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Der sexuelle Kindesmissbrauch als Herausforderung für die Soziale Arbeit

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Academic year: 2022

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Der sexuelle Kindesmissbrauch

als Herausforderung für die Soziale Arbeit

-

Präventionsmaßnahmen im Landkreis Görlitz

Bachelor-Arbeit

im Studiengang Soziale Arbeit

Hochschule Zittau/Görlitz Fakultät Sozialwissenschaften

Erstgutachter: Prof. Dr. phil. Andreas Markert Zweitgutachter: Prof. Dr. phil. Torsten Linke

Verfasserin: Jasmin Lange

Matrikelnummer: 216381

(2)

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung...1

1.1 Vorwort...1

1.2 Prävalenz...4

1.3 Fazit zur Prävalenz...9

2 Der sexuelle Kindesmissbrauch als soziale Problemlage...11

2.1 Begriffsbestimmungen...11

2.1.1 Sexualität und Sexuelle Gesundheit...11

2.1.2 Allgemeine Begriffsbestimmungen...13

2.1.3 Sexueller Missbrauch...16

2.1.4 Hands-On-Taten...17

2.1.5 Hands-Off-Taten...18

2.2 Einordnung nach ICD-10...18

2.3 Kinder- und Elternrechte...19

2.4 Typologie des sexuellen Missbrauchs – Straftatbestände im 13. Abschnitt Straf- gesetzbuch...21

2.4.1 Sexueller Missbrauch von Kindern (§ 176 StGB)...24

2.4.2 Schwerer sexueller Missbrauch von Kindern (§ 176a StGB)...25

2.4.3 Sexuelle Nötigung; Vergewaltigung (§ 177 StGB)...26

3 „Alle Täter sind doch pädophil!“ – Ursachen und Verursachende...28

3.1 Der Zusammenhang zwischen Pädophilie und sexuellem Kindesmissbrauch...28

3.1.1 Sexuelle Präferenzstörung (Pädophilie, Hebephilie)...30

3.1.2 Sexuelle „Ersatzhandlungen“...32

3.2 Ursachen von Täterschaft...33

3.2.1 Ganzheitliche Theorie nach Ward und Beech (2006)...33

3.2.2 Differenzierung zwischen sexuellen Missbrauchstätern und Nutzern von se- xuellen Missbrauchsabbildungen...39

3.2.3 Frauen als (Mit-)Täterinnen...40

3.3 Von regressiv bis soziopathisch – Eine Typisierung der Täter...42

3.4 Ein schleichender Prozess – Täterstrategien...49

4 Sexueller Kindesmissbrauch in der Familie...51

4.1 Der Begriff der „Familie“...51

4.1.1 Familie aus psychologischer Sicht...51

(3)

4.1.2 „Familie“ aus rechtlicher Sicht...52

4.1.3 Familie aus system- und machttheoretischer Sicht...52

4.2 Der Problembereich familiärer Nahraum...54

4.2.1 (Destruktive) Familiensysteme...55

4.2.2 Charakteristika von missbrauchenden Vätern...58

4.2.3 Charakteristika von missbrauchenden Müttern...59

4.3 Das Vorgehen männlicher Täter...60

4.4 „Schlechte Geheimnisse“ – Warum Kinder schweigen...61

5 Physische und psychische Auswirkungen auf Betroffene...64

6 Die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) als Folge des sexuellen Kindes- missbrauchs...66

6.1 Einordnung der Begriffe „Trauma“ und „PTBS“...66

6.2 „Klassische PBTS-Symptome: Hyperarousal, Vermeidung und Intrusionen“...68

6.3 „Selbstbild, Selbstschädigung und Selbstwirksamkeit“...69

6.4 Schwierigkeiten in Bezug auf die Emotionsregulierungsfähigkeit...71

6.5 Auswirkungen der Störung auf Psychotherapie und Pädagogik...73

7 Die Rolle von Schutz- und Risikofaktoren für die Resilienz Betroffener...74

7.1 Schutz- und Risikofaktoren...74

7.1.1 Die Ebene der Ontogenese...74

7.1.2 Die Ebene des Mikrosystems...75

7.1.3 Die Ebene des Exosystems...77

7.1.4 Die Ebene des Makrosystems...77

7.2 Der Begriff „Resilienz“...78

7.3 Die Rolle der Resilienz bei der Bewältigung Betroffener...79

8 Zwischenfazit...80

9 Wie kann Soziale Arbeit zur Verhinderung des sexuellen Kindesmissbrauchs beitra- gen?... 82

10 Präventionsmaßnahmen in Bezug auf sexuellen Kindesmissbrauch...84

10.1 Der Begriff „Prävention“...84

10.2 Präventionsebenen...84

10.3 Primäre Präventionsmaßnahmen...85

10.3.1 Wichtige Akteure auf Bundesebene...85

10.3.2 Überregionale präventive Angebote...88

10.3.3 Präventive Maßnahmen im Landkreis Görlitz...93

(4)

11 Fazit...99

12 Persönliche Empfehlung: ECQAT-Weiterbildung für Fachkräfte...101

13 Literaturverzeichnis...103

14 Selbstständigkeitserklärung...116

15 Anhang...117

15.1 Fallvignette – „Beziehungsmotivierte Mittäterin“...117

15.2 Fallvignette – „pädophil-motivierter Missbrauchstäter (Präferenztäter)“...119

15.3 Fallvignette – „Nicht-pädophil motivierter Missbrauchstäter (Ersatzhandlungstä- ter)“... 121

Abbildungsverzeichnis

Schaubild 1: Zusammenhang zwischen sexuellem Kindesmissbrauch und sexueller Präferenz (Pädophilie, Hebephilie) - (Beier et al. 2013, S. 3)...30

Schaubild 2: Sexuelle Präferenzen nach Körperschema (WHO 2007, S. 10ff.; Beier et al. 2013, S. 4)...31

Schaubild 3: „Ganzheitliche Theorie sexuellen Missbrauchs" nach Ward & Beech (Ward & Beech 2006, S. 44ff.; Beier et al. 2013, S. 7)...35

Schaubild 4: Flucht, Kampf und Freeze (Schmid 2016, S. 6)...66

Schaubild 5: "Parallel ablaufende physiologische Prozesse" (Schmid 2016, S. 8)...67

Schaubild 6: "Auswirkungen von Traumafolgestörungen auf die Pädagogik" (Schmid 2016, S. 15)...69

Schaubild 7: "Teufelskreis durch Schwierigkeiten in der Emotionsregulation" (Schmid 2013, S. 21)...72

Schaubild 8: Kindbezogene Schutz- und Risikofaktoren (Bange 2013, S. 1)...75

Schaubild 9: Risiko- und Schutzfaktoren in der Familie (Bange 2013, S. 1)...76

(5)

Abkürzungsverzeichnis

§ Paragraph

§§ Paragraphen

% Prozent

a. a. O. am angegebenen Ort

AAUW American Association of University Women

Abb. Abbildung

Abs. Absatz

Art. Artikel

ASD Allgemeiner Sozialer Dienst

BKA Bundeskriminalamt

BMFSFJ Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

bspw. beispielsweise

BVerfG Bundesverfassungsgericht

BZgA Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung

bzw. beziehungsweise

ca. circa

DJI Deutsches Jugendinstitut

DKSB Deutscher Kinderschutzbund

d. h. das heißt

DSM-IV Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (4. Aufla- ge)

ebd. ebenda

ECQAT E-Learning-Curriculum zur ergänzenden Qualifikation in Trau- mapädagogik, Traumatherapie und Entwicklung von Schutzkon- zepten und Analyse von Gefährdungsrisiken in Institutionen

f. folgende

ff. fort-folgende

GG Grundgesetz

Hrsg. Herausgeber/Herausgebende

i. V. m. In Verbindung mit

ICD-10 International Classification-Desease (10. Auflage)

MIKADO Studie: Missbrauch von Kindern, Aetiologie, Dunkelfeld, Opfer o. n. A. ohne nähere Angabe

(6)

PKS Polizeiliche Kriminalstatistik

S. Seite

SGB VIII Achtes Sozialgesetzbuch

SPZ Sozialpädiatrisches Zentrum

StÄG / StrÄndG Strafrechtsänderungsgesetz

StGB Strafgesetzbuch

u. a. unter anderem

UBSKM Unabhängige*r Beauftragte*r für Fragen des sexuellen Kindes- missbrauch

WHO World Health Organisation

z. B. zum Beispiel

(7)

„Denn, wenn alles, was mit Sexualität zu tun hat, ein Tabuthema ist, können sich Kinder bei sexuellen Grenzverletzungen keine Hilfe holen.“

(Böhm 2012, S. 14)

„Someone once asked me how I hold my head up so high after all I have been through. I said it´s because no matter

what, I am a survivor, not a victim. - Patricia Buckley“

„Einmal fragte mich jemand, wie ich bei allem, was mir passiert ist, so stark sein konnte. Ich sagte, weil egal was passiert ist, ich ein Überlebender bin und kein Opfer.

- Patricia Buckley“

(Lang & Schröder 2016, S. 2)

(8)

Wenn nicht anders gekennzeichnet, wird der Begriff „Täter“ nicht gegendert, da der Großteil des sexuellen Kindesmissbrauchs

durch Männer verübt wird (siehe Kapitel 1.3 Fazit zur Prävalenz).

(9)

1 Einleitung

1.1 Vorwort

Berechtigte Aufregung und Empörung begleiten jeden Fall von sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen, der öffentlich bekannt wird. Sexueller Kindesmissbrauch wurde seit jeher von der Öffentlichkeit tabuisiert, deshalb denken viele bei diesem The- ma an einen Fremden, der Kinder in sein Auto ziehen will und weniger an Missbrauch im familiären Nahraum, obwohl Schätzungen zufolge 80 % der Opfer davon betroffen sind (vgl. Deutsche Kinderhilfe e. V. 2020, S. 2 f.).

Jährlich sind knapp 14.000 Kinder und Jugendliche von sexuellen Missbrauch betrof- fen, das entspricht durchschnittlich ein bis zwei Kindern in jeder Schulklasse. Um zu verdeutlichen, welcher Art der sexuelle Kindesmissbrauch sein kann, sollen im Folgen- den einige Beispiele aus dem Berufsalltag von Günther Deegener aufgeführt werden.

