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Psychologie der Zeugenaussage

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Academic year: 2022

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5. Die Beschreibung eines Delikttypus als Glaubhaftigkeitsmerkmal 139

die sich in einer Aussage zu einem homogenen Bild zusammenfügen, sichere Hinweise auf eine Erlebnisbasis des Berichteten. Nach den Ergebnissen unserer jahrelangen psychologischen Untersuchungen, speziell auch von Falschaussagen, genügt nämlich eine produktive Phantasie allein keinesfalls zur Erfindung eines differenzierten, delikttypischen Verhaltensbildes, sondern es müssen die Einsicht in derartige Zusammenhänge und ausgesprochen kriminologisches Wissen hinzu- kommen. Ohne sie kann ein Zeuge die zahlreichen hier beschriebenen Momente eines Delikttypus nicht in richtiger Auswahl und Zusammengehörigkeit schildern.

c) Es muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass stets mehrere de- likttypische Momente berichtet werden müssen, ehe man ihnen Bedeu- tung beimessen kann. Dabei wird man den Gehalt der Aussage an delikt- typischen Merkmalen am Entwicklungs- und Differenzierungsgrad der Aussagenden sowie an der Deliktart messen müssen: Man wird von einer debilen Person, die Zeuge eines exhibierenden Verhaltens geworden ist, nicht erwarten können, dass sie ebenso viele delikttypische Beobachtun- gen gemacht hat wie eine aufgeweckte Dreizehnjährige in einer ausge- dehnteren Inzestbeziehung. Auch das Wahrnehmen und Abheben von erlebten Verhaltenseigenarten beim Täter und von Eigenreaktionen setzt ja, wie schon erwähnt, eine gewisse Differenzierungsfähigkeit voraus, die manche Zeugen nur in unzureichendem Maße mitbringen. Eine solche Bekundung stellt nach unserem umfangreichen Untersuchungsmaterial jedoch eine ungleich geringere Leistung dar als das willkürliche Erfinden und Beschreiben von zueinander passenden delikttypischen Verhaltensweisen und psychischen Reaktio- nen ohne Erlebnisbasis. Ein Zeuge, der sich keinesfalls ein differenziertes delikttypisches Verhaltensbild ausdenken könnte, ist im Normalfall noch immer in der Lage, ein solches zu beschreiben, wenn er es erlebt hat.

Allgemeingültige Richtlinien bezüglich der Anforderungen, die in die- ser Hinsicht an Aussagen gestellt werden müssen, lassen sich nicht leicht geben. Doch sind schon in glaubhaften Kinderaussagen in der Regel min- destens drei delikttypische Momente zu finden. Unter 100 bestätigten Aus- sagen aus unserem Material wurde 57mal das Kriterium „delikttypusent- sprechende Schilderung“ mit einer Ausprägung von durchschnittlich 5,22 typischen Details gefunden.

Für die aussagepsychologische Exploration ergibt sich aus dem Darge- stellten, dass besonders bei heranwachsenden Zeuginnen die innerseeli- schen, mitmenschlichen, „atmosphären“ Details und charakteristischen Begleitumstände sexueller Beziehungen eruiert werden sollten, die hier entscheidend sind. Delikttypische Besonderheiten bringt ein Zeuge über- haupt oft erst in einer solchen Exploration vor.

d) Wie aus den vorstehenden Erörterungen hervorgeht, ergeben sich Steigerungsformen des delikttypischen Inhalts von Zeugenaussagen, die die- se Aussageeigenart zum Glaubhaftigkeitsmerkmal werden lassen, in der Anzahl und der Art delikttypischer Komponenten sowie aus der Schilde- rungsweise.

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Bedeutung hat das Glaubhaftigkeitsmerkmal des delikttypischen Inhalts von Aussagen, wie eingangs schon gesagt, bisher hauptsächlich bei psy- chologischen Glaubhaftigkeitsbegutachtungen von Aussagen, die Kinder und Jugendliche zu Sexualdelikten machen. Hier kann mit Hilfe dieses Merkmals oft noch eine detailreiche Aussage eines Zeugen, selbst, wenn dieser über eine lebhafte Phantasie verfügt, als glaubhaft erwiesen werden.

