Hendrik Stoppel
Von Angesicht zu Angesicht
Abhandlungen zur Theologie des Alten und Neuen Testaments
herausgegeben von
Erhard Blum, Christine Gerber,
Shimon Gesundheit, Matthias Konradt, Konrad Schmid, Jens Schröter,
Samuel Vollenweider
Band 109
Hendrik Stoppel
Von Angesicht zu Angesicht
Ouvertüre am Horeb. Deuteronomium 5 und 9–10 und die Textgestalt ihrer Folie
Theologischer Verlag Zürich
Publiziert mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemein- schaft (DFG) und der Lang-Stiftung.
Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deut- schen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Umschlaggestaltung Simone Ackermann, Zürich Druck
ROSCH Buch GmbH, Scheßlitz ISBN 978-3-290-17939-7
© 2018 Theologischer Verlag Zürich www.tvz-verlag.ch
Alle Rechte vorbehalten
םירל
1
1 Hiob 39,9 (Luther 1912)
Vorwort
«Von Angesicht zu Angesicht» sieht sich Israel am Horeb seinem Gott gegen- über – Auge in Auge sieht sich nun auch der Autor dieser Arbeit gegenüber, die im Wintersemester 2016/2017 von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen als Promotionsdissertation angenommen wurde. Sie wurde für die Drucklegung noch einmal überarbeitet, an einigen Stellen gekürzt, an anderen noch leicht erweitert. Und am Ende der Überarbei- tung steht dieser Anfang des Buches, der ein Blick zurück sein soll.
Am Anfang des Buches vom Ende her die Geschichte dazwischen in Erinne- rung zu rufen – diese Bewegung wird in dieser Untersuchung noch öfter auf- scheinen. Die Geschichte, die die Untersuchung hervorgebracht hat, soll hier vor allem im Modus des Dankes vor Augen kommen.
Natürlich gilt mein Dank zunächst und zuerst meinem Doktorvater Prof.
Dr. Erhard Blum, der nicht nur bereits zu Beginn meines Studiums die Faszina- tion für das Alte Testament bei mir zu wecken wusste, sondern mir auch die Gelegenheit gab, nach einigen Jahren außerhalb des akademischen Betriebs in diesen zurückzukehren und diese Arbeit in Angriff zu nehmen. Zunächst im Rahmen des DFG-Projektes «Die Rahmentexte des Deuteronomiums und die Genese des Pentateuchs» und darüber hinaus an seinem Lehrstuhl fand ich das Umfeld, das auch diese Arbeit maßgeblich mitgetragen hat und in dem es an lebhafter Diskussion und gelegentlichem herzlichen Widerspruch nie Mangel hatte. Ihm und Prof. Dr. Heinz-Dieter Neef danke ich für die Erstellung der Gutachten, die auch wertvolle Hinweise für die Überarbeitung zur Publikation lieferten.
Im gleichen Zuge gilt mein Dank auch Prof. Dr. Bernd Janowski, Prof. Dr.
Elisabeth Gräb-Schmidt und Prof. Dr. Michael Tilly, die mir, jede und jeder auf seine und ihre Weise, in unzähligen Gesprächen und in Möglichkeiten zur Mit- arbeit die Chance gaben, meinen Blick auch immer wieder auf Gebiete außer- halb meines Projektes und außerhalb des eigenen Fachbereiches auszudehnen.
Von allen dreien habe ich viel gelernt. Dr. Andreas Gehrlach danke ich für seine kulturwissenschaftliche Perspektive, die sich oft genug als notwendiger Stachel im exegetischen Fleisch erwiesen hat.
Meine beinahe täglichen Gesprächspartner am Lehrstuhl waren Sabine Rum- pel und Desiree Zecha, denen ich nicht nur für die harmonische Bürogemein- schaft, sondern auch über alle Maßen hinaus für ihre Bereitschaft zu danken
habe, die Dissertation in den vielen Stadien ihrer Entstehung Korrektur zu le- sen.
Nicht zuletzt möchte ich den Herausgebern der «Abhandlungen zur Theolo- gie des Alten und Neuen Testaments» und in dieser Funktion insbesondere mei- nem Doktorvater und Prof. Dr. Konrad Schmid danken, die meine Untersu- chung in diese Reihe aufgenommen haben. Lisa Briner vom Theologischen Verlag Zürich hat geduldig und hilfreich die Erstellung der Druckvorlage be- treut. Möglich wurde diese Publikation durch namhafte Zuschüsse der Deut- schen Forschungsgemeinschaft und der Lang-Stiftung, denen ebenfalls mein Dank gilt.
Heidelberg,
im November 2017 Hendrik Stoppel
8 Vorwort
Inhalt
Vorwort ...7
Abkürzungen ...13
I. Grundlegendes ...15
1. Einleitung...15
2. Zur aktuellen Forschung ...17
2.1. Überblick und Vorgeschichte...17
2.2. Positionen in der Forschung ...21
2.2.1. Die Herkunft der prägenden Schicht der Horebtexte...22
2.2.1.1. Herkunft aus einem DtrG-Zusammenhang...22
2.2.1.2. Herkunft aus einem Zusammenhang mit den übrigen Pentateuchbüchern...30
2.2.2. Die ‹Heimat› des Dekalogs ...39
2.2.2.1. Erste Beheimatung in Ex 20 ...39
2.2.2.2. Erste Beheimatung in Dtn 5 ...41
2.2.3. Die Einordnung der ‹D›-Texte in Ex 19–34 ...43
2.2.3.1. Überwiegend vorpriesterliche Einordnung ...43
2.2.3.2. Überwiegend nachpriesterliche Einordnung ...52
2.3. Aufgabe der Untersuchung...62
II. Die Horebtexte in Deuteronomium 5 und 9–10 ...65
1. Deuteronomium 5...65
1.1. Übersetzung...66
1.2. Struktur und Kohärenz...71
1.2.1. Die Kommunikationsebenen...72
1.2.1.1. Zu Vers 1...77
1.2.1.2. Zu Vers 5...79
1.2.1.3. Zu Vers 22 ...85
1.2.1.4. Zu den Versen 32–33...86
1.2.2. Literarische und inhaltliche Struktur ...88
1.2.2.1. Der Rahmen 1c–e und 32–33 ...88
1.2.2.2. Der Rahmen 1a–c und 31 ...90
1.2.2.3. Der Rahmen des Dekalogs...90
1.2.2.4. Die Reden in den Versen 24–31...91
1.3. Argumentative Funktion ...98
1.3.1. Radikale Vergegenwärtigung: 5,3...99
1.3.2. Die Entfaltung der Gottesbeziehung: 5,22 ...107
1.3.3. Verhältnisbestimmungen: 5,27ff...117
1.3.3.1. Mose und die Mittlerschaft ...118
1.3.3.2. Mose und die Rechtsordnung ...126
1.3.3.3. Der Dekalog und die Rechtsordnung ...131
1.4. Zusammenfassung ...139
2. Deuteronomium 9–10 ...140
2.1. Übersetzung ...141
2.2. Struktur und Kohärenz...147
2.2.1. Die Kommunikationsebenen ...147
2.2.1.1. Zu 10,6–7 ...150
2.2.1.2. Zu 10,8–9 ...153
2.2.2. Literarische und inhaltliche Struktur...155
2.2.2.1. Der Rahmen 9,1 und 10,11...156
2.2.2.2. Die Rhetorik von 9,4–6 ...159
2.2.2.3. Der Rahmen 9,7 und 9,24 ...164
2.2.2.4. Der Rahmen 9,8 und 10,10 ...169
2.2.2.5. Die vierzig Tage und vierzig Nächte...170
2.2.2.6. Die Fabel hinter Dtn 9–10 ...175
2.2.2.7. Der Rahmen 9,26 und 29 ...177
2.2.2.8. Die Gliederung von Dtn 9–10 ...178
2.3. Argumentative Funktion ...180
2.3.1. Landnahme und Fortgang der Geschichte...180
2.3.2. Die Landverheißung an die Väter ...185
Exkurs: Die Funktion der Rückverweise im Dtn ...189
2.3.3. Gefährdung und Überwindung...210
2.3.3.1. Die Verfehlungen ...211
2.3.3.2. Die Zerstörungsakte...220
