Einem Geschichtsmythos auf der Spur ...
1. Geschichtsmythen erzählen über Vergangenes auf eine eigene Weise
Leitfragen
◆ Was versteht man unter dem Begriff „Geschichtsmythos“?
◆ Welche Funktionen erfüllt ein Geschichtsmythos?
Information
Ein Geschichtsmythos ist eine erfundene oder verdrehte Erinnerung an ein Geschehen in der Ver- gangenheit. Schon immer wollen wir Menschen Zeiten der gesellschaftlichen Krisen und Umbrüche verstehen und uns das Unerklärliche erklären. Wir denken uns Mythen aus, um vergangene und miteinander verflochtene Ereignisse und Situationen sinnstiftend zu ordnen und übersichtlicher zu gestalten.
Beim Prozess der Mythenbildung werden Geschehnisse interpretiert und vereinfacht dargestellt sowie Anschauungen und Ideen hinzugefügt, während gleichzeitig wichtige Teile der Vergangenheit aus- gelassen werden.
Ein Geschichtsmythos gibt also historische Fakten nicht der Wahrheit entsprechend wieder, sondern schmückt diese je nach Interessenlage aus. Er stellt eine „sagenhafte Erzählung“ dar, die parallel zur Geschichte steht. Als solche schmeichelt ein historischer Mythos der Kultur und Gesellschaft, in der er Platz findet, und nimmt immer auch Einfluss auf die Gegenwart.
2. Der Mythos der flachen Erde Leitfragen
◆ Inwiefern wussten die Menschen im Mittelalter über das Weltbild und die Gestalt der Erde Be- scheid?
◆ Wie kommt es zur Meinung, die Menschen hätten im Mittelalter an eine flache Erde geglaubt?
Information
Wissen oder Unwissen, das ist hier die Frage. Du hast bestimmt schon einmal von der Behauptung gehört, dass die Menschen im „dunklen Mittelalter“ noch an „so einen Unsinn“ wie das geozentrische Weltbild und an eine scheibenförmige Erde geglaubt haben. Aber entspricht das wirklich alles der Wahrheit?
Heutzutage wissen wir, dass die Erde kugelförmig ist und die Sonne den Mittelpunkt unseres Son- nensystems bildet. Im Mittelalter wusste man darüber noch nicht genau Bescheid. So dachten die Menschen damals, die Erde stünde im Mittelpunkt aller Sterne und Planeten.
Dass sie jedoch auch der Überzeugung waren, die Erde wäre flach und scheibenförmig, entspricht nicht der Wahrheit. Hierbei handelt es sich um einen Mythos. Die Kugelgestalt der Erde war zu dieser Zeit allgemein bekannt. Dies belegen etliche schriftliche, bildliche und dingliche Quellen aus dem Mittelalter. Zum Beispiel war der Reichsapfel des Heiligen Römischen Reiches ein Herrschaftszeichen in Form einer Weltkugel. Zudem existieren zahlreiche Malereien, die eine runde Erde abbilden, und viele Werke bedeutender mittelalterlicher Philosophen und Theologen enthalten deutliche Hinweise zum vorhandenen Wissen über die Kugelgestalt der Erde.
In der Neuzeit wurde das Mittelalter als „dunkle Epoche“ abgewertet und dessen Gelehrte wurden als einfältig und unwissend dargestellt. Dies geschah, um die neuzeitlichen wissenschaftlichen Er- kenntnisse und die eigene Epoche im Vergleich zum Mittelalter als noch eindrucksvoller und fort- schrittlicher wirken zu lassen. Daher wurde der Mythos über das Unwissen im Mittelalter hinsichtlich der Kugelgestalt der Erde gebildet und verbreitet. Trotz der vielen Gegenbeweise und obwohl ihn Historikerinnen und Historiker bereits enttarnt haben, ist der Mythos in unseren Köpfen verankert und wird auch heute noch weiter überliefert und in Schulbüchern abgedruckt.
Bild 1: Gautier de Metz, 13. Jh.
Bild 2: Der Wanderer am Weltenrand
Holzstich aus dem Jahr 1888, unbekannter Künstler, erstmals veröffentlicht 1888 in Flammarion, Camille: L‘atmosphère. Meteorologie Populäre, Paris 1888.