Die Anwendungsmöglichkeit bei Aussagen Erwachsener ist bisher selten.

Weitere systematische Arbeiten auf dem Gebiet der forensischen Aussage- psychologie könnten die Anwendungsmöglichkeiten erheblich erweitern.

e) Abschließend sei erwähnt, dass sich bei Zeugen aller Altersgruppen und bei Bekundungen zu allen Delikten ein weiteres Glaubhaftigkeits- merkmal ergeben kann, das mit dem hier erörternden verwandt ist: Wenn nämlich ein Zeuge ein individuelles Verhaltensmuster beschreibt, das bei- spielsweise ein vorbestrafter Beschuldigter schon bei früheren Gelegen- heiten in verhältnismäßig konstanter Weise wiederholt gezeigt hat, das aber dem Zeugen nicht bekannt war. (War dieses für eine bestimmte Per- son charakteristische Verhalten einem Zeugen aber bekannt, so wird aus dieser Kenntnis in manchen Fällen gerade das Material für eine Falschaus- sage genommen, wenn eine entsprechende Motivation gegeben ist.)

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Nachwort 141

Nachwort Nachwort Nachwort

Zur praktischen Relevanz der Aussagepsychologie vier Jahrzehnte nach erstmaligem Erscheinen der „Psychologie

der Zeugenaussage“

Erstversand

Die Geschichte der Lüge ist wahrscheinlich so alt wie die Geschichte der Menschheit. Bezeichnenderweise enthält schon das Alte Testament das Dokument einer Lüge: Die Schlange, die häufig als Sinnbild für den Teufel gesehen wird, soll die ersten Menschen mit falschen Worten aus dem Paradies gelockt haben. Auch die Geschichtsbücher verzeichnen mannigfaltige Unwahrheiten oder Verzerrungen der Wirklichkeit: Den Beginn des Polenfeldzuges und damit des zweiten Weltkrieges rechtfertig- te Hitler 1939 u.a. mit einem von der SS fingierten Überfall auf den Sender Gleiwitz. Auch der Vietnamkrieg begann mit einer Lüge: Er wurde mit dem angeblichen Angriff der Nordvietnamesen gegen die Amerikaner (sog. Tonking-Zwischenfall) begründet. Nixon stürzte über eine nachgewiesene Falschaussage in der Abhöraffäre. Der frühere Kanz- ler Kohl konnte sich vor dem Untersuchungsausschuss 1985 nicht an Spenden des Unternehmers Flick erinnern. Clinton musste einräumen, es sei doch zu Oralverkehr mit seiner Praktikantin gekommen, nachdem er vorher beteuert hatte, „keine sexuelle Beziehung“ mit ihr gehabt zu ha- ben. Die Invasion des Irak durch die USA nach dem 11. September 2001 wurde mit der angeblichen Gefahr durch Massenvernichtungswaffen be- gründet, für die bis heute keine Belege vorgelegt werden konnten.

Diese Auflistung stellt nur eine kleine Auswahl öffentlich bekannt ge- wordener Lügen dar (zur Übersicht „politischer Lügen“ siehe Hildebrandt

& Willemsen, 2007) und illustriert die Brisanz, die Aussagen beinhalten können, und die Bedeutung, die einer Differenzierung zwischen wahren, verzerrten und falschen Bekundungen zukommt.

Der sogenannte „Lügendetektortest“ (umgangssprachlicher Terminus für verschiedene psychophysiologische Testverfahren) jedoch wurde in Deutschland vom Bundesgerichtshof in einem höchstrichterlichen Urteil als für Strafverfahren nicht zulässig erklärt (BGH-Beschluss vom 24. Juni 2003). Und auch das Gedankenlesen, obwohl in regelmäßigen Abständen sensationelle Forschungsberichte publiziert werden, die einen Rück- schluss von neuronalen Messungen bzw. Datenerhebungen auf zugrunde- liegende psychische Prozesse versprechen, bleibt wohl auf absehbare Zeit Zukunftsmusik (zur Diskussion des Zusammenhangs zwischen neu- ronalen Prozessen und dem menschlichen Bewusstsein und dessen Er- forschbarkeit durch neurophysiologische Methoden siehe z.B. Schleim, 2008).

