• Keine Ergebnisse gefunden

«Selbstoptimierung macht nicht glücklich. Wir beschäftigen uns dadurch noch intensiver mit unseren angeblichen Defiziten»

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "«Selbstoptimierung macht nicht glücklich. Wir beschäftigen uns dadurch noch intensiver mit unseren angeblichen Defiziten»"

Copied!
7
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

Immer besser, schneller, schöner. Aber auch glücklicher? Imago

Dieses Jahr überdenken viele Menschen ihr Leben und wollen es umkrempeln. Kann das gelingen?

Man kann vieles umkrempeln, aber die Gewohnheiten reissen uns in alte Muster zurück. Wir haben bestimmte Denk- und

Verhaltensmuster, denen neuronale Verknüpfungen zugrunde liegen. Diese müssen erneuert werden, sonst ist Veränderung nicht möglich. Gewohnheiten verändern sich nur über neue Erfahrungen und nicht über neue Erkenntnisse.

«Selbstoptimierung macht nicht glücklich. Wir beschäftigen uns dadurch noch intensiver mit unseren

angeblichen Defiziten»

Die Corona-Krise löste bei vielen Menschen eine Sinnsuche aus. Ein Gespräch mit dem Verhaltenstherapeuten Jens Corssen über das

Gefühl des Nichtgenügens und wie man es loswird.

Anja Knabenhans 18.12.2020, 05.30 Uhr 3 Kommentare

(2)

Und wie bilde ich neue neuronale Verknüpfungen?

Durch Wiederholung: Man wiederholt seinen Vorsatz mit sogenanntem «high probability behaviour» (HBB), das ist eine Methode aus der Verhaltenstherapie. Man koppelt einen Gedanken an eine häufig auftretende Verhaltensweise. Wenn Sie morgens immer Tee trinken, dann lesen Sie jeden Morgen halblaut Ihren Vorsatz ab einem Zettel, bevor Sie den ersten Schluck nehmen. Nach einigen Wochen verändert sich die innere Haltung, dann erfolgt die Verhaltensänderung automatisch. Eine zusätzliche Hilfe ist die Visionsmethode: Man stellt sich beim Einschlafen bildhaft vor, wie es ist, wenn man den Vorsatz schon erfüllt hat. Man färbt sein Unbewusstes mit dem Gefühl, wie es dann sein wird. Marc Aurel sagte treffend: «Auf Dauer nimmt die Seele die Farbe deiner Gedanken an.»

Also kann man sich zwar nicht rasch optimieren, aber man kann es.

Es geht nicht darum, die eigene Persönlichkeit zu verbessern. Man ist seit Geburt okay. Verhaltensänderungen sind möglich, jedoch muss man zuallererst die Haltung zum Leben, zu sich und den Mitmenschen ändern. Die allgemeine Verstimmtheit über die Lebenssituation sowie das Klagen über sich und andere sind Hemmnisse auf dem Weg zur persönlichen Entwicklung. Darum coache ich schon seit langem nicht mehr auf konkrete Ziele hin, sondern helfe Klienten mit meiner Philosophie des Selbst- Entwicklers: Man muss sich in gehobene Gestimmtheit bringen.

Wenn man sagt «Ich muss mich ändern!», aber seine allgemeine Unzufriedenheit nicht in den Griff bekommt, schafft man die Veränderung auf Dauer nicht.

Und dann denkt man: «Nicht einmal so ein Auslöser wie die Corona- Krise reicht, um mich zu ändern.»

Es ist wichtig, dass man jetzt nicht glaubt, man müsse alles anders

(3)

Verhaltenstherapeut Jens Corssen

PD

machen. Das erzeugt gewaltigen Druck, und der schadet mehr, als er nützt. Man sollte sich klar darüber werden, was man schon alles hat, und dankbar dafür sein – wegkommen vom defizitorientierten Denken. Selbstoptimierung macht nicht glücklich. Wir beschäftigen uns dadurch noch intensiver mit unseren angeblichen Defiziten.

Weshalb wollen wir denn öfter Dinge umkrempeln?

Buddha sagte: «Leid entsteht durch permanentes Vergleichen und Beurteilen.» Der Selbstoptimierungswahn entwickelt sich oft aus einem minderen Selbstwertgefühl.

