Zuber et al., 1992). Die Modifikation von NCAM mit PSA (PSA- NCAM) führt zu einer funktionellen Umkehr der Adhäsion; die Adhäsion wird verringert und der Abstand zwischen den Zellmembranen vergrößert sich (Sadoul et al., 1983). Der Mechanismus dieser Effektumkehr wird diskutiert und durch zwei Theorien beschrieben: Die erste Theorie erklärt die anti-adhäsive Wirkung der PSA durch die raumfüllende, hydrophile und negativ geladene Raumstruktur der PSA. Durch diese Struktur wird eine sterische Inhibition bewirkt, die andere Zelloberflächenmoleküle an der Interaktion hindert, ohne dabei selbst mit anderen Molekülen zu reagieren (Rutishauser et al., 1988).

Abb. 1.7: Die Modifikation des NCAM mit PSA führt zu einer funktionellen Umkehr der Adhäsion und einem vergrößerten Zell-Zellabstand.

(Rutishauser et al., 1988)

Die zweite Theorie geht von einer direkten Interaktion anderer Zelloberflächenmoleküle mit PSA aus. Durch eigene Bindungspartner von PSA-NCAM kann die Zelle für weitere Faktoren sensibilisiert werden und im Nervenzellverbund auf äußere Reize reagieren (Kiss et al., 2001). Die anti-adhäsive Wirkung der PSA ist unabhängig von der Korrespondenz zu NCAM. Auch in Wechselwirkung mit anderen Adhäsionsmolekülen, wie Integrinen und Cadherinen, zeigt PSA einen inhibierenden Einfluß auf Zell-Zellkontakte (Fujimoto et al., 2001; Rutishauser et al., 1988).

Für die Synthese der PSA an NCAM im Golgi Apparat der Zelle sind zwei verschiedene Polysialyltransferasen verantwortlich. ST8SiaII wird erstmalig aus dem Gehirn einer neugeborenen Ratte kloniert (Livingston & Paulson, 1993) und später in der Maus

(35)

beschrieben (Kojima et al., 1996). ST8SiaIV wird im gleichen Zeitraum im Hamster und in der Maus charakterisiert (Eckhardt et al., 1995; Yoshida et al., 1995). Die Basen- und Aminosäuresequenzen der beiden Enzyme für die Maus sind zu finden bei Yoshida et al.

(1996) für ST8SiaII und bei Eckhardt et al. (1995) für ST8SiaIV. Die Glykosylierung des NCAM erfolgt an Asparaginreste in der fünften Immunglobulindomäne; die Modifikation durch die Polysialyltransferasen ist eine sogenannte „N-linked glycosylation“. Sowohl ST8SiaII als auch ST8SiaIV sind ausgehend von einer Zuckergrundstruktur (core region) eigenständig in der Lage, das PSA-Homopolymer zu synthetisieren (Mühlenhoff et al., 1996;

Kojima et al., 1996). Beide Enzyme können an den gleichen Glykosylierungsstellen arbeiten und synthetisieren ein PSA-Polymer mit ca. 50-60 Sialinsäureresten (Angata et al., 1998).

PSA-NCAM wird aus dem Golgi Apparat durch regulierte Exozytose an die Zelloberfläche transportiert (Kiss et al., 1994; Kojima et al., 1997).

Asn NCAM α-2,3α-2,8

Neu5Ac Gal GlcNAc Man

Abb. 1.8: N-Glykosylierung von NCAM.

An einen Asparaginrest des NCAM wird ein Grundgerüst aus Kohlenhydraten aufgebaut.