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Die Aussageanalyse als wissenschaftlich gut untersuchte Methode, die bei der Differenzierung zwischen wahren, erfundenen oder unbewusst verzerrten Berichten hilft, ist daher auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts weiter von hoher praktischer Relevanz. Dies wurde unlängst deutlich, als zahlreiche Vorwürfe wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen u.a. in verschiedenen halbgeschlossenen pädagogischen Einrichtungen und im Bereich der Kirche bekannt wurden (zur Übersicht und wissen- schaftlichen Einordnung des Phänomens des sexuellen Missbrauchs in Institutionen siehe z.B. Bründel, 2010). Bei sexuellem Missbrauch liegt es aber in der Natur des delikttypischen Sachverhaltes, dass dieser im Ver- borgenen geschieht und später oft Aussage gegen Aussage steht. Bei knapper Beweislage ist man daher auf eine genaue Analyse der Zeugen- aussage angewiesen. Doch die Anwendung der Aussagepsychologie ist nicht auf das Feld jener Strafverfahren beschränkt, bei denen es um Sexu- aldelikte geht. Es bestehen darüber hinaus Bestrebungen, die Methodik der Aussagepsychologie auf den zivilrechtlichen Bereich auszudehnen (siehe Dettenborn, 2001, zur Beurteilung des Missbrauchsverdachts in fa- miliengerichtlichen Verfahren). Weiterhin bestehen Überlegungen, aussa- gepsychologische Erkenntnisse auch bei Beschuldigtenvernehmungen oder bei der Befragung Asylsuchender anzuwenden.

Welche Anforderungen und Fragen an Aussagepsychologen gestellt werden, ist dabei stets von gesellschaftlichen Entwicklungen und Ereignis- sen sowie den rechtlichen Rahmenbedingungen abhängig:

In den 90er Jahren kam die Frage nach dem Wert von Geständnissen und die Problematik falscher Geständnisse im Zuge der Entwicklung der DNA-Analyse in den USA auf, als zahlreiche Fälle offenkundig unschul- dig Verurteilter bekannt wurden, von denen ein Teil „geständig“ gewesen war (siehe z.B. Kassin u.a. 2003). In der Folge wurde das „Innocence Project“ gegründet (Simon, Neufeld & Scheck, 2003).

Der sogenannte Wormser Prozess in Mainz und andere bekannt ge- wordene Prozesse, in denen auf der Basis von Kinderaussagen Anklage wegen sexuellen Missbrauchs erhoben wurde, verdeutlichen die Proble- matik suggestiver Beeinflussungen gerade von „professioneller“ Seite und zeigen auch, wie wichtig es ist, das Zustandekommen von Aussagen ge- nau unter die Lupe zu nehmen (Friedrichsen, 2005).

1999 wurde in einem Grundsatzurteil des BGH zum einen die krite- riengeleitete Aussageanalyse als wissenschaftlich fundierte Methode aner- kannt, zum anderen wurden Mindestkriterien für Glaubhaftigkeitsgutach- ten aufgestellt (s.u.).

Nach den Terroranschlägen in den USA im Jahr 2001 bekam die Thematik der Befragung Beschuldigter oder Verdächtiger für die öffentli- che Sicherheit existenzielle Bedeutung und rückte in den Mittelpunkt des politischen Interesses, mit der Zielrichtung, neuerliche Attentate verhin- dern zu können. Überlegungen gehen sogar in die Richtung, ob auch die

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inneren Vorstellungen und Bilder eines Menschen bezüglich geplanter Handlungen in der Zukunft (sogenannte „estimated future thoughts“) mit psychologischer Methodik erkundet werden könnten. Dies wäre ein ganz neues Feld: Nicht die Beurteilung von Aussagen über vollzogene Hand- lungen der Vergangenheit, sondern lediglich geplante mögliche Handlun- gen der Zukunft (Granhag, 2010).

