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Archiv "Hausarzt: Kein Fossil einer vergangenen Zeit" (28.11.2003)

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s ist einfacher, eine gute Ehefrau zu finden als einen guten Arzt, der sich um einen kümmert, wenn man ihn braucht, und der einen versteht ohne Einschränkung . . .“ (Alexander Solschenizyn). Noch gegen Ende des 18. Jahrhunderts war die hausärztliche Tätigkeit nicht primär an die Praxis gebunden, der Arzt wirkte „im Um- herziehen“. Zu dieser Zeit machte ein in Berlin praktizierender Hausarzt täglich bis zu 80 Hausbesuche und ritt durchschnittlich pro Jahr 800 Meilen mit dem Pferd. Eine solche hausärzt- liche Versorgung konnten sich nur Begüterte leisten.

Mit Einführung der Bismarckschen Krankenversicherung nahm die Bedeu- tung hausärztlicher Versorgung gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu. Die am- bulante fachärztliche Betreuung blieb die Ausnahme. Dies änderte sich erst in den 30er-Jahren des vergangenen Jahr- hunderts und besonders rasch dann nach dem Zweiten Weltkrieg. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung der 50er- und 60er-Jahre erlebte auch die Medi- zin neue Höhepunkte. Technische Mei- sterleistungen, wie die erste Herzkathe- ter-Untersuchung durch Forssmann, die Herzchirurgie, die Verwendung der Computertechnologie in der Medizin, vor allem in der Röntgenheilkunde (Computertomographie), stellten die Tätigkeit des Hausarztes – „Opas Pra- xis“ – ins Abseits der technik- und fort- schrittsgläubigen Gesellschaft.

Auch in der Ärzteschaft, vor allem in den elitären Bereichen der Univer- sitätskliniken, verbreitete sich eine bis- her nicht erlebte Hybris gegenüber der hausärztlichen Tätigkeit. Noch auf dem Chirurgenkongress 1965 sprach der Lehrstuhlinhaber für Chirurgie in Gießen, Karl Iversen Nissen, vom Hausarzt als Fossil einer verschwunde- nen Zeit. Folge war ein drastischer

Rückgang der Hausärzte im Verhältnis zu den Fachärzten. Seit den 1960er-Jah- ren nahm dieses Missverhältnis zuun- gunsten der Hausärzte kontinuierlich zu. Zurzeit sind 60 Prozent der Haus- ärzte über 60 Jahre alt. Im Osten Deutschlands beginnen sich drastische Mängel in der hausärztlichen Versor- gung abzuzeichnen.

Mit dem Bewusstwerden des Pro- blems erfolgten Veränderungen. Der Hausarzt wurde durch die Bezeichnung Allgemeinarzt, inzwischen mit Fach- arztrang, aufgewertet. Die Allgemein- medizin wurde – wenn auch nur als un- geliebtes Kind – in den Schoß der Uni- versitäten aufgenommen. Zaghaft und erkennbar widerwillig wurden die er- sten Lehrbeauftragungen erteilt. Zag- haftigkeit ist auch bei der Bewilligung von Forschungsmitteln für den Nach- wuchs an den medizinischen Fakultäten zu konstatieren. Bis heute sind die all- gemeinärztlichen Abteilungen an den Hochschulen nur mit einem Bruchteil der Finanzmittel anderer Institute aus- gestattet. Die für die medizinische For- schung bewilligten Mittel kommen zu 95 Prozent der Hochleistungsmedizin zugute, während für die Hausarztmedi- zin, die 90 Prozent der Kranken primär betreut, nur Brosamen verteilt werden.

System produziert Fachärzte

Die verantwortlichen Gesundheitspoli- tiker und Vertreter der Ärztekammern erkannten die Problemlage und ver- suchten eine Aufwertung durch flankie- rende berufsfördernde Maßnahmen.

Da der Hausarzt erhebliche Ausbil- dungsdefizite aufzuweisen schien – im- merhin konnte er sich bis in die 90er- Jahre noch als praktischer Arzt nach eineinhalb Jahren Kurzausbildung in einer Praxis niederlassen –, wurde die

Ausbildungszeit in mehreren Stufen auf jetzt fünf Jahre verlängert.Ausbildungs- beihilfen für neu geschaffene Ausbil- dungsplätze in Praxis und Klinik wur- den bereitgestellt.

