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Sym pathie&Anti pathie erziehungs kunst

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erziehungskunst

12 | 2011 Dezember | 4,90 €

Waldorfpädagogik heute

Sympathie & Antipathie

Ein Licht in der Nacht Die stillen Revolutionäre

Auch Erstklässler können Briefe schreiben

U1_U2_U3_U4_EK_12_2011:EZK Cover 15.11.2011 11:28 Uhr Seite 1

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C.-P. Röh: Das Urteil unter der Grasnarbe 5 Rudolf Steiner über Sympathie und Antipathie 8 K.-M. Dietz: In einer Wolke von Vorurteilen 12 O. Koob: Die Sinnesorgane der Seele 16

M. Kiel-Hinrichsen: Sympathie und Antipathie in der Erziehung 20

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G. Stibill: Die Lichtspirale 26

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B. Kettel: Auch Erstklässler können Briefe schreiben 29 H. Scholz: Das Eichhörnchen- und Waldsaatprojekt 30

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S. Saar: Ein Licht in derNacht.

Der Erziehungskunst-Pionier Uwe Jacquet 32

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C. Unger-Leistner: Steiner im Indianer-Reservat.

Im Gespräch mit Isabel Stadnick 35

C. Aerts: Asiatische Waldorftagung in Hyderabad 38 A. Ludwig-Huber: Wenn Helfer Hilfe erhalten 40

C. Hagemann: Die Waldorfstiftung feiert ihren 10. Geburtstag 43

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K. Daubek: WooDoo. Arbeitslose finnische Jugendliche finden Anschluss 44 L. Bläsi: Die stillen Revolutionäre 46

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R. Neumann: Ständig vernetzt? 50

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L. Ravagli: Die sanfte Revolution 54

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erziehungskunst Dezember|2011

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INHALT

Titelfoto:iStock/©selimaksan

U1_U2_U3_U4_EK_12_2011:EZK Cover 15.11.2011 11:28 Uhr Seite 2

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Sympathie und Antipathie sind die mächtigsten Antriebe unserer Seele – ursprüngliche Gefühls- instinkte. Im Extremfall werfen sie alles über Bord, lassen unsere Handlungen entgleisen und kosten unseren Verstand. Man ist hin und weg von einem Menschen oder man kann jemanden einfach nicht riechen. Kein Mensch ist vor diesen Elementargewalten gefeit, packen sie ihn nur kräftig am Wickel.

Denn die Ursachen von Sympathie und Antipathie, von Blindheit geschlagenem Verlangen bis ab- grundtiefem Ekel wurzeln in den Tiefen unserer Seele, die uns oft verborgen und selbst ein Geheimnis sind. Nicht selten liegt einer neutral und besonnen, ja einer wissenschaftlich und objektiv sich geben- den Haltung ein feines Grundgefühl der Zuneigung oder Ablehnung gegenüber einer Sache oder einem Menschen zugrunde – nur sind wir uns dessen nicht bewusst.

An sich sind diese Seelengewalten nicht gut, nicht schlecht; sie sind einfache Wahrnehmungsorgane un- serer Innenwelt. Was sagen sie uns? – Wie reagiert ein erwachsener Mensch auf seine inneren

»Signale«? Sie nicht zu unterdrücken oder zu ignorieren, sondern sie anzuerkennen, ihnen handelnd eine »richtige« Richtung zu geben, darauf kommt es an. Daran erweist sich der Grad moralischer Reife und die Fähigkeit zur Selbsterkenntnis.

Beim kleinen Kind liegt nach Rudolf Steiner die Sache überraschend anders. In seiner pädagogischen Grundschrift »Die Erziehung des Kindes« führt er aus, wie das Begehren, die Freude und Lust diejenigen seelischen Kräfte sind, die es physisch gesund entwickeln lassen bis in die Ausformung seiner inneren Organe hinein. Der Erzieher würde sich versündigen, diesem ursprünglichen Instinkt des Kindes nicht zu folgen. Steiner meint damit nicht, dass jeder tyrannisierenden Verlangensäußerung – zum Beispiel nach Süßigkeiten – entsprochen werden soll, sondern dass der Erwachsene sich einen Blick für die subtilen Vorlieben des Kindes bei der Ernährung aneignen soll.

Eine weitere Dimension eröffnet Steiner in Bezug auf die Quellen von Sympathie und Antipathie. In dem pädagogischen Grundwerk »Allgemeine Menschenkunde« stellt er diese beiden Grundkräfte der menschlichen Seele in einen Zusammenhang unserer geistigen Existenz. Wir könnten als Erden- menschen nur erkennen, erinnern, vorstellen und Begriffe bilden, wenn wir in eine Art antipathischer Grundhaltung gegenüber der geistigen Welt träten. Und diese Kraft komme aus der Vergangenheit, aus unserem vorgeburtlichen Leben. In unserem (unbewussten) Willensleben verbänden wir uns hingegen in Sympathie mit dem, was unsere Taten keimhaft veranlagten, das – aus geistiger Perspektive betrachtet – noch in der Zukunft, im Nachtodlichen liege. Und diese Sympathie zeige sich im Leben als Phantasie und Imaginationsfähigkeit.

Der Mensch »atmet« seelisch in Sympathie und Antipathie; beide Kräfte konstituieren in andauerndem leisen, manchmal auch lauten Wechsel seine Gefühlswelt.

Wir erfassen nichts vom menschlichen Wesen und der menschlichen Gemeinschaft, wenn diese Seelen- mächte im pädagogischen und sozialen Leben nicht berücksichtigt werden. – Begreifen und gestalten wir oder lassen wir uns treiben?

‹›

Aus der Redaktion grüßt

Mathias Maurer

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EDITORIAL

Treibsätze

Liebe Leserin, lieber Leser!

03_04_EK12_2011:EZK 14.11.2011 19:21 Uhr Seite 3

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Die Sympathie ist das Vermögen, an den Gefühlen der lebendigen Wesen teilzunehmen. Wir werden, wenn wir sie zerstören, hart und grausam. «

John Ruskin (1819 – 1900), Künstler und Sozialphilosoph

Foto:CharlotteFischer

»

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in meinem Urteil noch einmal bestätigt und der Keim unter der Grasnarbe begann sich zu entfalten.

Eine denkwürdige Monatsfeier

Wenige Tage später strömten alle Klassen freudig über den Hof zum großen Saal. Bald hatten sich die Reihen bis zur Oberstufe hin gefüllt und ich hörte einen Jungen der Dritten sagen: »Wie gut, dass die Vierte nicht gerade hinter uns sitzt!« Sein Nachbar stimmte ihm zu und im Stillen war auch ich froh, jenes Pausenstreitfeld jetzt nicht um uns zu haben. Das Orchester stimmte an und die Feier nahm ihren Lauf. Auch die 4. Klasse betrat schließlich die Bühne: Mit kleinen Versen und Szenen zum Erntedankfest wanderte sie durch das vergangene reiche Jahr.

Ich blickte auf die Gesichter der Drittklässler. Auch wir wür- den im kommenden Frühjahr pflügen und säen: Teils waren sie aufgeschlossen, voll kindlicher Neugier und Sympathie.

Teils waren sie aber auch deutlich abwartend, sogar ver- schlossen. Die Antipathie gegen »diese Vierte« überwog.

Zwischen den Spielszenen der kostümierten Viertklässler spielte eine Gruppe der Klasse seitlich von der Bühne ein schwungvolles Erntelied als Übergang. Gerade trat ein Musi- kant mit seiner Geige vor, strich kräftig den Ton an … und da geschah es: Mit einem kleinen Knacks löste sich ein Wirbel und das Instrument verstummte. Schon ließ der Spieler sichtlich erschrocken seine Arme sinken, da reichte ein im Hintergrund stehender Zimmermann ihm seine Geige hin

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THEMA SYMPATHIE & ANTIPATHIE

Ein »problematischer« Junge

Es fanden Gespräche statt, trotzdem hielten die Klagen der Klasse an. Unmerklich wurde aus den einzelnen Vorfällen ein Bild, dass sich festsetzte: »Ja, ja, die Vierte!« Als sich dann noch ein Schüler der Dritten beim nächsten Streit mit einem Viertklässler verletzte, wurden die Urteile deutlich schärfer: Die Aversion gegen jene Klasse drohte auszuufern.

Vor allem aber wurde der am Streit beteiligte Viertklässler als »der Schlimmste von allen« wiederholt zornig angeklagt.

