§ 20
Die Enteignung
Eigentumsgarantie (Art. 26 BV)
Instituts- garantie
Bestandes- garantie
Wert- garantie
Gesetzgeber
rechts-
anwendende Organe
rechts-
anwendende Organe
Adressat:
Schutz des Rechtsinstituts Privateigentum Schutz der konkreten
Vermögensrechte
Entschädigung Inhalt:
Einschränkungen unter den Voraus- setzungen von Art. 36 BV
subsidiär
Die Frage der Entschädigung stellt sich nur, wenn die Einschrän- kung der Eigentumsgarantie (Bestandesgarantie) zulässig ist ! (→ zweistufige Prüfung)
Art. 26 Abs. 2 BV
"Enteignungen und Eigentumsbeschränkungen, die einer Ent- eignung gleichkommen, werden voll entschädigt."
= formelle Enteignung
= materielle Enteignung
Beachte:
• Die BV versteht unter "Enteignung" nur die formelle Enteignung
• Auch das Bundesgesetz über die Enteignung (EntG) von 1930 (SR 711) regelt lediglich die formelle Enteignung
• Voraussetzungen der materiellen Enteignung: Praxis!
Entwicklung des Enteignungsrechts
• 2. Hälfte 19. Jh.: Landbedarf im Zusammenhang mit dem Bau der Meliorationswerke (Hochwasserschutz), des Eisenbahnnetzes und der Alpenstrassen → Formung des Rechtsinstituts der Enteignung
• 1930: Bundesgesetz über die Enteignung (EntG)
• Wesentlich später: BGer erkennt, dass sich auch Einschränkungen des Eigentums, die nicht zum Entzug des Eigentums führen, für die Betroffenen ähnlich belastend auswirken können wie Enteignung
→ Figur der "materiellen" Enteignung
Prototyp: Auszonung eines baureifen Grundstücks (Raumplanung)
Die eigentliche Enteignung bezeichnete man fortan als "formelle"
Enteignung.
Die materielle Enteignung wird in Art. 26 Abs. 2 BV zwar erwähnt;
geregelt sind ihre Voraussetzungen bis heute aber nirgends. Mass- gebend: bundesgerichtliche Rechtsprechung (→ problematisch unter dem Aspekt des Legalitätsprinzips!)
(Zulässige) Eingriffe in die Eigentumsgarantie
formelle Enteignung
materielle
Enteignung übrige Fälle
volle
Entschädigung
volle
Entschädigung
keine
Entschädigung
→ im Ergebnis:
entschädigungslose öffentlichrechtliche Eigentums-
beschränkung
"Alles-oder-nichts-Prinzip"
(Zulässige) öffentlichrechtl. Eigentumsbeschränkungen
materielle Enteignung
entschädigungslose öffentlichrechtliche
Eigentums- beschränkung
Beachte:
• Intensität der Einschränkung massgebend ("… die einer Enteignung gleichkommen") → kein kategorialer, sondern gradueller Unterschied
• Unterscheidung nicht a priori, sondern vom Ergebnis her:
– wenn Intensität einer Enteignung erreicht → materielle Enteignung – wenn Intensität einer Enteignung nicht erreicht → entschädigungslose
öffentlichrechtliche Eigentumsbeschränkung
= entschädigungspflichtige öffentlichrechtliche
Eigentumsbeschränkung
Enteignung
formelle Enteignung materielle Enteignung
Entzug des Vermögensrechts
→ Übertragung auf den Enteigner
Besondere Fälle: zwangsweise Begrün- dung od. Aufhebung einer Dienstbarkeit
Entschädigung = Voraussetzung für den Rechtsübergang
Vgl. Art. 91 Abs. 1 EntG
(Analogie zu einem "unfreiwilligen" Ver- kauf; Leistung Zug um Zug)
Beschränkung der Verfügungs- und Nutzungsbefugnisse
(→ kein Entzug, kein Rechts- übergang)
Entschädigung = Folge der Beschränkung
(Analogie zur ausservertraglichen Haf- tung; Geschädigter muss den Anspruch selbst geltend machen)
Typisches Beispiel:
Enteignung eines Grundstücks zum Bau einer Autobahn
Typisches Beispiel:
Auszonung eines baureifen Grundstücks
Formelle Enteignung
• Träger des Enteignungsrechts:
– Gemeinwesen (Bund, Kanton, Gemeinde)
– Dritte, die öffentliche Aufgaben wahrnehmen und denen das Enteignungsrecht verliehen wurde
(Bsp.: Art. 3 EBG, Art. 36a Abs. 4 LFG)
• Gesetzliche Grundlage (Art. 36 Abs. 1 BV):
– Werke des Bundes bzw. im Interesse des Bundes
→ Bundesgesetz über die Enteignung (EntG) vom 20. Juni 1930 (SR 711)
(vgl. Art. 1 Abs. 1 EntG)
– Werke der Kantone / Gemeinden bzw. in deren Interesse
→ kantonales Recht
Bsp. ZH: Gesetz betreffend die Abtretung von Privatrechten vom 30. November 1879 (LS 781)
Formelle Enteignung
• Gegenstand der Enteignung (vgl. Art. 5 Abs. 1 EntG):
– dingliche Rechte
– aus dem Grundeigentum hervorgehende Nachbarrechte – obligatorische Rechte von Mietern und Pächtern
– wohlerworbene Rechte
• Berechnung der Entschädigung
"weder reicher noch ärmer" → Nr. 113
Kleiner (neuer) Sündenfall
(vgl. dazu BEAT STALDER, Der Bundesgesetzgeber auf enteignungsrechtlichen Abwegen, ZBl 2019 645 f.)