Begriffserklärungen
geozentrisches Weltbild, das: Weltbild, bei dem die Erde im Mittelpunkt unseres Sonnensystems steht Mythos, der: aus dem Griechischen, bedeutet „Rede“, „Erzählung“, „sagenhafte Geschichte“, „Erdichtetes“
Reichsapfel, der: neben der Reichskrone und dem Reichsschwert ein Herrschaftszeichen in Form einer Weltkugel mit einem aufgesetzten Kreuz
Arbeitsaufträge
◆ „Platz für meine Gedanken“: Schreibe nach dem Lesen der Texte und Betrachten der Bilder deine Gedanken, Assoziationen und Fragen, die dir gerade durch den Kopf gehen, in einem Freewrite auf. Tauscht euch anschließend zu zweit darüber aus.
◆ Löse das Kreuzworträtsel (→ S. 5–6). Erkläre mithilfe des Lösungswortes, warum sich Men- schen Geschichtsmythen ausdenken.
◆ Analysiere Bild 1 und Bild 2 anhand der folgenden Aufgabenstellungen:
Nenne die Epoche, in der das Bild entstanden und erschienen ist.
Beschreibe, was auf dem Bild zu sehen ist, und untersuche, welche Botschaft es über die Vor- stellung der Gestalt der Erde vermittelt.
Begründe, warum das Bild eine Quelle oder eine Darstellung ist.
Erkläre, welche Folgen es hat, wenn Bild 2 in Schulbüchern abdruckt und es als „Holzschnitt um 1530, auf dem die Erde noch als Scheibe dargestellt wird“, betitelt.
Nimm Stellung, ob in Bild 2 inhaltlich wirklich die Gestalt der Erde dargestellt wird oder viel- mehr der Wandel des Weltbildes abgebildet ist.
◆ Mache dein neu gewonnenes Wissen und dein Denken über Geschichtsmythen wie z. B. den Mythos der flachen Erde mithilfe der Methode Strukturlegetechnik sichtbar. Gehe wie folgt vor:
Schneide die Begriffskärtchen einzeln aus.
Ordne sie auf einem Blatt Papier so an, dass erkennbar ist, wie sie inhaltlich sinnvoll zusam- mengehören. Stelle durch beschriftete Pfeile und Verbindungslinien und / oder Symbole die Beziehungen zwischen den verschiedenen Begriffen dar.
Suche dir eine Arbeitspartnerin / einen Arbeitspartner. Erklärt euch gegenseitig eure Arbeits- ergebnisse ausführlich. Verändere gegebenenfalls deine Struktur.
geozentrisches Weltbild heliozentrisches Weltbild Wissen
geschichtliche Quellen Gelehrte HistorikerInnen
Mittelalter Neuzeit Gegenwart
Gestalt der Erde:
scheibenförmig und flach
Gestalt der Erde:
kugelförmig Mythenbildung
Geschichtsmythos erfundene Erinnerung Vereinfachung
Interpretation vergangenes Geschehen Interessen, Anschauungen und Ideen
Sinn und Orientierung historische Fakten Unwissen
◆ Social Media ist Teil unseres Alltags geworden. Jede und jeder von uns kennt Prominente und InfluencerInnen. Durch ihre Reichweite beeinflussen sie viele, vor allem junge Menschen, und Fake News können schnell verbreitet werden. Aber realisieren wir auch, wie viel Einfluss sie auf uns haben? Bringt den Einfluss der InfluencerInnen und die Verbreitung von Fake News mit folgendem Zitat in Verbindung:
„Man soll nicht alles glauben, was man hört und liest, sondern es hinterfragen.“
Denke zuerst allein nach und notiere deine Gedanken.
Findet euch in Kleingruppen zusammen und stellt euch gegenseitig eure Gedanken vor. Disku- tiert gemeinsam darüber, warum es wichtig ist, Gelesenes und Gehörtes zu hinterfragen, und stellt eure drei wichtigsten Erkenntnisse dann der Klasse vor.
Überlegt gemeinsam, wie über Social Media moderne Mythen entstehen und verbreitet werden können.
Kreuzworträtsel
1. Wie nennt man eine überlieferte Erzählung, die Wahres verdreht?
2. Die so genannte „dunkle Epoche“ ist das ___.
3. Die Menschen im Mittelalter hatten schon gewusst, dass die Erde nicht ___ ist.
4. Wie nennt man die auf das Mittelalter folgende Epoche?
5. Wie wurde das Mittelalter aus der Sicht der Neuzeit genannt?
6. Wie heißt das Weltbild, bei dem die Erde im Mittelpunkt steht?
7. Die Erde hat eine ___.
8. In der Geschichtswissenschaft unterscheidet man zwischen Darstellung und ___.
9. Ein anderes Wort für Erdkugel lautet.
10. Wenn Planeten eine Sonne umkreisen, nennt man das ein ___.
Hinweis: ä = ae, ö = oe, ü = ue
Lösung des Kreuzworträtsels