Sehr bald erkannte man die Janus- köpfigkeit des neuen Ausbildungscurri- culums. Da die Niederlassung als Allge- meinarzt an die fünfjährige Ausbil- dungszeit gebunden wurde, bildete sich ein „Flaschenhals“, da vor allem in den Praxen der niedergelassenen Ärzte nicht genügend Ausbildungsplätze zur Verfügung gestellt werden konnten.

Folge war ein nachlassendes Interesse der jungen Ärzte an hausärztlicher Tätigkeit. Das Ausbildungssystem pro- duziert nahezu automatisch Fachärzte.

Es ist der bequemere und scheinbar auch lohnenswertere Weg. Sind am Be- ginn des Medizinstudiums noch 70 Pro- zent der Studenten grundsätzlich an ei- ner Tätigkeit als Hausarzt interessiert, so sind es am Ende der Ausbildung nur noch 25 Prozent.

Ein weiterer Grund für mangelndes Interesse an hausärztlicher Arbeit ist die Auswahl des Ärztenachwuchses, die sich ausschließlich an intellektuellen Leistungen der Studienplatzbewerber orientiert. Zu viele junge Menschen be- ginnen allein wegen ihrer guten Abitur- note das Studium der Medizin. Auch während des Studiums werden immer noch einseitig die Höchstleistungen ei- nes vorwiegend auswendig gelernten Multiple-Choice-Wissens prämiert. Zu wenig oder überhaupt nicht werden menschliche Qualitäten geprüft. Bis zum siebten Semester hat der Student kaum mehr als eine Hand voll Patien- ten selbstständig untersucht.

Auch die über Jahrzehnte von Gesundheitspolitikern aller Couleur versprochene finanzielle Verbesserung hausärztlicher Honorare blieb bis heute ein hohles Versprechen. Die Technome- T H E M E N D E R Z E I T

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A3148 Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 4828. November 2003

Hausarzt

Kein Fossil einer vergangenen Zeit

Die hausärztliche Heilkunde bedarf einer erweiterten Ethik und einer wesentlich

umfassenderen Lehre, als sie die klassischen Fächer der Medizin vermitteln.

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dizin schluckt die Milliarden. Für den Gegenwert einer Magnetfelduntersu- chung (MRT) muss der Hausarzt 30 Pa- tienten behandeln oder 15 Hausbesu- che durchführen. Er hat durchschnitt- lich eine 65-Stunden-Woche zu absolvie- ren und vor allem in ländlichen Regio- nen zahlreiche Nacht- und Wochenend- dienste zu leisten, die praktisch ho- norarfrei erbracht werden müssen. Im- mer noch steht der Hausarzt am Ende der Einkommensskala der niedergelas- senen Ärzte. So haben alle gut gemein- ten Maßnahmen bis heute

kaum den erhofften Erfolg gezeigt. Bei der Relation Facharzt/Allgemeinarzt ist auch heute noch kein Um- kehrtrend zu erkennen.

Nur mit größter Skepsis kann man den vollmundig von der Politik angekündig- ten Plan bewerten, den Haus- arzt als Lotsen in unserem unübersichtlichen und zu teu- ren gesundheitlichen Versor- gungssystem zu etablieren.

Als reines Wunschdenken lässt sich unter den genannten Be- dingungen die Überlegung bezeichnen, den Zugang zum

Facharzt nur über den Hausarzt zu er- lauben.Abgesehen davon, dass die Um- setzung dieses Plans eine erneute Ent- mündigung des Patienten bedeuten würde, der erfreulicherweise gerade be- ginnt, sich von einer antiquierten pater- nalistischen Medizin zu befreien, wird eine potenzielle Umsetzung dieses Pla- nes an der mangelnden „Ressource Hausarzt“ scheitern.

Ist also der Hausarzt, die Berufung zu dieser Daseinsform medizinischer Tätigkeit, zu einem Anachronismus mutiert und bald nur noch Fossil einer vergangenen Zeit? Alle objektiven Be- funde des „Patienten Hausarzt“ spre- chen dafür, dass sein Exitus kaum auf- zuhalten ist. Kein Image, kein Nach- wuchs, keine finanzielle Sicherung.