Der Diplom-Psychologe war u. a. Professor an der „Klinik für Kinder- und Jugend- psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie“ der „Universitätsklinken des Saarlan- des“ in Homburg. Deegener veröffentlichte zahlreiche Publikationen zum Thema Ge- walt. Dabei schrieb er über Gewalt gegen Kinder, Gewalt in der Familie und Gewalt in der Gesellschaft (vgl. Deegener 2010, S. 13). Hier ein paar Beispiele aus seiner alltäg- lichen klinischen Praxis, in der ihm die vielfältigsten Formen des sexuellen Miss- brauchs begegneten:

„Nina, 2 Jahre, berichtet, dass der ‚Papa mit seinem Stritzer‘ an ihrer Scheide gewesen war. Der Vater erklärt: ‚Während eines sexuellen Traums hatte ich einen Samenerguss. Dadurch wachte ich auf – und da lag Nina zufällig mit ihrer Scheide auf meinem Penis‘.“

„Torsten, 3 Jahre, erlitt durch Analverkehr blutende Verletzungen.

Sein Vater: ‚Ich muss es wohl getan haben, aber ich weiß nichts mehr, hab einen Blackout‘.“

„Bernd, 9 Jahre, ging jahrelang mit dem Nachbarn K. in den Wald.

Dort kam es zu Oral- und Analverkehr und wechselseitigem Mastur- bieren. Häufig waren auch noch andere Kinder dabei.“

„Barbara, 10 Jahre, wurde auf dem Campingplatz von einem Unbe- kannten in die Waschanlage gezogen, wo er sie küssen und auszie- hen wollte. Das Mädchen konnte schreiend weglaufen.“ (ebd., S. 1 f.)

(10)

Deegener beschreibt über insgesamt drei Seiten solche und ähnliche Beispiele, die für Leser*innen oftmals nur schwer zu ertragen sind. Er beschreibt, dass er dem/der Le- ser*in verdeutlichen wolle, was Kinder und Jugendliche tagtäglich erleiden müssen, das wir uns nicht annähernd ausmalen können (und wollen). Bis 1980/85 wurde das Thema sexueller Kindesmissbrauch in der Gesellschaft weitestgehend totgeschwiegen.

Es ist ein Thema, dass auch heutzutage oftmals tabuisiert wird (vgl. ebd., S. 1-4).

Ein Skandal der die Fassade des Tabus bröckeln ließ und durch die Medien ging, er- eignete sich im Frühjahr 2010. Anlass für intensive öffentliche Debatten waren Vorfälle in angesehenen katholischen und reformpädagogischen Internaten, die erst Jahrzehn- te nach den eigentlichen Taten öffentlich gemacht wurden. Dies betraf u. a. das jesuiti- sche Canisius-Kolleg in Berlin und die Odenwaldschule in Heppenheim. Über Jahre hinweg wurden dort Schüler*innen von Lehrpersonen missbraucht. Das gebrochene Schweigen einiger Betroffener löste eine Welle weiterer Meldungen aus, u. a. aus an- deren schulischen und kirchlichen Institutionen, aber auch aus Freizeiteinrichtungen, Kinder- und Jugendheimen sowie aus dem Ausland. Erst ein halbes Jahr später ebbte dieses Thema langsam wieder ab (vgl. Behnisch & Rose 2011, S. 3 f.). Durch die Miss- brauchsskandale wurde Christine Bergmann von der Bundesregierung als „Unabhängi- ge Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung und der Forschungsförderung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung“ zum Thema „Sexueller Kindesmiss- brauch in pädagogischen Kontexten“ eingesetzt. Das Budget betrug 44 Millionen Euro.

Damit sollte das Thema sexueller (Kindes-)Missbrauch stärker in den Fokus gerückt und (weitere) Präventionsmaßnahmen initiiert werden (vgl. Görgen et al. 2013, S. 17, vgl. auch BMBF 2013, S. 1).

Diese Bachelor-Arbeit beschäftigt sich mit den theoretischen Grundlagen von sexuel- lem Kindesmissbrauch, d. h. es werden verschiedene Täter-Typen, ihre devianten se- xuellen Präferenzen, Motivationen und Strategien dargestellt. Zudem sollen das Thema innerfamiliärer Kindesmissbrauch und dessen Folgen, z. B. die Posttraumatische Be- lastungsstörung (PTBS) betrachtet werden. Ebenso sollen Risiko- und Schutzfaktoren für Kinder und Jugendliche auf verschiedenen Ebenen dargelegt werden. Vor allem soll aber die Frage erörtert werden, ob potenziell Betroffenen und potenziellen Tätern ge- nügend Präventionsmaßnahmen zur Verfügung gestellt werden.

Im Folgenden möchte ich kurz meine persönliche Motivation hinter diesem Thema dar- legen. Im Rahmen des Studiums der Sozialen Arbeit absolvierte ich zwei Praktika: das

(11)

Interventionsorientierte Praktikum in der Inobhutnahme eines Kinderheims in Görlitz und das Organisationsorientierte Praktikum im Allgemeinen Sozialen Dienst im Ju- gendamt in Löbau. In beiden Praktika ging es um das potenziell gefährdete Kindes- wohl, das geschützt werden sollte. Dabei wurde zwangsläufig das Thema sexueller Kindesmissbrauch tangiert. Zum besseren Verständnis würde ich gern ein paar Bei- spiele nennen, mit denen ich im Rahmen der Praktika konfrontiert wurde:

Die 13-jährige Anna* wurde von ihrem Onkel sexuell missbraucht. Ihrer Mutter erging es als Kind ebenso. Die Taten wurden zwar angezeigt, das Verfahren dennoch auf- grund mangelnder Beweise eingestellt. Der Onkel kam straffrei davon. Anna* kam auf- grund einer drohenden Kindeswohlgefährdung (Suizidgedanken der Mutter) mit ihren Geschwistern in ein Kinderheim. Sie lernte zwei andere Mädchen in ihrem Alter ken- nen: Tina* (13 Jahre) und Lisa* (12 Jahre). Sie schlichen sich nachts zusammen weg.

Dabei liefen sie an einem Döner-Laden vorbei, der gerade von zwei Männern mit Brot beliefert wurde. Sie kamen ins Gespräch und gingen in den Laden. Einer der Männer ging mit Tina* auf die Toilette und zwang sie, mit ihm zu schlafen. Anna* und Lisa* blie- ben mit dem zweiten Mann im Laden. Danach liefen sie wieder in das Kinderheim und gestanden es der diensthabenden Erzieherin. Tina* und Anna* gaben an, missbraucht worden zu sein, aufgrund dessen wurde ihnen die „Pille danach“ verschrieben. Anna*

sagte, dass Lisa* Zeugin gewesen sei, deshalb machte Lisa eine Aussage bei der Poli- zei, die ich begleitete. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass nur der sexuelle Miss- brauch von Tina stattgefunden hatte. Anna hatte gelogen, da sie keinen Ärger für das nächtliche Verschwinden bekommen wollte. Durch den sexuellen Missbrauch in ihrer Kindheit, klang ihre danach erfundene Geschichte allerdings glaubhaft. Sie gab später zu, gelogen zu haben.

(* = geänderter Name)

Ein 9-jähriger Junge spielte auf dem Hof vor seinem Elternhaus. Ein fremder Mann mit Hund kam vorbei und sprach ihn an. Er ließ den Jungen den Hund streicheln und fragte, ob er morgen dabei sein wolle, wenn er den Hund badete. Der Junge stimmte zu und sie verabredeten sich für den nächsten Abend. Die Mutter ging mit ihrem Sohn einkaufen und ihr Sohn grüßte den Mann, der ebenfalls dort war. Die Mutter dachte sich nichts dabei. Als der Junge abends sagte, er würde bei einem Freund übernach- ten, fragte sie ebenfalls nicht nach. Der Junge ging zu der Adresse, die der Mann ihm gegeben hatte. Vorort wurde der Junge mit Hilfe von Drogen betäubt und von zwei Männern sexuell missbraucht. Der Mutter fiel es nur auf, weil der Junge nicht in seiner eigenen Unterhose von der Übernachtung zurückkam, sondern in der des Täters. Die Mutter ging mit dem Sohn zur Polizei und es konnten Spermaspuren an der Unterhose sichergestellt werden. Der Junge wurde wegen Vernachlässigung seitens der Mutter in Obhut genommen. Zu diesem Zeitpunkt begegnete mir der Fall das erste Mal. Der Jun- ge litt seit dem Missbrauch an Verhaltensauffälligkeiten, Enuresis (Einnässen) und En- kopresis (Einkoten). In meinem Praktikum im Jugendamt, knapp zwei Jahre später, sah

(12)

ich die Vielzahl von Akten zu diesem Fall. Wegen seiner Bindungsprobleme und sei- nem auffälligen Verhalten wurde der Betroffene von einer Einrichtung zur nächsten ge- schickt und da er keine korrigierenden positiven Bindungserfahrungen machen konnte, verschlimmerten sich die Symptome.

Ein 14-jähriges Mädchen, das wegen verstärktem Alkoholkonsum des Vaters und der Stiefmutter in Obhut genommen wurde, berichtete mir im Vertrauen von mehreren se- xuellen Belästigungen. Zum einen durch ihren Stiefbruder, der sie vermehrt am Gesäß berührte, bis sie sich an die Stiefmutter wandte. Zum anderen durch einen Freund des Vaters, der nach einer Feier bei der Familie übernachtete. Er wollte die Profile des Mädchens in den sozialen Medien sehen und versuchte sie zu küssen. Als sie das ihrem Vater erzählte, bekam der Freund Hausverbot. Die Eltern übten ein sehr unange- messenes Sexualverhalten aus, da sie im betrunkenen Zustand, als die 14-jährige mit im Zimmer war, Geschlechtsverkehr hatten. Dies war einer der Gründe, der für eine In- obhutnahme sprach.

Ein 4-jähriges Mädchen wurde bei den Umgängen mit ihrem Stiefvater, der mittlerwei- le von der Mutter getrennt war, sexuell missbraucht. Da sie noch viele weitere Ge- schwister hatte, bekam sie nie einen Moment allein mit der Mutter, um ihr im Vertrauen davon zu erzählen. Zwei Jahre später, als sie mit der Mutter mal allein war, fing sie an zu weinen und sagte: „Er hat mir unten rumgefummelt. Es hat weh getan. Er hat mir ein Eis versprochen, aber ich habe nie ein Eis bekommen!“. Die Mutter wandte sich darauf hin an das Jugendamt und versuchte, vom Familiengericht einen Umgangsausschluss für den Stiefvater zu erwirken.

Durch diese und viele andere Fälle wurde ich auf das Thema „Sexueller Kindesmiss- brauch“ aufmerksam. Mir lag daran, mehr über die Hintergründe der Taten zu erfahren und zu wissen, was für den Schutz potenziell Betroffener getan wird.