Ausgehend von dieser Struktur synthetisieren die Polysialyl-transferasen ST8SiaII und ST8SiaIV die PSA. (Mühlenhoff et al., 1996)

Neu5Ac: 5-N-Acetylneuraminsäure Gal: Galaktose

GlcNAc: N-Acetylglucosamin Man: Mannose

Die Expression der Enzyme wird unabhängig voneinander auf transkriptionaler Ebene reguliert (Hildebrandt et al., 1998; Seidenfaden et al., 2000). Das einzige Substrat für die beiden Enzyme ist NCAM und das jeweilige Enzym selbst (Mühlenhoff et al. 1996a und 1996b). Die funktionelle Rolle der Autopolysialylierung von ST8SiaII und ST8SiaIV ist noch unklar, vermutlich sind die Autopolysialylierung und die Glykosylierung von NCAM funktionell verknüpft (Mühlenhoff et al., 2001). Deutliche Unterschiede in den katalytischen

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Eigenschaften der beiden Polysialyltransferasen sind bisher nicht beschrieben, gezeigt wird ein synergistischer Effekt der Zusammenarbeit beider Enzyme und eine Präferenz für verschiedene NCAM-Isoformen (Kitazume-Kawaguchi et al., 2001)

1.3.3- Einfluß von PSA-NCAM auf isolierte Nervenzellsysteme

NCAM beeinflußt das Wachstum und Verhalten von Nervenzellen. Eine der ersten in-vitro Studien zu dieser Fragestellung beschreibt das Wachstum von Neuriten auf einem Fibroblasten-Monolayer. In diesem Experiment wachsen die Ausläufer der Nervenzellen nur, wenn der Fibroblasten-Untergrund NCAM an der Zelloberfläche exprimiert (Doherty et al., 1989). Die besondere Rolle des NCAM für das Neuritenwachstum wird in weiteren Arbeiten bestätigt und zusätzlich in einen Zusammenhang mit der posttranslationalen Polysialylierung gebracht (Doherty et al., 1990). Das Wachstum der Neuriten scheint von NCAM über die Aktivierung intrazellulärer Signalkaskaden vermittelt zu werden (Kolkova et al., 2000). Für die Ausbildung funktioneller Netzwerke von Nervenzellen ist ein gerichtetes Wachstum und die Vernetzung von Neuriten notwendig. Neuriten des Rückenmarks wachsen ohne PSA geradlinig und unverzweigt; wird PSA-NCAM exprimiert, verzweigen sich die Neuriten und bilden Netzwerke (Acheson et al., 1991; Rutishauser et al., 1988).

An der motorischen Endplatte wird durch die Expression von PSA die Vernetzung und Formung der Nervenenden reguliert. Diese Regulation ist unabhängig vom NCAM-Gehalt, PSA agiert allein als regulatives Element (Landmesser et al., 1990). Das zielgerichtete Wachstum von Axonen steht ebenfalls unter der Kontrolle des PSA-Gehaltes. Wird in einem System von Motoneuronen des Plexus brachialis die PSA durch eine Behandlung mit Endoneuraminidase (EndoN) entfernt, so orientieren sich die Axone falsch, und es entstehen Projektionsfehler (Tang et al., 1992).

Die Markscheidenbildung scheint ebenfalls unabhängig von NCAM durch den PSA-Gehalt beeinflußt zu werden. Mit beginnender Myelinisierung peripherer Nerven sinkt die PSA- Expression, und durch die EndoN-Behandlung kann die Myelinisierung gestartet und gesteigert werden (Charles et al., 2000). NCAM wird nicht nur in neuronalen Zellen, sondern auch in Muskelzellen exprimiert. In der Muskulatur ist PSA-NCAM beteiligt an Regenerationvorgängen. Nach der Abtrennung des Muskels vom innervierenden Nerven in-

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vitro steigt die PSA-NCAM-Expression im Muskel stark an (Daniloff et al., 1986). In Hippocampuszellen regenerieren die Neuronen nach einer Verletzung wesentlich schneller, wenn sie hohe Gehalte an PSA exprimieren; nach EndoN Behandlung ist die Regeneration gehemmt (Muller et al., 1994).