2.3.3.3. Die Fürbitte und Wiederherstellung ...229
2.4. Zusammenfassung ...239
3. Die Horebtexte im Kontext ...241
3.1. Die Anbindung nach vorne ...241
3.1.1. Die Überschrift in Dtn 4,44–49 ...241
3.1.1.1. Strukturelles und Literargeschichtliches...242
10 Inhalt
3.1.1.2. Die Zeit- und Raumvorstellung ...246
3.1.1.3. Das Problem ‹Bet-Peor› ...251
3.1.2. Das Verhältnis zu Dtn 1,1–5...254
3.1.2.1. Strukturelles und Literargeschichtliches...255
3.1.2.2. Reichweite und Bezug der Überschrift ...259
3.1.3. Das Verhältnis zu Dtn 1–3...265
3.1.3.1. Die Rahmenbildung in Dtn 1–3 ...266
3.1.3.2. Die Funktion für den weiteren Kontext...269
3.2. Das Verhältnis zum ‹Moabbund› ...273
3.2.1. Der Bezug zu Dtn 5 ...274
3.2.2. Literarkritisches und Strukturelles ...276
3.2.3. Die argumentative Funktion...280
III. Die Sinaitexte Exodus 19–24 und 32–34 als Folie und Nachgeschichte...289
1. Exodus 19–20 und 24 ...290
1.1. Übersetzung...290
1.2. Die szenische Gliederung ...298
1.2.1. Zu 19,1–14a ...301
1.2.2. Zu 19,14b–19...307
1.2.3. Zu 19,20–25 ...311
1.2.4. Zu 20,1–22 ...314
1.2.5. Zu 24,1–11 ...317
1.2.6. Zu 24,12–18 ...322
1.2.7. Mögliche Grundschicht ...324
1.3. Das Verhältnis zu Dtn 5...326
1.3.1. Vergleich der Grundstruktur ...326
1.3.2. Gemeinsame Elemente...328
1.3.2.1. Der Bundesschluss ...328
1.3.2.2. Mose als Mittler...336
1.3.2.3. Der Dekalog ...341
1.3.2.4. Das Bundesbuch ...345
1.4. Zusammenfassung...349
2. Exodus 32–34...350
2.1. Übersetzung ...350
2.2. Die szenische Gliederung...361
2.2.1. Zu 32,1–14...364
2.2.2. Zu 32,15–30...367
2.2.3. Zu 32,31–33,6...371
2.2.4. Zu 33,7–34,3 ...376
Inhalt 11
2.2.5. Zu 34,4–28...384
2.2.6. Zu 34,29–35 ...391
2.2.7. Mögliche Grundschicht...395
2.3. Das Verhältnis zu Dtn 9–10...396
2.3.1. Vergleich der Grundstruktur...396
2.3.2. Gemeinsame Elemente ...399
2.3.2.1. Die Tafeln...399
2.3.2.2. Das Bild...404
2.3.2.3. Anklage, Fürbitten und Überwindung ...414
2.4. Das Zelt der Begegnung...424
2.5. Zusammenfassung...429
3. Zusammenschau und Ausblick ...431
Literatur ...437
Bibelstellenregister...459
12 Inhalt
Abkürzungen
Verwendete Abkürzungen richten sich nach S. M. Schwertner, IATG3– Inter- nationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete. Zeitschrif- ten, Serien, Lexika, Quellenwerke mit bibliographischen Angaben, Berlin/Bos- ton, MA32014. Biblische Orts- und Personennamen werden entsprechend den Loccumer Richtlinien wiedergegeben und nicht transkribiert.
Allgemeine Abkürzungen
dtn deuteronomisch
dtr deuteronomistisch
DtrG Deuteronomistisches Geschichtswerk
KD nicht-priesterliche Komposition im Pentateuch (cf. Blum, Studien) KP priesterliche Komposition des Pentateuch (cf. Blum, Studien)
Abkürzungen für Textausgaben
BHS Biblia Hebraica Stuttgartensia. Editio funditus renovata. Editio quarta emendata, hg. v. K. Elliger et. al., Stuttgart 1990.
BHQ Biblia Hebraica Quinta editione cum apparatu critico novis elaborato, hg. v.
A. Schenker et al., Stuttgart 2004ff.
LXX Septuaginta. Vetus Testamentum Graecum, Auctoritate Academiae Scientia- rum Gottingensis editum, Göttingen 1936ff.
TUAT Texte aus der Umwelt des Alten Testaments, hg. v. O. Kaiser et al., Güters- loh 1982ff.
Abgekürzt zitierte Werke
Ges Gesenius, W./Buhl, F., Hebräisches und aramäisches Handwörterbuch
über das Alte Testament, Berlin/Göttingen/Heidelberg 171915 [Nachdruck 1962].
GesK Gesenius, W., Hebräische Grammatik, völlig umgearbeitet von E.
Kautzsch, Leipzig 281909 [4. Nachdruck 1983].
JoüonMuraoka Joüon, P./Muraoka, T., A grammar of Biblical Hebrew (SubBi 14), Rom 1991.
KBL Koehler, L./Baumgartner, W., Lexicon in Veteris Testamenti libros, Lei- den 1958.
KTU Dietrich, M./Loretz, O./Sanmartín, J., Die keilalphabetischen Texte aus Ugarit I (AOAT 24), Neukirchen-Vluyn/Kevelaer 1976.
TAVO Mittmann, S./Schmitt, G., Tübinger Bibelatlas auf der Grundlage des Tü- binger Atlas des Vorderen Orients (TAVO) = Tübingen Bible Atlas. Based on the Tübingen Atlas of the Near and Middle East, Stuttgart 2001.
Bibliographische Abkürzungen
ATM Altes Testament und Moderne, Berlin et al.
Bju Berichte aus den Sitzungen der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissen- schaften e. V., Hamburg.
BKUG Beiträge zur Kultur- und Universalgeschichte, Leipzig.
MTK Materiale Textkulturen. Schriftenreihe des Sonderforschungsbereiches 933, Berlin/Boston, MA.
PPFBR Publications of the Perry Foundation for Biblical Research in the Hebrew University of Jerusalem, Jerusalem.
Elektronische Hilfsmittel
Accordance Accordance 11, OakTree Software Inc., Altamonte Springs, CA, 2015.
Google earth Google earth, 7.1.5.1557, Google Inc., Mountain View, CA, 2015.
14 Abkürzungen
I. Grundlegendes
1. Einleitung
ouverture [uvɛʀtyʀ] f: Öffnung; Eröffnung; Auftakt; Beginn; Einleitung; [mus] Ouvertüre1
Mit Bedacht lautet der zentrale Begriff des Untertitels auf den BegriffOuvertüre, der nur im Deutschen auf seinen Gebrauch in der Musik, für die Ouvertüre einer musikalischen Großkomposition,2festgelegt ist. Als französischesouvertu- re,wie oben, ist er sehr viel vielschichtiger. Ganz falsch ist diese erste Assoziation aber nicht, denn das Deuteronomium, wie es heute vorliegt, fungiert in vieler Hinsicht wie die klassische, einsätzige Opernouvertüre.3 Hier klingen zentrale Themen der folgenden Vorderen Propheten an, werden gesetzt und eingeführt, nicht nur als Beginn eines großen Bogens, sondern auch als einzelne Punkte, die später wieder auftauchen werden. Auch der Grundtenor des gesamten Werkes wird angestimmt und variiert. Nicht zuletzt wird der Übergang von der Ouver- türe zur ersten «Szene» des Stückes dicht und breit ausgebaut.
Ganz unabhängig von angelegten literarischen Modellen wird doch deutlich, dass das Deuteronomium als ein«Vor» gestaltet ist, das auf ein «Danach» hin- strebt. Von dort her hat es seine Form als Moserede am «Vorabend» der Land- nahme des Kerns des verheißenen Landes, an den Ufern des Jordan, ummittel- bar, bevor Israel über diesen hinüberzieht. Mit ihm hinüber zieht aber auch das Leitthema der Eröffnung, das Spannungsfeld zwischen größtmöglicher Jhwh- Verbundenheit und -nähe und den Verlockungen fremder Götter, Kulte und ihrer sinnlichen Erfahrung, ein Spannungsfeld aus Segen und Fluch, das Israel bis an das Ende der vorderen Propheten literarisch nicht mehr verlassen wird.
