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nach einer Okkupation Ostpreußens und einer Niederlage der Habsburger- monarchie erfolgen.

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C'est done bien de >guerre<, qu'il etait question dans ces entretiens, so gestand Maurice Paleologue im Jahr 1936 Pierre Renouvin, mais de guerre defensive uniquement. M. Poincare, sur le moment, ne cacbait nullement que, dans ses conversations, e'etait I'eventualite d'un conflit qu'il avait en vuex. Ces entre- tiens - mit diesem Hinweis bezog sich der ehemalige Botschafter mehr als zwanzig Jahre nach den eigentlichen Geschehnissen auf die Unterredungen, die Poincare und der russische Monarch zwischen dem 20. und 23. Juli 1914 in Sankt Petersburg geführt hatten, als dem französischen Präsidenten be- wußt zu werden begann, daß am internationalen Horizont eine Krise herauf- zog, die in einen großen europäischen Krieg einmünden konnte.

Hatte Poincare aufgrund der ihm aus dem Außenministerium zugehen- den Informationen zunächst das Ausmaß der Krise, die durch das Attentat auf den Thronfolger der Doppelmonarchie entstanden war, verkannt, so hatte sich seine Wahrnehmung während des Staatsbesuches unter dem Ein- fluß der schon weit fortgeschrittenen russischen Befürchtungen gründlich gewandelt. Man wird deshalb nicht den Ausführungen des britischen Hi- storikers John Keiger zustimmen können, der in seinen Untersuchungen zur französischen Außenpolitik in der Julikrise die Ansicht vertreten hat, daß die internationale Gefahrenlage bis zuletzt unterschätzt worden sei2. Vielmehr war Poincare noch vor seiner Abreise zu der Auffassung gelangt, daß die Habsburgermonarchie im Begriff stand, eine Reihe von Forderun- gen an Serbien zu richten, die deutlich über das zwischen souveränen Staa- ten übliche Maß hinausgehen und zudem von einer militärischen Drohung geleitet werden würden.

Ces entretiens - damit waren auch die Unterredungen gemeint, in denen - wie sich aufgrund einer Reihe von der historischen Forschung bislang unbe- achteter oder ihr unbekannter Quellen nachweisen läßt - Poincare vom rus- sischen Monarchen verlangte, den habsburgischen Forderungen mit einer Politik der fermete entgegenzutreten und ihm derart den militärischen Bei- stand Frankreichs für den Kriegsfall zusicherte. Denn im Kontext einer inter- nationalen Krise, in der die französischen und russischen Entscheidungs- träger nicht allein eine militärische Auseinandersetzung auf dem Balkan, sondern auch den Großen Krieg als eine mögliche Entwicklung in Betracht zogen, kam die Forderung nach einer Politik der fermete, das heißt, einer ent- schlossenen Wahrung der russischen Interessen, einer Zusicherung militäri- schen Beistands gleich; es sei denn, man wolle annehmen, daß Poincare seine Worte leichtfertig wählte, was aber angesichts seiner Krisenwahrnehmung,

1 Zit. GlRAULT, Maurice Paleologue repond ä Pierre Renouvin, S. 62.

2 Zit. KEIGER, Poincare, S. 167. Vgl. auch DERS., France and the Origins, S. 146F., 152.

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der möglichen Tragweite seiner Forderung und nicht zuletzt aufgrund seiner Persönlichkeit mit großer Sicherheit ausgeschlossen werden kann.

Seine Einlassungen leiteten dann die Erklärungen uneingeschränkten Bei- stands ein, die Paleologue in den folgenden Tagen dem russischen Außenmi- nister Sasonow gab. Auch wenn nicht zu verkennen ist, daß dieses Handeln in einem deutlichen Widerspruch zu der grundsätzlich mäßigenden Disposi- tion seines Ministerpräsidenten stand, bestimmte der Botschafter die Politik seines Landes damit nicht nach Art eines »ambassadorial dictatorship«3 - traf er seine grundlegende Entscheidung am 24. Juli doch im Einklang mit den außenpolitischen Prioritäten des Präsidenten.