1.2 Prävalenz

Bei sexuellem Kindesmissbrauch handelt es sich um ein globales Problem, das Finkel- hor et al. bereits 1994 in einer internationalen Studie untersuchten. Dabei wurden 20 verschiedene Länder verglichen und eine internationale Prävalenz (Häufigkeit) für Mädchen von 7 % bis 36 % und für Jungen von 3 % bis 29 % festgestellt (vgl. Finkel- hor et al. 1994, S. 409-417). Diese Arbeit wurde von Pereda et. al. 2009 fortgeführt. Es ergaben sich dabei vergleichbare Ergebnisse. Für Mädchen galt nun eine internationa- le Prävalenz von 19,7 % und für Jungen von 7,9 %. Die Wahrscheinlichkeit, von sexu- ellem Missbrauch betroffen zu sein, ist bei Mädchen signifikant höher (vgl. Pereda et

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al. 2009, S. 331-334). 2011 wurde eine Metaanalyse aus insgesamt 331 unabhängigen Stichproben mit ca. 10 Millionen Teilnehmer*innen von Stoltenborgh et al. erstellt. Da- bei ergab sich eine globale, kombinierte Prävalenz von 11,8 % (Mädchen: 18 %, Jun- gen: 7,6 %). Die niedrigsten Prävalenzen fanden sich in den Stichproben der asiati- schen Länder, wohingegen die höchsten Werte für Mädchen in Australien und für Jun- gen in den afrikanischen Stichproben festgestellt werden konnten (vgl. Stoltenborgh et al. 2011, S. 1). Zudem führten Barth et al. zwei Jahre darauf eine umfangreiche Meta- analyse von 55 weltweit angelegten Studien durch, in denen Kinder und Jugendliche direkt befragt wurden. Es ergab sich dabei eine Prävalenz für Mädchen von 8 % bis 31 %, sowie eine Prävalenz für Jungen von 3 % bis 17 % (vgl. Barth et al.

2013, S. 469-483). Aus allen hier aufgeführten Studien kann man die Schlussfolgerung ziehen, dass sexueller Kindesmissbrauch ein wichtiges Thema ist, von dem sowohl Jungen, als auch Mädchen betroffen sind. Die Prävalenz der Mädchen ist jedoch signi- fikant höher.

Die Prävalenz sexueller Missbrauchserfahrungen kann bei jungen deutschen Erwach- senen auf 8,5 % geschätzt werden. Damit liegt Deutschland im nationalen und interna- tionalen Vergleich im unteren bis mittleren Bereich (vgl. MiKADO 2015, S. 1). Präzise Angaben zur Häufigkeit des sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen in Deutschland sind aufgrund der hohen Dunkelziffer von (noch) nicht aufgedeckten Fäl- len nur schwer möglich. Die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) gibt nur Auskunft über das sogenannte Hellfeld, d. h. über die Zahl der angezeigten Straftaten.

2019 verzeichnete die Polizeiliche Kriminalstatistik deutschlandweit:

13.670 Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch

900 Fälle von Missbrauch an Jugendlichen

388 Fälle von Missbrauch an minderjährigen Schutzbefohlenen

12.262 Fälle von Verbreitung, Erwerb, Besitz und Herstellung sogenannter Kinderpornografie und

1.991 Fälle von Verbreitung, Erwerb, Besitz und Herstellung sogenannter Jugendpornografie (ebd., S. 1)

(14)

Das Bundesland Sachsen liegt mit seinen Werten im bundesweiten Durchschnitt:

830 Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch

61 Fälle von Missbrauch an Jugendlichen

18 Fälle von Missbrauch an minderjährigen Schutzbefohlenen

583 Fälle von Verbreitung, Erwerb, Besitz und Herstellung sogenannter Kinder- pornografie und

99 Fälle von Verbreitung, Erwerb, Besitz und Herstellung sogenannter Jugend- pornografie (ebd. S. 1)

Da nur ein geringer Teil der Taten zur Anzeige gebracht wird, können viele Taten statis- tisch nicht erhoben werden und bleiben im Dunkelfeld. Die PKS konnte für das Jahr 2019 in Deutschland weit über 13.000 den Ermittlungsbehörden bekannt gewordene Straftaten des sexuellen Kindesmissbrauchs (nach §§ 176, 176a, 176b StGB) feststel- len. Die Anzeigen bezogen sich zu etwa 75 % auf betroffene Mädchen und zu 25 % auf betroffene Jungen. Hinzu kamen Anzeigen von sexuellem Missbrauch von Schutzbe- fohlenen und Jugendlichen sowie über insgesamt 14.000 Fälle sogenannter Kinder- und Jugendpornografie. Laut Bundeskriminalamt (BKA) gab es im Jahr 2019 in diesem Bereich knapp 12.300, den Ermittlungsbehörden bekannt gewordenen Fälle, im Vorjahr waren es noch rund 7.450 Fälle. Daraus lässt sich ein Anstieg im Jahr 2019 um rund 65 % (!) schlussfolgern. Fälle von Verbreitung, Besitz oder Herstellung jugendporno- grafischer Schriften stiegen der Statistik zufolge um 24 % auf insgesamt 1.991 Fälle an. Die Fälle von Kindesmissbrauch summierten sich im vergangenen Jahr auf 13.670, was einen Anstieg um rund 11 % bedeutet (vgl. Bundeskriminalamt 2020, S. 1). Dun- kelfeldforschungen aus den vergangenen Jahren haben ergeben, dass etwa jeder siebte bis achte Erwachsene in Deutschland sexuelle Gewalt in Kindheit und/oder Ju- gend erlitten hat. Befragungen von Schüler*innen weisen darauf hin, dass Übergriffe durch andere Kinder und Jugendliche weitaus häufiger vorkommen als sexuelle Gewalt durch Erwachsene (vgl. Bundeskriminalamt 2020, S. 1; vgl. Deutsche Kinderhilfe e. V.

2020, S. 2 f.)

Die Abteilung für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Regens- burg erhielt einen Förderrahmen von 2,4 Millionen Euro, um in einem bis März 2015 andauernden fast vierjährigen Projekt, das Thema „Häufigkeit, Ursachen, Bedingungen und Auswirkungen sexueller Viktimisierung von Kindern und Jugendlichen“ (MiKADO 2020, S. 1) auch in Bezug auf die neuen Medien zu erforschen . Dazu befragte ein in-

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terdisziplinäres Team aus Praktiker*innen und Grundlagenforscher*innen aus Finnland und Deutschland in einer umfassenden Studie 28.000 Erwachsene und über 2.000 Kin- der und Jugendliche. Die Ergebnisse dieses Forschungsprojektes konnten das Aus- maß des Problems und die dringende Notwendigkeit umfangreicher Maßnahmen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexualisierter Gewalt verdeutlichen. Die For- scher*innen verwiesen auf fehlende Präventionsmaßnahmen und auf einen bestehen- den hohen Aufklärungs- und Ausbildungsbedarf für zukünftige Therapeut*innen. Sie stellten zudem Defizite in der Versorgung Betroffener fest. Auch sahen sie die Notwen- digkeit einer spezifischen therapeutischen Versorgung der bislang wenig untersuchten Täter- und Betroffenengruppen fest (vgl. ebd., S. 1).

In Deutschland sind Frauen (11,5 %) knapp doppelt so häufig von Missbrauch betroffen wie Männer (5,1 %). Sie bewerteten diesen als für sich belastender und waren im Durchschnitt bei ihrer ersten Missbrauchserfahrung ein Jahr älter als die männlichen Betroffenen. Zum Zeitpunkt ihrer ersten Missbrauchserfahrung waren Betroffene im Durchschnitt 9,5 Jahre alt. Nur knapp ein Drittel der Missbrauchserfahrungen wurde anvertraut, gerade mal 1 % wurde Ermittlungsbehörden und/oder Jugendämtern mitge- teilt. Jugendliche waren bei ihrer ersten Missbrauchserfahrung im Durchschnitt 9,4 Jah- re alt gewesen. Jugendliche Mädchen berichteten genauso häufig wie Jungen davon, betroffen zu sein. Mädchen waren oftmals (sexuell) weniger gebildet und bewerteten ihren Missbrauch als belastender. Sie waren bei ihrer ersten Missbrauchserfahrung im Durchschnitt knapp drei Jahre älter als betroffene Jungen. Nur ein Drittel der Kinder teilte sich jemandem mit (vgl. ebd., S. 1 ff.).

Des Weiteren berichteten 6 % der Mädchen und 2 % der Jungen im vergangenen Jahr, mindestens eine belastende sexuelle Online-Erfahrung gemacht zu haben, teilten die- se Erfahrung aber kaum jemandem mit. Dies ist mit bisherigen Studienergebnissen vergleichbar. Nur 14 % der Jugendlichen mit sexuellen Online-Erfahrungen unterbra- chen den Onlinekontakt, als ein sexuelles Thema aufkam bzw. sie zu einer sexuellen Handlung aufgefordert wurden. Circa ein Viertel der Jugendlichen traf sich mit der Onlinebekanntschaft. Davon erlebten 2 % das Treffen als belastend, 2,5 % berichteten, dass es zu sexuellen Handlungen bei den Treffen kam. Der Großteil der Treffen fand jedoch unter Gleichaltrigen statt, zudem waren die Täter Freunden oder Eltern vorher bekannt. Jüngere und weniger gebildete Mädchen hatten im Vergleich zu Jungen ein höheres Risiko für belastende sexuelle Online-Erfahrungen und Offline-Treffen, beson-

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ders mit älteren Männern. In Bezug auf die Bedingungen und Auswirkungen hatten be- troffene Frauen und Männer problematische Entwicklungsbedingungen in Kindheit und Jugend erfahren müssen, aktuell jedoch ein gesundes soziales Funktionsniveau, was einen Hinweis auf Resilienz gab. Kennzeichnend für Betroffene waren psychische Pro- bleme, für Männer in Form von Aggressivität, für Frauen insbesondere von Depressivi- tät. Je belastender der Missbrauch erlebt wurde, desto ausgeprägter waren die Sym- ptome. Körperberührungen verstärkten die Belastung oftmals. Für Frauen stellte auch der Missbrauch ohne Körperberührung eine Belastung dar. Das Alter spielte bei betrof- fenen Männern eine wichtige Rolle: Je jünger die Betroffenen zum Zeitpunkt des Miss- brauchs waren, desto ausgeprägter waren oftmals die Symptome (vgl. ebd., S. 1 ff.).