Als mich schließlich auch noch Eltern meiner Klasse auf das

»Verhalten dieses Jungen« ansprachen, reagierte ich zwar mit wohlmeinenden Erklärungen über die Umbrüche in der Zeit des »Rubikon« und von der Notwendigkeit, mit jedem einzelnen Kind Geduld zu haben. Innerlich aber, unter der Grasnarbe des Alltags, begann ich jedoch selbst, mich über die Rauhbeinigkeit dieses Jungen zu ärgern. Als kurz da- nach in der Pause ein Handwagen des Hausmeisters um- kippte und jener sogleich auf die vierte Klasse schimpfte, hörte ich eben diesen Jungen solch ausfallende Worte auf den guten Mann schleudern, dass ich die Urteile meiner Drittklässler bestätigt sah und dachte: »Es stimmt, er ist maßlos unverschämt und wie Sprengstoff für die Gemein- schaft.« Kurz darauf begegnete ich der Lehrerin der Vierten und schilderte ihr das Erlebte. Sie sagte: »Ja, wir sollten ein- mal ausführlicher über ihn sprechen. Aber ich schaffe das erst nach der Monatsfeier. Du bist auch nicht der Erste, der mich auf ihn anspricht.« Durch ihre Worte fühlte ich mich

Es geschah in den Gründungsjahren unserer Schule. Wiederholt klagte die 3. Klasse über das Verhalten der Viertklässler: »Sie neh- men uns den Ball weg! – Sie stören uns beim Balancieren! – Sie suchen immer Streit!« Als Klassenlehrer versuchte ich, zunächst zu beruhigen: »Ich werde mit der 4. Klasse und mit ihrer Lehrerin sprechen. Ich mag die Schüler der Vierten und ihr werdet sehen, dass es sich bald ändern wird.« Viele Schüler stimmten spontan – vielleicht eher mir zuliebe – zu, einige reagierten verstimmt oder brachten ihren Unmut zum Ausdruck: »Niemals werden die sich ändern!«

Das Urteil unter der Grasnarbe

Ein Blick von der Zukunft her löst Vorurteile auf

von Claus-Peter Röh

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THEMA SYMPATHIE & ANTIPATHIE

erziehungskunst Dezember|2011

als Ersatz. Doch er schüttelte entschieden den Kopf und be- deutete jenem, nun nach vorne zu treten. Der Zimmermann zögerte. Und erst, als er einen verlegenen Schritt weiter ins Licht machte, die Geige ansetzte und vor dem schweigend gebannten Saal den Ton des Liedes anstimmte, war er zu er- kennen. – Die Schüler der Dritten, ebenso wie ihr Lehrer, waren nicht nur verblüfft, – sie staunten mit offenen Mün- dern und konnten es einfach nicht fassen: »Der Schlimmste von allen« stand da vorne und spielte das Erntelied! Als der Saal den Zimmermann und die Begleiter mit einem spon- tanen Applaus belohnte, stimmten wir alle kräftig ein.

Diese Monatsfeier veränderte eine Welt. Mit jedem Geigen- ton des Zimmermanns begann sich das alte Bild vom

»Sprengstoff« zu entschärfen. Alles vorher Erlebte bis hin zu unserem festen Urteil stand nun wie unter einem ande- ren Stern. Es gab durchaus weitere Auseinandersetzungen und Rivalitäten zwischen den beiden Klassen auf dem Hof.

Aber im ehrlichen Umgang damit herrschte nun ein ande- rer Ton gegenüber jenem Jungen. Fiel sein Name in einem Gespräch der 3. Klasse, so war der »Zimmermann« noch über Wochen in der Erinnerung der Kinder anwesend: Das hatte zur Folge, dass die Ereignisse und sein Dazutun ge- schildert wurden, aber keine übertreibenden Schuldzu- weisungen mehr erfolgten. Es schien, als hätten auch wir Kollegen (erst) mit dieser Monatsfeier erkannt, was eigent-

lich in ihm werden wollte. Der Impuls zur Lösung und Wandlung kam sozusagen aus der Zukunft. Diese Atmo- sphäre der fragenden Verwunderung und Achtung wurde von dem Jungen selbst wiederum deutlich wahrgenommen:

Bevor sich eine Situation wirklich zuspitzte, schien es ihm nun leichter möglich, aus neuem innerem Vertrauen einer anderen, weniger brenzligen Lösung zuzustimmen.

Im Sog von Sympathie und Antipathie

In der Nachbesinnung auf jene Erlebnisse stellte sich die drängende Frage, wie sich überhaupt jenes allzufrühe, all- zufeste erste Urteil hatte bilden können. Sicherlich waren die empörten Schülerbeschwerden mit zu großer Grund- sympathie zur »eigenen« Klasse in meine Urteilsbildung eingeflossen. Doch es stellte sich der schmerzliche Gedanke ein, dass die einseitig antipathische, im Grunde kollektive Verurteilung des Jungen ihn in Wahrheit in eine Ecke ge- trieben hatte, die ihm kaum eine Chance mehr zur Wand- lung ließ.

Sympathie und Antipathie stehen sich als polare Kräftefelder im Seelischen gegenüber. Sie umfassen unzählige Nuancen zwischen dem Erleben von vollkommener sympathischer Hingabe und vollkommener antipathischer Distanz. Offen- sichtlich braucht die Entwicklung eines gesunden, für die

Foto: Charlotte Fischer

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THEMA SYMPATHIE & ANTIPATHIE

Zukunft tragenden Urteils eine Ausgewogenheit von sym- pathischem und antipathischem Erleben. Vom Standpunkt einer selbsterrungenen, bewussten Ausgewogenheit können sympathische oder antipathische Erlebnisse wichtige Bau- steine der Wahrnehmung sein. Ein klares, reifes Urteil kann aber erst im Abwägen mehrerer Wahrnehmungen beider Pole entstehen. Je vielseitiger die Wahrnehmung ist, desto weiter kann das abwägende Urteil sich der Wahrheit nähern.

Es braucht »prophetische Gabe«

Noch über lange Zeit klang die Frage nach, wie jenes äu- ßerlich kurze Erlebnis so Vieles hatte verändern können.

Der kurze, aber um so nachhaltiger wirkende Blick aus der Perspektive der Zukunft hatte das Bild eines jungen Men- schen in ein neues Licht gerückt. Das Vermögen, durch das äußere Verhalten hindurch auf die von innen impulsie- rende Kraft im heranwachsenden Menschen zu blicken, be- schrieb Rudolf Steiner schon in einem Vortrag in Dornach, am 8. Oktober 1917, zwei Jahre vor der Gründung der ersten Waldorfschule, als entscheidende Fähigkeit des Lehrers:

»Das Kind ist vielfach heute schon etwas ganz anderes, als es äußerlich zum Ausdruck bringt. Man hat sogar schon ex- treme Fälle. Kinder können äußerlich aussehen wie die un- gezogensten Rangen, und in ihnen kann ein so guter Kern

stecken, dass sie die wert-

vollsten Menschen später werden, während

man zahlreiche brave Kinder finden kann (...), die aber halt keine ›brauchbaren‹ Menschen werden. Das aber bedingt, dass man zukünftig die Pädagogen, die Erzieher nicht so bestimmt, wie man sie jetzt bestimmt, sondern nach ganz anderen Grundsätzen. Denn das Hineinsehen in ein Inne- res, das sich nicht im Äußeren ausdrückt, erfordert ja etwas prophetische Gabe.«

Offenbar gibt es Augenblicke im Erleben des Heranwach- senden, in denen jene innerste Triebfeder der Individuali- tät durch die Oberfläche hindurch wahrnehmbar wird.

Allerdings eröffnen sich solche in die Zukunft weisenden Ausblicke nicht am Schreibtisch, sondern mitten im Ge- schehen, während der Begegnung. Gelingt es uns, solche unmittelbaren, ureigenen Resonanzerlebnisse wahrzuneh- men, haben wir als Erzieher eine Möglichkeit, unsere Bilder und Urteile zu erfrischen und zu erneuern – auch jene, die sich unbewusst unter der Grasnarbe des Alltags verfestigt haben.

‹›

Zum Autor:

Claus-Peter Röh war 28 Jahre Klassen-, Musik- und Religionslehrer an der Freien Waldorfschule Flensburg; heute leitet er zusammen mit Florian Osswald die Pädagogische Sektion am Goetheanum in Dornach.

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Rudolf Steiner äußerte sich verschiedent- lich über »Sympathie und Antipathie«

als Grundkräfte der menschlichen Seele.

Im Jahr 1919 findet sich im zweiten Vortrag zur »Allgemeinen Menschen- kunde« vor den ersten Lehrern der Stuttgarter Waldorfschule folgende Darstellung über Sympathie und Anti- pathie, in dem er sie in einen geistigen Zusammenhang der vorgeburtlichen und nachtodlichen Existenz stellt.

Rudolf Steiner über

Sympathie und

Antipathie

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THEMA SYMPATHIE & ANTIPATHIE

»Wir werden […], weil wir nicht mehr in der geistigen Welt bleiben können, herunterversetzt in die physische Welt.

Wir entwickeln, indem wir in diese herunterversetzt wer- den, gegen alles, was geistig ist, Antipathie, so dass wir die geistige vorgeburtliche Realität zurückstrahlen in einer uns unbewußten Antipathie. Wir tragen die Kraft der Antipathie in uns und verwandeln durch sie das vorgeburtliche Ele- ment in ein bloßes Vorstellungsbild. Und mit demjenigen, was als Willensrealität nach dem Tode hinausstrahlt zu un- serem Dasein, verbinden wir uns in Sympathie. Dieser zwei, der Sympathie und der Antipathie, werden wir uns nicht un- mittelbar bewußt, aber sie leben in uns unbewußt und sie bedeuten unser Fühlen, das fortwährend aus einem Rhyth- mus, aus einem Wechselspiel zwischen Sympathie und An- tipathie sich zusammensetzt.

Wir entwickeln in uns die Gefühlswelt, die ein fortwähren- des Wechselspiel – Systole, Diastole – zwischen Sympathie und Antipathie ist. Dieses Wechselspiel ist fortwährend in uns. Die Antipathie, die nach der einen Seite geht, verwan- delt fortwährend unser Seelenleben in ein vorstellendes; die Sympathie, die nach der anderen Seite geht, verwandelt uns das Seelenleben in das, was wir als unseren Tatwillen ken- nen, in das Keimhafthalten dessen, was nach dem Tode geis- tige Realität ist. Hier kommen Sie zum realen Verstehen des geistig-seelischen Lebens: wir schaffen den Keim des seeli- schen Lebens als einen Rhythmus von Sympathie und An- tipathie.