Der PSA-Gehalt des NCAM scheint nicht nur die Fähigkeit der Nervenzelle zur Teilung und Regeneration zu erhalten, sondern auch die Plastizität von synaptischen Verbindungen zu beeinflussen. Die Synapsen beantworten die neuronale Aktivität von Nervenzellnetzwerken mit strukturellem Umbau. Durch die Anpassung ihrer Form wird die synaptische Übertragung moduliert. Dieses Prinzip ist die physiologische Grundlage von Gedächtnisleistungen, Erinnerungsvermögen und Lernvorgängen. Durch die hochfrequente Stimulierung von Hippocampusfasern in-vitro und in-vivo (s.u.) wird die synaptische Plastizität modellhaft simuliert. Dieses Modell wird als long term potentiation (LTP) bezeichnet. In diesem System wird PSA-NCAM in Reaktion auf die Depolarisation der Nervenzelle erhöht exprimiert und ist ein notwendiger Faktor für die Plastizität der Synapse (Muller et al., 1996).

NCAM beeinflußt in Gliomzellen die Motilität und Zellwanderung der gesamten Nervenzelle. Durch Langzeitvideoaufnahmen konnte gezeigt werden, dass die Beweglichkeit von Tumorzellen in der Kulturschale von der NCAM-Expression abhängt (Prag et al., 2002).

In neuronalen Stammzellen reduziert die Zugabe von löslichem NCAM die Zellproliferation und induziert die Differenzierung zu einem reiferen Phänotyp (Amoureux et al., 2000). Die Regulation der Adhäsion zwischen Zellen ist eine Grundvoraussetzung zur Bildung von Geweben und Organen. NCAM beeinflußt die Bildung von Nervenzellverbänden nicht nur durch die Vermitttlung von Zelladhäsion, sondern auch durch eine Beeinflussung des Cytoskeletts der Zellen (Jaffe et al., 1990).

1.3.4- Funktionen von PSA-NCAM im adulten Organismus

Während NCAM auf Neuronen, Astrozyten, Oligodendrozyten, Schwann´schen Zellen und Muskelzellen im adulten Organismus exprimiert wird, ist die Synthese von PSA im erwachsenen Säugetier auf wenige Regionen beschränkt. Diese Regionen zeichnen sich durch lebenslange Plastizität aus, d.h. die Neuronen sind potentiell in der Lage, sich zu regenerieren.

Diese Regionen sind Bereiche der Hippocampusformation (Seki & Rutishauser, 1998; Becker

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et al., 1996), neurosekretorische Neuronen des Hypothalamus-Hypophysensystems (Theodosis et al., 1991) und Neuroblasten des Bulbus olfaktorius (Eckhardt et al., 2000).

Die knockout-Technologie ermöglicht das gezielte systemische Abschalten oder Entfernen eines Gens. Die genaue Beurteilung des Phänotyps erlaubt Rückschlüsse auf die Funktion des Gens im Gesamtorganismus auch ohne genaue Kenntnisse von Regulation und Signalkaskaden. Zur Erforschung der Funktionen von PSA-NCAM sind durch gene-targeting verschiedene knockout-Modelle erstellt worden. Zur Konstruktion der NCAM-knockout- Maus (B6.129P2-Ncam1tm1Cgn/J ) wurden zwei Exons und das flankierte Intron entfernt. Die homozygoten (NCAM(-/-)) und heterozygoten (NCAM(+/-)) knockout-Tiere sind lebensfähig und fertil. Adulte NCAM(-/-) Tiere zeigen zu 10% ein verringertes Gehirngewicht und zu 36% einen verkleinerten Bulbus olfaktorius. Der Morris water maze-Test dient zur Erprobung von räumlichem und zeitlichem Lernvermögen, die NCAM(-/-)-Maus zeigt eine Schwäche im räumlichem Lernverhalten (Cremer et al., 1994). Das Angst- und Vermeidungsverhalten bei NCAM(-/-) ist stärker ausgeprägt (Stork et al., 1999), das Erkundungsverhalten ist schwächer und die Aggressivität zwischen den männlichen Tieren stärker als bei Kontrolltieren aus dem gleichen Wurf (Stork et al., 1997). Weiterhin scheint die Abwesenheit von PSA-NCAM die zirkadiane Rhythmik zu stören (Shen et al., 2001). Die NCAM(-/-)-Mäuse zeigen Projektionsfehler von corticospinalen Axonen und verkleinerte motorische Endplatten (Moscoso et al., 1998; Rolf et al., 2002). Die synaptische Plastizität in Reaktion auf elektrische Reize (LTP) ist ebenfalls gestört (Cremer et al., 1998).