Im Vergleich zu betroffenen Erwachsenen erwähnten betroffene Jugendliche, z. B. se- xuell missbrauchte Jungen, besonders bei Missbrauch mit Körperberührung eher de- pressive Symptome, während betroffene Mädchen eher von Aggressivität berichteten.

Auffällig war, dass Mädchen auch nach Missbrauch ohne Körperkontakt mehr Sympto- me zeigten als betroffene Jungen. Je belastender der sexuelle Missbrauch erlebt wur- de, desto mehr soziale Ängste haben die betroffenen Jugendlichen heute oftmals. Die betroffenen Kinder und Jugendlichen im Hilfesystem zeigten signifikant häufiger Belas- tungssymptome: Insgesamt 60 % erfüllten die Kriterien einer psychischen Störung. Die sexuelle Viktimisierung steigerte das Risiko für Depressionen bei Mädchen zusätzlich.

Beide Geschlechter entwickelten posttraumatische Stresssymptome. Aus Scham konn- ten sich Betroffene frühestens nach einem Jahr jemandem anvertrauen. Jede*r Fünfte fühlte sich danach aber nicht ausreichend unterstützt. Von den Betroffenen mit einer behandlungsbedürftigen Störung nahmen 62 % keine auf die Misshandlung bezogene therapeutische Hilfe in Anspruch. Bei Kindern und Jugendlichen mit medikamentöser Behandlung offenbarten sich Defizite in der Diagnostik. Insgesamt jede*r Dritte nahm die durch Jugendämter angebotenen Hilfen als wenig hilfreich wahr (vgl. MiKADO 2020, S. 1 ff.).

Richstein und Tschan (2017) ermittelten folgende sieben Eckdaten zu sexualisierter Gewalt:

Täter*in und betroffene Person kannten sich bereits vor der Tat. Viele Fälle ge- schehen im familiären Nahfeld.

Missbrauch bzw. Übergriffe von Fremden sind dennoch keine Seltenheit (je nach Statistik: 13 bis 29 % der Mädchen und 5 bis 8 % der Jungen betroffen).

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50 % aller Missbrauchstaten erstrecken sich über mindestens fünf Taten. Es wurden auch Täter*innen bekannt, die mehr als 100 Taten begangen haben.

Nach Alter gestaffelt, geschehen ein Drittel der Missbrauchsfälle vor dem 10.

Lebensjahr, ein Drittel zwischen 10 und 12 Jahren und ein Drittel ab dem 12.

Lebensjahr, zu Beginn der Pubertät.

Knapp ein Drittel der Täter*innen sind jünger als 21 Jahre. Aber auch Täter*in- nen im hohen Alter kommen vor.

Sexueller Missbrauch kommt in allen sozialen Schichten vor und das zu etwa gleich großen Prozentsätzen (vgl. MiKADO 2015, S. 1).

1.3 Fazit zur Prävalenz

Sexueller Missbrauch findet in etwa 80 bis 90 % der Fälle durch Männer und männliche Jugendliche statt, zu etwa 10 bis 20 % durch Frauen und weibliche Jugendliche (vgl.

Deutsche Kinderhilfe e. V. 2020, S. 2 f.). Richstein und Tschan (2017) können dies mit einem Wert von 85 % bei männlichen Tätern bestätigen (vgl. Richman, Tschan 2017, S. 37). Täter missbrauchen sowohl Mädchen als auch Jungen. Missbrauchende Män- ner leben hetero- oder homosexuell, stammen aus allen sozialen Gesellschaftsschich- ten und unterscheiden sich durch kein äußeres Merkmal von nicht missbrauchenden Männern. Wenige Untersuchungen gibt es bislang zu missbrauchenden Frauen. Da Frauen sexueller Missbrauch oftmals nicht zugetraut wird, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass dieser kaum entdeckt wird. Frauen agieren oft als Einzeltäterinnen, miss- brauchen aber auch zusammen mit einem männlichen Partner bzw. unter dessen Ein- fluss. Man kann von keinem klassisches Täterprofil sprechen und auch keine einheitli- che Täter*innenpersönlichkeit benennen. Ziel der Täter*innen ist es, Macht auszuüben und durch die Tat das Gefühl von (sexueller) Überlegenheit zu erleben. Bei einigen Tä- tern und wenigen Täterinnen kommt eine sexuelle Fixierung auf Kinder hinzu (Pädose- xualität bzw. Pädophilie). Anders als für Täterinnen trifft es für Täter nicht zu, dass die meisten von ihnen früher selbst Opfer von sexueller Gewalt waren. Jedoch waren viele Täter*innen in der Kindheit und Jugend vielfältigen Formen von Gewalt ausgesetzt (vgl.

Deutsche Kinderhilfe e. V. 2020, S. 2f.).

Wie die oben aufgeführten Zahlen unschwer erkennen lassen, sind sehr viele Kinder in Deutschland von sexuellem Missbrauch betroffen und dadurch in ihrer Entwicklung ge- fährdet. Das Kinder- und Jugendhilfesystem ist in Deutschland mittlerweile ohne Zwei-

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fel sehr gut entwickelt. Auch die Prävention von sexuellem Missbrauch wird nach diver- sen Missbrauchsskandalen stärker in den Fokus gerückt. Die (sexuelle) Aufklärung von Kindern beginnt bereits im Biologieunterricht der Schule, dennoch muss diese stärker in den Fokus gerückt werden. Bei der zu untersuchenden sozialen Problemlage muss zwischen Prävention für potenziell Betroffene und potenziellen Tätern unterschieden werden. Die Schlüsselfrage ist: „Gibt es im Landkreis Görlitz genug primärpräventive und niedrigschwellige Angebote und Maßnahmen für potenziell Betroffene sowie po- tenzielle Täter?“.

Um diese Frage zu beantworten ist es zunächst unerlässlich zu untersuchen, inwiefern die betroffenen Kinder und Jugendliche, mit mindestens einer sexuellen Missbrauchs- erfahrung, in ihrer Entwicklung beeinflusst werden bzw. über welche Risiko- und Schutzfaktoren die Betroffenen bei innerfamiliärem Missbrauch verfügen. Des Weiteren möchte ich untersuchen, welche Präventionsmaßnahmen, Angebote, Initiativen usw.

speziell im Landkreis Görlitz zu finden sind, die sich mit dem Ziel primärer Prävention befassen. Im Folgenden werde ich mich auf die Bezeichnung „Kindesmissbrauch“ be- ziehen, damit sind sowohl Kinder von der frühen Kindheit an sowie Jugendliche bis hin zur Volljährigkeit gemeint.

(19)

2 Der sexuelle Kindesmissbrauch als soziale Problemlage

2.1 Begriffsbestimmungen

2.1.1 Sexualität und Sexuelle Gesundheit

Sexualität gehört zu unserem Alltag dazu. Jeder weiß, was gemeint ist, wenn man davon spricht, und dennoch ist es schwierig den Begriff Sexualität plausibel zu definie- ren. Sielert und Schmidt (2005) schrieben dazu:

„Sexualität zu definieren, macht uns einige Mühe. Sexualität umfasst zu viel und zu Widersprüchliches, ist weitgehend dem Irrationalen und Unbewussten verhaftet. Kurz: Die Widerborstigkeit dessen, was menschliche Sexualität darstellt, sträubt sich gegen jede rational ein- sichtige Benennung“ (Sielert 2005, S. 37).

„Sexualität ist für uns Menschen ein Leben lang Thema, und als se- xuelles Wesen lernen wir alle ein Leben lang.“ (Schmidt, Sielert 2008, S. 12).

Eine Schwierigkeit, Sexualität zu definieren liegt bereits darin, dass sich die Sexualität im Laufe des Lebens verändert bzw. verändern kann, d. h. dass man eigentlich von

„Sexualitäten“ sprechen sollte. Zum einen kann ein tiefgreifender Wandel erfolgen, z. B. in Hinblick auf die sexuelle Orientierung, zum anderen können sich auch sexuelle Normen, Vorstellungen und/oder Vorlieben ändern. Weitgehende Einigkeit besteht dar- über, dass die eigene Sexualität durch die Gesellschaft geformt wird und mehr um- fasst, als Fortpflanzung und Genitalität. Sexualität besteht aus insgesamt vier Sinn- und Funktionsaspekten: Dazu gehören ein Fortpflanzungs-, ein Lust-, ein Beziehungs- und ein Identitätsaspekt (vgl. Pohling 2013, S. 3).

Die World Health Organization (WHO) unternahm 2011 einen umfassenden Definitions- versuch. Demnach kann Sexualität verstanden werden als:

„ein zentraler Aspekt des Menschseins über die gesamte Lebens- spanne hinweg, der das biologische Geschlecht, die Geschlechts- identität, die Geschlechterrolle, sexuelle Orientierung, Lust, Erotik, In- timität und Fortpflanzung einschließt. Sie wird erfahren und drückt sich aus in Gedanken, Fantasien, Wünschen, Überzeugungen, Wer- ten, Verhaltensmustern, Praktiken, Rollen und Beziehungen. Wäh- rend Sexualität all diese Aspekte beinhalten kann, werden nicht alle

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diese Dimensionen jederzeit erfahren oder ausgedrückt. Sexualität wird beeinflusst durch das Zusammenwirken biologischer, psychologi- scher, sozialer, wirtschaftlicher, politischer, ethischer, rechtlicher, reli- giöser und spiritueller Faktoren“ (WHO und BzgA 2011, S. 18; Über- setzung von Pohling 2013, S. 3).

In den letzten Jahren hat der Begriff der sexuellen Gesundheit zunehmend an Bedeu- tung gewonnen. Dieser umfasst auch das sexuelle Wohlbefinden und inkludiert damit mehr als die Abwesenheit von Schwächen, Funktionsstörungen und/oder Krankheit (vgl Pohling 2013, S. 3f.) Die WHO definierte 2002 im Rahmen einer Fachkonferenz die sexuelle Gesundheit als „Zustand körperlichen, emotionalen, geistigen und sozialen Wohlbefindens bezogen auf Sexualität […]“ (WHO 2006, S. 10; Übersetzung von Poh- ling 2013, S. 3f.). Des Weiteren erläuterte sie: „Sexuelle Gesundheit erfordert eine po- sitive und respektvolle Herangehensweise an Sexualität und sexuelle Beziehungen also auch die Möglichkeit für lustvolle und sichere sexuelle Erfahrungen, frei von Unter- drückung, Diskriminierung und Gewalt. Wenn sexuelle Gesundheit erreicht und be- wahrt werden soll, müssen die sexuellen Rechte aller Menschen anerkannt, geschützt und eingehalten werden“ (WHO 2006, S. 10; Übersetzung nach WHO und BzgA 2011, S. 19).