Obgleich in den entscheidenden Tagen die Einlassungen Poincares und Paleologues die Chancen für ein politisches Arrangement der Großmächte beträchtlich minderten, galt ihr Handeln in der Julikrise nicht primär der mi- litärischen Eskalation oder gar ausgreifenden Ambitionen, die nur durch den Einsatz militärischer Machtmittel zu erreichen waren, sondern einem unter- halb der Schwelle des Krieges durch machtpolitische Pression und militäri- sche Demonstration errungenen politischen Erfolg. Im Jahr 1922 führte der ehemalige Präsident nicht zu unrecht in einem Brief an seinen Freund Paleo- logue aus: Oui, le pays vent de la fermete. Mais en 1914, il voulait, comme moi, de la fermete f...] au service de la paix4. Doch was Poincare in seinem Schreiben an dieser Stelle mit Schweigen überging, war der entscheidende Umstand, daß er sich für den Fall eines Scheiterns einer Politik der fermete, die ohne politische Alternative und mit nur geringer Konzessionsbereitschaft konzipiert worden war, dazu bereit gefunden hatte, den Großen Krieg in Eu- ropa zu führen, um den Rang Frankreichs im internationalen Staatensystem zu behaupten und den russischen Bundesgenossen nicht zu verlieren.

Daß sich mit einem Handeln, das das Deutsche Reich und die Habsburger- monarchie mit Hilfe einer machtpolitischen Pression zum Einlenken zu zwingen trachtete, ein kaum zu kalkulierendes Kriegsrisiko verband, haben die französischen Entscheidungsträger damals deutlich erkannt und bewußt in Kauf genommen. Denn einerseits teilten sie grundsätzlich die Auffassung, daß das Deutsche Reich zwar einen auf den Kontinent begrenzten, nicht aber einen um Großbritannien erweiterten Koalitionskrieg zu führen gewillt war und folglich im Rahmen einer internationalen Krise der britischen Haltung erhebliche, wenn nicht maßgebliche Bedeutung zufallen mußte. Bei allem, wenngleich verhaltenen Optimismus, der in der Frage eines britischen Kriegseintritts bestand, waren Poincare und Paleologue aber andererseits auch der Auffassung, daß aufgrund der herausragenden Bedeutung, die der öffentlichen Meinung Großbritanniens im Rahmen einer Entscheidung über Frieden und Krieg zukam, das britische Handeln in einer internationalen

3 Zit. HALFOND, Maurice Paleologue, S. 274. Vgl. damit grundsätzlich übereinstim- mend: HAYNE, French Foreign Office, S. 294 f.

4 Zit. Poincare an Paleologue, 23. 2.1921, in: N L Paleologue. Dokument im Besitz von Roger Lebon.

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Krise nicht mit Sicherheit prognostiziert werden konnte und dies zumal dann der Fall war, wenn die british interests nicht unmittelbar berührt wur- den oder möglicherweise nicht eindeutig entschieden werden konnte, wem letztlich das Odium des Aggressors zufallen würde. Kühn gedachte man in der Julikrise über Großbritannien zu verfügen, obgleich man erkannt hatte, daß nicht über dieses Land disponiert werden konnte, und angesichts dieses Umstands wird man dem Urteil des ehemaligen Attaches der französischen Botschaft in Petersburg seine Zustimmung nicht versagen können, der rück- blickend bemerkte: C'est folie de jouer une carte que l'on n'a pas dans son jeu5.