Ein weiteres knockout-Modell wurde für die 180 kD Isoform des NCAM erstellt. Auch bei diesen Tieren ist der Bulbus olfaktorius betroffen: die Granulazellen sind klein und unorganisiert und die Vorläufer dieser Zellfraktion akkumulieren an ihrem Ursprungsort, offensichtlich unfähig zur gerichteten Wanderung (Tomasiewicz et al., 1993). Die Axone im Bulbus olfaktorius sind ungeordnet (Treloar et al., 1997). Die Moosfasern des Hippocampus sind ungebündelt, unstrukturiert und aufgelockert. Die gleichen Effekte werden durch eine gezielte EndoN-Injektion erreicht, um PSA zu entfernen. Der Defekt scheint also nicht durch den Verlust des 180 kD NCAM, sondern durch den Verlust der PSA bedingt zu sein (Seki &

Rutishauser, 1998). In einer anderen Arbeit wird durch gezielte Mutation die membrangebundene Form des NCAM durch eine lösliche Form ersetzt. Die mutierten Tiere sterben während der Embryonalentwicklung; eine genauere Untersuchung zeigt, dass an E 8,5

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das Neuralrohr geknickt ist, die Somiten unregelmäßig angeordnet sind und sich der craniale Neuroporus an E 9,5 nicht schließt (Rabinowitz et al., 1996).

Grundlage für die eigene Arbeit ist die ST8SiaIV-knockout-Maus (B6.129P2-Siat8dtm1Zch). Dieses Mausmodell besitzt durch gene targeting eine lacZ/Neomycinresistenz-Kassette an Stelle des ersten Exons und teilweise des ersten Introns. Die ersetzten Anteile haben eine Größe von ca. 2 kb und codieren den zytosolischen und transmembranen Anteil des ST8SiaIV Gens. Der genetische Hintergrund ist noch nicht determiniert und besteht aus der Stammzelllinie 129/Ola und C57BL/6J. Die ST8SiaIV-Expression ist in allen Körperregionen ausgeschaltet und in heterozygoten Tieren um 50% reduziert. ST8SiaII und NCAM zeigen keine veränderten Expressionsmuster. Die Tiere sind lebensfähig, fertil und zeigen makroskopisch anatomisch keine Auffälligkeiten. Die PSA-Spiegel der untersuchten inneren Organen sind nicht beeinflusst, deutliche Unterschiede zeigen sich jedoch in der PSA- Expression im Gehirn erwachsener Tiere. Ab der 4. Woche sinkt der PSA-Gehalt im Gehirn der knockout-Tiere deutlich schneller als im Kontrolltier. Im Alter von 6 Monaten ist die PSA in Teilen des Moosfasertrakts des Hippocampus drastisch reduziert, während die Neuroblasten des Bulbus olfaktorius unveränderte PSA-Expression zeigen. Das Gehirngewicht und die Anatomie des Gehirns sind unauffällig. Entsprechend des PSA Verlusts zeigen die Tiere ab der 6. Woche eine abgeschwächte LTP in der CA1-Region des Hippocampus (Eckhardt et al., 2000). Diese Ergebnisse stehen in gutem Einklang mit früheren Befunden, wonach ST8SiaII die dominierende Polysialytransferase bis zur Geburt ist, danach jedoch bis zur Nachweisgrenze abnimmt, und ST8SiaIV im Gehirn des erwachsenen Organismus erhalten bleibt (Hildebrandt et al., 1998).