Was strahlen Sie nun in der Antipathie zurück? Sie strahlen das ganze Leben, das Sie durchlebt, die ganze Welt, die Sie vor der Geburt beziehungsweise vor der Empfängnis durch- lebt haben, zurück. Das hat im wesentlichen einen erken- nenden Charakter. Also Ihre Erkenntnis verdanken Sie eigentlich dem Hereinscheinen, dem Hereinstrahlen Ihres vorgeburtlichen Lebens. Und dieses Erkennen, das in weit

höherem Maße […] als Realität vorhanden ist vor der Geburt oder der Empfängnis, wird abgeschwächt zum Bilde durch die Antipathie. Daher können wir sagen: Dieses Erkennen begegnet der Antipathie und wird dadurch abgeschwächt zum Vorstellungsbild.

Wenn die Antipathie nun genügend stark wird, dann tritt etwas ganz Besonderes ein. Denn wir könnten auch im ge- wöhnlichen Leben nach der Geburt nicht vorstellen, wenn wir es nicht doch auch mit derselben Kraft in gewissem Sinn täten, die uns geblieben ist aus der Zeit vor der Geburt.

Wenn Sie heute als physische Menschen vorstellen, so stel- len Sie nicht mit einer Kraft vor, die in Ihnen ist, sondern mit der Kraft aus der Zeit vor der Geburt, die noch in Ihnen nachwirkt. Man meint vielleicht, die habe aufgehört mit der Empfängnis, aber sie ist noch immer tätig, und wir stellen vor mit dieser Kraft, die noch immer in uns hereinstrahlt.

Sie haben das Lebendige vom Vorgeburtlichen fortwährend in sich, nur haben Sie die Kraft in sich, es zurückzustrahlen.

Die begegnet Ihrer Antipathie. Wenn Sie nun jetzt vorstel- len, so begegnet jedes solche Vorstellen der Antipathie, und wird die Antipathie genügend stark, so entsteht das Erinne- rungsbild, das Gedächtnis, so dass das Gedächtnis nichts an- deres ist als ein Ergebnis der in uns waltenden Antipathie.

Hier haben Sie den Zusammenhang zwischen dem rein Ge- fühlsmäßigen, noch der Antipathie, die unbestimmt noch zurückstrahlt, und dem bestimmten Zurückstrahlen, dem Zurückstrahlen der jetzt noch bildhaft ausgeübten Wahr- nehmungstätigkeit im Gedächtnis. Das Gedächtnis ist nur gesteigerte Antipathie. Sie könnten kein Gedächtnis haben, wenn Sie zu Ihren Vorstellungen so große Sympathie hät- ten, dass Sie sie »verschlucken« würden; Sie haben Ge- dächtnis nur dadurch, dass Sie eine Art Ekel haben vor den Vorstellungen, sie zurückwerfen – und dadurch sie präsent

machen. Das ist ihre Realität.

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Genau ebenso wie aus der Antipathie

das Gedächtnis

entsteht, so entsteht aus

Sympathie

die Phantasie.

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THEMA SYMPATHIE & ANTIPATHIE

Wenn Sie diese ganze Prozedur durchgemacht haben, wenn Sie bildhaft vorgestellt haben, dies zurückgeworfen haben im Gedächtnis und das Bildhafte festhalten, dann entsteht der Begriff. Auf diese Weise haben Sie die eine Seite der See- lentätigkeit, die Antipathie, die zusammenhängt mit unse- rem vorgeburtlichen Leben.

Jetzt nehmen wir die andere Seite, die des Wollens, was Keimhaftes, Nachtodliches in uns ist. Das Wollen lebt in uns, weil wir mit ihm Sympathie haben, weil wir mit diesem Keim, der nach dem Tode sich erst entwickelt, Sympathie haben. Ebenso wie das Vorstellen auf Antipathie beruht, so beruht das Wollen auf Sympathie. Wird nun die Sympathie genügend stark – wie es bei der Vorstellung war, die durch Antipathie zum Gedächtnis wird –, dann entsteht aus Sym- pathie die Phantasie. Genau ebenso wie aus der Antipathie das Gedächtnis entsteht, so entsteht aus Sympathie die Phantasie. Und bekommen Sie die Phantasie genügend stark, was beim gewöhnlichen Leben nur unbewußt ge- schieht, wird sie so stark, dass sie wieder Ihren ganzen Men- schen durchdringt bis in die Sinne, dann bekommen Sie die gewöhnlichen Imaginationen, durch die Sie die äußeren Dinge vorstellen. Wie der Begriff aus dem Gedächtnis, so geht aus der Phantasie die Imagination hervor, welche die sinnlichen Anschauungen liefert. Die gehen aus dem Willen hervor. […]

Damit habe ich Ihnen das Seelische geschildert. Sie können unmöglich das Menschenwesen erfassen, wenn Sie nicht den Unterschied ergreifen zwischen dem sympathischen und antipathischen Element im Menschen. Diese, das sym- pathische und das antipathische Element, kommen zum Ausdruck an sich – wie ich es geschildert habe – in der See- lenwelt nach dem Tode. Dort herrscht unverhüllt Sympathie und Antipathie.«

‹›

(Aus:Allgemeine Menschenkunde, GA 293, S. 34 f., Dornach 1992)

C h r i s t o p h L i n d e n b e r g

R U D O L F S T E I N E R

E i n e B i o g r a p h i e

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Klaus von Stieglitz, Materialdienst der Ev. Zentralstelle fur Weltanschauungsfragen

Christoph Lindenberg

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THEMA SYMPATHIE & ANTIPATHIE

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Erich Fromm charakterisierte in seinem Buch »Authen- tisch leben« die Verhältnisse,wie er sie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erlebte, folgendermaßen: »Die kon- kreten Beziehungen zwischen den Menschen haben ihren unmittelbaren und humanen Charakter verloren. Stattdes- sen manipuliert man einander und behandelt sich gegen- seitig als Mittel zum Zweck. … Es ist, als ob es sich nicht um Beziehungen zwischen Menschen, sondern um solche zwi- schen Dingen handelte. Am verheerendsten aber wirkt sich dieser Geist der Instrumentalisierung und Entfremdung auf die Beziehung des Menschen zu seinem Selbst aus.«

Und Jeremy Rifkin zitiert in seinem Buch »Die empathische Zivilisation« aus einem Manifest der damaligen »Neuen Linken«, das 1962 erschien: »Einsamkeit, Entfremdung, Isolierung sind Ausdruck der großen Kluft zwischen den Menschen in unserer Zeit. Dieser vorherrschenden Tendenz ist weder mit besserer Personalpolitik noch mit immer voll- kommeneren technischen Errungenschaften beizukom- men, sondern nur, wenn an Stelle der Verherrlichung von Dingen durch den Menschen die Liebe zum Menschen tritt.«

Martin Buber stellt im gleichen Sinne heraus, dass sich die Menschen gegenseitig vorzugsweise als »Es« und nicht als

»Du« behandeln. Max Weber spricht schon vor 90 Jahren von einem »stahlharten Gehäuse«, in dem die standardi- sierten Individuen ihr Dasein fristen, Adorno von einer

»total verwalteten Welt« und einem »Freiluftgefängnis«, Foucault von der Gesellschaft als einem »Kerker-System«.

Die wünschenswerten »Beziehungen zwischen Men- schen«, die »Liebe zum Menschen« und das Verhältnis zum »Du« können weder gefordert noch vereinbart wer- den. Soll davon etwas gelingen, so beruht es auf dem Wil- len der Einzelnen, die dazu notwendigen Fähigkeiten zu entwickeln. In den gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen wir leben, ist jedoch zu bemerken, dass stattdessen mit den Gefühlen der Mitmenschen gespielt wird. So wird versucht, in Wählern und Kunden eine Art »Wohlfühl-At- mosphäre« aufzubauen. Die einschmeichelnde Musik in der Warteschleife des Call-Centers, unterbrochen von einer

»sympathischen« Stimme (»Wir sind gleich für Sie da«), suggeriert Hinwendung zum Anrufer, verbrämt aber nur die knallharte Effektivität, mit der ein Call-Center organi- siert ist. Hinter der vorgespielten seelischen Wärme steht allzu oft nichts als kalte Instrumentalisierung.

Einander als Individualitäten zu nehmen – darum müsste es heute gehen. Die in unserer Gesellschaft offen oder verbor- gen herrschende Antisozialität kommt zu großen Teilen davon her, »dass die Menschen eigentlich ohne Verständnis aneinander vorübergehen und dass sie einander nicht be- greifen«, so Rudolf Steiner in einem Vortrag, den er am 19.

Dezember 1919 in Stuttgart hielt. Wir leben in einer Wolke von Vorurteilen, die soziales Gestalten erschwert. Wir sind aber darauf angewiesen, auch solchen Menschen gegenüber soziales Verständnis zu entwickeln, die wir uns nicht aus- gesucht haben, zum Beispiel gegenüber Kollegen, Kunden oder der Verwandtschaft. Wie kann hier das Interesse für den anderen Menschen gesteigert werden? Wie entsteht hier Vertrauen?

Einsamkeit, Entfremdung und Isolierung sind Merkmale unserer modernen Gesellschaften. Sympathie und Antipathie werden häufig nur benutzt, um Menschen zu manipulieren. Um den anderen verstehen zu können, müssen wir ihm zweckfrei begegnen und die eigenen Maßstäbe zurückstellen.