Daß die Unsicherheit über eine militärische Intervention Großbritanniens auch zu einer ganz anders gearteten Haltung führen konnten, macht das Handeln des russischen Außenministers deutlich, der sich zunächst in den Gesprächen mit der Staatsführung des Bündnispartners und dann am 24. Juli in seiner Unterredung mit dem britischen und dem französischen Repräsen- tanten durch eine Zurückhaltung auszeichnete, die in markantem Kontrast zu der Bereitschaft stand, mit der Paleologue die unbedingte Unterstützung Frankreichs zusicherte. From French Ambassador's language it almost looked, so berichtete Buchanan in beinahe erstaunt anmutendem Tonfall an sein Außenministerium in London, as if France and Russia were determined to make a strong stand even if we declined to join them. Language of Minister for Foreign Affairs, however, was not so (? decided) [sic] on this subject

Nicht allein nach Ansicht Sasonows, sondern auch nach von der militäri- schen Führung grundsätzlich geteilter Auffassung barg ein Krieg, in dem Rußland allein den Beistand Frankreichs besaß, ein beträchtliches Risiko. In deutlichem Kontrast zu den Entscheidungsträgern, die sich in den letzten Jahren vor Ausbruch des Krieges im Deutschen Reich, in Großbritannien oder auch Frankreich ein fast unheimlich anmutendes Urteil von der Größe russischer Macht gebildet hatten, galten dem Außenminister die militäri- schen Möglichkeiten seines eigenen Landes als bescheiden. Erst eine britische Seeblockade nahm sich in seinem Urteil als eine lebensbedrohliche Gefahr für das Deutsche Reich aus, und folglich vermochte allein England dem Geg- ner einen mortal blow7 zu versetzen. Doch in der entscheidenden Minister- ratssitzung, die am 24. Juli den Beschluß faßte, einen Angriff der Habsbur- germonarchie auf Serbien mit einer militärischen Intervention zu erwidern, mußte Sasonow eingestehen, daß unter den gegebenen Umständen eine briti- sche Intervention ungewiß war8.

Vor dem Hintergrund einer Gesamtsituation, in der den russischen Ent- scheidungsträgern einerseits die Intervention Großbritanniens als notwen-

5 Zit. Voyage de Poincare, juillet 1914, in: N L de Robien, AN, 427 AP 5, fol. 78.

6 Zit. Buchanan an Grey, 24. 7. 1914, in: BD 11,101.

7 Zit. Buchanan, Annual Report Russia 1913, 4. 4. 1914, in: BDFA Russia 6/172.

8 Vgl. Bark's Memoirs, in: N L Bark, Rare Book and Manuscript Library. Columbia University, 1/7, S. 11 f.

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dige Bedingung eines militärischen Triumphs galt, sie andererseits aber nach Lage der Dinge im Juli 1914 eine britische Neutralität nicht auszuschließen vermochten, erfüllte Poincares Forderung nach einer Politik der fermete keine andere Funktion, als den Bündnispartner zu einer letztlich zu allem entschlossenen "Wahrung seiner Interessen zu ermuntern und ihn im Kriegs- fall auf ein Handeln gemäß der strategischen Forderungen Frankreichs fest- zulegen. Als Paleologue dann im Jahr 1936 Renouvin über die Petersburger Unterredungen erläuterte:

Les Russes disaient: en cas d'attaque allemande, il est tres important d'avoir le concours de l'Angleterre. M. Poincare se demandait si cette insistance au sujet de l'Angleterre, ne masquait pas une >derobade<> et si les Russes n'avaientpas l'intention, le cas echeant, de se prevaloir d'une abstention anglaise pour iviter de tenir leurs engagements; il insistait done d'autant plus pour avoir l'assurance d'un concours actif et rapide des armees russes en cas de guerre. Ce qu'on craignait alors, du cote franqais, cen'etaitpas d'etre >entraine<

par la Russie, e'etait d'etre mal appuyepar eile, en cas d'attaque allemande9,

handelte es sich folglich bei diesen Ausführungen nicht um Konfabulationen oder um die Einlassungen eines Botschafters, der seine gegenüber Sasonow gemachten und durch die britische Aktenpublikation frühzeitig bekannt ge- wordenen Erklärungen nachträglich mit falschen Behauptungen zu rechtfer- tigen suchte, sondern um eine prägnante Charakterisierung der außenpoliti- schen Prioritäten Frankreichs in der Julikrise. Paleologue gab damit dem wis- senschaftlichen Kontrahenten des Historikers Recht, der ihn 1936 aufsuchte:

Hatte doch Jules Isaac schon einige Jahre zuvor in seiner Untersuchung »Un debat historique. Le probleme des Origins de la Guerre« vermutet, daß es in der Julikrise die alles beherrschende Sorge Frankreichs gewesen sei, [de]

prendre a revers l'agresseur suppose, soupgonni, designe par avarice - l'Alle- magne10.