Die Frage nach zulässigen Verhörmethoden, den Folgen eines Einsatzes von Folter bei Befragungen und dem Wert erzwungener Geständnisse stellte sich nach dem Bekanntwerden der Vorgänge in den Gefangenenla- gern von Guantánamo und Abu Ghraib mit neuer Brisanz (Costanzo &

Gerrity, 2009). Als in diesem Zusammenhang bekannt wurde, dass bei der Entwicklung jener „innovativen Verhörmethoden“, die auch als „weiße Folter“ oder „clean torture“ (Mausfeld, 2009) bekannt wurden, Psycholo- gen maßgeblich beteiligt waren, stellte sich auch die Frage nach deren Rolle und ethischer Verantwortlichkeit neu.

In jüngster Zeit wurde über einige Fälle in den Medien berichtet, durch die die aussagepsychologische Methodik einer breiteren Öffent- lichkeit bekannt und weithin diskutiert wurde – wobei eine emotionale Aufschaukelung zu beobachten war, die sich u.a. darin zeigte, dass es schon lange vor der Eröffnung der Gerichtsverhandlung zu einer Vorver- urteilung der jeweiligen Beschuldigten in der öffentlichen Meinung kam.

Bekannt wurde z.B. der sogenannte „Holzklotz-Mord“, in dem ein Geständnis eines dringend Tatverdächtigen vorlag, das später von diesem widerrufen und einer aussagepsychologischen Analyse unterzogen wurde.

Auch zur Aussage der Belastungszeugin im Fall des Fernsehmoderators Jörg Kachelmann, der ebenfalls spektakuläre Schlagzeilen produzierte, wurde ein aussagepsychologisches Gutachten eingeholt, von dem Aus- schnitte medial bekannt wurden. Ein anderer bekannt gewordener Prozess der letzten Zeit, in dem Zeugenaussagen eine wichtige Rolle spielten, war jener um die Tötung des Münchner Geschäftsmannes Dominik Brunner.

1. Leitlinien des aussagepsychologischen Vorgehens heute

Zentrales Kenzeichen einer wissenschaftlichen psychologischen Dia- gnostik ist ein ergebnisoffenes und hypothesengeleitetes Vorgehen, das innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses u.a. von Trankell (1971) bereits früh für den Bereich der Aussagepsychologie gefordert und durch den BGH in einem Grundsatzurteil von 1999 festgelegt wurde. Wichtige Leitlinien der dem Urteilsspruch zugrunde liegenden Gutachten von Stel- ler und Volbert (1999) einerseits und Fiedler und Schmid (1999) andererseits waren neben der Hypothesenleitung der Begutachtung die Wissenschaft- lichkeit des Vorgehens (z.B. durch Anwendung nur solcher Verfahren, die

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empirisch gut untersucht sind) sowie die Transparenz des Gutachtens (Nachvollziehbarkeit der einzelnen Schritte für die Rezipienten des Gut- achtens).

Bei Glaubhaftigkeitsbegutachtungen bedeutet ein hypothesengeleitetes Vorgehen, dass auf der Grundlage der bekannten Anknüpfungstatsachen (aus der Gerichtsakte) alternative Hypothesen – neben der zentralen Er- lebnishypothese – gebildet werden, die im Laufe des Begutachtungspro- zesses noch verändert oder erweitert werden können. Wie Greuel und Heubrock (2006) schreiben, ist der forensisch-psychologische Begutach- tungsprozess somit ein reflexiver Prozess systematischer Hypothesenprüfung.

Diese alternativen Hypothesen dazu, wie eine individuelle Aussage zu- stande gekommen sein könnte, bilden dann die Grundlage für die Pla- nung der Untersuchung und die Untersuchungsdurchführung.