Gerade Dtn 5 hat auch den Fanfarencharakter der frühesten musikalischen Einleitungskompositionen, der die Hörer packen und zum Zuhören verleiten soll.4Die große Theophanie am Gottesberg, die Stimme Gottes mitten aus dem Feuer des brennenden Bergs, zieht nicht nur die Aufmerksamkeit der anwesen- den Israeliten auf sich, sondern auch die des «Publikums», der Leser. Ihren Kon-
1 E. E. Lange-Kowal, Langenscheidts Großes Schulwörterbuch Dt.-Franz., s. v.
2 Cf. Pelker, Ouvertüre, 1242.
3 Cf. im Überblick a. a. O., 1247ff. In der bekanntesten und hier vorausgesetzten Form entwi- ckelte sie sich im letzten Drittel des 18. Jh. aus älteren Vorstufen (a. a. O., 1250).
4 Cf. A. a. O., 1243.
trapunkt hat diese Fanfare in Dtn 9–10, der ersten und ebenso überwältigenden Krise des Gottesverhältnisses Israels. Auch diese «Szene» wird und soll sich der Leser im weiteren Verlauf der Geschichte immer wieder erinnern.
Das Dtn in seiner uns überlieferten Form geht aber auch über eine reine Eröff- nung und Einstimmung hinaus. Die Bedeutung des französischen Wortesouver- ture als Öffnung, auch im ganz physischen Sinne, kommt hier auch zu ihrem Recht. Es wird ein Raum eröffnet, historisch und geographisch, in dem sich das folgende Geschehen abspielen kann. Es ist eine Öffnung im Text, die nach bei- den Seiten durchsichtig ist. Vom Dtn aus zurück auf die Stoffe, die sich im Te- trateuch finden und auf die das Dtn zurückgreift und die nach diesem Rückgriff nur noch im durch diese Öffnung fallenden Licht gesehen werden können. Aber auch eine Öffnung, die schon in der Aufnahme der bekannten Stoffe den Raum dahinter durchscheinen lässt, die Stoffe daraufhin transparent macht.
Diese gegenseitige Durchdringung der bereits anbrechenden Geschichtser- zählung der Vorderen Propheten und der vom Tetrateuch her schon bekannten Stoffe hat das Dtn zurecht immer wieder zu einem exegetischen Dreh- und Angelpunkt in der Frage nach der literarischen Entstehungsgeschichte der ersten beiden Kanonteile der Hebräischen Bibel werden lassen. Als solcher stellen sich die Horebtexte auch in dieser Untersuchung dar. Denn so sehr die Öffnung dieser Texte im Speziellen hin zum Vor- wie Folgekontext auf der Hand liegt, so umstritten ist die Frage, wer wann, mit welcher Brille und in welcher Richtung durch diese Öffnung geschaut und literarisch hindurch gegriffen hat.
Schon deshalb können die Horebtexte des Dtn nicht ohne ihre Folie in den Sinaitexten des Exodusbuches betrachtet werden, die je nach Perspektive vor oder hinter der Öffnung im Text liegt, aber immer den Blick nach beiden Seiten färben muss. Beide Textkomplexe lassen sich vollständig immer nur im darauf fallenden Licht des jeweils anderen erfassen.
Ein Licht jedenfalls strahlt aus beiden Textbereichen, das dieser Untersuchung ihren Titel «Von Angesicht zu Angesicht» gegeben hat. Sowohl in Ex 19–24 als auch in Dtn 5 steht am Anfang dieunmittelbareBegegnung Jhwhs mit Israel, so sehr gesteigert, dass Israel mit allen Sinnen seinen Gott wahrnehmen kann. Was nach dem späteren christlichen Verständnis die eschatologische Vollendung der Gottesbeziehung der Christen darstellt, das Sehen, die unvermittelte sinnliche Wahrnehmung des Angesichts Gottes, von der im Neuen Testament erst in Offb 22,4 im Rahmen der Schilderung des Neuen Jerusalems wieder die Rede sein sollte, steht in den Ereignissen am Gottesberg gerade amAnfang der Ereignisse und damit am Anfang des dort entfalteten Gottesverhältnisses. Israel wird in Dtn 5,4 von Jhwhםינפבםינפangesprochen und in Ex 24,11 schauen die Ältesten Israels, dem priesterlichen Volk Jhwhs, Gott selbst.
16 I. Grundlegendes
Die unmittelbare Gottesbegegnung ist hier nicht die ausstehende Vollen- dung des Gottesverhältnisses, sie ist seine Grundlegung und sein Ausgangs- punkt. Die sinnliche Wahrnehmung Jhwhs, besser deren Ausbleiben, wird aber auch zum «Stolperstein» des Volkes. Als das Volk in Ex 32,1 des verblassenden Eindrucks gewahr wird und «sieht, dass es nichts mehr sieht», beeilt es sich, sich noch am Gottesberg einen neuen sinnlichen Eindruck zu verschaffen. Ein Stier- bild aus Gold, dem es nun zu seiner vermeintlichen Beruhigung ins Angesicht schauen kann. Diese radikale Abwendung des Blickes von Jhwh ist auch der radikale Bruch des Gottesverhältnisses, das der gegenseitige Blick doch mit konstituiert hatte.
So wird die Geschichte der Entfaltung des Gottesverhältnisses Israels von Anfang eine gebrochene. Seine Rettung über den Bruch hinweg wird zum größ- ten Thema der Texte. Die Beantwortung der Frage, ob und in welcher Form es über die Wiederherstellung des Gottesverhältnisses hinaus auch eine Rückkehr zur Begegnung von Angesicht zu Angesicht geben kann, muss dabei auf das Ende dieser Untersuchung verlegt werden. Somit lässt sich der Titel in zweifa- cher Art und Weise lesen: als Beschreibung des Ausgangspunktes der Texte, aber auch als Abschreiten eines literarischen Weges, vom Blick in das Angesicht Jhwhs am Anfang hin zu einem möglichen erneuerten Blick in dieses Angesicht am Ende der von ihnen erzählten Geschichte.
2. Zur aktuellen Forschung
2.1. Überblick und Vorgeschichte
Wenn Jan Christian Gertz vom «Sturmtief» schreibt, «das seit geraumer Zeit über die klassischen Erklärungsmodelle zur Entstehung des Pentateuch hinweg- fegt» und «inzwischen auch Noths These eines deuteronomistischen Geschichts- werks erreicht»5hat, dann evoziert das für einen Exegeten, der den Sturm schon in vollem Schwange vorfand, die Vorstellung seines Einbruchs in eine vormali- ge, stabilere Wetterlage. Und tatsächlich schien mit dem Hinzutreten von M.
Noths These eines Deuteronomistischen Geschichtswerkes6 zu den verschiede- nen, aber dennoch aus einer Richtung «wehenden» Modifikationen der Neueren Urkundenhypothese, eine stabile «Großwetterlage» – von unvorsichtigeren Ge- mütern vielleicht für endgültig gehalten – eingetreten zu sein, die ein umfassen- des Koordinatensystem für die literargeschichtliche Analyse des Pentateuch und der Vorderen Propheten bereithielt.7
5 Gertz, Funktion, 103.
6 Grundlegend in Noth, Überlieferungsgeschichtliche Studien.
7 Cf. Blum, Literarisches Werk, 69.
2. Zur aktuellen Forschung 17
Nicht, dass nun im damaligen Verständnis die Texte im Einzelnen endgültig in ihrer Zuordnung geklärt gewesen wären. Gerade die Aufteilung auf J und E fiel an vielen Stellen mühsam und damit recht unterschiedlich aus. Aber neben der bis heute recht allgemein anerkannten Unterscheidung zwischen priesterli- chen und nicht-priesterlichen Texten standen doch zumindest dieMöglichkeiten der Zuordnung fest: Jahwist, Elohist, das Deuteronomium und die Priester- schrift, als zunächst ab- und in sich geschlossene Quellen gedacht und in die- ser – seit J. Wellhausen prinzipiell feststehenden – zeitlichen Reihenfolge.8Dazu die jeweilige(n), die Quellen verbindende(n) Redaktion(en). Noch 1995 konnte W. H. Schmidt, der die wohl letzte große Darstellung der klassischen Urkun- denhypothese als leitender Theorie vorlegte, zumindest hoffen, dass diese Syste- matik «wohl auch gültig»9 bleiben werde.10
Und doch kann in dieser «Vervollständigung» des Systems auch die Entste- hung eines der Risse gesehen werden, die das System scheinbar vollständig zer- reißen sollten. Spätestens seit W. M. L. de Wettes Dissertatio (1805) stand das Dtn als Größe sui generis fest und war seine Entstehung fest mit der «Auffin- dung» des Torabuches unter Josia verbunden.11Damit war ein Fixpunkt in der Pentateuchentstehung gesetzt, an dem zumindest das Vorliegen eines Urdeutero- nomiums gesichert war. Zwar wurde für das Dtn auch eine eigene Entwick- lungsgeschichte, unabhängig von den übrigen Tetrateuchbüchern angenommen, deren Abschluss und die Verbindung des Dtn mit dem Tetrateuch vor der Ein- fügung der Priesterschrift schien aber gesichert.