Daß sich schon in diesem frühen Stadium der Julikrise die Gedanken eines Teils der Staatsführung um die Frage drehten, wie denn der große Krieg, ein- mal ausgebrochen, am besten zu gewinnen sei, war dann auch einer der Gründe, die der französischen Außenpolitik in den nachfolgenden Tagen un- verkennbar das Gepräge einer Doppelstrategie gaben. In ihrem Rahmen ließ sich sowohl eine nach den einzelnen Entscheidungsträgern unterschiedlich abgestufte Bereitschaft zu einem politischen Arrangement, als auch der Ver- such erkennen, Frankreich in eine möglichst günstige Ausgangsposition für den Großen Krieg zu manövrieren.

Letzteres zog sich zu einem sehr bedeutenden Teil - nicht allein in außen-, sondern auch in innenpolitischer Hinsicht - in der Frage zusammen, ob dem Deutschen Reich im Falle einer militärischen Eskalation der Krise das Odium des Aggressors anhaften würde. Denn nach Ansicht der französi- schen Staatsführung war Frankreich weder willens für ein fernes Land an der

9 Zit. GLRAULT, Maurice Paleologue repond ä Renouvin, S. 62.

1 0 Zit. ISAAC, Un debat historique, S. 214. Vgl. auch ibid., S. 114, 151.

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Peripherie Europas noch für den ungeschmälerten Fortbestand seines russi- schen Bündnisses geschlossen in einen großen europäischen Krieg zu ziehen.

Wenn auch keine Rede davon sein kann, daß Poincare und Paleologue, als es am 23. und 24. Juli eine weichenstellende Entscheidung über den außenpoli- tischen Kurs Frankreichs zu treffen galt, unter dem Druck oder nur dem Ein- fluß einer öffentlichen Stimmungslage handelten, so mußte man im weiteren Fortgang bei Entscheidungen die öffentliche Wahrnehmung doch berück- sichtigen, und Präsident, Kabinett und Außenministerium entfalteten dann auch eine nicht geringe Aktivität, um im Kriegsfall die Verantwortung des Deutschen Reiches darzulegen.

Was die französische Konzessionsbereitschaft betraf, so wurde diese zum Gegenstand der Prüfung, als Frankreich am 24. Juli mit einem britischen Ver- mittlungsangebot konfrontiert wurde, das im Kern schon in diesem frühen Stadium der Krise der Habsburgermonarchie die Konzession einer begrenz- ten Okkupation serbischen Territoriums machte. Innerhalb der Staatsfüh- rung führte das britische Angebot zu einem Konflikt, der letztlich deutlich macht, daß die Forschung die Untersuchung der einzelnen politischen Ent- scheidungsträger nicht vernachlässigen darf, die unter denselben Bedingun- gen und Notwendigkeiten der Geschichte standen und doch in ihrem Han- deln sehr unterschiedlichen Prioritäten folgten.

Denn der Ministerpräsident und Außenminister Frankreichs, der Paleolo- gue schon in Sankt Petersburg mit den Worten: Nous nous ew/[outons] de la Serbien angefahren und damit erklärt hatte, daß ihn das Schicksal dieses Lan- des - gelinde formuliert - vollkommen gleichgültig lasse, fand sich im Inter- esse des Friedens grundsätzlich bereit, der Habsburgermonarchie in ihrer Auseinandersetzung mit Serbien einen begrenzten, gerade noch erträglichen militärischen Triumph zu konzedieren und in diesem Sinne mäßigend auf Rußland einzuwirken. Doch aufgrund einer massiven Intervention des Präsi- denten unterstützte er den britischen Vorschlag nicht, sondern wartete zu- nächst den weiteren Fortgang der Krise, das heißt: die russische Reaktion ab.