Sexuelle und reproduktive Rechte werden als eine Abfolge von sexualitätsbezogenen Rechtsansprüchen definiert, die als Teile der allgemeinen Menschenrechte auf dem Recht auf Freiheit, Würde, Integrität, Selbstbestimmung, Privatsphäre und Gleichstel- lung beruhen. Sie wurden von der International Planned Parenthood Federation (IPPF) bereits im Jahr 1994 beschlossen und veröffentlicht (vgl. „Charta der sexuellen und re- produktiven Rechte“). Der erste dort festgelegte Grundsatz lautet: „Sexualität ist ein wesentlicher Teil der Persönlichkeit jedes Menschen. Aus diesem Grund müssen positi- ve Rahmenbedingungen geschaffen werden, innerhalb derer jeder Mensch alle sexuel- len Rechte als Teil seiner Entwicklung in Anspruch nehmen kann“ (vgl. Pohling 2013, S. 3f.).

Abschließen möchte ich diesen Gliederungspunkt mit einem Zitat der amerikanischen Sexualtherapeutin Avodah Offit:

„Sexualität ist, was wir daraus machen. Eine teure oder eine billige Ware, Mittel zur Fortpflanzung, Abwehr gegen Einsamkeit, eine Form der Kommunikation, ein Werkzeug der Aggression (der Herrschaft, der Macht, der Strafe und der Unterdrückung), ein kurzweiliger Zeit- vertreib, Liebe, Luxus, Kunst, Schönheit, ein idealer Zustand, das

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Böse oder das Gute, Luxus oder Entspannung, Belohnung, Flucht, ein Grund der Selbstachtung, eine Form von Zärtlichkeit, eine Art Re- gression, eine Quelle der Freiheit, Pflicht, Vergnügen, Vereinigung mit dem Universum, mystische Ekstase, Todeswunsch oder Todeserle- ben, ein Weg zum Frieden, eine juristische Streitsache, eine Form, Neugier und Forschungsdrang zu befriedigen, eine Technik, eine bio- logische Funktion, Ausdruck psychischer Gesundheit oder Krankheit oder einfach eine sinnliche Erfahrung“ (Sielert 2005, S. 37).

2.1.2 Allgemeine Begriffsbestimmungen

Sexueller Missbrauch stellte lange Zeit ein Tabuthema dar, welches jetzt immer mehr in den Fokus der Öffentlichkeit rückt. Die Tabuisierung betraf besonders den Missbrauch von Kindern und Jugendlichen. Hallstein (1996; nach Häßler, Fegert 2005, S. 49 f.) de- finiert sexuellen Missbrauch als „jede sexualisierte Handlung, die unter bewusster Aus- nutzung von ungleicher Erfahrung, Wissen, Macht und Autorität vorgenommen wird“

(ebd., S. 49f.). Der Begriff des sexuellen Missbrauchs wird oft kritisch betrachtet, da er einen „sexuellen Gebrauch“ von Kindern und Jugendlichen impliziert. Die oben ange- führte Definition schließt eben jenen Gebrauch aus, weil bei Fällen sexualisierter Hand- lungen mit Minderjährigen immer ein bewusstes Ausnutzen dieses Machtgefälles vor- aus geht. Als ebenfalls ungleich sind die Aspekte Autorität, Erfahrung und Wissen an- zusehen (vgl. Chodan, Reis, Häßler 2013, S. 2).

Die Motive, die den Stiefvater dazu bewegen, sexuelle Handlungen am Kind seiner Partnerin durchzuführen, unterscheiden sich von den Ursachen sexueller Gewalt, die von einer jugendliche Peer-Group an einem gleichaltrigen Mädchen ausgeübt wird.

Gleichwohl sind auch die Folgen verschieden (vgl. Black, Heyman, Smith Slep 2001, S.

203-229; Finkelhor 2009, S. 31-53). Gemäß dem Fall, dass der sexuelle Missbrauch nicht durch einen Fremdtäter, sondern durch eine Person aus dem Nahfeld geschieht, handelt es sich für die Betroffenen meist um eine bedeutend belastendere Situation.

Die Gründe darin liegen vor allem im Vertrauensbruch durch eine Bezugsperson, die die körperliche Unversehrtheit und Privatsphäre einer/eines Betroffenen verletzt. Dies bringt oft massive und ambivalente innere Konflikte mit sich (vgl. Fegert 2007, S. 78- 98). Der Täter nutzt seine Autoritäts- und Machtposition aus, um seine eigenen Bedürf- nisse auf Kosten eines Kindes (oder Jugendlichen) zu befriedigen. Aufgrund der kör- perlichen, psychischen, sprachlichen und kognitiven Unterlegenheit kann ein Kind einer

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sexuellen Handlung nie wissentlich zustimmen (vgl. Schechter, Roberge 1976, S. 127- 142).

„[…] Aber dann, als sie nebeneinander auf dem Sofa saßen, war der Opa sehr nahe an sie herangerutscht, hatte eine Hand auf ihren Oberschenkel gelegt. Ziemlich weit oben und ziemlich weit innen.

Und als im Film eine Knutsch-Szene zu sehen war, hatte er gefragt:

‚Na, gefällt dir das?‘ Und er hatte angefangen, sie zwischen den Bei- nen zu streicheln. Sophia war das total unangenehm gewesen. Sie hatte versucht, von ihm wegzurutschen, aber der Opa hatte sie fest- gehalten, gelacht und gesagt: ‚Jetzt tu bloß nicht so unschuldig. Du guckst dir doch auch heimlich die Nackten in der Bravo an‘. Und So- phia hatte sich plötzlich fürchterlich geschämt, ihn einfach machen lassen und gehofft, dass er sie bald wieder in Ruhe lassen würde. Ir- gendwann hatte er seine Hand tatsächlich zurückgezogen, Sophia ins Bett geschickt und gesagt: ‚Das bleibt unser kleines Geheimnis.‘ […]“

(Jud 2013, S. 3).

Nach wie vor ist das Bild des Fremdtäters, der auf Spielplätzen Kinder anspricht oder versucht, sie ins Auto zu ziehen, fest in den Köpfen der Bevölkerung verankert und wird bei Begrifflichkeiten, wie z. B. bei sexuellem Missbrauch abgerufen. Dieses Bild wird auch durch die Medien gestützt und das ist problematisch, da der Großteil der se- xuellen Übergriffe im sozialen Nahraum durch Bezugspersonen, z. B. Vater, Stiefvater, Onkel, Großvater etc. geschieht (vgl. Finkelhor 1994, S. 31-53). Dazu gehören auch Professionelle, die eigentlich für die Betreuung oder Behandlung der betroffenen Kin- der und Jugendlichen verantwortlich wären, u. a. Betreuungspersonen in stationären Einrichtungen, in Vereinen oder in therapeutischen Einrichtungen. Kinder und Jugendli- che sind aber auch von sexuellem Missbrauch durch andere Kinder und Jugendliche, z. B. Mitschüler*innen betroffen.

Kinder und Jugendliche, die sexuelle Übergriffe erfahren, tragen nie die Schuld, den- noch wird die „Opfer“-Bezeichnung von den Betroffenen selbst kritisch hinterfragt. Op- fer von sexuellem Missbrauch werden häufig als hilf- und wehrlose, sprachlose und schwerst traumatisierte Wesen dargestellt (Jud 2013, S. 3). Das englische Wort „victim“

ist ein Standardbegriff in der Fachliteratur, soll in dieser Arbeit allerdings weitestgehend durch „Betroffene“ ersetzt werden.

Es gibt zahlreiche Begriffe und Definitionen, die sexuelle Gewalt beschreiben und die sich häufig nur marginal unterscheiden. Im Folgenden soll ein Überblick über die ähnli- chen Begrifflichkeiten gegeben werden:

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Sexuell aggressives Verhalten

kann definiert werden, als jede Form von ungewolltem bzw. unerwünschtem sexuellem Kontakt, der durch gewalttätige oder nicht-gewalttätige Mittel erreicht wird. Einge- schlossen werden können sowohl relativ milde Mittel (z. B. Berühren oder Küssen), als auch schwere sexuelle Übergriffe (z. B. Zwang zu sexuellen Handlungen oder Verge- waltigung). Die Mittel, die eingesetzt werden, um einen sexuellen Kontakt zu ermögli- chen, können von verbalem Druck über Bedrohungen bis hin zu körperlicher Gewalt reichen. Synonyme für sexuell aggressives Verhalten sind u. a. sexualisierte Gewalt/

Aggression, sexuell grenzverletzendes und sexuell delinquentes Verhalten (vgl. Allrog- gen et al. 2012, S. 35-40).

Sexuell belästigendes Verhalten

kann als jede Form der unerwünschten sexuellen Aufmerksamkeit betrachtet werden und umfasst sowohl sexualisiertes Verhalten als auch sexuell aggressives Verhalten.

Dabei spielt zum Großteil sexualisiertes Verhalten ohne Körperkontakt bzw. leichte For- men von sexuell aggressiven Verhalten eine Rolle. Darunter fallen u. a. das Erzählen von obszönen Witzen, das Zeigen von pornografischem Material und sexuelle Beleidi- gungen (vgl. ebd., S. 35-40).

Sexuelles Problemverhalten

wird als ein Verhalten bezeichnet, bei dem das Kind sexuellen Risiken ausgesetzt ist, wenn es für das Kind selbst bzw. andere missbrauchend ist oder wenn dieses Verhal- ten mit sozialen Beziehungen oder Entwicklungsaufgaben interferiert. Diese Verhal- tensweisen umfassen sowohl ein allgemein sexualisiertes Verhalten als auch sexuell aggressives Verhalten und exzessive Masturbation (vgl. Chaffin et al. 2006, o. S.).

Sexualisierte oder sexuelle Gewalt?

Eine Unterscheidung erfolgt häufig auch zwischen sexueller und sexualisierter Gewalt.