Mit Noth war aber die jetzt vorfindliche Gestalt des Dtn in ihrer Entstehung eng mit dem DtrG verbunden und damit erst exilisch hergestellt. Das betraf v. a.
auch die eng mit Stoffen des Tetrateuch verwandten narrativen Anteile.12 Der vorher sicher angenommene zeitliche Abstand der Priesterschrift auf das Dtn fiel damit weg und die angenommene Entstehungszeit beider Werke rückte sehr nah zusammen, sodass ihre zeitliche Abfolge neu klärungsbedürftig wurde.13Mit der Verlagerung des Entstehungszusammenhangs entscheidender Rahmentexte des Dtn in einen auf die Bücher der Vorderen Propheten gerichteten Zusam-
8 Cf. Schmidt, Einführung, 47. Cf. auch das Referat bei Zenger, Einleitung, 92–95.
9 Schmidt, Einführung, 47.
10 Auch die Reanimierung der Urkundenhypothese durch die Neo-Documentarians ist eine solche nur unter der Voraussetzung ihrer Krise, nicht die ungebrochene Fortsetzung ihrer Gültig- keit.
11 Cf. de Wette, Dissertatio, 13, Anm. ohne Nummer.
12 Bei Noth zunächst hauptsächlich Dtn 1–3 als Einleitungsrede des DtrG (cf. Noth, Überlie- ferungsgeschichtliche Studien, 14f.). Dtn 5 und 9–10 sah er noch als Teil einer inner-dtn Entwick- lung (cf. a. a. O., 16f.). Später wurden auch diese Kapitel zunehmend als Teil der dtr Redaktion und damit des DtrG gesehen (cf. exemplarisch innerhalb des Koordinatensystems Schmidt, Ein- führung, 129).
13 Cf. auch Schmidt, Einführung, 48.
18 I. Grundlegendes
menhang wurde zunächst jede Verbindung zum Tetrateuch gekappt. Die inhalt- lichen Parallelen der narrativen Stoffe und offensichtlich dtr geprägte Texte im Tetrateuch gerieten in dieser neuen Sicht zunächst weitgehend aus dem Blick, zumindest bei Noth selbst.14
Unter Bestehen der Neueren Urkundenhypothese war das Vorliegen paralle- ler, literarisch nichtvoneinanderabhängiger Erzählstränge kaum problematisch, sondern gehörte essentiell zur Vorstellung der unabhängig voneinander vorlie- genden, in sich geschlossenen Quellen. Der Grund der Parallelität konnte gege- benenfalls in einer zeitlich vor den Quellen liegenden, gemeinsamen Tradition gesucht werden. Mit der «Auflösung» der Quellen aus hauptsächlich immanen- ten Gründen und der sie mit verursachenden und sie überdauernden Verlage- rung der Entstehung v. a. theologisch aussagekräftiger Texte in redaktionelle Prozesse wurde diese Selbstverständlichkeit paralleler Stoffe aber nachhaltig erschüttert. Damit stellte sich die Frage nach dem Verhältnis der narrativen Anteile des Dtn zu den Parallelen im Tetrateuch und nach der Einordnung der als dtr ausgemachten Texte15 in den ersten vier Büchern erneut mit Nachdruck.
Die Virulenz dieser Frage, verbunden mit der erhalten gebliebenen Annahme einer ungefähren Gleichzeitigkeit der dtr Texte des Dtn mit der Hauptsubstanz von P, ermöglicht die große Pluralität der heute existierenden Modelle in der Forschung. Dabei erweist sich die «stabile Wetterlage» im Nachhinein doch eher als Auge im Sturm, wenn ältere Koordinatensysteme unter den neuen Vorzei- chen reaktiviert werden: von der allmählichen Auffüllung einer Grundschrift über diverse Fragmentenhypothesen bis hin zur Neu-«Entdeckung» von Groß- zusammenhängen wie Hexa- und Enneateuche. Für viele Modelle ist dabei das Verhältnis der Horebtexte Dtn 5 und 9–10 zu den Texten der Sinaiperikope, Ex 19–24 und 32–34, von entscheidender Bedeutung. Gemäß der Genese der heute vorherrschenden Problematik lassen sich in der Hauptsache drei große Frage- komplexe in diesem Textbereich unterscheiden, deren Beantwortung die meis- ten Modelle versuchen.
(1) Sind die dtr und theologisch argumentierenden Passagen der Horebtexte im Rahmen eines DtrG entstanden? Oder gehören sie in einen «penta-/hexa-/en- neateuchischen» Zusammenhang und sind in ihrem Werden eng mit verwand- ten tetrateuchischen Texten verbunden? Wo die Frage im letzteren Sinne beant-
14 So hält Noth zwar eine teilweise Abhängigkeit von Dtn 1–3 von entsprechenden E-Texten für möglich, die Frage aber auch letztendlich für nicht klärbar (cf. Noth, Überlieferungsge- schichtliche Studien, 27f.). Dtr Texte im Tetrateuch hielt er für vereinzelte, späte Zusätze, die nicht Teil einer übergreifenden Redaktion seien (cf. a. a. O., 13, mit Anm. 1).
15 Diese Einordnung als dtr ist mit Perlitt, Bundestheologie wieder auf dem Tisch war und seitdem wenig umstritten. (cf. auch die Darstellung bei Schmid, Etappen, 21f.).
2. Zur aktuellen Forschung 19
wortet wird, steht das DtrG Noth’schen Zuschnitts, dass ja notwendig mit der Integration des Dtn verbunden ist, zur Disposition.
(2) Ist die ursprüngliche «Heimat» des Dekalogs Ex 20 und damit Teil der Vor- lage von Dtn 5? Oder fand er im Zuge der dtr theologischen Konzeption erst- malig in Dtn 5 Verwendung und wurde von dort aus nachträglich in die vordere Sinaiperikope eingetragen?
(3) Sind die als dtr identifizierten Textanteile der Sinaiperikope vor der Zusam- menführung von nicht-priesterlichem und priesterlichem Material dort hinzu- gefügt worden? Oder sind sie erst in einen vom Buchumfang bereits vollständi- gen Pentateuch unter Berücksichtigung der priesterlichen Texte eingefügt wor- den?
Die Ergebnisse der Bearbeitung dieser drei Fragen lassen sich in weiten Teilen vereinfachend in zwei Hauptströmungen einteilen, innerhalb derer die jeweili- gen Antworten inhaltlich verbunden sind:
(1) Die zentralen dtr Texte des Dtn und damit Dtn 5 und 9–10 sind im Rah- men des DtrG (und auf dieses hin) entstanden und haben an dessen Literarge- schichte teil. Sie haben eine (ältere) Form der Sinaitexte als Vorlage, die sie aber mehr oder weniger frei im Sinne der eigenen Konzeption be- und umarbeiten.
Aus dieser Vorlage übernimmt Dtn 5 auch einen (Proto-)Dekalog aus Ex 20.
Von dort aus wirken die Dtn-Texte zurück auf die Texte der Vorlage und sind dadurch ihrerseits Referenz für die Hinzufügung dtr Texte noch vor dem Hinzu- kommen von P-Material.