Für den Optimisten und von seiner Arbeit überzeugten Arzt ist aber am Horizont ein silberner Hoffnungs- schimmer zu erkennen: Die Begeiste- rung für das technisch Machbare in der Medizin erlahmt zusehends, die Tech- nomedizin wird immer mehr Menschen unheimlich. Der Glaube an die All-

macht der Medizin verliert parallel zur allgemeinen Krisenstimmung unserer globalisierten Gesellschaft an Kraft.

Seit der Einführung naturwissenschaft- lichen Denkens in die Medizin mutier- te notwendigerweise die Behandlung des Kranken zur Behandlung einer Krankheit, die es mit mathematischer Gründlichkeit zu eliminieren galt. Der menschliche Körper wurde zur Maschi- ne degradiert. Inzwischen wird immer mehr Menschen die Vorherrschaft von Ratio und Intellekt mit entsprechender

Vernachlässigung emotionaler und auch irrationaler Bereiche von Krank- heit und Gesundheit unheimlich. Der Computer, Garant einer zunehmend bürokratisierten Krankenbehandlung in Klinik und Praxis, Behandlungspro- gramme, Disease-Management-Pro- gramme werden zum Menetekel einer zunehmend inhumanen Medizin. Die Begegnung mit dem Menschen, die see- lische und soziale Dimension jeder Krankheit, das soziale Umfeld, die Le- bensbedingungen des Kranken werden im Arzt-Patienten-Kontakt mehr und mehr ausgeblendet, haben keinen Platz im Weltbild der modernen Medizin.

Alternativen haben Zulauf

Die Folge dieses Unbehagens ist eine Abstimmung mit den Füßen: Zahlrei- che Kranke vertrauen sich alternativen Heilern an. Die Homöopathie, obwohl auf keinerlei wissenschaftlichem Fun- dament begründet, hat Konjunktur, in- teressanterweise besonders bei Intel-

lektuellen. Der Heilpraktiker kann sich Kraft besserer Bezahlung offensichtlich zeitlich intensiver mit den Nöten des Kranken beschäftigen, weiß um das Be- dürfnis nach menschlicher Nähe.

Diese Krise der Medizin, die auch ei- ne ökonomische geworden ist, birgt möglicherweise die Chance für eine Re- naissance des Hausarztes. Er könnte das entstandene Vakuum füllen.

Wichtigste Voraussetzung: Das Be- rufsziel „Hausarzt“ muss für junge Ärzte wieder attraktiv werden, die Kranken anderseits müssen ihren Hausarzt als Lotsen für ihre gesundheitlichen Probleme wieder akzeptieren.

Was muss sich also än- dern? Natürlich muss der Hausarzt eine breite, an seine Interessenlage und an seinen Arbeitsbereich an- gepasste Ausbildung vor- weisen können. Ein strenges Curriculum, womöglich noch mit drei Jahren internisti- scher Weiterbildung, lässt aber kaum Freiraum für ei- ne hausarztspezifische Wei- terbildung. Voraussetzung dazu ist eine veränderte Ausbildung des zukünftigen Hausarz- tes. So wichtig die fachlich breite klini- sche Ausbildung ist, insbesondere die in der Inneren Medizin, sie muss um die Bereiche psychosomatische und soziale Medizin sowie Gesundheitsökonomie erweitert werden. Bio-psychosoziale Weiterbildung hat Bestandteil zu sein.

Die Familienmedizin und die Alters- heilkunde (Geriatrie) müssen integriert werden. Eine neue Art ganzheitliche Medizin wird gefragt sein für eine Ge- sellschaft von Depressiven, Süchtigen, fehlernährten, neurotischen und psy- chosomatisch Kranken, denen mit me- dizintechnischen Möglichkeiten kaum geholfen werden kann, denen aber menschliche Nähe und Zuwendung, vor allem Gesprächsbereitschaft, sehr viel bedeuten kann. Die Ausbildung zum neu gestalteten Arzt für Allgemein- und Innere Medizin muss dieser wichtigen Dimension Rechnung tragen. Die neue Approbationsordnung weist einige Ver- besserungen im Hinblick auf die Inte- gration allgemeinmedizinischer Kennt- nisse in die Ausbildung der Studenten T H E M E N D E R Z E I T

Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 4828. November 2003 AA3149

Hausärztliche Tätigkeit: Wichtig ist zunächst die Begeisterung für die Arbeit am Menschen, danach erst die Begeisterung für Wissenschaft.