Die Untersuchung wiederum sollte so angelegt sein, dass die aufgestell- ten Hypothesen – anhand eines wissenschaftlich fundierten Vorgehens – getestet und angenommen oder aber verworfen werden können. Wenn die alternativen, nicht erlebnisbasierten Möglichkeiten der Aussageentste- hung zurückgewiesen werden können, wird im Umkehrschluss ange- nommen, dass der Aussage ein realitätsbezogenes Erlebnis zugrunde liegt.

a) Erlebnisbasiertheit

Der Begriff „Erlebnisbasiertheit“ trägt dem Gedanken Rechnung, dass die Erinnerung ein subjektiv eingefärbter, rekonstruktiver Prozess ist und es bei der Aussagebeurteilung weniger darum gehen kann, eine irgendwie geartete „objektive Wahrheit“ zu überprüfen als vielmehr zu analysieren, ob ein Bericht auf einer Erlebnisgrundlage beruht. Die Aussage wird da- bei als das Ergebnis von Wechselwirkungen zwischen situativen Bedin- gungen der Aussageentstehung sowie Merkmalen des Zeugen angesehen, die sich in einer mehr oder weniger qualitativ hochwertigen Aussageleis- tung niederschlagen, welche dann nach bestimmten Qualitätskriterien untersucht werden kann.

Entsprechend werden beim aussagepsychologischen Vorgehen grund- sätzlich drei Komplexe berücksichtigt: a) inhaltliche Merkmale der Aussa- ge, b) Aussageumfeld sowie c) individuelle besondere Aspekte bzw. Ak- zentuierungen des Zeugen.

Dabei wird, seit die Problematik fälschlich suggerierter sogenannter

„Pseudoerinnerungen“ durch verschiedene spektakuläre Missbrauchspro- zesse bewusst geworden ist, ein stärkeres Gewicht als früher auf die Ana- lyse der Entstehung und Weiterentwicklung einer Aussage gelegt.

b) Bildung alternativer Hypothesen

Zur Bildung alternativer Hypothesen existieren verschiedene Systema- tiken. Eine länger etablierte stammt von Greuel (2001), eine neuere von

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Volbert (2010). Nach Volbert (2010) werden im wesentlichen zwei alterna- tive Hypothesen aufgestellt, die sich jeweils weiter differenzieren lassen:

Zum einen die Hypothese, dass es sich bei der Aussage um eine absichtli- che Falschdarstellung handele (sogenannte „Lügenhypothese“); zum ande- ren die Hypothese, dass es sich bei der zu prüfenden Hypothese um eine subjektiv vom Zeugen für wahr gehaltene Pseudoerinnerung handelt, die durch suggestive Einflüsse oder autosuggestive Tendenzen zustande ge- kommen ist.

Früher zusätzlich aufgestellte Hypothesen (vergl. Greuel, 2001), wie die Projektionshypothese (dass ein mit einer anderen Person erlebtes Ge- schehnis oder ein passiv wahrgenommenes Ereignis fälschlich auf eine bestimmte Person bzw. Situation übertragen wird), oder die Irrtumshypo- these (dass Verzerrzungen einer Erinnerung z.B. durch konstruktives Schließen von Erinnerungslücken aufgetreten sind), lassen sich unter diese zwei hauptsächlichen Hypothesen subsumieren.

2. Dreischrittiges Vorgehen bei der Hypothesenprüfung:

Bei der Prüfung der Glaubhaftigkeit bzw. Erlebnisbasiertheit einer Aus- sage werden drei Aspekte betrachtet, und zwar:

a) Die Aussagetüchtigkeit sowie individuelle Aussagekompetenz des Zeu- gen

b) Die Aussagequalität (Merkmalsanalyse)

c) Die Aussagezuverlässigkeit (Prüfung möglicher Fehlerquellen) durch Analyse der Genese der Aussage und deren Weiterentwicklung