Wie kommen Menschen weg vom latenten Gefühl des Nichtgenügens?

Der Veränderungsdruck ist konditioniert durch die Eltern. Kinder hören Sätze wie:

«Du bist faul, du bist unordentlich.» Das Kind versteht, dass es nicht genügt, und glaubt: Ich muss anders sein. Die Eltern meinen das nicht böse, aber das Problem ist, dass sie Person und Verhalten nicht entkoppeln. An sich müsste man dem Kind vermitteln: «Ich liebe dich, und dein Verhalten ist ungünstig für dieses oder jenes.» Nicht die Person muss geändert werden. Dass wir in Ordnung sind, so wie wir sind, haben uns unsere Eltern nur nicht glaubhaft vermittelt. All die persönlichen Makel, die man meistens aus dem Stegreif

aufzählen kann, entstammen diesem Minderwertigkeitsgefühl – dem automatischen Denken.

Was meinen Sie mit automatischem Denken?

(4)

Das sind Gedanken, die uns die Gesellschaft oder die Eltern vermittelt haben und die in bestimmten Situationen sofort ausgelöst werden. Ich bezeichne das automatische Denken als

«Quatschi»-Beiträge. Wenn Sie beispielsweise in einem Stau stehen, denken Sie vielleicht «Scheiss-Stau!». Unsere Stimmung wird geleitet durch unsere konditionierten Beurteilungen zu dem, was ist. Darum ist es so wichtig, dass man Selbstbewusstheit erlangt – die Fähigkeit, sich seines Denkens bewusst zu sein.

Selbstbewusstheit ist die grösste Voraussetzung für Veränderung.

Denn nicht das, was ist, macht mich auf Dauer traurig oder wütend, sondern meine Beurteilung. Sie bestimmt meine Gestimmtheit.

Also sollte man besser darauf achten, wie es in uns automatisch denkt?

Viele, die sich verändern wollen, verachten sich, entwerten sich. Vor kurzem hat eine füllige Bekannte vorwurfsvoll gesagt: «Ich bin ein fettes Schwein.» Wie will die denn abnehmen? Die hypnotisiert sich mit diesem Satz. Ihre Haltung zu sich selbst bestimmt ihr Verhalten – also wird sie nichts an ihrem Verhalten ändern können.

Wir sollten wohlwollender mit uns selber sein.

Das hilft auch, das ewige Klagen zu vermeiden. Im Augenblick einer Selbstanklage produziert man Stresshormone. Die Chemie deiner Gedanken bewegt sich in deinem Blut. Das Gegenteil von Quatschi- Denken ist das bewusste Denken. Zum Beispiel: «Ich entscheide mich bei vollem Bewusstsein: Ab heute liebe ich mich ohne Bedingung, und mein Verhalten kann ich täglich auf ein Ziel hin verbessern.» Selbstliebe ist eine Entscheidung! Wenn Sie sich nicht entscheiden, sich sozusagen als Gesamtpaket zu lieben, dann werden Sie sich immer wieder bei Fehlern beschimpfen.

Sie sind 78 Jahre alt und arbeiten seit 50 Jahren als

(5)

Verhaltenstherapeut. Was macht Menschen glücklich – wenn sie ein Ziel erreichen?

Nicht das Erreichen eines Ziels macht uns glücklich, sondern die Bedeutung, die wir diesem Ziel geben. Wenn man ein neues Haus gebaut hat, freut sich der eine darüber, dass es so geworden ist, wie er es sich vorgestellt hat. Er freut sich, dass er seine Ideen so gut verwirklichen konnte. Ein anderer freut sich, dass er nun sehr viele Leute einladen kann und alle sehen, dass er ein so schönes Haus am See hat. Nun muss er also jede Woche ein grosses Fest machen, weil er das Ziel sonst ja nicht erreicht und unzufrieden ist.

Also ist das Leben innerer Werte für Freude nachhaltiger als Anerkennung von aussen.