Allroggen (2012) empfiehlt nur einen deskriptiven Gebrauch der Begriffe, da zum einen verbale, körperliche und psychologische Gewalt in Beziehungen von z. B. Jugendli- chen und im jugendlichen Miteinander häufiger auftreten und zum anderen der Über- gang zwischen sexuell einvernehmlichen Handlungen und sexuell aggressivem Verhal- ten fließend ist. Auch bei der Unterscheidung zwischen allgemeinem sexualisierten ag- gressiven Verhalten und primärer sexualisierter Gewalt würde sich das zunehmend schwierig gestalten (vgl. Allroggen 2012, S. 35-40). Oft ist der Übergang zwischen frei- willigen und erzwungenen sexuellen Handlungen unter Gleichaltrigen bzw. Jugendli-

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chen fließend. Dadurch entsteht die Gefahr, sexuelle Übergriffe nicht zu erkennen bzw.

zu bagatellisieren. Des Weiteren ist eine Tendenz gegeben, die beteiligten Kinder und Jugendlichen in die Rollen Täter und Opfer zu zwängen und somit teilweise einver- nehmliche Handlungen als sexuelle Übergriffe wahrzunehmen (vgl. Allroggen 2013, S.

3f.).

In Deutschland liegen für die Häufigkeit von sexuell aggressivem Verhalten keine relia- blen Daten vor. Untersuchungen mit deutschen Jugendlichen im Durchschnittsalter von 18,1 bzw. 19,8 Jahren zeigten, dass zwei von drei Frauen und einer von drei Männern bereits Opfer von sexuellen körperlichen Übergriffen wurden. Häufig war der Täter auch der Partner. Circa 50 % der Männer und 10 % der Frauen zeigten bereits selbst einmal sexuell aggressives Verhalten (vgl. Krahé 2009, S. 173-183). Schülerbefragun- gen in 9. Klassen zeigten, dass 1 % der Schüler*innen in den letzten zwölf Monaten von einer sexuellen Gewalterfahrung betroffen war. Insgesamt 2,6 % der Jungen und 0,3 % der Mädchen wurden selbst sexuell aggressiv (vgl. Baier et al. 2009, 29 f.). Stu- dien aus Europa und den USA zeigten, dass mehr als 50 % der Jungen und Mädchen schon einer leichten sexuellen Belästigung durch Gleichaltrige ausgesetzt waren. Je- des vierte Mädchen war auch von schweren Formen sexueller Gewalt betroffen, doch nur 3 % der Jungen. Des Weiteren zeigten über die Hälfte der befragten Jugendlichen selbst sexuell belästigendes Verhalten. Sogar 8 % der Jungen und 5 % der Mädchen auf eine aggressive Art und Weise (vgl. AAUW 2001, o. S.). Eine schwedische Studie zeigte, dass bereits 18 % der Mädchen und 7 % der Jungen unter 13 Jahren sexuelle Gewalt durch andere Kinder und Jugendliche erfahren hatten (vgl. Larsson, Svedin 2002, S. 263-273). Das heißt, dass sexuelle bzw. sexualisierte Gewalt nicht nur zwi- schen einem Erwachsenen und einem Kind bzw. einem/einer Jugendlichen stattfindet, sondern auch unter Gleichaltrigen (häufiger) vorkommt.

2.1.3 Sexueller Missbrauch

Neben der unterschiedlichen Berücksichtigung von Tätergruppen, unterscheiden sich bestehende Definitionen für sexuellen Missbrauch auch in den unterschiedlichen be- schriebenen sexuellen Handlungen. Das National Center of Deseases Control and Pre- vention hat nun eine gut fundierte Erklärung definiert. In einem ausführlichen Konsulta- tionsprozess verschiedener Professionen, z. B. der Sozialen Arbeit und der Medizin, sowie unter Berücksichtigung aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse wurde eine

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neue Definition erarbeitet. Von dieser Definition werden alle Tätergruppen inkludiert (vgl. Leeb et al. 2008, S. 1):

„Als sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen wird jeder versuchte oder vollendete sexuelle Akt und Kontakt von Bezugs- und Betreuungspersonen am Kind aufgefasst, aber auch sexuelle Hand- lungen, die ohne direkten Körperkontakt stattfinden“ (Leeb et al.

2008, S. 1; Übersetzung nach Jud 2013, S. 3).

In Bezug auf sexuellen Missbrauch kann zwischen „Hands-on“- und „Hands-off“-Taten unterschieden werden.

2.1.4 Hands-On-Taten

Als sogenannte Hands-on-Taten können jene sexuelle Übergriffe auf Kinder und Ju- gendliche angesehen werden, die direkten (Körper-)Kontakt einschließen. Dazu gehö- ren penetrative Handlungen und Handlungen mit sexuellem Kontakt:.

Penetrative Handlungen: Hierbei werden alle Akte versuchter oder vollende- ter, vaginaler oder analer Penetration mit dem Penis, Fingern oder Gegenstän- den berücksichtigt. Ebenso umfassen diese alle Kontakte zwischen Mund, Ge- nitalien oder Anus.

Handlungen mit sexuellem Kontakt: Hierzu zählen sämtliche mit Absicht durchgeführte Berührungen der Betroffenen (auch oberhalb der Kleidung) der Brüste, der inneren Oberschenkel, der Leistengegend, der Genitalien und des Anus durch den Täter. Dazu gehört auch das Verlangen der Täter an diesen Stellen berührt zu werden. Davon nicht inkludiert sind Berührungen, die nur auf die Erfüllung der Grundbedürfnisse abzielen, z. B. die Körperhygiene bei Klein- kindern. Der sexuelle Missbrauch beschränkt sich nicht nur auf Handlungen zwischen Täter und Betroffenen. Teilweise sind auch mehrere Kinder und Ju- gendliche betroffen, die vom Täter gezwungen werden, auch sexuelle Handlun- gen mit- und aneinander vorzunehmen (vgl. Manly et al. 2001, S. 759-782).

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2.1.5 Hands-Off-Taten

Weiterhin gibt es auch verschiedene sexuelle Handlungen, die als sexueller Miss- brauch zählen, obwohl sie ohne direkten Körperkontakt erfolgen. Diese werden als Hands-Off-Taten benannt:

Aussetzung eines Kindes gegenüber sexuellen Aktivitäten: z. B. Exhibitio- nismus oder Pornografie

Foto- und/oder Filmaufnahmen, die das Kind auf eine sexualisierte bzw. se- xuelle Art und Weise darstellen

verbale sexuelle Belästigung: unangemessene Komplimente, obszöne Witze etc.

Handlungen, die Kinderprostitution fördern bzw. ermöglichen: Die Hand- lungen von Bezugspersonen, die Kinderprostitution ermöglichen, zählen zwar zu den Hands-Off-Taten, doch erfahren die Kinder und Jugendlichen durch die Prostitution und die steigende Nachfrage an kinderpornografischem Material auch Übergriffe mit direktem Körperkontakt.

Die unterschiedlichen Formen des sexuellen Missbrauchs an Kindern und Jugendli- chen können in verschiedene Schweregrade differenziert werden. Dieser steht in direk- tem Bezug zu den möglichen Folgen des sexuellen Missbrauchs für die betroffenen Kinder und Jugendlichen. Die Folgen stehen in einer direkten Relation zur Häufigkeit des Missbrauchs (vgl. ebd., S. 759-782).

2.2 Einordnung nach ICD-10

Die ICD-10 ist eine „Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und ver- wandter Gesundheitsprobleme“ und somit eine „amtliche Diagnosenklassifikation“

(Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte 2019, S. 1). In Deutschland wird die Übersetzung der englischsprachigen ICD-10 der WHO unverändert übernommen.

Aktuell gilt die ICD-10-Version der WHO von 2019 (vgl. ebd., 2019, S. 1).

Der sexuelle Kindesmissbrauch ist bei den „Sonstige[n] und nicht näher bezeichnete[n]

Schäden durch äußere Ursachen“ (ebd., 2019, S. 1) zu finden. Diese reichen von T 66 bis hin zu T 78. Die Klassifikation wurde dabei, wie folgt aufgeschlüsselt:

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„T 74.- Missbrauch von Personen

T 74.0 Vernachlässigung oder Imstichlassen T 74.1 Körperlicher Missbrauch

Inkl.: Ehegattenmisshandlung o. n. A.

Kindesmisshandlung o. n. A.

T 74.2 Sexueller Missbrauch T 74.3 Psychischer Missbrauch

T 74.8 Sonstige Formen des Missbrauchs von Personen Inkl.: Mischformen

T 74.9 Missbrauch von Personen, nicht näher bezeichnet

Inkl.: Schäden durch Missbrauch: eines Erwachsenen o. n. A.

Schäden durch Missbrauch: eines Kindes o. n. A.“

(Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte 2019, S. 1)

Zum sexuellen Missbrauch (T 74.2) gehören nach ICD-10 der allgemeine sexuelle Missbrauch sowie die Vergewaltigung. Im Folgenden sollen nun auch die verschiede- nen Straftatbestände des Sexualstrafrechts im deutschen Strafgesetzbuch (StGB) nä- her beleuchtet werden.

2.3 Kinder- und Elternrechte

„Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.“ (Art. 6 Abs. 2 GG)

In Deutschland gibt es die verfassungsrechtlich geschützte Familienautonomie (Art. 6 Abs. 1 GG), das Elternrecht (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) sowie das staatliche Wächteramt (Art. 2 Abs. 2 GG) mit einer hohen Eingriffsschwelle (Art. 6 Abs. 3 GG). Im Verhältnis zum Kind ist das Elternrecht rein funktionsbezogen und als Pflichtrecht ausgestaltet, weshalb das Bundesverfassungsgericht den Begriff „elterliche Verantwortung‘‘ bevor- zugt. Das Elternrecht ist ein Abwehrrecht gegenüber dem Staat und bestätigt den na- türlichen und rechtlichen Vorrang der Eltern bei der Pflege und Erziehung ihrer Kinder.

Die Elternverantwortung ist daher eine umfassende Verantwortung für die Lebens- und Entwicklungsbedingungen des Kindes. Das bedeutet, dass die Eltern sich vorrangig um ihre Kinder kümmern dürfen und sollen. Falls sie nicht in der Lage sein sollten, ihre Kinder dementsprechend zu erziehen und zu versorgen, kann der Staat eingreifen.Der Staat, in Form des Allgemeinen Sozialen Dienst des Jugendamtes, hat hierbei nicht nur die Möglichkeit zu handeln, sondern auch die Pflicht, dies im Rahmen seines „Wächter-

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amtes“, zu tun.Im § 2 SGB VIII ist die sachliche, örtliche und funktionelle Aufgabener- füllung des Jugendamtes festgelegt. § 8 SGB VIII und § 1666 SBG VIII erlauben dem Jugendamt, bei Gefahr im Verzug sofort zu handeln und das Kind nach § 42 SGB VIII sogar in Obhut zu nehmen, um eine KWG abzuwenden. (Vgl. Landkreis Görlitz 2020, S. 1)

Da eine Inobhutnahme immer ein schwerer Eingriff in ein Familiensystem darstellt, ist es unbedingt notwendig, gut abzuwägen. Dem ASD stehen daher diverse Hilfen zur Er- ziehung (HzE), z. B. in Form von Familienhilfen, Erziehungsbeiständen, Tagesgruppen, etc. zur Verfügung. Die Frage der Verhältnismäßigkeit muss allzeit gestellt werden.