Foto:Caro

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auf. Eine echte gesellschaftliche Aner- kennung allgemeinmedizinischer haus- ärztlicher Tätigkeit wird aber erst dann erreicht sein, wenn an allen Hochschu- len allgemeinmedizinische Lehrstühle mit einer adäquaten finanziellen Aus- stattung zur Verfügung gestellt werden.

Abschließend mein „Credo“: Zur hausärztlichen Tätigkeit gehört in erster Linie die Begeisterung für die Arbeit am Menschen, danach erst die Begeisterung für die Naturwissenschaft.

Der Hausarzt der Zukunft muss sich rückbesinnen auf ein Menschenbild, das Jahrhunderte diesen Beruf geprägt hat. Die hausärztliche Heilkunde bedarf einer erweiterten Ethik und einer wesentlich umfassenderen Lehre, als sie die klassischen Fächer wie Innere Medizin oder Chirurgie vermitteln. Die neue Ethik, deren Fahnenträger der neue Hausarzt werden könnte, muss die Medizintechnik einholen, muss der naturwissenschaftlichen Seite der Me- dizin die humanistische Dimension zur Seite stellen.

Der Hausarzt der Zukunft wird dort an Bedeutung gewinnen, wo er bereit ist, den sich ihm anvertrauenden Kran- ken in einem zunehmend kalten, ja eisigen Klima der ratio zu wärmen, ihn aus dem Würgegriff eines immer enger werdenden bürokratischen Netzes zu befreien. Wenn zu diesen Kardinaltu- genden des neuen Hausarztes ein brei- tes Fachwissen, der Mut zur wagenden Verantwortung hinzutritt, dazu noch die Fähigkeit, den sich ihm anvertrau- enden Menschen ein Leben lang bis zum Zeitpunkt des Sterbens zu betreu- en, wird auch der Kranke und potenziell Kranke die Dienste seines Hausarztes anerkennen. Dann wird er ihn auch als persönlichen Lotsen für seine Gesund- heit und Krankheiten anerkennen und sich ihm anvertrauen. Langfristig wird nur unter diesen Bedingungen eine menschliche Medizin gleichwertig neben der sich stürmisch weiter ent- wickelnden techno-biochemischen Me- dizin bestehen bleiben und nicht zuletzt auch Garant für eine Stabilisierung der aus dem Ruder laufenden Kosten sein.

Dr. med. Wolf-Rüdiger Weisbach Arzt für Allgemeinmedizin Fernblick 2

51570 Windeck-Herchen E-Mail: Dr.Weisbach@gmx.de

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äglich gehen in Deutschland 386 Millionen Zigaretten in Rauch auf – viele davon in Innenräumen.Tau- sende von Chemikalien, darunter gifti- ge und Krebs erregende Stoffe, durch- ziehen Privatwohnungen und öffentli- che Einrichtungen und lagern sich an

Wänden, Fußböden und Teppichen ab.

Tabakrauch ist mit Abstand der bedeu- tendste und gefährlichste Innenraum- schadstoff und die führende Ursache von Luftverschmutzung in Räumen.

Rauchen ist nicht ausschließlich ein vom jeweiligen Raucher persönlich zu verantwortendes Gesundheitsrisiko.

Vielmehr erleiden auch tabakrauchbe- lastete Nichtraucher teils schwerwie- gende Gesundheitsschäden. Die Bela- stungen durch Tabakrauch führen zu zahlreichen Erkrankungen wie Husten, Übelkeit, Kopfschmerzen, akuten und chronischen Herz-Kreislauf-Erkran- kungen, Erkrankungen der unteren Atemwege wie Lungenentzündung oder Asthma sowie zu Krebserkran- kungen. Nichtraucher, die dem Tabak- rauch ausgesetzt sind, können daher – wenn auch im geringeren Ausmaß und mit geringerer Häufigkeit – die gleichen Gesundheitsschäden wie aktive Rau- cher erleiden. Zwar sind rund zwei Drit- tel der Bevölkerung Nichtraucher, gleichwohl lebt rund ein Drittel mit ei- nem Raucher in einem Haushalt. In öf-

Foto:Deutsches Krebsforschungszentrum

Dem Qualm schutzlos ausgesetzt

Die gesundheitlichen Auswirkungen des Passivrauchens sind besonders für Kinder erheblich. Das Deutsche Krebsforschungszentrum gibt Handlungsempfehlungen.