Großbritannien, das von Frankreich allein gelassen wurde, sollte sein Ange- bot den Großmächten erst wieder unterbreiten, als in der Endphase der Juli- krise die Mechanik der Mobilmachungen einem friedlichen Ausgleich die letzte Aussicht auf Erfolg genommen hatte.

Eine charakterliche Disposition - die Entscheidungsschwäche des in au- ßenpolitischen Angelegenheiten unerfahrenen Ministerpräsidenten, die Poincare zu unterschiedlichen Gelegenheiten der Krise einen außergewöhn- lichen und extrakonstitutionellen Handlungsspielraum eröffnete - ist an er- ster Stelle zu nennen, wenn es um die Benennung der Ursachen für den Um- stand geht, daß Viviani der Außenpolitik Frankreichs im Juli 1914 nicht seine Prägung zu geben vermochte. Von besonderer Bedeutung war in diesem Zu-

11 Zit. Notiz Doulcets über ein Gespräch mit Paleologue, in: N L Doulcet, MAE, PA- AP 240/23, fol. 100.

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sammenhang auch das Handeln Paleologues, in dessen Berichterstattung nicht allein die russische Entscheidung, einen Angriff der Habsburgermonar- chie auf Serbien mit einer militärischen Intervention zu erwidern, keine Er- wähnung fand, sondern der darüber hinaus auch den Eindruck zu erwecken suchte, daß der Bündnispartner zu beträchtlichen Konzessionen bereit war, um ein mäßigendes Einwirken des Ministerpräsidenten zu verhindern.

Seinen außenpolitischen Kurs der kalkulierten Desinformation setzte Pa- leologue bis in die Endphase der Julikrise hinein fort. Obgleich angesichts der Quellenlage nicht alle Anklagen, die die historische Forschung im Zu- sammenhang mit seiner Berichterstattung über die russische Generalmobil- machung erhoben hat, auf einem sicheren Fundament ruhen, und insbeson- dere keine letzte Klärung der Frage möglich scheint, warum am 31. Juli sein die Generalmobilmachung übermittelndes Telegramm den Quai d'Orsay erst mit großer Verspätung erreichte, kann es doch als gesicherte Erkenntnis gel- ten, daß der Botschafter weder am 29. Juli noch am folgenden Tag seinen Au- ßenminister davon in Kenntnis zu setzen suchte, daß der Bündnispartner im Begriff stand, einen Schritt zu tun, der einem politischen Ausgleich umge- hend die letzte Aussicht auf Erfolg nehmen mußte. Doch in seinen Auswir- kungen auf die Krisenwahrnehmung der Staatsführung wird man dieses letzte Täuschungsmanöver nicht überbewerten dürfen - hatten doch Poin- care und Viviani aufgrund der Informationen, die ihnen der russische Bot- schafter Iswolski übermittelte, sehr wohl erkannt, daß das Zarenreich zu die- sem Zeitpunkt im Begriff stand, mit seiner Generalmobilmachung eine den Großen Krieg präjudizierende Entscheidung zu treffen.