In einer Wolke von Vorurteilen

von Karl-Martin Dietz

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interessieren. Was kann ich tun, um dieses Interesse zu ver- tiefen? – Ein erster Schritt in diese Richtung wäre, den an- deren wahrzunehmen. Ich versuche, meine Vorurteile zum Schweigen zu bringen und die Maßstäbe loszulassen, mit denen ich andere Menschen zu taxieren pflege. Das ist um so schwieriger (aber auch um so lohnender), je weniger sym- pathisch mir der andere ist. Ich habe es ja ständig mit Leu- ten zu tun, die ich einfach vorfinde. Es ist illusionär, sie sich anders zu wünschen, als sie sind. Gelingt es mir, sie unab- hängig von meiner Sympathie oder Antipathie als Indivi- duen ernst zu nehmen – was denken, fühlen und tun sie? – und zwar gerade dann, wenn ich ihre Ansichten nicht teile?

Normalerweise versuche ich dann, meine eigene, »richtige«

Ansicht zur Geltung zu bringen. Ich kann aber daneben oder stattdessen auch noch etwas anderes tun: Ich kann mich dafür interessieren, was der andere denkt. Habe ich ihn richtig verstanden? Oder höre ich etwas heraus, das er gar nicht meint, weil ich in meinen eigenen Denkmodellen Interesse beginnt damit, die eigenen Vorurteile zum

Schweigen zu bringen

Es wird viel Intelligenz aufgewandt, um Techniken der see- lischen Manipulation zu entwickeln: Wie kann ich den an- deren Menschen für das interessieren, was meinen Interessen dient? Und umgekehrt: Die Sehnsucht nach einer sympathiegetragenen Gemeinschaft ist groß – aber sie wird immer wieder enttäuscht. Sie ist nicht tragfähig. Hier ist eine Umkehr des »Interesses« gefordert: Nicht Auf- merksamkeit auf die eigene Person beim anderen wecken wollen, sondern bei sich selbst Interesse wecken für andere Menschen. Wann und warum habe ich mich zuletzt für einen anderen Menschen interessiert? Vielleicht deshalb, weil er mir sympathisch war oder weil ich hoffte, er werde mir nützen? Dann richtet sich mein Interesse in Wirklich- keit gar nicht auf den anderen Menschen, sondern auf mich selbst. Ich kann mich aber auch zweckfrei für den anderen

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THEMA SYMPATHIE & ANTIPATHIE

Foto: Charlotte Fischer

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THEMA SYMPATHIE & ANTIPATHIE

erziehungskunst Dezember|2011

befangen bin? Höre ich in Wirklichkeit mein eigenes Echo und gar nicht die Äußerung des anderen? – Wie wertvoll eine Kultur des Interesses ist, tritt uns ohne Weiteres vor Augen, wenn sie einmal nicht gelingt: Wenn ich dem ande- ren nicht unvoreingenommen gegenübertreten kann, wenn mein Unverständnis das vom anderen Gemeinte überwäl- tigt, und umgekehrt. Dann kann das Gespräch neurotische Züge annehmen. Der »Hörer« ordnet jeden Satz des Spre- chers in sein eigenes Vorstellungssystem ein, ohne auf des- sen Kontext zu achten. – Von ähnlicher Bedeutung für das soziale Leben ist das Interesse am Gefühl und am Handeln des anderen Menschen. Denn wie viele Missverständnisse entstehen daraus, dass man das Denken, Fühlen und Han- deln des anderen nicht ernst nimmt, sondern mit den eige- nen Vorstellungen vermischt.

Den anderen von seiner Zukunft her betrachtet

Einfach auf Sympathie lässt sich eine Gemeinschaft nicht bauen. Einfach Intelligenz in das Gefühl zu schicken, ist aber auch nicht unproblematisch. »Soziale Kompetenz ist

die Grundlage von Beliebtheit, Führung und interpersonaler Effektivität. Diejenigen, die in diesen Fähigkeiten glänzen, sind erfolgreich in allem, was darauf beruht, reibungslos mit anderen zusammenzuarbeiten – sie sind ›kleine Stars‹«, so Daniel Goleman, einer der berühmtesten Vertreter der

»Emotionalen Intelligenz«. War es das, was wir wollten? – Oder geht es eher darum, bewusst, auf das Ich gegründete Beziehungen zu gestalten.

Die Vertiefung des Interesses beruht auf dem Willen, den anderen zu »verstehen«, und zwar unabhängig davon, ob ich seiner Ansicht bin oder ob er mir sympathisch ist. Sich ein sympathie- und antipathiefreies Bild vom anderen Men- schen zu machen, erweitert den Horizont beträchtlich. Den anderen aus sich selbst heraus verstehen zu wollen, erfor- dert eine Umkehr: Ich muss versuchen, durch die Augen des anderen zu sehen. Im Unterschied zur ersten Ebene der Begegnung, dem Interesse, geht es beim »Verstehen« nicht nur um die Frage, was der andere denkt, fühlt und will, son- dern warum er dies tut. Es geht um seine Motive.

Wer in dieser Weise auf den anderen Menschen eingeht, dem kann noch etwas Weiteres auffallen. Ist der Andere, so

Foto: Charlotte Fischer

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wie er vor mir steht, eigentlich schon ganz er selbst? Ge- wöhnlich definieren wir das Wesen des anderen aus seiner Vergangenheit: Wie ist er aufgewachsen? Was hat er gelernt und erlebt? – Gehört nicht aber zu jedem einzelnen Men- schen außer der Vergangenheit auch seine Zukunft? Ist nicht vielleicht der gegenwärtige Zustand nur ein Übergang von der Vergangenheit in die Zukunft? Statt also nur zu fra- gen, wie ich den anderen aus seiner Vergangenheit heraus begreifen kann, könnte ich auch einmal fragen: Wie wirkt sein in die Zukunft angelegter Entwicklungsweg in seine ge- genwärtige Befindlichkeit hinein? Hat er sich vielleicht – be- wusst oder weniger bewusst – etwas vorgenommen, das sein Verhalten schon heute prägt und zum Beispiel seine innere Unruhe oder kritische Grundhaltung erklärt?

Heranwachsenden gegenüber ist diese Einstellung selbst- verständlich. Sie sind sozusagen von Entwicklungshelfern umstellt. Eltern, Verwandte, Freunde, Lehrer und Vorge- setzte sind um ihre Weiterentwicklung bemüht. Kommen sie aber über das 20. Lebensjahr hinaus, hört das langsam auf. Meine Entwicklung schreitet nur noch fort, soweit ich sie selbst betreibe. Dass ich ein »Werdender« bin, ist dann weniger offensichtlich als in der Jugendzeit. Um so wichti- ger ist es, diese Qualität nicht aus dem Auge zu verlieren. – Sehe ich in der fetten Raupe auf dem Brennesselblatt nichts als diese Raupe, so stellt sich für mich die Situation ganz an- ders dar, als wenn ich in ihr den künftigen Schmetterling, das Pfauenauge, erblicke.

In dem Maße, in dem ich den anderen als »werdenden Men- schen« verstehen kann, wächst auch mein Vertrauen in ihn.

Ohne Vertrauen aber ist ein soziales Miteinander nicht mög- lich. Da nützen alle vorsichtshalber aufgebauten »Struktu- ren« nichts. – Ein solches Vertrauen wächst in dem Maße, in dem ich dem anderen Menschen da begegne, wo er selbst noch in Entwicklung ist.

Jede individuelle Begegnung birgt Rätsel

Individuelle Begegnung endet nicht bei definierbaren Er- gebnissen, sondern bei Geheimnissen: im Rätsel der Indi- vidualität des werdenden Menschen und der Schicksals- Begegnung. Gerade im Geheimnis und im Rätsel liegt die Ich-erweiternde Kraft des Verstehens. – Die Folgen für das Soziale sind bedeutend: Ich nehme den anderen Menschen, wie er ist, und versuche, das Beste daraus zu machen. Auf der anderen Seite versuche ich, mich selbst nicht so zu be- lassen, wie ich bin.

Der Weg über die hier skizzierte »individuelle Begegnung«

zum sozialen Verständnis des anderen Menschen ist gang- bar, auch wenn es natürlich keine Garantie dafür geben kann, über das eingangs erwähnte verödete soziale Leben hinauszukommen. Der Versuch, individuelle Begegnung durch Normen, Regeln, Strukturen oder vorbestimmte Pro- zeduren zu ersetzen, muss auf Abwege führen. Aber auch die gegenteilige Haltung, in Sympathien und Antipathien stecken zu bleiben und nicht zum Individuellen des anderen Menschen vorzustoßen, verhindert die Gestaltung sozialer Verhältnisse.

‹›

Zum Autor:Dr. Karl-Martin Dietz ist Mitbegründer des Friedrich von Hardenberg Instituts in Heidelberg, www.hardenberginstitut.de

Literatur:

Rudolf Steiner:Wie kann die seelische Not der Gegenwart überwunden werden, Vortrag am 10.10.1916 in Zürich, GA 168

Karl-Martin Dietz:Dialogische Schulführung an Waldorfschulen.

Spiritueller Individualismus als Sozialprinzip, Heidelberg 2006 Karl-Martin Dietz:Produktivität und Empfänglichkeit.