Es ist ein Irrweg zu glauben, über äussere Dinge nachhaltig glücklich zu werden. Das haben bestimmt schon viele irgendwo gelesen – es ist nur so tragisch, dass diese Erkenntnis kaum etwas ändert! Auch die Zufriedenheit ist eine Entscheidung. Solange ich nicht das philosophische Prinzip des «panta rhei» akzeptiere, nämlich, dass alles im Fluss ist und nichts bleibt, solange hoffe ich vergebens auf Zufriedenheit. Es gelingt mir nur, wenn ich die Gesetze des Lebens akzeptiere und mich entscheide, dieses Fliessen zu lieben, weil gerade dies das Lebenselixier ist.

Das klingt anstrengend, diese Entscheidung zu treffen.

Glück ist eine Überwindungsprämie. Die Menschen sind immer verstimmt, weil sie meinen, dass das Leben so sein soll, wie sie es sich wünschen. Sie orientieren sich an ihren Vorstellungen und nicht an dem, was ist.

Wie finden Sie heraus, was Ihre Klienten wirklich glücklich macht?

Ich frage sie: «Was ist für Sie von grosser Bedeutung?» Dann sagen sie oft Dinge wie: «Ich will erfolgreich sein, ich will meine Ziele erreichen.» Solche Aussagen sind aber oft von der Gesellschaft oder von den Eltern übernommen worden. Es sind nicht die eigenen Ziele.

Und wie erkennt man die?

Man beobachtet sich über längere Zeit, um herauszufinden, was

(6)

einen wirklich interessiert. Wo und wann klopft mein Herz, was macht mir Freude, wo bleibe ich ohne Zwang dabei? Eine

schriftliche Reflexion über eigene Bedürfnisse und Talente könnte helfen, so eine Art Glückstagebuch.

Wie bringen Sie Ihre Klienten weg vom defizitorientierten Denken?

Ich mache mit ihnen zum Beispiel Dankbarkeitsrituale. Abends im Bett liegen, sich regelmässig bewusst darüber werden, was man alles schon hat, was man alles kann, was für ein netter Mensch man ist, was einen an diesem Tag erfreut hat.

Aber man kann doch nicht immer guter Stimmung sein!

Gehobene Gestimmtheit meint nicht, permanent gute Laune zu haben. Es beschreibt die Haltung, nicht gegen, sondern für das Leben zu sein. Ich stelle mich seit 38 Jahren jeden Morgen nach dem Aufstehen auf einen Stuhl. Dann verbeuge ich mich und sage:

«Willkommen, Tag. Ich erwähle dich, mit allem, was du bringst. Ich wachse an den Situationen des Lebens, die Situation ist mein Coach.

Ich bin ein gelassener und mutiger Selbst-Entwickler.» Das bedeutet nicht, dass ich alles einfach hinnehme. Aber es bewahrt mich vor dem nutzlosen Klagen, was enorme Energie kostet. Diese Energie brauche ich, um etwas zu ändern. Wenn ich in dieser aufrechten Haltung den Tag beginne, befreie ich mich mit der Zeit von automatischen Ohnmachtsgefühlen.

Regina Probst vor etwa 2 Stunden 1 Empfehlung

Leider steht hier nichts von der konstruktiven Wut, die durchaus nötig ist, wenn äussere Umstände zuviel Zumutung bergen. Den Bereich, wo eine zu schnell akzeptierte "Zufriedenheit" eher kaschiert, als läutert. Es genügt nicht, nur die Veränderung in sich selber zu suchen, es ist lediglich die eine Seite der Medaille. Sie ist sehr wichtig und bewahrt vor Jammern und Selbstmitleid. Wenn ich jedoch zB als Frau, oder als sonst mit strukturellen HIndernissen Geborene "(Ausländer", Unterschicht,...) ständig schon zur Bescheidenheit und "Zufriedensein" mit dem was ist sozialisiert wurde, muss ich das kämpferische, das offene Unzufriedensein üben. Natürlich gilt es trotzdem, sich selber anzunehmen wie man /frau ist. Aber darin können auch Fallen stecken. Es sollte also immer auch sehr bewusst in die Übungen eingebaut werden, "was ist überhaupt nicht zu akzeptieren?" Die

"gehobene MIttelschichtscoachings" sind ein Luxusgebiet. Und eigentlich kann man auch dort direkt darauf verweisen, wo sich viele Persönlichkeitsentwicklungsgebiete finden lassen: Beim Helfen, die Welt gerechter zu machen.