Diese Erkenntnis stellte sich in der Endphase der Julikrise zu einem Zeit- punkt ein, als innerhalb der Staatsführung aufgrund einer ganz unterschied- lich gearteten Konzessionsbereitschaft, die von den marginalen Zugeständ- nissen Poincares bis hin zu den beträchtlichen, gar eine partielle Okkupation serbischen Territoriums einschließenden Konzessionen des Ministerpräsi- denten und Außenministers reichte, noch gegensätzliche Auffassungen hin- sichtlich der Möglichkeit eines politischen Arrangements bestanden. Daß in einer Situation, in der ein Teil der politischen Leitung nur noch darum be- müht war, Frankreich in eine möglichst günstige Ausgangsposition für den Krieg zu manövrieren, während ein anderer Teil noch immer an die Möglich- keit einer diplomatischen Lösung glaubte, die Erkenntnis einer drohenden russischen Generalmobilmachung nicht zum Anlaß einer elementaren Aus- einandersetzung über den außenpolitischen Kurs führte, hatte seinen Grund in dem Dilemma, daß einem militärischen Triumph nicht allein unterschied- liche, sondern gar widersprüchliche Bedingungen unterlagen. Nunmehr wurde offensichtlich, daß auf Frankreichs strategische Planungen unter Ge- neralstabschef Joffre das zutraf, was einmal in bezug auf einen ganzen ande- ren Gegenstand konstatiert worden ist. Auch bei ihnen handelte sich um »ein Geflecht von sich überschneidenden, teilweise widersprechenden Erwartun- gen, Hoffnungen und Befürchtungen, die mit wechselnder Stärke wirksam

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waren und deshalb auch kaum auf griffige Formeln verkürzt werden kön- nen«12.

Denn war es einerseits in innen- und außenpolitischer Hinsicht erforder- lich, das Deutsche Reich mit der Kriegsschuld zu belasten und ihm im Zuge eines kalkulierten Manövers die Initiative im Rekurs auf die militärischen Machtmittel zu überlassen, so galt es andererseits sicherzustellen, daß Ruß- land zu einem umgehenden und uneingeschränkten Angriff auf das Deutsche Reich schritt. Letzteres war um so dringlicher geboten, als Frankreich sich durch das Konzept der offensive a outrance seit 1912 in einer strategischen Gesamtsituation befand, in der Erfolg oder Scheitern, Triumph oder Nieder- lage im Kriegsfall in entscheidendem Maße vom Handeln des Bündnispart- ners abhängig waren.

Schon in seiner letzten Unterredung mit dem russischen Monarchen hatte sich Poincare deshalb bemüht, den Bündnispartner im Kriegsfall auf ein Handeln gemäß der strategischen Forderungen Frankreichs festzulegen.

Strategische Erwägungen waren es auch gewesen, von denen sich Frankreich in seiner Reaktion - oder besser gesagt, im Ausbleiben einer Reaktion - auf die ersten militärischen Maßnahmen Rußlands und dann auch auf dessen ge- gen Österreich-Ungarn gerichtete Mobilmachung leiten ließ. Hatte doch Poincare schon im Dezember 1912, und das heißt, in einer der Julikrise ganz ähnlich gelagerten Krisensituation, den russischen Bündnispartner zu um- fangreichen militärischen Maßnahmen mit der Begründung gedrängt: Tonte superiorite de preparation qui serait acquise a l'Autriche-Hongrie pourrait, en effet, amener l'Allemagne a diriger vers notre frontiere une partie des corps d'armee stationnes sur sa frontiere Orientale13.

Für Paleologue sollte ein Denken in den Bahnen militärstrategischer Not- wendigkeiten auch in den letzten Tagen der Krise handlungsleitend sein, als sich herausstellte, daß es dem Bündnispartner gar nicht möglich war, seinen politischen Forderungen einen begrenzten militärischen Nachdruck zu ver- leihen. Als Rußland von einer partiellen zu einer allgemeinen Mobilmachung schritt, warnte der Botschafter den Außenminister nicht, sondern zeigte sich, wie er Pierre Renouvin schon im Jahr 1922 eingestanden hatte, meme satisfait parce que depuis le decret de mobilisation] partielle, il craignait de voir l'ar- mee russe s'engager a fond contre l Au triebe, et negliger ainsi l'Allemagne.

Cela aurait contrarie les espoirs de /'£[tat] A/[ajor] franqais qui comptait sur la Russie pour >alleges< le front frangais14.