Das unbeachtete Arbeitsprinzip des Geisteslebens, Heidelberg 2008 Erich Fromm:Authentisch leben, Freiburg 2006, S. 84 ff.

Daniel Goleman:Emotionale Intelligenz, München/Wien 1996 Jeremy Rifkin:Die empathische Zivilisation, Frankfurt 2010, S. 310

Nicht Aufmerksamkeit auf die eigene Person beim anderen wecken, sondern bei sich selbst Interesse für

andere Menschen .

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Ähnlich wie Plus und Minus in der Elektrizität, Sympathi- kus und Parasympathikus im vegetativen Nervensystem oder Einatmung und Ausatmung,besitzen wir auch zwei elementare antagonistische Kräfte in unserem Seelenleben.

Wie ein Fluss, der aus unbekannten Tiefen entspringt und dann sichtbar eine bestimmte Richtung einschlägt, so kommt aus einer uns zunächst unbekannten seelischen Quelle, die wir als »Begehren«, als »Lust oder Unlust auf Welt« bezeichnen, eine Kraft zum Vorschein, die dann im weiteren Verlauf in ein festes Urteil oder eine Vorstellung von Welt und Mensch mündet. Eine geisteswissenschaftlich erweiterte Psychologie sieht das gesamte Seelenleben aus den elementaren Kräften von Begehren sowie Sympathie (Liebe) und Antipathie (Hass) gebildet, die uns zu fertigen Urteilen oder konkreten Vorstellungen führen.

Die ganz persönliche Sympathie und Antipathie ist die Quelle unseres Interesses oder Desinteresses und mündet in das mehr »objektive« Urteil oder in die Vorstellung, dass der Himmel blau ist oder die Rose rot. Wir müssen Sympa- thie und Antipathie als wesentliche, sogar unser Schicksal bestimmende Faktoren im Leben anerkennen, als Faktoren, die wir auf die Erde mitbringen und die tief in unserem Gemüt verankert sind.

Das Tier in uns

Gibt es für die zwei archetypischen Seelenkräfte von Sym- pathie und Antipathie ein Modell, das sie uns besser be- greiflich machen kann? Ja: Es sind die Tiergruppen, die mit ihrem instinktiven Seelenleben und mit ihren sympathi-

schen oder antipathischen Gewohnheiten fest in der Welt verankert sind: durch Nahrungsgewohnheiten, Landschaft, Klima, seelische Reaktionen. Das macht ihre Bestimmung aus! Aus diesen leiblich-seelischen Mustern können sie sich nicht oder nur minimal heraus entwickeln.

Diese instinktiv verborgene »Tierheit« im menschlichen Ge- fühlsleben, diese zunächst dumpfe Prägung, die zu reflex- artigen Urteilsmustern führt, muss aber beim Menschen, sofern er sich entwickeln will, mit Bewusstsein durchdrun- gen und verwandelt werden, ohne dass Sympathie und An- tipathie verschwinden. Sind sie doch die irdisch-seelischen

»Angelhaken«, der seelische »Hunger und Durst«, mit denen wir in eine Beziehung oder Nicht-Beziehung zur Welt treten. Werden sie allein von Kindheits-Mustern, von früh- kindlichen Fremdprägungen bestimmt, dann können sie Hindernisse sein, die unser Erkennen über den wahren Wert von Mensch und Welt behindern.

Der erotische Angelhaken

An Erotik und Liebe lässt sich leicht erklären, was hier ge- meint ist: Erotik ist der sympathische »Angelhaken«, der uns auf jemanden aufmerksam werden lässt. Wir haben be- rauschende Empfindungen, sobald wir den geliebten »Ge- genstand« erblicken. Doch bei genauerer Betrachtung können wir bemerken, dass wir erst einmal nur unsere ei- genen Gefühle lieben, die uns der andere beschert – also uns selber – und noch nicht den anderen Menschen. Das ist erst durch einen Erkenntnisakt möglich, zu dem die Sym- pathie zwar den Weg bahnt, die uns aber noch nichts über

Die Sinnesorgane der Seele

von Olaf Koob

Sympathie und Antipathie erachten wir als so selbstverständlich, dass wir nicht mehr viel darüber nachdenken, obwohl sie einen wesentlichen Teil unseres Alltagslebens und -handelns bestimmen. Olaf Koob, langjähriger Schularzt, zeigt, wie sie verwandelt werden müssen, um zu einem richtigen Verständnis des menschlichen Miteinanders und einer wirklichen Menschenerkenntnis zu gelangen.

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den anderen Menschen selbst verrät! So konnte Rudolf Stei- ner in seiner »Philosophie der Freiheit« (1894) provokant formulieren: »Der Weg zum Herzen geht durch den Kopf.

Davon macht auch die Liebe keine Ausnahme. Wenn sie nicht die bloße Äußerung des Geschlechtstriebes ist, dann beruht sie auf den Vorstellungen, die wir uns von dem ge- liebten Wesen machen. Und je idealistischer diese Vorstel- lungen sind [das heißt, je bewusster wir den anderen wahrnehmen, d.V.], desto beseligender ist die Liebe.«

Liebe bedeutet nicht: alle Grenzen niederreißen

Das sich erweiternde Bewusstsein in der Liebe macht uns also sehend und nicht blind. Gerade auf diesem Gebiet wal- tet die größte Erwartung, aber auch die größte Desillusio-

nierung: Was ist, wenn das Gegenüber anders empfindet, denkt, oder anders als erwartet reagiert? Hängt an dieser Einmütigkeit der Empfindungen das ganze Lebensglück? Geht es nicht vielmehr um seelische Eigenständig- keit, wie sie schon Rilke in seinen Briefen über Freundschaft und Ehe formulierte oder wie sie moderne Ehetherapeuten empfehlen?

Rilke jedenfalls war der Meinung, Partner- schaft bedeute nicht, durch »Niederreißung ...

aller Grenzen« eine rasche Gemeinsamkeit zu schaffen, »vielmehr ist eine gute Ehe die, in welcher jeder den anderen zum Wächter sei- ner Einsamkeit bestellt und ihm dieses größte Vertrauen beweist, das er zu verleihen hat.«

Auch zwischen den nächsten Menschen kön- nen Abgründe bestehen. Aber es kann ihnen nach Rilkes Auffassung ein wundervolles Ne- beneinanderwohnen erwachsen, wenn es ihnen gelingt, die Weite zwischen sich zu lieben, die ihnen die Möglichkeit gibt, einander immer »in einer ganzen Ge- stalt und vor einem großen Himmel zu sehen« (Rainer Maria Rilke, Brief vom 17.8.1901 an Emanuel von Bodman).

Sympathie und Antipathie sind Sinnesorgane

Weil Sympathie und Antipathie nichts über die Sache als solche aussagen, sondern nur über die Beziehung, die ich persönlich zu einer Sache oder zu einem Menschen habe, werden sie zu Sinnesorganen, aber nicht zu Erkenntnis- organen für die Welt. Lassen wir unsere Welt- und Men- schenerkenntnis nur aus unseren persönlichen Sympathien oder Antipathien fließen, so drängen wir uns den Dingen auf und stellen nicht die Sache, sondern uns selbst in den

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Sympathikus Plus

Minus

Parasympathikus

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Vordergrund. Dann wird aus einem vorschnellen, aus Sym- pathie oder Antipathie geborenen Urteil das Vorurteil. Es ist das bekannteste Hindernis im Verhältnis von Mensch zu Mensch, von Nation zu Nation. Eine Wahrnehmung wird umso »reiner«, je mehr wir uns um Urteilsaskese bemühen.

Denn was wir normalerweise als »objektive Wahrnehmung«

bezeichnen, ist meist eine Mischung von Sinneseindrücken und Sympathie oder Antipathie. Gerade im Miteinander ist diese Erkenntnis heute von ungeheurem Wert, da wir Men- schen unsere Meinungen und Gefühle mehr lieben als die Tatsachen selber. Will man aber zu einem wahren Ver- ständnis und einer wirklichen Menschenerkenntnis kom- men, bleibt einem nichts anderes übrig, als vorgefasste Meinungen systematisch in sich zu bekämpfen und somit wirkliches Menscheninteresse zu entwickeln. »Don’t judge, just observe« (urteile nicht, sondern beobachte nur), sagt ein weises englisches Sprichwort, das zum Leitsatz der Sozial- kunde werden könnte, um damit zum Verständnis und Frieden unter den Menschen beizutragen.

Die Aufgabe: nicht werten

Werfen wir noch einen kurzen Blick auf eine junge Wissen- schaft, die sich als »Angewandte Bewusstseinswissenschaft«

bezeichnet. Obwohl »Bewusstsein« ein Sammelbegriff für alle möglichen Seeleneigenschaften ist, erkennt man in die- sem Wissenschaftszweig immer mehr, dass das Bewusst- sein einen der höchsten Werte für den Menschen darstellt und entscheidend für die ganze Lebensqualität ist.

Der Blick richtet sich in dieser Disziplin nach innen und wendet exakte Methoden (wie in der Naturwissenschaft) auf die inneren Vorgänge der Seele an. Auch hier kann der fein- fühlige Dichter Rilke als Ausgangspunkt dienen: »Nirgends, Geliebte, wird Welt sein, als innen«, so heißt es in einem

seiner Gedichte. Von diesem Gedanken aus richtet sich der Blick auf den inneren Menschen, um »die Eigenschaften und Gesetzmäßigkeiten des Weltinnenraums zu ergründen, wie wir es in den Naturwissenschaften mit der Außenwelt getan haben« (Thilo Hinterberger in Co-med). Das, was wir wahrnehmen, ist schon ein konstruiertes und bereits inter- pretiertes Abbild einer Außenwelt, die aus der Sicht einer anderen Person durchaus anders aussehen kann. Hier kommt nun die zweite und entscheidende Stufe des Be- wusstseins ins Spiel: Es ist das Wissen um sich selbst! Die- ses Wissen um sich selbst gilt es bei allen Wahrnehmungen und Urteilen zu berücksichtigen.