Jedes Kind hat Rechte zu seinem Schutz. Dazu gehören u. a. Die Gewährung des El- ternrechts zum Schutz des Kindes (vgl. BVerfGE 61, 358, 371) sowie der Anspruch auf Schutz durch den Staat (vgl. BVerfGE 24, 119,144). Das Recht auf Leben und körperli- che Unversehrtheit muss gewahrt bleiben (vgl. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG).

Dass der Begriff des „Kindeswohls“ ein unbestimmter und sehr vielfältig auslegbarer Rechtsbegriff ist, macht die Arbeit des Jugendamtes nicht leichter. Im Allgemeinen kann folgende Definition verwendet werden:

„Kinder und Jugendliche haben das Recht auf eine individuelle, personale und soziale Entwicklung, d. h. zu wachsen, lernen und gedeihen, ihre Per- sönlichkeit zu entfalten und sich damit zu emotional stabilen, eigenständi- gen, einfühlsamen und sozial verantwortlichen Persönlichkeiten zu entwi- ckeln.“ (Landkreis Görlitz 2020, S. 1, vgl. auch Art. 1 und Art. 2 GG sowie § 1 SGB VIII)

Kindeswohl bedeutet, dass die wesentlichen Voraussetzungen einer altersgemäßen und positiven Entwicklung der Persönlichkeit gegeben sind. Dabei sollen die menschli- chen und im Besonderen die kindlichen Grundbedürfnisse erfüllt sein. Das umfasst die sozialen, geistigen und seelischen Bedürfnisse (vgl. Landkreis Görlitz 2020, S. 1, vgl.

DJI 2005, S. 1)

Sexueller Kindesmissbrauch sowie jegliche andere Missbrauchsformen verstoßen ge- gen das Grundgesetz, in dem verankert wurde, dass jeder Mensch in seiner Würde

„unantastbar“ ist (Art. 1 Abs. 1, GG) und „das Recht auf Leben und körperliche Unver- sehrtheit [hat]“ (Art. 2 Abs. 2, GG).

Zusätzlich dazu wurde am 20. November 1989 die Kinderrechtskonvention von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet. „Die Bezeichnung Kinder-

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rechtskonvention ist eine Abkürzung für das Übereinkommen über die Rechte des Kin- des (Convention on the Rights of the Child, CRC) und ist das wichtigste internationale Menschenrechtsinstrumentarium für Kinder. Kinderrechte sind Menschenrechte. Das Übereinkommen über die Rechte des Kindes gehört zu den internationalen Menschen- rechtsverträgen der Vereinten Nationen“(UN-Kinderrechtskonvention 2020, S. 1).

Besonders wichtig ist dabei der § 34, der die Vertragsstaaten dazu verpflichtet, „Maß- nahmen zu ergreifen, um Kinder vor allen Formen sexueller Ausbeutung und sexuellen Missbrauchs zu schützen“ (ebd., S. 1). Durch die gesetzlichen Vorschriften des Straf- gesetzbuches (§§ 174-184) gewährleistet Deutschland den § 34 der UN-Kinderrechts- konvention. Diese gesetzlichen Regelungen möchte ich im Folgenden Kapitel näher er- läutern.

2.4 Typologie des sexuellen Missbrauchs – Straftatbestände im 13. Abschnitt Strafgesetzbuch

Das Strafgesetzbuch (StGB) bestimmt in Deutschland das materielle Strafrecht. Dazu gehören die Voraussetzungen und Rechtsfolgen von strafbaren Handlungen. Die Straf- prozessordnung (StPO) regelt den Ablauf des Strafverfahrens. Das Strafgesetzbuch trat am 01.01.1872 in Kraft (vgl. Burgsmüller 2012, S. 3).

Die folgende kurze Übersicht soll für die Gesetzesänderungen des 33. Strafrechtsän- derungsgesetz (StÄG) vom 01.07.1997 sowie dem 6. Strafrechtsreformgesetz (StrÄndG) vom 26.01.1997 sensibilisieren, da diese eine Vielzahl von Gesetzesände- rungen mit sich gebracht haben, die auch für erfahrene Jurist*innen kompliziert und un- übersichtlich erscheinen können. Die Öffentlichkeit hat die Erhöhung der angedrohten Freiheitsstrafen sowie die Ausweitung der Strafbarkeit der sexuellen Handlungen dage- gen eher positiv aufgefasst (vgl. ebd., S. 3f.).

Bevor ich auf die einzelnen Straftatbestände eingehen werde, möchte ich zunächst noch auf drei Grundbegriffe im Strafrecht verweisen, die für die Verständlichkeit des Textes wichtig sein könnten: Dazu gehören das Bestimmtheitsgebot, das Rückwirkungs- verbot und das Analogieverbot (vgl. ebd., S. 3ff.).

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Bestimmtheitsgebot und Rückwirkungverbot

Im § 1 StGB ist festgelegt, dass eine Tat nur in dem Falle bestraft werden darf, wenn die Strafbarkeit bereits vor der Tat gesetzlich festgelegt war. Daraus folgen zwei Grund- sätze:

„1. Straftatbestände müssen hinreichend klar ein bestimmtes Verhalten verbieten (Be- stimmtheitsgebot).

2. Neu geregelte Straftatbestände dürfen nicht auf ein zurückliegendes Geschehen an- gewendet werden (Rückwirkungsverbot)“ (Burgsmüller 2012, S. 3f.).

Beispiel:

Ein sexueller Übergriff eines Therapeuten auf seine Klientin ist erst seit dem Jahr 1998 strafbar, da erst zu dieser Zeit § 174c StGB in das Strafgesetzbuch aufgenommen wur- de. Das bedeutet, dass die Übergriffe, die vor der Einführung dieses Gesetzes gesche- hen sind, gar nicht strafbar waren. Die Psychotherapeuten verstießen zwar gegen die Richtlinien der Berufsverbände und mussten ggf. mit arbeitsrechtlichen Konsequenzen rechnen, aber machten sich oftmals nicht strafbar. Es fehlten entsprechende Straftat- bestände des Sexualrechts. In vielen Fällen fehlte es am benötigten Zwang bzw. der benötigten Gewalt, um sich als Täter einer Vergewaltigung strafbar zu machen. Heute gibt es den § 174 Abs. 2 StGB, der den sexuellen Missbrauch zwischen Therapeut*in und Klient*in unter Strafe stellt. Begründet wird dies damit, dass in einer Therapeut*in- nen-Klient*innen-Beziehung immer ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, das „Angriffe auf die sexuelle Selbstbestimmung von Patientinnen erleichtert“ (ebd., S. 4).

Analogieverbot

Dieses Verbot besagt, dass eine Strafrechtsnorm nicht auf einen ähnlichen Sachverhalt übertragen werden darf.

Beispiel:

Auch wenn der sexuelle Missbrauch bzw. die sexuelle Ausbeutung von Patient*innen auch schon vor dem Jahr 1998 nach moralischen, ethischen und berufsrechtlichen Standards verwerflich war, lag in diesem Fall kein Straftatbestand vor. Es ist verboten, im Fall von sogenannten „Regelungslücken“ (Burgsmüller 2012, S. 4) zum Nachteil des

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Beschuldigten „Analogien“ (vgl. ebd., S. 4) zu bilden. Obwohl es ähnlich gelagerte Fälle waren, musste erst ein Gesetz verabschiedet werden.

Rechtsgut der Sexualstrafbestände

Die sexuelle Selbstbestimmung ist ein hohes Gut, das durch die Straftatbestände im Sexualstrafrecht geschützt werden soll. Dies führt leider dazu, dass (nach § 184g StGB) nur „erhebliche Beeinträchtigungen derselben unter Strafe gestellt sind“ (ebd., S. 5). Es gibt eine Vielzahl sexueller Belästigungen, die nicht strafbar sind, d. h. dass das bloße obszöne bzw. anzügliche Reden über eine vorbeilaufende Frau, das Aus- hängen von anzüglichen Postern im Büro etc. unterhalb der Strafbarkeitsschwelle an- zusiedeln sind (vgl. Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, AGG). Sie haben zwar kei- ne strafrechtliche, aber dennoch eine rechtliche Bedeutung. Solche Belästigungen dür- fen von den Betroffenen abgewehrt werden, ohne dabei um den Arbeitsplatz fürchten zu müssen. Arbeitsrechtliche Konsequenzen von Seiten des Arbeitgebers dürfen einge- fordert werden. Diese können in Form von Sanktionen, z. B. Abmahnungen, Kündigun- gen etc. als arbeitsrechtliche Sanktionen durch den Arbeitgeber erfolgen, ohne dass es dabei „zur Verwirklichung von Straftatbeständen hat kommen müssen (§ 2 Abs. 1 i. V. m. § 3 Abs. 4 AGG)“ (Bugsmüller 2012, S. 5).

Beispiel:

In den 1970er Jahren wurden Berührungen oberhalb der Kleidung (auch bei Kindern, d. h. bei unter 14-jährigen) von Gerichten als „nicht erheblich“ (Bugsmüller 2012, S. 5) eingestuft. Heutzutage ist die Frage, ob Betroffene ober- oder unterhalb der Kleidung sowie an primären oder sekundären Geschlechtsmerkmalen berührt wurden, nicht mehr das entscheidende Kriterium. Es kommt vor allem darauf an, ob die ausgeführte Handlung, objektiv betrachtet, „eindeutig sexualbezogen“ (vgl. ebd. S. 5) ist. Eine kurze Berührung der Brust oder das Streicheln der Oberschenkel über der Hose könnte vom Gericht als nicht erheblich angesehen werden. Das Berühren im Intimbereich oder „bei- schlafähnliche Bewegungen bei einem Kind“ (ebd. S. 5) sind von einem/einer Richter*in als „erheblich“ (ebd. S. 5) einzustufen. Dabei geht es nicht darum, dem Be- schuldigten eine sexuelle Motivation oder Erregung nachzuweisen. Allein die Ausfüh- rung einer objektiv sexualbezogenen Handlung ist bereits strafbar (vgl. Bugsmüller 2012, S. 5).