Der Einfluß von PSA-NCAM auf das Lernverhalten wird insbesondere in der Ratte erforscht.

Die Induktion der LTP in-vivo an der anaesthesierten Ratte hat eine erhöhte NCAM- Expression zur Folge (Fazeli et al., 1994). In einem passiven Vermeidungstest lernen die Ratten, die bevorzugten dunklen Teile der Versuchanlage zu finden und die erleuchteten Bereiche zu meiden. Die Tiere sollten sich später noch an den Versuchsaufbau erinnern. In diesem Test bewirkt eine Blockierung von NCAM durch Antikörper (Doyle et al., 1992b) oder durch einen NCAM-Liganden (Foley et al., 2000), die intraventrikulär verabreicht werden, ein verringertes Erinnerungsvermögen an den Versuchsaufbau. Die Injektion markierter PSA-Bausteine zeigt eine vermehrte Polysialylierung von NCAM in bestimmten

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Gehirnregionen nach dem Training (Doyle et al., 1992a). Der Morris water maze-Test fordert von den Ratten räumliches Orientieren und Lernen. Auch in diesem Testaufbau steigt der PSA-NCAM Spiegel an (O´Connel et al., 1997) und eine intraventrikuläre Injektion von EndoN schwächt das Lern- und Erinnerungsvermögen in diesem des Versuchsaufbau deutlich (Becker et al., 1996).

Das hochteratogene VPA-Derivat rac-Pentyl-4-yn scheint das Lernverhalten ebenso beeinflussen zu können. Durch Verabreichung von 16 bis 85 mg/kg vor dem Morris water maze-Test kann die Lernleistung verbessert und eine Scopolamin-induzierte Amnesie abgeschwächt werden. Die Langzeitapplikation von rac-Pentyl-4-yn führt zu einer Zunahme von polysialylierten Neuronen in bestimmten Cortexregionen (Murphy et al., 2001). Die Applikation von 200 mg VPA/kg KGW 40 Minuten vor der Tötung führt zu keiner vermehrten NCAM-Expression in verschiedenen Hirnregionen (Ushakova et al., 1995).

PSA-NCAM hat einen Einfluß auf das Metastasierungsverhalten verschiedener Tumoren und wird zum Teil als klinischer Marker für die Prognose von Krebserkrankungen genutzt.

Nachgewiesen ist dieser Zusammenhang für das periphere T-Zelllymphom (Kern et al., 1992), das Neuroblastom (Glüer et al., 1998), das Rhabdomyosarcom im Kindesalter (Glüer et al., 1998), den Beta-Zelltumor des Pankreas (Perl et al., 1999) und das kleinzellige Lungenkarzinom (Tanaka et al., 2001). NCAM scheint in der Pathogenese der Schizophrenie beteiligt zu sein; eine lösliche NCAM Isoform wird vermehrt in der cerebrospinalen Flüssigkeit von Patienten nachgewiesen (Poltorak et al., 1996). In-vitro ist NCAM ein Rezeptor für das Lyssavirus; die NCAM-knockout-Maus zeigt nach einer Tollwutinfektion eine verringerte Virusinvasion in das Gehirn und eine verminderte Mortalität (Thoulouze et al., 1998).

1.3.5 PSA-NCAM während der Embryonalentwicklung

Die Expression von PSA-NCAM ist im adulten Säugetier auf wenige Hirnregionen beschränkt (siehe Abschnitt 1.3.4), im Embryo hingegen liegt NCAM zumeist polysialyliert vor und zeigt daher andere adhäsive Eigenschaften als adultes NCAM (Sadoul et al., 1983;

Rougon et al., 1986). Die Polysialyltransferasen ST8SiaII und -IV sind während der Fetalphase stark im Nervensystem exprimiert, kurz nach der Geburt nimmt die Expression

Referenzen

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