Es ist eine der zentralen Fragen von Sympathie und Anti- pathie: Wie kommen wir zu einem nicht wertenden Ge- wahrsein des augenblicklichen Geschehens, das es uns ermöglicht, alte, bekannte Dinge in einem neuen Licht zu sehen? Drei wichtige Erfahrungen sind es – wir könnten sie auch Übungssituationen nennen –, wo sich die moderne Bewusstseinswissenschaft und die anthroposophisch orien- tierte Geisteswissenschaft berühren:

1.

Die Neutralität gegenüber einer Lebenssituation oder einem Menschen, die Urteilsaskese.

2.

Dieses Bemühen verleiht uns eine »Beobachtungsper- spektive« unserem eigenen Denken gegenüber und lässt uns den eigenen Drang nach Beurteilung und Bewertung erkennen. »Was nicht bewertet werden muss, kann gefahr- los angenommen und in Freiheit geliebt werden« (Hinter- berger).

3.

Eine nicht wertende Haltung befreit auch unser Auf- merksamkeitssystem. Die Aufmerksamkeit muss nicht mehr jedem Eindruck von außen und jedem »Gedanken- strom« nachjagen, sie kann sich immer mehr auf das innere Erleben richten und dadurch das Bewusstsein von einer Sache erweitern und vertiefen. Wir könnten dies auch als

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Die zweite und entscheidende Stufe des Bewusstseins:

Das Wissen um sich selbst

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die Bekämpfung der Oberflächlichkeit in unserer Seele be- zeichnen, die sehr oft durch reine Sympathie und Antipa- thie bedingt ist.

Das Gemüt ist Ergebnis unserer emotionalen Erziehung

Sympathie und Antipathie sind Seelenaugen, mit denen wir individuell eine Beziehung zu unserer Umwelt und unse- ren Mitmenschen aufnehmen. Sinnes- und Seelenorgane sind zwar von Natur aus angelegt, müssen aber von früh auf ausgebildet, geschult und gepflegt werden.

In der deutschen Sprache kennen wir einen Begriff, der nicht in andere Sprachen übersetzbar ist und der mit unse- rem Seelenkern und mit unserer Weltbeziehung zu tun hat:

das Gemüt. Es beinhaltet die Fähigkeit der Hingabe an die Welt, den Willen unserer Seele, sich auf die Welt gefühls- mäßig einzulassen. Sind wir mit unserer Umgebung in Übereinstimmung, dann ist es uns in der Welt »gemütlich«.

Diese emotionale Erziehung wird aber in der modernen Pä- dagogik sträflichst zu Gunsten der kognitiv-intellektuellen

vernachlässigt. Wie können wir mithelfen, dass sich diese Sinnesorgane gesund entwickeln und das Kind schon früh eine Sympathie für das moralisch Gute und Förderliche ausbilden kann und das Schlechte und Verwerfliche in- stinktsicher ablehnt, ohne dass man ihm ausgedachte Ver- haltensmuster beibringt? Mit dem Intellekt ist das nicht möglich. Dazu müssen andere Kräfte in der Seele mobili- siert werden. Mythen und Märchen, aber auch Erzählungen von selbst Erlebtem wirken direkt in die leiblich-seelischen Verhältnisse hinein und nähren dort die seelischen Instinkte unseres moralischen Handelns.

‹›

Literatur:Christa Meves: »Gemütsverkümmerung beim modernen Menschen«, In: Johannes Schlemmer (Hrsg.):Die Verachtung des Gemüts. Argumente für eine neue Wertung, München 1974 Rainer Maria Rilke:Briefe. Brief 9 vom 17.8.1901 an Emanuel von Bodman, Wiesbaden 1950

Rudolf Steiner:Wie kann die seelische Not der Gegenwart überwunden werden? Soziales Menschenverständnis-Gedankenfreiheit-Geist- Erkenntnis. Vortrag in Zürich am 10.10.1916 in GA 168 Thilo Hinterberger:Angewandte Bewusstseinswissenschaften in Theorie und medizinisch-therapeutischer Anwendung.

Co-med. Das Fachmagazin für Complementär-Medizin, Nr. 9/2011

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Ausatmung Eina tmung

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Entscheidungsfreiheit? – Nicht für das kleine Kind

Je kleiner die Kinder sind, um so weniger ist bei ihnen das Vermögen zu einer eigenen gedanklichen Überschau über Situationen oder Lebenszusammenhänge entwickelt. Kin- der unter sieben Jahren fühlen sich überfordert darin, am Morgen ihre Kleidung selbst auszusuchen. Sie leben noch ganz in der Nachahmung der Erwachse- nen, in ihrer Umgebung, die ihnen Vor- bild sein soll. An den Erwachsenen will sich das kleine Kind spiegeln; durch Diskussionen und sogenannte freie Entscheidungen ist es überfordert.

Das Kind ist wie ein Sinneswesen mit Tentakeln, das das Gegenüber bis in die Tiefen abtastet, um sich selbst daran entwickeln zu kön- nen. Beobachtung und Nachah- mung erzeugen im Kind ein Skript, das die Welt in Handlungssequenzen repräsentiert: Es sind Bilder der Men- schen, die in seiner Umgebung gehandelt und ihre sozialen Abläufe untereinander geregelt haben.

Elisa hat einen großen Entscheidungsspielraum, in dem ihr die Mutter wenig Vorbild bietet, sondern sie nach Lust und Laune entscheiden lässt. Dies setzt eine emotionale Reife vo- raus, die Kinder erst mit dem Schulalter erreichen. Das Ge- fühlsleben des Klein- und Kindergartenkindes zeigt sich uns stattdessen durch die Phantasie, die mit dem ersten Selbst- erleben im dritten Lebensjahr erwacht und welche wir be- Elisa, vier Jahre, steht mit ihrer Mutter vor dem Kleider-

schrank.Der Beginn einer allmorgendlichen Szene: »Elisa, was möchtest Du heute anziehen?«, lautet die Frage. Die Mutter bietet ihr verschiedene Sachen an, worauf Elisa mit

»Nein, das nicht, … das ist blöd, … das auch nicht, … das finde ich hässlich« oder »Ich finde das Sommerkleid aber schön« reagiert. Nach einigem Hin und Her darf sie

das grüne Sommerkleid nehmen, auch wenn es eigentlich draußen viel zu kalt dafür ist. Beim Frühstück geht es weiter:

Elisa kann sich nicht entscheiden, ob sie Honig, Nutella oder Mar- melade auf ihrem Brot haben möchte. Die Mutter wird lang- sam ungeduldig, unvermittelt reißt ihr der Geduldsfaden und sie schreit Elisa an: »Kannst du dich denn nicht mal entscheiden, immer dieses Hin und Her, du musst doch wissen, was du willst?«

Elisa beginnt zu weinen und fällt in sich zusammen.

Die Mutter hat mit Zugewandtheit und Wohlwol-

len den Morgen mit Elisa begonnen. Ihr ist wichtig, dass Elisa sich möglichst selbstständig entwickeln soll, sie möchte nicht autoritär bestimmen, sondern Elisas Eigen- willen berücksichtigen. Dabei kommt es immer wieder zu Diskussionen, die bereits im dritten Lebensjahr begannen.

Oft enden diese mit einem heftigen Streit, in dem der Mut- ter emotionale Wärme und Offenheit sich in Ärger, Ableh- nung, ja Aggressionen verwandeln.

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Sympathie und Antipathie in der Erziehung

von Monika Kiel-Hinrichsen

Lassen sich Eltern lediglich von Sympathie und Antipathie leiten, werden sie leicht zu einem Spielball von Emotionen – ihren eigenen und denen ihrer Kinder. Viel wichtiger sind Empathie, Besonnenheit und das Wissen darum, was wann an der Zeit ist.

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sonders gut im Spiel beobachten können. Wie viel einfacher wäre es für Elisa, wenn die Mutter sagen würde: Heute ziehst du ein rotes Kleidchen an wie die Pilze im Wald. Hie- ran kann das Kind erleben, dass die Mutter Entscheidungen trifft. Allzu viele Fragen schwächen die Lebenskräfte des Kin- des, die es eigentlich noch für seinen körperlichen Aufbau braucht. Erst allmählich, im vierten Lebensjahr, werden diese Kräfte frei und können nun das Spiel des Kindes durch die Kraft der Phantasie beleben. Erst um das siebte Lebens- jahr, mit dem Zahnwechsel, erwacht die Verstandeskraft.

Nun erst kann das Gefühlsleben heranreifen, welches die Grundlage für erste eigene Entscheidungen bietet.

Lenas Tochter war gerade fünf Jahre alt, als in der Nähe ihres Dorfes ein kleiner Wanderzirkus gastierte. Sie saßen freu- dig und voller Spannung in dem Zirkuszelt. Ein Schaustel- ler richtete die kleine Manege für sich ein: Ein Nagelbrett und jede Menge Glasscherben zierten den Boden. Die kleine Anna konnte sich vor Entrüstung und Widerwillen nicht

mehr halten, als der Schausteller sich auf das Nagelbrett und die Glasscherben legte. »Aber Mami, was macht der Mann dort!«, rief sie durch das kleine Zelt.