Rauchertelefone

>Info- und Beratungstelefon der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Telefon:

0 18 05/31 31 31 (12 Cent pro Minute)

>Rauchertelefon des Deutschen Krebsfor- schungszentrums, Telefon: 0 62 21/ 42 42 00

>Info- und Beratungstelefon für die Prävention des Plötzlichen Säuglingstodes, für Schwangere und junge Eltern, Telefon: 01 80/5 09 95 55 (12 Cent pro Minute)

>Helpline – Bayern wird rauchfrei! Telefon:

08 00/1 41 81 41 (kostenfrei)

>Rauchertelefon des Instituts für Raucherbera- tung und Tabakentwöhnung, Telefon: 0 89/

68 99 95 11

>Rauchertelefon des Instituts für Nikotinfor- schung und Raucherentwöhnung Erfurt, Telefon: 03 61/ 6 45 08 16

Textkasten 1

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fentlichen Einrichtungen nehmen täg- lich Millionen Nichtraucher die im Ta- bakrauch enthaltenen Schadstoffe auf.

Insbesondere Kinder sind dem Tabak- rauch schutzlos ausgesetzt, weil sie ihre verrauchte Umgebung nicht einfach meiden können.

Passiv rauchende Säuglinge und Kinder sind von dieser Luftverschmut- zung besonders betroffen. So wird der plötzliche Säuglingstod unter anderem mit Tabakrauch in Zusammenhang gebracht. Ferner erleiden Kinder durch Tabakrauch in Innenräumen akute und chronische Mittelohrentzündungen, Lungenentzündungen, Atemwegser- krankungen und Asthma. Passivrau- chen während der Stillzeit und im Kin- desalter erhöht das Risiko unter ande- rem für verzögertes Lungenwachstum, eingeschränkten Geruchssinn, Karies bei Milchzähnen, Verhaltensauffällig- keiten und Übergewicht im Kindesal- ter. Die Gefahren des Rauchens für das ungeborene Kind umfassen Totgebur- ten, Frühgeburten, geringeres Geburts- gewicht, kleineren Kopfumfang und vermindertes Längenwachstum sowie auch die höhere Wahrscheinlichkeit des Tabakkonsums im Teenageralter.

Konzertierte Aktion zum Schutz der Kinder

Jedes zweite Kind in Deutschland lebt in einem Haushalt, in dem mindestens eine Person raucht. Über sechs Millionen Kinder werden täglich Tabakrauch aus- gesetzt. Das Deutsche Krebsforschungs- zentrum (DKFZ), Heidelberg, empfiehlt deshalb in Zusammenarbeit mit der Stif- tung Kindergesundheit eine konzertier- te Aktion zum Schutz der Kinder:

>Die Umsetzung verhältnisorientier- ter Maßnahmen wie rauchfreie öffentli- che Einrichtungen, insbesondere an Or- ten, die häufig von Kindern frequentiert werden: Kindergärten und Kinderspiel- plätze, Schulen, Sportstätten, Einkaufs- zentren, Gaststätten und öffentliche Transportmittel. Maßnahmen, die aus- schließlich auf Ventilation beruhen, rei- chen nicht aus, um ein rauchfreies Um- feld zu schaffen, weil es keinen Nachweis für einen gesundheitsunschädlichen Schwellenwert für Tabakrauch in der Raumluft gibt.

> Aufgrund der besonderen hohen Schadstoffbelastung in Privatfahrzeu- gen durch die geringe Raumgröße soll- te ein Rauchverbot auch in Privatfahr- zeugen mittel- bis langfristig umgesetzt werden. Bereits kurzfristig könnte eine Kampagne für die Problematik sensibi- lisieren.

> Deutliche Tabaksteuererhöhun- gen, die Bekämpfung des Zigaretten- schmuggels, ein Tabakwerbeverbot,Ab- schaffung der Zigarettenautomaten, Produktregulation, Verbraucherinfor- mationen sowie Verkaufsbeschränkun- gen mit entsprechenden Kontrollen.