(2) Die zentralen Texte sind in einem «penta-/hexa-/enneateuchischen» Zusam- menhang entstanden und damit in ihrer Genese nicht unabhängig von den verwandten Texten in Ex zu verstehen, sondern auf einer literarischen Ebene mit diesen. Der Dekalog hat seinen ersten Ort in der Konzeption von Dtn 5 und wurde erst im Zuge der gemeinsamen Geschichte in Ex 20 eingefügt. Diese Einfügung der betroffenen Textein beiden Textbereichengeschah in einen bereits priesterlich geprägten Penta-/Hexa-/Enneateuchzusammenhang. Dass der Pen- tateuchzusammenhang meist als priesterlicher gesehen wird, geht von der ver- breiteten Annahme aus, dass erst dort die Verbindung von Ex–Num mit Gen geschaffen wird.
Diese beiden Strömungen sind weder in sich noch gegeneinander monolithisch, sondern durchaus unterschiedlich. Die Bestimmung der relevanten Texte kön- nen sich im Einzelnen unterscheiden und Modelle können auch in der Beant- wortung einzelner Fragen aus dem breiteren Strom ausscheiden. Dennoch
20 I. Grundlegendes
scheint diese Kategorisierung als grobe Charakterisierung der gegenwärtigen Forschungslandschaft und der inneren Zusammenhänge der Beantwortung der Einzelfragen eine Grundlage für die Darstellung der in der Forschung vorgetra- genen Ergebnisse im Einzelnen zu bieten.
2.2. Positionen in der Forschung
Im Folgenden soll also keine umfassende Forschungsgeschichte geschrieben werden, sondern die beiden großen Strömungen und der Raum zwischen ihnen sollen anhand der exemplarischen Darstellung einzelnersystembildenderModelle umrissen werden.16 Die Möglichkeit, die oben genannten Korrelationen in der Beantwortung der einzelnen Fragen – oder die Abweichung von den Korrelatio- nen im Einzelfall – aufzeigen zu können, ist Teil der Kriterien der Auswahl der hier besprochenen Autoren. Hinzu kommt die Intention, die im Moment herr- schende Pluralität abzubilden, sowie entscheidende und nachhaltig wirkende Impulse darzustellen, aber auch deren signifikante Modifikationen zu berück- sichtigen.
So findenN. Lohfink undT. Veijolaals ex- und intensiv wirkende Deutero- nomiums- und Deuteronomismusforscher Aufnahme, ebensoE. Otto, der darü- ber hinaus auch ausgesprochen schulbildend gewirkt hat.17L. Perlittgebührt der Verdienst, die Frage nach den Deuteronomismen im Tetrateuch neu auf die Tagesordnung gehoben zu haben. Erhard Blumist der früheste und prominen- teste Vertreter einer vorpriesterlichen, dtr geprägten Kompositionsschicht im Bereich des Pentateuch. Sein Modell wird explizit aufgenommen, aber jeweils grundlegend modifiziert vonJ. C. GertzundRainer Albertz. Im Gegensatz dazu verortetH.-C. Schmitt eine in vielen Teilen ähnlich abgegrenzte Schicht im Te- trateuch und im Dtn nachpriesterlich. Als Vertreter gewichtiger Großmodelle der Pentateuchentstehung, die mehr von diesen her als von Einzeluntersuchun- gen Darstellung finden, sollen R. G. Kratz und E. Zenger in den Blick kom- men.F. Crüsemannschließlich hebt sich auch methodisch, in seiner besonderen Betonung der Traditionsgeschichte, ab und wird so ebenfalls berücksichtigt.
Dabei soll in der Darstellung ein doppeltes geleistet werden: zum Einen, das Modell des jeweiligen Autors möglichst dessen Duktus folgend im Zusammen- hang darzustellen, zum anderen, die das jeweilige Modell tragenden Einzelana- lysen ebenfalls im Zusammenhang zu präsentieren, bevor diese sich im Vollzug der Analyse dieser Arbeit deren jeweiligen Erkenntnissen gegenüber sehen.
16 Für einen umfassenden Überblick über die Forschung im Bereich des Dtn und DtrG cf.
Preuss, Deuteronomium; Lohfink, Pentateuch, sowie Veijola, Deuteronomismusforschung I, Ders., Deuteronomismusforschung II und Ders., Deuteronomismusforschung III. Besonders für Ex 32–34 cf. Schmid, Etappen.
17 So sind in seiner Folge z. B. M. Konkel und R. Achenbach zu sehen.
2. Zur aktuellen Forschung 21
2.2.1. Die Herkunft der prägenden Schicht der Horebtexte 2.2.1.1. Herkunft aus einem DtrG-Zusammenhang
Vor allem zwei Autoren haben in vielen ausführlichen Analysen die Entstehung wichtiger Dtn-Texte und damit Dtn 5 und 9–10 im Rahmen eines DtrG aufge- zeigt. Neben diesen hier zu referierenden Modellen vonN. LohfinkundT. Veijo- lasetzen aber auch die Modelle vonL. Perlitt,18E. Blum19undR. Albertz20diese Verortung der Texte voraus.
Nicht im Rahmen eines Gesamtsystems der Pentateuchgenese, aber in pro- filierten Einzelbeiträgen hatC. Hardmeierdie Sicht vertreten, dass die Torarede Dtn 1–30 und damit auch Dtn 5 und 9–10 als Einleitungsrede des DtrG fungie- re.21 Für ihn sind ein wichtiges Mittel der Gestaltung als Einleitungsrede die
«Horeb-Reminiszenzen»22, zu denen auch die hier untersuchten Texte des Dtn gehören, «die Aufschluss geben können über die Funktion(en) des historischen Erinnerns und Erzählens»23 und damit als «hermeneutischer Schlüssel für die Gesamtanlage des DtrG» dienten.
Norbert Lohfink hat sich sich seit seiner Dissertation «Das Hauptgebot – Eine Untersuchung literarischer Einleitungsfragen zu Dtn 5–11» 1963 immer wieder ausführlich mit Dtn 5 und 9–10 und anderen Textbereichen des Dtn auseinan- der gesetzt und seine Analysen in einer Vielzahl von Aufsätzen weiterentwickelt und verfeinert. Dabei zeigt er in den Grundzügen seiner Textanalysen recht große Beständigkeit, bezüglich seiner Einschätzungen zu Datierung und Bezü- gen zu anderen Texten aber auch eine kontinuierliche Entwicklung und Aufnah- me der Forschungslage. Seine Haltung blieb dabei immer die, den Text als lite- rarisches Ganzes verstehen und erklären zu wollen und dafür als vorschnell er- achtete historische Fragestellungen zu suspendieren, ohne aber diesen jemals die Berechtigung abzusprechen oder gar sich ihnen zu entziehen.24
In seiner ersten Untersuchung bestimmt er Dtn 5–11, den paränetischen Teil der zweiten Moserede in 4,44–28,68, als Kristallisationskern des gesamten Dtn.
Die weiteren Reden haben sich im Zuge späterer Prozesse der Eingliederung in ein deuteronomistisches Geschichtswerk und in den Pentateuch um diesen Kern herum «gruppiert»25. Diese «innere» Rede sei auf mehreren Ebenen nach den
18 Cf. Perlitt, Bundestheologie, 78f.
19 Cf. Blum, Studien, 109.
20 Cf. die Übersicht Albertz, Exilic Book, 255.
21 Cf. Hardmeier, Geschichten, 4; Ders., Kohärenz, 252.
22 Hardmeier, Geschichten, 3; Ders., Kohärenz, 243.
23 Hardmeier, Geschichten, 4.
24 Cf. Lohfink, Hauptgebot, 14.
25 A. a. O., 4.
22 I. Grundlegendes
Elementen des Bundesformulars gestaltet, das Lohfink von Klaus Baltzer über- nimmt und auf das Dtn anwendet.26 Er sieht dabei sowohl den Gesamtaufriß von 5–28 von diesen Elementen geprägt als auch einzelne, kleinere Texteinhei- ten, die diese Elemente aufnehmen und verwenden.27 In der Untersuchung von 1963 sieht er dies noch als Folge der Aufnahme tatsächlicher, in Kult und Rechtspflege verwendeter Dokumente, die hier zusammengeführt worden sei- en.28Überhaupt ist er in dieser Untersuchung noch ganz der Vorstellung verhaf- tet, dass die Texte nicht nur einer liturgischen Form folgen, sondern in Zusam- menhang mit tatsächlichen Kultbegehungen im alten Israel stehen und folgt hierin v. a. Gerhard von Rad.29 Darin sieht er zu diesem Zeitpunkt auch die einzige Beziehung zu den Sinaitexten in Ex 19ff,30eine Sicht, die er später nicht mehr vertrat.