Hier wird erlebbar, wie unsinniges, das heißt für das Kind unverständliches Handeln direkt bis in den Leib und die Seele hinein wirken kann. Dieses antipathische Erlebnis hat Anna noch tagelang beschäftigt , denn im Gegensatz zu dem Bedürfnis des Kindes, sympathisch in einer sinnvoll gestal- teten Umwelt mitzuschwingen, haben Erlebnisse solcher Art einen Aufweckcharakter. Antipathie macht immer wach, stellt uns in Gegensatz zu den Dingen.

Sympathie und Antipathie in der Beziehung zum Kind

Jedes Kind hat das tiefe Bedürfnis, in Beziehung zu seinen Eltern zu treten, sich bedingungslos verbunden mit ihnen zu fühlen. Eine solche Beziehung ist von Wärme, Nähe, Schutz und Fürsorge geprägt. Die Bezugsperson ist in der

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Lage, sich in die Bedürfnisse des Kindes einzufühlen und diese zu erfüllen. Sie schafft eine sichere Atmosphäre für das Kind, in der Klarheit, Rhythmus und Kontinuität die Grundsäulen sind. Die positive, emotionale Grundhaltung ist Zuneigung und Wohlwollen.

Doch die Realität sieht oft anders aus. Zunehmend mehr Eltern sind in der Erziehung überfordert. Kinder erleben Wechselbäder zwischen aufopfernder Hingabe und tiefster Erschöpfung, gutem Willen und harter Abgrenzung.

Erziehung aus Sympathie und Antipathie? In Deutschland werden Elternschulen hoch frequentiert (vgl. Spiegel 2007, Familienleben). Eltern müssen heute lernen, wie man sich in Kinder einfühlt, um sie zu verstehen und gut durch den Erziehungsalltag zu kommen.

Sie lernen eine Fähigkeit, die das Gegenteil von Sympathie und Antipathie ist – die Empathie!

Julia, 37 Jahre alt, hat ihre Kindheit in Wohngemeinschaf- ten verbracht, ist Mutter von zwei Kindern (3 und 6 Jahre alt). Sie hatte als Kind ständig wechselnde Bezugspersonen, worunter sie sehr gelitten hat. Julia arbeitet halbtags als Ju- ristin. Die Kinder waren beide in einer Krippe und sind jetzt im Kindergarten. Ihr Mann ist als Ingenieur außerhalb tätig.

Er geht früh aus dem Haus und kehrt heim, wenn die Kin- der im Bett sind. Eine moderne Familie.

Julia fühlt sich eigentlich seit Jahren überfordert. Sie will be- ruflich weiterkommen. Gleichzeitig möchte sie für die Kin- der da sein – doch das ist eine Art Pflichtbewusstsein, es kommt nicht von innen. Sie kann ihren Kindern nicht wirk- lichen Nestschutz geben. Mit der ältesten Tochter fällt es ihr am schwersten, sie hat sich von klein auf an sie geklammert und ihr ein schlechtes Gewissen gemacht. Julia beschreibt sich selbst als manchmal »unberechenbar«. Sie bemüht sich, die Kinder viel zu loben, aber leider kommt oft nur Me- ckerei dabei heraus.

Wir leben heute in einer Zeit, in der die alten Werte und er- zieherischen Intuitionskräfte verloren gehen, in der wir immer weniger einfach aus der Tradition heraus handeln können, sondern der Einzelne in seiner bewussten Ent- wicklung seiner Individualität gefragt ist. Julia ist ein Kind von 1968er-Eltern, sie hat bereits selber den Traditionszerfall erlebt. Sie spürt den Mangel an Bindungsfähigkeit und hat Sorge, diesen an ihre Kinder weiterzugeben. Erziehung aus dem »Bauch heraus«, den Emotionen von Sympathie und Antipathie ausgeliefert zu sein, macht Julia unzufrieden.

Diese Unzufriedenheit wird ihr zur Triebfeder: Sie spürt, dass sie sich etwas ganz Neues erarbeiten muss, um ihren Kindern näher zu kommen.

Empathie statt Apathie

Erziehung, die sich zuviel auf das Lustprinzip stützt, bietet Kindern zu wenig emotionale Verlässlichkeit und schwächt die Eltern-Kind-Beziehung. Wenn Eltern sich aufgerieben haben in der Erziehung ihrer Kinder, sich überfordert fühlen, verfallen sie leicht in eine Form der Apathie (Teil- nahmslosigkeit): »Ist mir doch egal, sollen sie doch ohne Hausschuhe rumlaufen, Fernsehen oder eben kein Gemüse essen …« Die Apathie ist der größte Feind der Kinder, denn das bedeutet, dass Eltern den Kontakt mit dem Kind aufge- ben, es sich selbst überlassen.

Nehmen wir uns stattdessen ein Beispiel an den Kindern, denn sie sind von Geburt an Wesen, die sich in höchster Form von Sympathie und Empathie mit ihrer Umwelt ver- binden. Um mit größtem Interesse und mit offenen Sinnen auf die Welt der Erwachsenen zuzugehen, um sie nachzu- ahmen, benötigen sie ein Höchstmaß an Einfühlungsver- mögen. Mit unermüdlicher Geduld werden Handlungen wieder und wieder vollzogen, einfach aus der Liebe zur

Jedes Kind hat das tiefe Bedürfnis , in Beziehung zu seinen Eltern zu treten, sich bedingungslos mit ihnen verbunden zu fühlen.

Eine solche Beziehung ist von Wärme, Nähe, Schutz und Fürsorge geprägt.

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Tätigkeit. Dem muss vorausgehen, dass wir als Erwachsene vorbildhaft und willensstark sind oder wenigstens werden wollen und die große Empathiegeste des Kindes mit eigener Empathie beantworten. Vom emotionalen zum gefühlvollen Handeln zu kommen, benötigt besonnene Ich-Aktivität, denn Emotionen haben ihren Ursprung im Unbewussten;

sie sind stimmungshafter Natur, während das Gefühl schär- fer umrissenen, bewussteren Charakter hat, sozusagen eine kultivierte Emotion geworden ist.

Mit Besonnenheit einmal am Tag bewusst beim Kind ver- weilen, innerlich in seinen Schuhen gehen, mit seinen

Augen in die Welt blicken, in sein Herz und in seinen Bauch hineinfühlen, schafft Verbindung mit der inneren Sonne, dem Sonnengeflecht, dem Sympathicus des Kindes und trägt zu seinem Wohlbefinden bei.

‹›

Zur Autorin:Monika Kiel-Hinrichsen ist Erzieherin, Sozial- und Waldorfpädagogin und führt eine Praxis für Biographiearbeit, Paar- und Erziehungsberatung, Mediation und Supervision, www.forum-zeitnah.de. Leitung der Ipsum-Elternberaterausbildung in Kiel

Foto: Charlotte Fischer

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Verlag Freies Geistesleben : Wissenschaft und Lebenskunst

ZwölfWege zum Schöpferischen im Menschen Rudolf Steiner Impulse : Die kleine Energiebox

RudolfSteiners Leben und Werk ist mit seinen rastlosen Reisen und über 6000 gehaltenen Vorträgen quer durch Europa ein einzigartiges Phänomen des 20. Jahrhunderts.

Einen Einblick in seine vielfältigen Anregun- gen zur eigenen spirituellen Entwicklung gibt die Reihe Impulse :Werde ein Mensch mit Initiative.

Rudolf Steiner

Impulse : Werde ein Mensch mit Initiative Grundlagen – Ressourcen – Perspektiven.

Zwölf Wege zum Schöpferischen im Menschen.

Impulse 1 bis 12.

Herausgegeben von Jean-Claude Lin mit Einleitungen von Mario Betti, Jörg Ewertowski, Ruth Ewertowski, Lydia Fechner, Bernardo Gut,Wolfgang Held, Martin Kollewijn, Olaf Koob, Jean-Claude Lin,

Andreas Neider, Nothart Rohlfs und Gottfried Stockmar.

12 Bände (insgesamt 768 Seiten, kartoniert) in Schmuckkassette

€39,90 (D) |ISBN 978-3-7725-2700-5 www.geistesleben.com

Alle Bände sind auch einzeln zum Preis von je€4,– (D) erhältlich.

Die Bände im Einzelnen:

Grundlagen

1. Werde ein Mensch mit Initiative 2. Idee und Wirklichkeit

3. Der positive und der negative Mensch

4. Anthroposophie als persönlicher Lebensweg

Ressourcen

5. Die Kunst des Wartens 6. Okkulte Wissenschaft und

Einweihung 7. Freiheit und Liebe 8. Wirken mit den Engeln

Perspektiven

9. Zwei Wege zu Christus 10. Spirituelle Erkenntnis als

wirkliche Kommunion

11. Erwachen am anderen Menschen 12. Die große Karma-Übung

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Am Samstag, dem 18. Dezember 2010 begann der »Arabische Frühling«, nachdem sich einen Tag zuvor der Tunesier Mohamed Bouazizi selbst angezündet hatte,um gegen die Polizei- und Behör- denwillkür seines, bei uns hauptsächlich als billiges Urlaubsziel bekannten Landes zu protestieren.