> Notwendig sind Medienkampa- gnen, die die Bevölkerung auf die gesundheitlichen Folgen des Tabakkon- sums und des Passivrauchens – sowie auf ihr Recht auf rauchfreie Luft – aufmerksam machen – einschließlich der Tatsache, dass es keinen unteren Stellenwert für eine gesundheitsun- schädliche Exposition gegenüber Ta- bakrauch gibt. Die besonderen Gefah- ren des Passivrauchens für Kinder sollten insbesondere gegenüber wer- denden Eltern sowie Pädagogen verständlich kommuniziert werden.

Auch Lehrer, Angehörige von Gesund- heitsberufen, Gewerkschaften, Arbeits- schutz, Medien oder Gastronomie müssen informiert werden.

> Evidenzbasierte Beratungs- und Behandlungskonzepte zur Tabakent- wöhnung stehen zur Verfügung. Es ist nachgewiesen, dass der Anteil erfolg- reicher Entwöhnungsversuche durch professionelle Beratung und Behand- lung sowie durch pharmakologische Ent- wöhnungshilfen deutlich erhöht werden kann. Um einen wirksamen Schutz von Ungeborenen und Kindern vor den Be- lastungen des Tabakrauchs zu erreichen, müssen Maßnahmen zur effektiven Sen- kung der Raucherquote, insbesondere bei jungen Erwachsenen, Schwangeren und Eltern, ergriffen werden.

> Beratungen zur Tabakentwöhnung vor und während der Schwangerschaft in der ärztlichen Praxis sowie Beratung von Eltern in Geburtskliniken sind die wichtigsten Maßnahmen zur Verringe- rung der perinatalen Krankheitslast und Sterblichkeit. Schätzungsweise 25 Pro- zent aller Totgeburten und 20 Prozent der Säuglingssterblichkeit könnten in Deutschland vermieden werden, wenn

alle Frauen, die zu Beginn der Schwan- gerschaft rauchen, bis zur 16. Schwan- gerschaftswoche das Rauchen aufgeben würden. Die bisherigen Hürden, bei- spielsweise fehlende Ausbildung der Gesundheitsberufe, unzureichende Zeit- budgets sowie mangelnde Honorierung, müssen zügig abgebaut werden.

Weil in Deutschland noch keine flächendeckende Infrastruktur für die Tabakentwöhnung aufgebaut wurde, sollten Ärzte und Mitglieder anderer Gesundheitsberufe auf nationale oder lokale Rauchertelefone verweisen (Textkasten 1).

> Der Einfluss der Zigarettenindu- strie auf Entscheidungsträger in Politik, Behörden und Medien muss transpa- rent gemacht und zurückgedrängt wer- den. Das Recht von Kindern auf eine gesunde, das heißt rauchfreie Umge- bung muss Vorrang vor den wirtschaft- lichen Interessen eines Industriezweiges haben, der wissentlich ein Produkt vertreibt und bewirbt, das bei be- stimmungsgemäßem Gebrauch einen großen Teil der Konsumenten süchtig und krank macht und künftige Genera- tionen bereits frühzeitig schädigt. Inter- ne Dokumente der Tabakindustrie zum Passivrauchen zeigen, dass die Tabakin- dustrie auch in Deutschland versucht, wissenschaftlich gesicherte Erkenntnis- se darüber zu verharmlosen, um gesetz- geberische Maßnahmen zu verhindern.

Über industrieabhängige Wissenschaft- ler versucht die Tabakindustrie seit Jahr- zehnten Einfluss auf Politik, Medien und die Wissenschaft zu nehmen, um das Rauchverhalten auf hohem Niveau zu halten.

Dr. med. Martina Pötschke-Langer Dr. PH Annette Bornhäuser

WHO Kollaborationszentrum für Tabakkontrolle im Deutschen Krebsforschungszentrum, Im Neuenheimer Feld 280, 69120 Heidelberg, E-Mail: who-cc@dkfz.de T H E M E N D E R Z E I T

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Die Publikation „Passivrauchende Kinder in Deutschland – frühe Schädigungen für ein ganzes Leben“ vom DKFZ beschreibt die gesundheitli- chen Risiken des Passivrauchens für Kinder sowie die Handlungsempfehlungen ausführlich. Die vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Si- cherung geförderte Broschüre ist kostenfrei er- hältlich beim DKFZ unter who-cc@dkfz.de oder Fax: 0 62 21/42 30 20. Sie kann auch im Internet heruntergeladen werden: www.rauchfrei2004.de.

Textkasten 2

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