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Archiv "Lissabon: Ein Spaziergang mit allen Sinnen" (09.04.2010)

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Deutsches Ärzteblatt

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Jg. 107

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Heft 14

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9. April 2010 A 665

K U L T U R

LISSABON

Ein Spaziergang mit allen Sinnen

Sich in die Welt der Nichtsehenden einfühlen: An der Seite des blinden Carlos Silveira ertasten Touristen mit verbundenen Augen dessen Stadt.

E

s riecht irgendwie nach Obst.

Oder ist es Gemüse? Oder eine Mischung von beidem? Mal scheint es ein frisch-säuerlicher Duft zu sein, dann geht es eher in Richtung Zwiebeln. Jemand tippt auf Pampel- musen mit Knoblauch. Wir schnup- pern und schnuppern. Nein, es ist nicht wirklich auszumachen. Wir stehen in einer kleinen Gasse Lissa- bons, offenbar vor einer Hausfassa- de, denn wir sind von der mit Kopf- steinen gepflasterten Straße über ei- nen Bordstein auf den Gehweg ge- leitet worden. Die groben Pflaster- steine haben wir durch die Schuh- sohlen gespürt. Wir sehen nichts, haben vor den Augen eine schwarze Maske, durch die nicht einmal der Schimmer von Tageslicht dringt.

„Versucht mal, herauszufinden, was hier verkauft wird. Ihr dürft alles an- fassen“, sagt Rita Gonzalez, die uns begleitet, besser gesagt leitet.

Wir sind auf einem Spaziergang durch die Altstadt von Lissabon, den uns der Concierge des Lapa Pa- lace Hotels empfohlen hatte. Er er- zählte uns von einer Initiative, die Blinde gemeinsam mit Sehenden ins Leben gerufen haben und orga- nisierte das Treffen mit dem 45-jäh- rigen Carlos Silveira, der mit zwölf Jahren sein Augenlicht verlor. Je zwei „Blinde“ aus unserer Gruppe

haken sich leicht bei einer sehenden Begleitperson ein. Diese achtet dar - auf, dass wir nicht über Bordstein- kanten stolpern, nicht fehltreten bei einer Bodenunebenheit, sie leitet uns um Pfützen oder Hundehaufen herum. „Jetzt führt eine Treppe ab- wärts.“ Aha. Die Füße erkunden die unterschiedliche Höhe der Stufen.

Die Treppe wird schmaler. Wir können uns leicht zu beiden Seiten an Hauswänden entlangtasten. Der Putz ist rau. Mit den Augen hätten wir das nicht wahrgenommen.

Und nun knien wir vor den Aus- lagen eines Obst- und Gemüsege- schäfts. Unsere Hände gleiten über Kisten. Der Duft von Apfelsinen wird stärker. Was ich mit den Hän- den begreife, ist relativ groß, fast rund, hat eine ziemlich glatte, nur leicht genoppte Schale. Ich begrei- fe, dass es eine Pampelmuse ist. Als

„Sehende“ hätte ich es mit einem Blick erkannt. Doch nun muss ich auf Merkmale achten und kom - binieren. Jemand schiebt etwas her über. Es ist ein Karton mit Zwiebeln – oder Knoblauch? Nein, Knoblauch ist am Relief der Zehen zu erkennen – und am Geruch.

Mit viel Humor erzählt Carlos, wie er sich durch konzentriertes Hören und Einordnen jedes Geräu-

sches, durch spezielle Düfte und auch Gefühl für Enge oder Weite orientiert. Er lebt allein, kauft ein und kocht. Und jetzt mache es ihm viel Spaß, Fremde in seinem Viertel zu führen und deren Sinne auf an- dere Wahrnehmungen als mit dem Auge zu lenken. Er schweigt. Ist er noch da? Wir hören Schritte. Alle Sinne sind angespannt. Weiter vorn spielt jemand Gitarre. Es ist Carlos, der vorausgeeilt war, um uns zu überraschen. Um die Ecke riecht es nach Fisch. Ganz klar, ein Fischge- schäft. Falsch. Eine alte Frau sitzt vor ihrem Haus und pult Krabben.

Über mir knattert es. Was ist das?

„Vor den Fenstern trocknet Wä- sche.“ Als wir nach knapp zwei Stunden die Masken abnehmen, blinzeln wir ins Sonnenlicht. Wir gehen nun noch einmal sehenden Auges die Wege von eben, die enge Treppe, vorbei am Obstgeschäft, an der Frau, die Krabben pult und über der die Wäsche hängt. Ganz stark müssen wir uns jetzt konzentrieren, das zuvor mit den anderen Sinnen erhaltene „Bild“ zu übertragen. Ei- gentlich haben wir mit der Maske vor den Augen viel intensiver „ge- sehen“ als jetzt, wenn das Auge über das meiste hinweghuscht. ■

Renate V. Scheiper Mit anderen

Sinnen sehen:

Je zwei „Blinde“

haken sich bei einem Begleiter ein, damit sie nicht

fehltreten. Fotos: Renate V. Scheiper

Tasten und riechen müssen die Spaziergänger, um die verschiede- nen Obstsorten zu erkennen.

Informationen über das Projekt „Blindfoldet Walks“ im Internet un- ter: www.cabracega.org, www.lisbonwalker.com.

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