In Dtn 5–11 (bzw. 28) findet sich auch in der Sprachgestalt der Kern dessen,
«was wir spontan als typisch ‹deuteronomisch› empfinden.»31 Diese Sprache habe ihren Ursprung in den genannten Rechts- und liturgischen Texten,32 die sich als eigene Einheiten entwickelt hätten und von einem Verfasser dieses Kerns des Dtn teils als Texte, teils als Muster eigener Gestaltung aufgenommen wor- den seien. Spuren dieser Sprache im Bereich des Tetrateuchs, z. B. in Ex 34,7–14, weist er vor-deuteronomistischen Glossen zu und verbindet sie, noch ganz im Geiste der neueren Urkundenhypothese, mit JE und historisierend mit der Schafan-Familie, später verbunden mit Gedalja und damit letztendlich Jer- emia.33
Sah er anfänglich noch den Hauptteil der Formation von Dtn 5–11 vor der Einbindung der Texte in die Großkorpora DtrG und Pentateuch als abgeschlos- sen und damit vor-exilisch an, stellt er diese Sicht später in Frage und hält es für denkbar, dass eine Mosaisierung des Dtn erst im Rahmen eines DtrG geschehen sein kann und damit die narrativen Texte, speziell also Dtn 5 und 9–10, einer bereits dtr Schicht angehören könnten.34 Später übernimmt er diese Ansicht ganz und begründet sie damit, dass die Lokalisierung der Moserede am Tag vor
26 Cf. Baltzer, Bundesformular passim und speziell zu Dtn 45–47.
27 Genaueres dazu bei der Darstellung seiner einzelnen Analyse zu Dtn 5 und 9–10 weiter un- ten.
28 Cf. Lohfink, Hauptgebot, 108ff.
29 Cf. a. a. O., 6f.
30 Cf. a. a. O., 4f.
31 A. a. O., 6.
32 Cf. Lohfink, Deuteronomium, 17.
33 Cf. Lohfink, Deuteronomium, 18. In seinem Aufsatz Ders., Bewegung setzt er sich später differenzierter mit den Verbindungen zwischen Sprachgestalt, inhaltlichem Anliegen und histo- risch bekannten, möglichen Trägerkreisen auseinander und wendet sich letztendlich gegen solche spezifischen Identifikationen.
34 Cf. Lohfink, Deuteronomium, 19f.
2. Zur aktuellen Forschung 23
seinem Tod und vor dem Übergang über den Jordan mit dem Ziel der Landnah- me, die betreffenden Erzählungen des DtrG, zumindest aber des Josuabuches, voraussetzten.35 Sprachlich zeigt er das an der Verteilung der Vorkommen der Wurzel שׁרי, die er als terminus technicus der dtr Konzeption der Landnahme ausmacht.36
In der Folge betrachtet Lohfink den Formierungsprozess von Dtn 5–28 nicht mehr als rein immanenten.37 So setze das Gesetzesmaterial schon das Bundes- buch und den sog. «kultischen Dekalog» voraus, spätere Schichten (unter Ein- schluss von Dtn 5) dann auch den Dekalog, allerdings nicht in seiner heutigen kanonischen Form.38 Die Texte des Dtn stünden dann nicht mehr allein (oder allenfalls durch den Kult mit anderen, inhaltlichen ähnlichen Traditionen ver- bunden) oder gar am Anfang der Traditionsbildung. Sie setzten viele Traditio- nen des Tetrateuchs voraus und in späten Schichten für Lohfink auch Texte «bis in die Genesis und in die Priesterschrift hinein».39Eine bestimmte Gesamttheo- rie für den Pentateuch begründet er allerdings nie vom Dtn aus.40 Sein Ziel bleibt immer, die Texte aus sich selbst heraus zu verstehen und nur an entschei- dender Stelle Bezüge zu anderen Texten aufzuzeigen. Das zeigt sich auch immer wieder an seinen detaillierteren Analysen der für diese Arbeit relevanten Textbe- reiche Dtn 5 und 9–10.
Dtn 5 sieht er als ursprüngliche Einheit, die mit den Elementen des Bundes- formulars zwei verschiedene Sachverhalte verhandelt, als «Zusammenstellung von rechtswirksamen offiziellen Äußerungen mit Beifügung der zum Verständ- nis und zur Erkenntnis der Rechtssituation notwendigen Umstände in konkre- ten Rahmennotizen»41. Diese paränetischen Notizen in 5,1.32–6,3 rahmten einen Bericht über den Bundesschluss, der als Bundesurkunde den (einen) Dekalog zitiere, in 5,2–22 und einen «Vertrag über die künftige Wortvermittlung»42 in 5,23–31. Der Gestalter dieser Einheit schöpfe dabei aus einer langen kultischen Tradition, die er für den Text nach klaren Strukturen nutze und gestalte. Sah Lohfink 1963 diesen Verfasser noch als den eines solitären «Ur-Dtn», bringt er ihn, nach der oben beschriebenen Wandlung seiner Ansicht, über die Historisie- rung des dtn Gesetzes in Zusammenhang mit DtrL, einer deuteronomistischen Landnahmeerzählung im Bereich der heutigen Bücher Dtn und Jos aus josiani-
35 Lohfink, Kerygmata, 130.
36 Cf. a. a. O., 130ff.
37 Cf. Lohfink, Deuteronomium, 20f.
38 Mehr dazu s. u.
39 Lohfink, Pentateuch, 37.
40 Cf. a. a. O., 38.
41 Lohfink, Hauptgebot, 143.
42 A. a. O., 144.
24 I. Grundlegendes
scher Zeit. Dazu gehöre auch Dtn 1–3, die er in vielfältigen Stichworten in Dtn 5 wieder aufgenommen findet.43
Diesen eigentümlichen Charakter von Dtn 5 betont Lohfink auch im Ver- hältnis zum Bundesschluss in Dtn 29ff. Für ihn beschreiben beide Textbereiche denselben Bundesschluss, mit jeweiligem Neueinsatz der Schilderung mit der Einberufung der Volksversammlung in 5,1 und 29,1 unter verschiedenen Aspek- ten.44 Die Kap. 5–28 zielten dabei eher auf das Bundesdokument ab, 29ff. auf den Vollzug des Bundesschlusses.45 Für den Bundesschluss sieht er dabei als
«Erwartungshorizont»46Ex 24, ohne allerdings näher auf das literarische Verhält- nis der Texte einzugehen.47
Seine Analyse von Kap. 9–10,11 will diesen Abschnitt als Verschränkung einer Erzählung von Bundesschluss – Bundesbruch – Bundeserneuerung in 9,9–19.21.
25–29; 10,1–5.10.1148 mit einer «Beweisführung»49 in 9,1–7.22.24 erweisen, die weiter gefasste Aussagen über die Geschehnisse des Bundesbruchs treffe und sie in eine umfassendere Reihe der Verfehlungen Israels gegenüber seinem Gott stelle.50Dabei werde die chronologische Gliederung nach den Bergaufenthalten, die von Fall zu Fall mit der Benennung eine vierzigtägigen Aufenthaltes verbun- den ist, zugunsten der inhaltlichen Argumentation aufgebrochen, bleibe aber als Gliederung der Fabel im Hintergrund weiter erkennbar.51Für die übrigen Verse rechnet er mit kleineren aaronidischen und levitischen Glossen.52
Die beiden verschiedenen Teile ordnet er auch literarkritisch zwei Händen zu, wobei die «Beweisführung» die Erzählung voraussetze, aufnehme und kom- mentiere. Die Erzählung stamme dabei ebenso wie Kap. 5 vom «Verfasser», die Beweisführung von einem Überarbeiter, der auch Bezüge zu Kap. 5 herstellt.53 Die «Verfasserschicht» sieht Lohfink nach der schon erwähnten Verschiebung seiner Datierung als Teil von DtrL.54 Sie zeichnet sich seiner Meinung nach durch ein an den Bundesgedanken angeschlossenes quasi lehensrechtliches Ver- ständnis der Landgabe aus.55Dieses Bemühen um eine «begriffliche Durchdrin-
43 Cf. Lohfink, Erzählung, 124f.
44 Cf. Lohfink, Fabel des Deuteronomium, 252.
45 Cf. a. a. O., 254.
46 Ebd.
47 Für diesen Abschnitt cf. auch Lohfink, Vertrag, 300ff.
48 Cf. Lohfink, Hauptgebot, 215f.
49 A. a. O., 200.
50 Cf. a. a. O., 200f.
51 Cf. a. a. O., 214.
52 Cf. a. a. O., 215f.
53 Cf. a. a. O., 289ff.
54 Cf. Lohfink, Kerygmata, 132.
55 Cf. a. a. O., 134f.
2. Zur aktuellen Forschung 25
gung»56der Landnahme verortet er tentativ in der Zeit der josianischen Ausdeh- nungsbestrebungen nach dem Niedergang des assyrischen Reiches.