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Zusammenfassend könnte festgehalten werden, dass sehr kurze, flüchtige Berührun- gen oftmals nicht strafbar sind. Aus diesem Grund ist es sehr wichtig, dass Betroffene die einzelnen Berührungen bzw. Handlungen in ihrer Art, Intensität und Dauer so klar und detailliert wie möglich schildern können. Das Alter der Betroffenen spielt dabei eine wichtige Rolle: Eine erwachsene Frau, die auf einer Feier, auf der Alkohol konsumiert wird, von einem Bekannten an der Brust berührt wird, müsste dies noch als Grenzver- letzung und als nicht-strafbare Handlung hinnehmen. Für ein Kind würde das nicht gel- ten, da hierbei die Schwelle für strafbare Handlungen sehr niedrig angesetzt wird. Eine Berührung einer 9-Jährigen zwischen den Beinen, wäre demnach nach § 184g StGB strafbar. Dabei würde es keine Rolle spielen, ob das Mädchen ober- oder unterhalb der Hose berührt wurde (vgl. ebd., S. 5f.).

Im Nachfolgenden sollen die Straftatbestände gegen die sexuelle Selbstbestimmung nochmal ausführlicher dargestellt werden.

2.4.1 Sexueller Missbrauch von Kindern (§ 176 StGB)

Im Strafrecht gelten folgende Definitionen für Kinder und Jugendliche: „Kind sind alle Personen bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres. Um 24.00 Uhr am Tag vor dem 14.

Geburtstag vollendet das Kind sein 14. Lebensjahr“. Des Weiteren heißt es: „Jugendli- che sind alle 14-jährigen bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres.“ (§ 1 BGB, § 187 Abs. 2 und § 188 Abs. 2 BGB i. V. m. § 176 StGB). Im Jugendstrafrecht (JGG) wird zu- sätzlich der Begriff der Heranwachsenden verwendet. Damit sind alle 18- bis 21-jähri- gen gemeint.

Insgesamt gibt es im Sexualstrafrecht drei verschiedene Schutzaltersgrenzen: unter 14 Jahre, unter 16 Jahre und unter 18 Jahre (vgl. Bugsmüller 2012, S. 7). Die Schutzal- tersgrenze bei unter 14-jährigen wird durch § 176 StGB bestimmt. Der „sexualbezoge- ne Umgang mit Kindern“ (§ 176 StGB) wird dabei als strafbare Handlung definiert. Das geschützte Gut ist hierbei die „unbeeinträchtigte Entwicklung sexueller Selbstbestim- mungsfähigkeit“ (§ 176 StGB). Wenn Beschuldigte erklären, dass das Kind eingewilligt hätte, ist dies ohne Ausnahme unwirksam, da Kinder rechtlich nicht einwilligen können.

Auch Hands-Off-Taten werden von diesem Paragraphen erfasst (vgl. § 176 Abs. 4 Nr. 1 und 2 StGB). Strafbar macht sich jeder, der sexuelle Handlungen vor einem Kind an sich selbst oder an einer weiteren Person ausführt. Dabei muss das Kind zwar in der

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Lage sein, die Handlungen zu bemerken, aber es bedarf keines weiteren subjektiven Merkmals, z. B. muss das Kind den Vorgang nicht als sexuelle Handlung einordnen können. Die körperliche Entfernung spielt ebenso keine Rolle mehr. Wenn ein Kind am Laptop bei sich zu Hause die zeitgleich übermittelten Videos des räumlich weit entfern- ten Täters verfolgt, begeht der Täter ebenfalls eine strafbare Handlung (§ 176 Abs. 4 Nr. 1. StGB). Mit den Gesetzesänderungen der letzten Jahre sollte versucht werden, jede mögliche Tathandlung rechtlich abzudecken (vgl Bugsmüller 2012, S. 7f.).

2.4.2 Schwerer sexueller Missbrauch von Kindern (§ 176a StGB)

Am 27.12.2003 trat das Sexualdelikts-Änderungsgesetz in Kraft. Der neu gefasste

§ 176a StGB regelt den schweren sexuellen Missbrauch bei Kindern. Während im Grundtatbestand des sexuellen Missbrauchs (§ 176 StGB) Freiheitsstrafen mit einer Dauer von mindestens drei Monaten angedroht werden, sind in den einzelnen Absät- zen Mindeststrafen von einem bzw. zwei Jahren für sogenannte „Wiederholungstäter“

vorgesehen. Nur eine einfache Geldstrafe zu verhängen, wie es in den 1990er Jahren üblich war, wäre heute nicht mehr möglich, da es sich bei sexuellem Kindesmissbrauch um einen „Verbrechenstatbestand“ handelt (vgl. § 176 Abs. 1 StGB).

Problematisch bei dem Tatbestand des schweren sexuellen Missbrauchs ist, dass die Betroffenen sexuelle Handlungen genauestens beschreiben müssen, da der „schwere Missbrauch“ sonst im Zuge eines Revisionsverfahrens in einen „einfachen Missbrauch“

umgewandelt werden kann (vgl. Bugsmüller 2012, S. 9).

Eine härtere Strafe für den Täter kann erwartet werden, wenn die durchgeführten Handlungen das Kind „in die Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung oder ei- ner erheblichen Schädigung der körperlichen oder seelischen Entwicklung bringt“

(§ 176a Abs. 2 Nr. 3 StGB). Um das nachweisen zu können, benötigt es professionel- len Sachverstand in Form von Kinder- und Jugendpsychiater*innen. Dabei muss eine

„deutliche Abweichung von der (voraussichtlichen) Normalentwicklung“ (ebd.) erkenn- bar sein. Von einer erheblichen Schädigung der seelischen Entwicklung kann man sprechen, wenn der seelische und/oder geistige Reifungsprozess (nachhaltig) gestört wird. Dies kann sich in Form von schweren Beeinträchtigungen in psychischen, ethi- schen und sozialen Identitätsfindungen äußern. Darunter fallen z. B. die Verwahrlo-

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sung, Störungen der sozialen Fähigkeiten, des Sozialverhaltens und der schulischen bzw. beruflichen Leistungsfähigkeit (vgl. Bugsmüller 2012, S. 9f.).

Der sexuelle Missbrauch von Jugendlichen, Schutzbefohlenen und Widerstandsunfähi- gen ist in den §§ 177 bis 182 StGB geregelt. Darauf soll an dieser Stelle aber nicht wei- ter eingegangen werden.

2.4.3 Sexuelle Nötigung; Vergewaltigung (§ 177 StGB)

Es gibt nur wenige Straftatbestände, bei denen der allgemeine Sprachgebrauch von Mandant*innen so weit von der juristischen Definition entfernt ist, wie bei einer Verge- waltigung. Wenn Mädchen oder Frauen berichten, vergewaltigt worden zu sein, meinen sie oftmals, dass eine sexuelle Handlung gegen ihren Willen vorgenommen wurde.

Nach der aktuellen Rechtsprechung zählt eine verbale Einwirkung nicht zu der Form von Gewalt, die für den Straftatbestand der Vergewaltigung vonnöten wäre: „Im rechtli- chen Sinne ist der Straftatbestand der Vergewaltigung gemäß § 177 Abs. 2 StGB nur dann erfüllt, wenn das männliche Glied gegen den Willen des Opfers und mit Gewalt in die Scheide bzw. den Anus eingeführt wird“ (vgl. Bugsmüller 2012, S. 21). Die Verge- waltigung ist somit eine besonders schwerwiegende Form der Nötigung, bei der Betrof- fene unter Zwang stehen (vgl. § 177 Abs. 2 StGB). Die „Kraftentfaltung“ (Bugsmüller 2012, S. 21) gegenüber Betroffenen ist besonders wichtig, da sonst der Tatbestand ei- ner Vergewaltigung nicht erfüllt ist.

In den 1990er Jahren gab es mehrere Reformen des Sexualstrafrechts, die zur Folge hatten, dass geschlechtsneutral von einer Person gesprochen wurde, d. h. dass auch vergewaltigte Männer den Täter anzeigen konnten und somit eine Verurteilung möglich wurde. Vorher wurde von einer Frau ausgegangen, die außerhalb der Ehe von einem Fremdtäter vergewaltigt wurde (vgl. ebd., S. 21).

Viele Verfahren mit dem Tatbestand der Vergewaltigung werden von der Staatsanwalt- schaft eingestellt, weil der/die Betroffene nicht in der Lage ist, die Handlungen zu schil- dern bzw. auch nicht gewillt ist, dies zu tun. Je ausführlicher die Titulierung der durch- geführten sexuellen Handlungen, desto wahrscheinlicher ist eine Verurteilung. Bei- spielsweise können die Beschreibungen: „kraftvolle[s] Auseinanderdrücken der Ober- schenkel“ oder die Aussage zum „Druck mit dem der Täter den Kopf des Opfers gegen

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seinen Penis führt“ (Bugsmüller 2012, S. 22) sowie die darauf folgenden Reaktionen der Betroffenen über die angewandte Gewalteinwirkung Aufschluss geben.

Oft beschreiben Betroffene nach der Trennung vom Partner, dass sie während der Be- ziehung mehrfach sexuell missbraucht wurden. Im Strafgesetzbuch gibt es keinen (!) Tatbestand, der den sexuellen Missbrauch unter „erwachsenen Beziehungspartnern“

(Bugsmüller 2012, S. 22) regelt.

Zusätzlich zur Gewaltanwendung gibt es eine weitere Form der Nötigung: Betroffene können auch dadurch genötigt werden, dass der Täter ihnen mit einer gegenwärtigen Gefahr für Leib und Leben droht. Dabei kommt es nicht darauf an, ob eine Drohung verbal ausgesprochen wird. Auch schlüssige non-verbale Signale, u. a. das Zeigen auf eine Waffe, zählen zum Tatbestand der Nötigung. Des Weiteren gilt es auch als Nöti- gung, wenn der Täter droht, nahen Angehörigen, z. B. den Kindern Betroffener, etwas anzutun (vgl. ebd., S. 23).

Im Jahr 1998 trat das 6. Strafrechtsreformgesetz in Kraft, welches als sehr fortschritt- lich angesehen wurde. Inhaltlich wurde geändert, dass der Täter „eine schutzlose Lage des Opfers ausgenutzt haben muss“ (§ 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB). Wenn Betroffene aus Angst vor körperlicher Gewalt des Täters auf Widerstand verzichten, weil sie ihre Lage und den möglichen Widerstand ihrerseits für aussichtslos halten, dann ist der Straftat- bestand trotzdem erfüllt. Schwierig nachzuweisen ist allerdings, dass der Täter genau diese Lage ausgenutzt hat (vgl. Bugsmüller 2012, S. 23).

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