Jens Corssen ist Verhaltenstherapeut und Autor («Der Selbst-Entwickler») und lebt in München.

3 Kommentare

(7)

Werner Moservor etwa einer Stunde

Das Suboptimale der Verhaltenstherapie ist, dass sie vorgibt, das Verhalten eines Menschen sei machbar. Also optimierbar. Was zur logischen Folge hat, dass man sich noch intensiver mit angeblichen Defiziten herumschlägt. Und sich damit in einer Endlosschlaufe der Sinnsuche verliert.

Ein Gespräch über das damit verbundene Gefühl des Nichtgenügens hilft nur "künstlich" weiter.

Anstatt sich nackt und herrlich sich selbst im Spiegel neue entdecken. Und ganz einfach mit Zufriedenheit sich so aktzeptieren, wie man ist. Einswerden mit der Umwelt, und mit ihr zusammen die Lebenswege gehen, welche einem jeden Tag neu gegeben werden. Jeden Tag so leben, als wäre des der schönste letzte. Und dankbar sein, dass man genügte, ihn zu erleben. Dabei glücklich sein, dass man hier und jetzt sein durfte. So einach ist das. Und offenbar doch so schwer, wenn man diesen NZZ-Artikel hier zu Gemüte führt. Besten Dank dafür!

Alle Kommentare anzeigen

Mehr zum Thema

Meine Tochter hat mir in der Krise geraten, für die Zeit nach der Krise souveräner zu werden. Ja, gut gesagt. Aber was heisst das eigentlich? Ein Selbstversuch.

Sie ist an sich kein neues Phänomen, die Selbstoptimierung. Problematisch ist, dass sie zunehmend on- und nicht offline stattfindet. Vor allem Jugendliche scheinen in ihrer Persönlichkeitsentwicklung gefährdet.

Vergiss die nervtötende

Perfektionierung deiner selbst – aber optimiere dich stattdessen!

Wilhelm Schmid 27.05.2020

Selbstoptimierung in Zeiten der Selfie- Manie: Was der Spiegel nicht zeigt

Nathalie Hoffmann, Gymnasiastin 01.03.2019

Copyright © Neue Zürcher Zeitung AG. Alle Rechte vorbehalten. Eine Weiterverarbeitung, Wiederveröffentlichung oder dauerhafte Speicherung zu gewerblichen oder anderen Zwecken ohne vorherige ausdrückliche Erlaubnis von Neue Zürcher Zeitung ist nicht gestattet.

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

k Sie können bequem die Vorschau auf alle einzelnen Seiten nutzen, um zu einem Artikel zu gelangen, die Suchfunktion benutzen oder Sie klicken direkt im Inhaltsverzeichnis den

Freundliches, engagiertes Per- sonal Nicht nur das Wissen, auch der frische Schwung, den Sie aus dem Besuch einer Fachveranstaltung mitnehmen, zahlt ein auf ein posi - tives Image

In anderen europäischen Län- dern zeigt sich, dass Unternehmen in innova- tionsgetriebenen Branchen, die nicht mehr in Forschung und Entwicklung investieren, ein hohes

Dahinter stehen gemäss diesem Ansatz subtile Stereotype und Vorurteile gegenüber der Eignung von Frauen als Führungskräfte, aber auch an- dere Nachteile wie fehlende Vernetzung

Argentinien, Belgien, Brasilien, Dänemark, Frankreich, Finnland, Großbritannien, Irland, Island, Kanada, Luxemburg, Mexiko, Neuseeland, Niederlande, Norwegen, Portugal,

Und des Profits wegen können wir auch nicht frei bestimmen, was und wie wir arbeiten: Weil wir den für Güter und Dienste notwendigen Lohn nur da verdienen, wo ein Un- ternehmen

Und auch wenn es Modis Wahlkampfstrate- gen nicht gefallen sollte: die von seiner Bharatiya Janata Party (BJP) geführte Regierung reiht sich relativ nahtlos in das

Ein Hort des Optimismus auch in Krisenzeiten, wo sich jeder Bettler auf dem Pflaster für einen Global Player und jeder Girlandenverkäufer für einen kommenden Bollywoodstar