Der Überarbeiter von Kap. 9–10, der zunächst noch recht unbestimmt blieb,57 wird später mit einem Überarbeiter DtrÜ des gesamten DtrG identifi- ziert, der sehr spät, noch nach DtrN, angesiedelt ist.58 Er kennt nach Lohfink schon die Theologie von P und deren Verlagerung des Bundesschlusses vom Gottesberg in die Zeit der Erzväter.59Allerdings müsse dies nicht auf der Kennt- nis der heutigen kanonischen Tetrateuchtexte beruhen, sondern könne sich auch auf eine angenommene Priestergrundschrift beziehen.
In der Überarbeitungsschicht werde der Bereich der intertextuellen Verweis- ziele breiter. So verweise die Aufzählung der Verfehlungen Israels in der Wüste in 9,22f. auf die mit den Ortsnamen verbundenen Texte in Ex 17, Num 11 und die Kundschaftergeschichte in Num 14. Über das Stichwort des Zornes Gottes verweise die Schicht darüber hinaus auf die Sünde Jerobeams in 1Kön 12,26–
32.60Für Lohfink macht der Überarbeiter damit alle diese «Sünden» zum Objekt der einen Fürbitte Moses beim zweiten Bergaufenthalt,61die damit zur einzigen und endgültigen Fürbitte für alle (aus Sicht der Fabel) vergangenen und zukünf- tigen Verfehlungen wird.62Mose wird dadurch zum Typos mit Geltung für die gesamte Geschichte Israels und zum Symbol der Hoffnung auf Rückkehr aus dem Exil.63
Timo Veijola bewegt sich in seiner Analyse des Dtn innerhalb der klassischen redaktionskritischen Modell, auch was die Kleinteiligkeit und Präzision der von ihm herausgearbeiteten Ergebnisse angeht. Dabei findet er die Redaktoren des DtrG, wie sie von der Göttinger Schule benannt wurden, auch im Dtn wieder.64 Wo er Bezug auf Tetrateuchtexte nimmt, lässt sich erschließen, dass er die Gül- tigkeit der neueren Urkundenhypothese annimmt.
Den Ursprung des Dtn sieht er in einem Urdeuteronomium aus josianischer Zeit, das mit Dtn 4,45 beginnt und den Grundstock des Šemʿa und einen Grundstock an Gesetzen enthielt, vor allem die, die sich mit der Kultzentralisa- tion und der Forderung nach Solidarität mit den Armen befassen.65Aus dieser
56 Lohfink, Kerygmata, 135.
57 Cf. a. a. O., 289ff.
58 Cf. a. a. O., 141.
59 Cf. Lohfink, Deuteronomium 9,1-10,11, 82.
60 Cf. a. a. O., 63f.
61 Cf. a. a. O., 57.
62 Cf. a. a. O., 63.
63 Cf. a. a. O., 66.
64 Cf. Veijola, Deuteronomium, 4.
65 Cf. a. a. O., 2f.
26 I. Grundlegendes
Perspektive solle auch das Bundesbuch durch die dtn Gesetze novelliert wer- den.66
Dieses Ur-Dtn sei von dem «geschichtsschreibenden Deuteronomisten DtrH» in das «von ihm geschaffene»67DtrG eingefügt und ihm als Programm- text vorangestellt worden. Zu diesem Zweck habe DtrH auch den Kern von Dtn 1–3 als geschichtlichen Rückblick und Beginn des gesamten Werkes ge- schaffen.68Dabei zeige vor allem die Darstellung der Kundschaftergeschichte in Dtn 1,19ff., dass er ältere Überlieferungen gekannt und bearbeitend aufgenom- men habe.69 In diesem Fall ist es laut Veijola die jahwistische Schicht der ent- sprechenden Erzählung in Num 13f.70In Folge der Aufnahme in das DtrG hät- ten auch alle weiteren großen dtr Überarbeitungen des Werkes ihren Nieder- schlag im Dtn gefunden.71
DtrP betone vor alle die Rolle Moses als prophetischem Mittler zwischen Volk und Gott, das Siglum P bezieht sich also auf diesen prophetischen Aspekt.
Sein Beitrag zum Dtn sei vor allem die Einfügung des Dekalogs und seines in- neren Rahmens.72Auch der «nomistische» DtrN zeichne sich innerhalb des Dtn durch ein besonderes Interesse an der Person Moses aus, den er aber vor allem als Gesetzeslehrer herausstelle. Von ihm stammt nach Veijola das Motiv der Gesetzestafeln in Dtn 5 und die Grundschicht von Dtn 9–10, die dieses Motiv ebenfalls aufnimmt.73
Die bedeutendste Redaktion, die Veijola ausmacht, ist der «bundestheologi- sche» DtrB74, der dem Dtn «seine heute noch prägende Gestalt verliehen»75 habe. Sein theologisches Hauptanliegen sei die Konditionierung von Landgabe und -besitz durch die Befolgung des ersten Gebots in der von ihm präzisierten Form mit Bilderverbot.76 Paränetisch gipfele es im Liebesgebot innerhalb des Schema in 6,5.77Formal zeichne sich seine Überarbeitung durch den gemischten Gebrauch des Numerus in der Anrede an Israel aus.78 Veijola erklärt dies aus dem DtrB zugeschriebenen Eingriff in jeweils bereits vorliegende, voneinander verschiedenen singularische und pluralische Textstufen.79 Sein umfassender Ge-
66 Cf. Veijola, Deuteronomium, 2.
67 A. a. O., 3.
68 Cf. ebd.
69 Cf. a. a. O., 3f.
70 Cf. a. a. O., 31.
71 Cf. a. a. O., 4.
72 Cf. ebd. Genaueres zur Einfügung des Dekalogs s. u.
73 Cf. ebd., Anm. 11.
74 Als Redaktion wurde DtrB erstmals von Levin, Dekalog herausgearbeitet.
75 Veijola, Deuteronomium, 4.
76 Cf. Veijola, Redaktion, 245.258.
77 Cf. a. a. O., 244.
78 Cf. ebd.
2. Zur aktuellen Forschung 27
staltungswille zeige sich dabei an den häufigen Eingriffen an entscheidenden Stellen an Anfang, Mitte und Ende der von ihm aufgenommenen Textstücke.80 Oft ordne er innerhalb des Dtn-Rahmens seine Stoffe dabei locker entlang des Schemas des Bundesformulars.81
Dtn 5 stammt nach Veijola in seiner Grundschicht82 von DtrP und sei ur- sprünglich ganz auf den Dekalog hin formuliert worden, den es mit Zitatfor- meln in V. 5 und 22 ein- und ausleitet.83Der Rahmen lehne sich dabei an einen älteren Sinaibericht in Ex 19ff* an, der nicht allzu lange vorher durch den Deka- log erweitert worden sei.84 Im Anschluss daran erzähle Dtn 5 in der Rückschau
«was sich einmal am Horeb zugetragen hatte»85. Dabei setze er aus dem Sinaibe- richt in Ex die Theophanie in Ex 2086, die Einleitung der Gottesrede in Ex 20,1, die Selbstverpflichtung des Volkes in Ex 24,3 und den folgenden Bundesschluss in Ex 24,4–8 als Text voraus.87
DtrN habe in seinem Interesse an der Geltung und Kodifizierung des Geset- zes die rudimentäre «Kanonformel» und die Beschriftung der Tafeln mit dem Dekalog in 5,22 eingefügt. Veijola sieht hier altorientalische Vorbilder von Ver- tragstafeln im Hintergrund.88Das Motiv sei allerdings nicht von DtrN selbst auf dieser Grundlage geschaffen worden, sondern habe als Vorbild bereits die ent- sprechenden Texte in Ex 24,12ab und 31,18* gehabt.89
Seine bis heute gültige Gestalt erhalte Dtn 5 dann von DtrB.90Seine Erweite- rungen sollten die Rolle Moses als Mittler und die Geltung des Dekalogs und des dtn Gesetzes, die beide im Bund unmittelbar verpflichtend werden, stär- ken.91Diese Verpflichtung werde durch zwei Leitverben DtrBs verdeutlicht, die in 5,1 sowie 5,31 (und 6,3) auftauchen und sich auch an anderer Stelle durch die bundestheologische Paränese ziehen:רמשׁundהשׂע.92Der Bund am Horeb werde in 5,3 deutlich vom Väterbund abgesetzt und durch die Formulierung in V. 3b als für alle kommenden Generationen verpflichtend betont.93