Seine Tat brachte Tunesien in Aufruhr. Wie ein Lauffeuer erfasste eine für uns Westler völlig uner- wartete Bürgerbewegung erst Ägypten und griff dann auf Libyen, Syrien, den Jemen, Bahrain und andere arabische Länder über. Und während wir noch darüber staunten, dass es eine arabische Welt jenseits von Diktatur und Islamismus gibt, passierte etwas, das wir noch weniger erwartet hatten:

Junge Menschen ließen sich von dem zivilen Ungehorsam der Araber inspirieren und begannen zunächst an der Wall Street, bald aber auch an anderen großen Börsenzentren mit der »Occupy«- Bewegung. Unter dem Motto »The only solution is World Revolution« protestieren sie seither gegen die Macht des globalen Finanzkapitalismus.

Obwohl diese Bewegung bis heute (Ende Oktober) nicht besonders viele Protestler auf die Straße ge- bracht hat, fand sie eine riesige mediale Aufmerksamkeit. Zahlreiche deutsche Politiker erklärten eiligst ihr »Verständnis«. Das dürfte ihre Besorgnis spiegeln, die Euro-Krise könnte an den Grund- festen unserer Demokratie rütteln. Dabei ist das auf die Abgabe von Verantwortung an die Parteien eingespielte System ohnehin schon erschüttert. Nach »Stuttgart21«, nach Fukushima und angesichts der Kaperfahrt der »Piraten« in Berlin. Da scheint das Vertrauen der Bevölkerung in unsere parla- mentarischen Institutionen weitgehend erschöpft. Fragt sich nur: Was kommt danach?

So unterschiedlich die Ursachen und so verschieden die Erscheinungsformen der aktuellen Protest- bewegungen sein mögen: Was sie verbindet, ist der Anspruch der Bevölkerung, die Entwicklung der Gesellschaft mitzugestalten und nicht länger der Willkür elitärer Minderheiten ausgeliefert zu sein.

Offensichtlich handelt es sich, wie bei der Finanzkrise, um ein globales Phänomen. Während allerdings die Menschen in den arabischen Staaten gerade erst damit beginnen, eine Zivilgesellschaft aufzubauen, geht es bei uns darum, die Demokratie von den herrschenden Eliten zurückzuerobern, damit unsere schleichende Entmündigung nicht immer weiter voranschreitet.

Jüngstes Beispiel dafür ist die Schulgesetznovelle in Brandenburg, die ganz unverblümt darauf abzielt, die freien Schulen im Land zurückzudrängen. Wahlrecht der Eltern? Initiative von Lehrerinnen und Lehrern? Wettbewerb um pädagogische Ideen? Spielt alles keine Rolle, denn es gilt, die zentrale staat- liche Hoheit im Bildungswesen zu verteidigen – auch gegen den Willen der Bevölkerung. Mündigkeit ist ein flüchtiges Gut, das immer neu errungen werden muss. Bei der Frankfurter Paulskirchen- versammlung im Jahr 1848 rief der Neißer Abgeordnete Pauer der Versammlung zu: »Wenn Sie die Freiheit des Volkes wollen, schaffen Sie freie Schulen!« 165 Jahre später geht es immer noch darum.

Occupy Brandenburg!

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Occupy Brandenburg

von Henning Kullak-Ublick

Henning Kullak-Ublick, seit 1984 Klassenlehrer (zurzeit freigestellt), Vorstand imBund der Freien Waldorf- schulenund bei den Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners,

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FRÜHE KINDHEIT

erziehungskunst Dezember|2011

Gertrude Meinke hatte 1947 dieses kleine leuchtende Lichtfest vom »Lauenstein«,der ersten anthroposophischen heilpäda- gogischen Einrichtung, wo sie lange Jahre bei Heinrich und Margarete Hardt als Gruppenmutter tätig gewesen war, ins

»Sonnenhaus«, das sie begründete, mitgebracht. Sie erzählte mir von ihren Erlebnissen, wenn die oft schwerst behinderten Kinder durch die Spirale gingen und den erst dunklen Raum mit jeder entzündeten Kerze heller und heller werden sahen.

Ich fragte Margarete Hardt, die Großmutter meiner Kinder, wie es zu diesem Brauch gekommen war. Schwester Inge, so sagte sie, eine Mitarbeiterin auf dem »Lauenstein«, habe ihr

gegenüber den Gedanken ausgesprochen, die Adventszeit mit den Kindern mit einem besonderen Lichterlebnis ein- zuleiten. Sie hatte daran gedacht, auf einen großen Tisch eine Spirale aus Tannengrün und Moos zu legen, sie mit schönen Steinen zu schmücken und eine große Kerze in die Mitte zu stellen, an der jedes Kind eine Kerze entzünden könnte. Die Kerzen wollte sie in Äpfel stecken und jedem Kind in die Hand geben. Margarete Hardt nahm diesen Ge- danken 1923 mit nach Dornach auf die Weihnachtstagung der Anthroposophischen Gesellschaft und stellte ihn Rudolf Steiner vor. »Wir standen in jeder Pause alle immer in gro- ßem Kreis um ihn herum, jeder hatte viele Fragen aus dem Alltag mitgebracht«. Steiner antwortete: »Das können wir brauchen«, riet aber, um die Kinder das Geschehen mit dem ganzen Leib erleben zu lassen, es groß und begehbar auf dem Boden zu gestalten.

Seither wird mit dem Adventgärtlein, diesem kleinen, inni- gen Fest, in vielen heilpädagogischen Einrichtungen, Kinder- gärten und Waldorfschulen mit den Kindern der Anfang der Adventszeit gefeiert. 1927 brachte es Gustl Wretzl aus einer Einrichtung in München, wo sie tätig gewesen war, mit nach Arlesheim in den »Sonnenhof«. Der Annahme, sie habe es bei Bauern in der Umgebung Münchens kennengelernt, bin ich lange nachgegangen. Weder dort, so sagte die Leiterin des Volkskundemuseums, noch in einem anderen Bundesland ist dieser oder ein nur ähnlicher Brauch bekannt. Mit ihm wird die Herbsteszeit, die Michaeli beginnt, abgeschlossen, und ein Fest gefeiert, das sich als wichtig und wie eine Ab- rundung des Kanons der Jahresfeste erweist: Weihnachten- Johanni, Ostern-Michaeli, Pfingsten-Adventgärtlein.

Die Lichtspirale

Über das Adventgärtlein

von Gisela Stibill

Zu Beginn der Adventszeit 1959 lernte Gisela Stibill in dem anthroposophischen Kinderheim »Sonnenhaus« in Husum – es war mehr eine kinderreiche Familie denn ein Heim – das Adventgärtlein kennen. Sie schildert die Geschichte und beschreibt das Urbild dieser Gepflogenheit.

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FRÜHE KINDHEIT

Zu Pfingsten schenkt Christus, das Licht in unserer Mitte, den Jüngern das Licht. Sie tragen es in die Welt, in der es dadurch heller und heller wird.

Beim Adventgärtlein die Umkehrung: Nur, ich selber, nur jeder Mensch für sich kann sein Licht am Christuslicht, dem Licht in unserer Mitte, entzünden, und so wird es hel- ler und heller in der Welt. Sankt Michael, der Geistes-Kraft und Mut Spendende, schützt den Leib vor Gefahr. Sankt Martin, der Austeilende, gibt ab von seiner Seelenkraft, wärmt den Leib und die Seele, Sankt Nikolaus stärkt Leib und Seele, bringt den Leb(ens)kuchen, stärkt die Lebens- kräfte, und so gestärkt, können wir uns im Adventgärtlein nun selbst auf den Weg machen, unser Licht am Christtag bei dem Kind in der Krippe neu zu beleben, wieder zum Leuchten zu bringen.

Das Kind in der Krippe hat mit seinem Erscheinen die Kraft des Sünden-Apfels, des Sündenfalles gebrochen, mit dem Licht, der Lichtkraft, der reinen Liebe überstrahlt. Das ist es, was hinter dem Adventgärtlein mit seinem Lichterapfel steht.

Die Spirale, Urbild aller Lebensprozesse

Für das Adventgärtlein die Form der Spirale zu wählen, er- gibt sich fast von selbst, ist sie doch das Urbild aller Le- bensprozesse. Die Franzosen nennen sie treffend: »Symbole de la croissance«. Enge und Weite, Winter und Sommer, ein- atmen und ausatmen, innen und außen – all diese Prozesse gehen in ständiger Bewegung vor sich, bis sie den Punkt er- reicht haben, an dem sie, für einen Augenblick zur Ruhe ge- kommen, die Umkehr, den Weg zurück beginnen.

Der Weg in die Enge, zu mir selbst, wo für einen winzigen Augenblick Ruhe entsteht, dann der Weg zurück in die Weite, zur Welt. Auch in der Natur finden wir die Spirale in vielfältigster Weise, etwa an den Häusern der Schnecken, bei der Anordnung der Kerne in der Sonnenblume, dem Aufbau eines Fichtenzapfens, dem sich entrollenden Farn oder bei der an Land anbrandenden Welle.

In den verschiedensten Kulturen und Religionen und zu allen Zeiten wurde die Spirale als Initiationsweg angesehen.

In der vorchristlichen Zeit wurde die einwickelnde Spirale bei der Geburt, die auswickelnde beim Tod eines Menschen

gegangen oder getanzt.

Nur, ich selber, nur jeder Mensch

für sich kann sein Licht am Christuslicht, dem Licht in unserer Mitte,

entzünden, und so wird es heller und heller in der Welt

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