(Teilrevision des EntG vom 19. Juni 2020)
anwendbares Recht / anwendbares Verfahren
Werke des Bundes
Werke von überregionaler Bedeutung
Werke von regionaler od. lokaler Bedeutung
EntG kantonales Recht
Kombiniertes Plangenehmigungs- und Enteignungsverfahren
Selbständiges Enteignungs-
verfahren
Normalfall
(Teilrevision des EntG vom 19. Juni 2020)
selten
(wo kein PGV vorgesehen) (Art. 28–35 EntG) (Art. 36–41 EntG)
Kombiniertes Plangenehmigungs- und Enteignungsverfahren
Plangenehmigungsgesuch
(inkl. Enteignungsplan u.
Grunderwerbstabelle)
öffentl. Publikation (30 Tage)
"Einsprache" gg. Enteignung Entschädigungsforderung
persönliche Anzeige Plangenehmigungs- verfahren (Leitbehörde)
Plangenehmigung
(inkl. Entscheid über Art, Umfang und Inhalt der Enteignung)
Einigungsverhandlung (Präs. ESchK)
Einigung
Enteignungs- vertrag keine Einigung
Schätzungsverfahren (ESchK)
Entscheid
Bundesverwaltungsgericht
betr. Entschädigung
Materielle Enteignung
• BGE 91 I 329, Entscheid Barret (1965) → "Barret-Formel"
• definitive Fassung seit den 1970er-Jahren:
"Eine materielle Enteignung im Sinne von Art. 26 Abs. 2 BV (…) liegt vor, wenn dem Eigentümer der bisherige oder ein voraussehbarer künftiger Gebrauch einer Sache untersagt oder in einer Weise eingeschränkt wird, die besonders schwer wiegt, weil der betroffenen Person eine wesentliche aus dem Eigentum fliessende Befugnis entzogen wird.
Geht der Eingriff weniger weit, so wird gleichwohl eine materielle Enteig- nung angenommen, falls einzelne Personen so betroffen werden, dass ihr Opfer gegenüber der Allgemeinheit unzumutbar erscheint und es mit der Rechtsgleichheit nicht vereinbar wäre, wenn hierfür keine Entschädigung geleistet würde.
In beiden Fällen ist die Möglichkeit einer künftigen besseren Nutzung der Sache indessen nur zu berücksichtigen, wenn im massgebenden Zeitpunkt anzunehmen war, sie lasse sich mit hoher Wahrscheinlichkeit in naher
Zukunft verwirklichen."
(BGE 131 II 728, E. 2)
Materielle Enteignung
Einschränkung
• des bisherigen Gebrauchs einer Sache
• eines künftigen Gebrauchs, der in naher Zukunft mit hoher Wahrscheinlichkeit reali- sierbar ist
besondere Intensität
Sonderopfer
1
2
(Grundtatbestand) (Spezialfall)
Materielle Enteignung
• Besondere Intensität der Einschränkung:
Massgebend ist, ob auf dem betreffenden Grundstück eine bestimmungsgemässe, wirtschaftlich sinnvolle und gute Nutzung weiterhin möglich ist
→ Zurückhaltung des Bundesgerichts; hohe Schwelle zur ma- teriellen Enteignung (warum?)
– Fallgruppe 1: raumplanerische Massnahmen → Nr. 114 – Fallgruppe 2: Unterschutzstellung eines Gebäudes → Nr. 115
Materielle Enteignung
• Sonderopfertatbestand
Beachte: Massgebend ist nicht der Vergleich mit anderen Eigen- tümern schlechthin, sondern mit Eigentümern in vergleichbaren Situationen
→ Nr. 116