79 Cf. Veijola, Redaktion, 257.
80 Cf. a. a. O., 244.
81 Cf. a. a. O., 257.
82 5,1aα*.2.4.5.22a*.23abα.24a.25.27–28.30–31; 6,1 (Veijola, Deuteronomium, 132).
83 Cf. a. a. O., 130.
84 Cf. a. a. O., 131.
85 a. a. O., 132.
86 Ex 19,16–18; 20,18.21b
87 Cf. a. a. O., 132.
88 Cf. a. a. O., 140.
89 Cf. ebd.
90 Mit Ausnahme von V. 24b.26, denVeijolafür eine priesterlich-weisheitliche Reflexion über die Möglichkeit des Überlebend einer göttlichen Selbstoffenbarung hält (a. a. O., 146f ).
91 Cf. a. a. O., 140.
92 Cf. a. a. O., 141.
93 Cf. a. a. O., 143.
28 I. Grundlegendes
V. 29 spreche mit der Betonung der Abhängigkeit des Wohlergehens vom Gesetzesgehorsam ein Grundanliegen von DtrB an und mit der Betonung des
«Herzens» an das von ihm formulierte Liebesgebot in 6,5.94 V. 32f. schließe die Komposition, typisch für DtrB, mit einer sekundären Rahmung ab und erklärt noch einmal die Einhaltung des Gesetzes «zur Bedingung eines segensreichen Lebens»95.
Die Grundschicht96von Dtn 9–10 stamme dagegen erst von DtrN und bilde bei ihm wohl die unmittelbar Fortsetzung des von ihm vor allem durch die Einfügung des Tafelmotivs überarbeiteten Dtn 5.97 Die Erzählung gliedere sich in zwei Hälften, die sich kontrastierend entsprächen und von Bruch und Erneu- erung des Bundes berichteten.98 Sie setzten inhaltlich den Bericht vom Golde- nen Kalb in Ex 3299 und von der Erneuerung der Tafeln in Ex 34100 voraus.101 Hier würden die Tafeln aber nun explizit als Bundestafeln benannt.102
DtrB nehme diese Erzählung auf und versehe sie mit einem Rahmen103 und vielen kleinen kommentierenden Erweiterungen,104 die zeigen sollten «welche verheerenden Folgen das ‹Vergessen› Jahwes»105 haben könne. Diese Schicht setzte die prophetische Interpretation des Mittleramts Moses von DtrP aus Dtn 5 fort,106 nicht zuletzt in der Betonung der Fürbitte durch Mose in 9,18–20.107 DtrB als Schöpfer des Bilderverbots sehe hier ein geeignetes Beispiel, einen Ver- stoß gegen dieses Gebot als Abweichung vom gebotenen Weg und als schwere Versündigung an Jhwh zu illustrieren.108
Der Beginn von Kap. 9, die V. 1–6* sind laut Veijola ein späterer «theologi- scher Traktat»109, der Israels Sünde nicht nur als Tatbestand, sondern als Aus- druck prinzipiell mangelnder Gerechtigkeit interpretiert und sich damit gegen die Sicht von DtrB stellt, dass die Landnahme letztlich ein Resultat der Geset- zesbefolgung sei.110 Diese Einordnung setzt wiederum die noch spätere Ausfor-
94 Cf. Veijola, Redaktion, 260.
95 Cf. a. a. O., 261.
96 9,9–12abβ.15.16a*b; 10,1–5 (Veijola, Deuteronomium, 227)
97 Cf. a. a. O., 226.
98 Cf. a. a. O., 227.
99 In der Form Ex 32,1b.2aαβb.3*.4a.5aβb.6abα.15a*.18aα*.18b.19*.20a.
100 Ex 34,1.2.4.28
101 Cf. a. a. O., 226.
102 Cf. a. a. O., 227.
103 9,7a*.8*; 10,10f.
104 9,12bα.13f.16aα*.16b.18f.21aα*. Cf. a. a. O., 230.
105 Veijola, Redaktion, 262.
106 Cf. Veijola, Deuteronomium, 230.
107 Cf. a. a. O., 231.
108 Cf. Veijola, Redaktion, 263.
109 Veijola, Deuteronomium, 233.
110 Cf. a. a. O., 233f.
2. Zur aktuellen Forschung 29
mulierung der von DtrB in 9,18–20 nur erwähnten Fürbitte in 9,25–29 voraus, indem sie Stichworte des Traktats wieder aufnimmt.
Seine heutige Gestalt erhalte Dtn 9–10 dann durch einzelne spätere Hinzufü- gungen, wie das «Itinerar» in 9,22–24, das Num und Ex-Texte zu den entspre- chenden Ortsnamen voraussetze111 und die Schilderung der Investitur der Levi- ten in 10,8f., die nach Veijola einem perserzeitlichen Programm zur Levitisie- rung der Priesterschaft entspringt.112 Darauf reagiere dann schließlich noch der Aufbruchsbericht in 10,6–7, der evtl. aaronidische Ansprüche gegen die Leviten geltend machen wolle, andererseits aber in seiner Lokalisierung auch nicht mit dem priesterschriftlichen Bericht über den Tod Moses harmonisierbar sei.113 2.2.1.2. Herkunft aus einem Zusammenhang mit den übrigen Pentateuchbüchern
Größer ist die Zahl derer, die die Entstehung der entscheidenden Texte in einem größeren, nach vorne ausgerichteten Zusammenhang verstehen, meist in einer zumindest von der Reichweite dem Pentateuch entsprechenden Form. Eine Ausnahme bilden J. C. Gertz, der Dtn 1–3 und 5 als im Rahmen eines nicht- priesterlichen, von Ex bis Jos reichenden Zusammenhangs entstanden ansieht114 sowieE. Zenger, der Dtn 5 und 9–10 noch auf einer dtn Entwicklungsstufe an- nimmt, für den aber Dtn 1–3 zu den zentralen Verbindungstexten eines Ennea- teuch gehören.
Erich Zenger gilt der Grundbestand des Dtn als ein Produkt der Reformbestre- bungen der josianischen Zeit. Es nehme seinen Anfang als «Kultgesetz»115in Dtn
*12–26 schon unter Hiskia, werde aber ebenfalls unter Josia als «‹Vertragsurkun- de› in der Form eines Jhwh-Gesetzes»116 mit den Rahmenkapiteln *5–11 und
*27–28 ausgebaut.
Im Exil habe bald nach der Katastrophe von 586 BCE die Reflexion über die Ursachen des Untergangs Judas und Jersualems eingesetzt. In diesem Zuge seien vorliegende Überlieferungen über die vorstaatliche und staatliche Zeit Israels und Juda vor dem Hintergrund der theologischen Konzeption von Dtn *5–28 deuteronomistisch überarbeitet worden.117 Diese verschiedenen dtr ausgestalte- ten Werke mit ihrer geschichtstheologischen Ausrichtung hätten zu einer Zu-
111 Cf. Veijola, Deuteronomium, 238.
112 Cf. a. a. O., 240.
113 Cf. a. a. O., 241
114 Cf. Gertz, Funktion, 105.122.
115 Zenger, Einleitung, 102.
116 Ebd.
117 Cf. a. a. O., 103f.
30 I. Grundlegendes