a) Aussagetüchtigkeit und Aussagekompetenz

Der Begriff „Aussagetüchtigkeit“ bezieht sich nach Volbert & Lau (2008) auf die Fähigkeiten einer Person, einen spezifischen Sachverhalt zuverlässig wahrzunehmen, einzuspeichern, wiederabzurufen und zu äu- ßern sowie Erlebtes von anders generierten Vorstellungen zu unterschei- den. Die Aussagetüchtigkeit ist demnach zu verstehen als eine „Interak- tion von Fähigkeiten, Aufgabe und Erhebungssituation“. Nach Greuel (2001) ist etwa ab dem 4. Lebensjahr eine Aussagetüchtigkeit bei Kindern zu erwarten, wobei ab dem 5. Lebensjahr die Fähigkeit zunehme, ohne Hilfestellung Dritter über erlebte Ereignisse zu berichten. Zu Beginn des Grundschulalters nähern sich nach Volbert und Lau (2008) die Berichte der Kinder in ihrer Organisation und Logik den Darstellungen von Er- wachsenen an. Bei Erwachsenen wird grundsätzlich von Aussagetüchtig- keit ausgegangen, es sei denn, der Zeuge leidet an einer psychischen Stö- rung, die jene Grundfertigkeiten beeinträchtigt, die zum Abgeben einer Aussage notwendig sind (z.B. könnte dies bei einer Schizophrenie der Fall sein) oder aber es ist von einer vorübergehenden Beeinträchtigung

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der Aussagetüchtigkeit aufgrund von Drogen-, Medikamenten- oder Al- koholkonsum auszugehen.

Ist eine Aussagetüchtigkeit gegeben, muss weiterhin die individuelle Aussagekompetenz überprüft werden (siehe Greuel & Heubrock, 2006).

Hierzu werden sogenannte individuelle Vergleichsstandards erhoben (v.a. die kognitive Leistungsfähigkeit, das Vorwissen im sexuellen Bereich sowie der Ausdrucks- und Erinnerungsstil des Zeugen im fallneutralen Bereich), die später mit den Aussageleistungen zur Sache in Bezug gesetzt werden können.

b) Aussagequalität

Die Aussagequalität betrifft die eigentliche Zeugenaussage, die im Rah- men einer kriterienorientierten Inhaltsanalyse (s.u.) auf das Vorhandensein und den Ausprägungsgrad von Glaubhaftigkeitsmerkmalen hin zu über- prüfen ist. Hierbei wird stets ein sog. Qualitäts-Kompetenz-Vergleich (Steller & Volbert, 2009) gezogen, also die Qualität der Aussage zur Kom- petenz der aussagenden Person in Bezug gesetzt.

c) Aussagezuverlässigkeit

In einem dritten Schritt ist die Aussagezuverlässigkeit zu analysieren.

Hiermit ist gemeint, ob und inwieweit eine substanzielle Verfälschung der Aussage ausgeschlossen werden kann. Hierzu werden die inneren und äußeren Rahmenbedingungen des Zustandekommens der Aussage mit in die Betrachtung einbezogen. Bedenken können sich z.B. durch Aggrava- tionstendenzen (Zunahme der Belastungsintensität über die Zeit) oder Hinweise auf suggestive Einwirkungen ergeben.

3. Zentrale Komponente der aussagepsychologischen Untersu- chung: Die inhaltliche Merkmalsanalyse

In den letzten Jahrzehnten sind verschiedene Kriterienkataloge für sol- che Aussagemerkmale, die überzufällig in erlebnisbasierten Berichten enthalten sind und nach dem Prinzip der Aggregation in der Summe und bei stimmigem Wechselbezug valide Schlussfolgerungen erlauben können (Fiedler und Schmid, 1999), erstellt und auch empirisch überprüft worden.

Der grundlegende Gedanke wurde von Undeutsch (1967) für die brei- tere wissenschaftliche Öffentlichkeit formuliert:

Aussagen über selbst erlebte faktische Begebenheiten müssen sich von Äuße- rungen über nicht selbst erlebte Vorgänge unterscheiden durch Unmittelbarkeit, Farbigkeit und Lebendigkeit, sachliche Richtigkeit und psychologische Stimmig- keit, Folgerichtigkeit der Abfolge, Wirklichkeitsnähe, Konkretheit, Detailreichtum, Originalität und – entsprechend der Konkretheit jedes Vorfalls und der individuel-

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