Komplizierter nahm sich die Lage der Dinge für die Entscheidungsträger in Paris aus, da diese nicht bereit waren, allein auf die russische Karte zu set- zen. Hier war es insbesondere die unentschlossene Haltung Großbritan- niens, die dem Ministerpräsidenten und Außenminister Viviani auch ange-

12 Zit. Volker ULLRICH, Das deutsche Kalkül in der Julikrise 1914 und die Frage der englischen Neutralität, in: G W U 34 (1983), S. 79-97, hier S. 80.

13 Zit. Poincare an Louis, 9.12. 1912, in: D D F 3, 5, 22.

14 Zit. GlRAULT, Maurice Paleologue repond ä Pierre Renouvin, S. 60.

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sichts der militärischen Imperative einer Doktrin des uneingeschränkten An- griffs einen zwar nicht umfassenden, gleichwohl aber begrenzten Hand- lungsspielraum gab und es ihm ermöglichte, dem Bündnispartner eine War- nung zu übermitteln. Doch seine Intervention erfolgte weder zur rechten Zeit noch konnte seine >Warnung<, die mit seinem Wissen vom Politischen Direktor des Außenministeriums und vom Kriegsminister deutlich relati- viert wurde, aufgrund der militärischen Notwendigkeiten in der erforderli- chen Eindringlichkeit erfolgen, um noch eine Wirkung auf den russischen Entscheidungsprozeß zeitigen zu können.

Angesichts der unentschlossenen und mehrfach schwankenden Haltung des russischen Monarchen, der in markantem Kontrast zu den Diktatoren, die ihm im 20. Jahrhundert nachfolgen sollten, beträchtliche Skrupel hatte, das Blut seiner Untertanen zu vergießen, und der den Befehl zur Generalmo- bilmachung am 29. Juli zunächst aufhob, um ihn am darauffolgenden Tag nur unter dem massiven Druck seines Generalstabschefs und seines Außenmini- sters erneut in Kraft zu setzen, bedeutet es nicht, den spekulativen Optativ zu bemühen, wenn man annimmt, daß eine entschlossene Warnung den Zaren in seinem Widerstand bestärkt haben und damit einem friedlichen Arrangement noch gleichsam einmal in letzter Minute eine Aussicht auf Erfolg eröffnet ha- ben würde, zumal das Deutsche Reich zu diesem späten Stadium der Krise begann, mäßigend auf die Habsburgermonarchie einzuwirken.

Da die russische Generalmobilmachung am 31. Juli den Beginn des Gro- ßen Krieges markierte, war es für die weitere Entwicklung von keiner Bedeu- tung mehr, daß am folgenden Tag auch Frankreich zur umfassenden Mobil- machung schritt. Nur in margine sei deshalb noch bemerkt, daß der franzö- sische Generalstabschef - da im Rahmen eines uneingeschränkten Angriffs die strategische Initiative nicht an das Deutsche Reich fallen durfte - in der Endphase der Krise vehement die Generalmobilmachung gefordert und ei- nen erheblichen Druck auf den Teil der französischen Staatsführung ausge- übt hatte, der noch bis zum 1. August 1914 an die Möglichkeit einer politi- schen Lösung glaubte. Den Kräften innerhalb der Staatsleitung, die in den letzten Krisentagen ihr Land nur noch in eine möglichst günstige Ausgangs- position für den Krieg zu manövrieren trachteten, erwuchs nun im Plan XVII ein mächtiger Bündnispartner, der es am 1. August trotz der vom Mi- nisterpräsidenten und Außenminister geteilten Bedenken eines Teils des Ka- binetts möglich machte, zur Generalmobilmachung überzugehen.

Betrachtet man rückblickend noch einmal die einzelnen Entscheidungsla- gen, an denen die Geschichte Europas - freilich mit abnehmender Wahr- scheinlichkeit - eine ganz andere Entwicklung hätte nehmen können: die von der britischen Zurückhaltung genährte Unsicherheit des russischen Außen- ministers, das erste vermittelnde Angebot Großbritanniens, das im Kern schon in einem frühen Stadium der Krise der Habsburgermonarchie die Konzession einer partiellen Okkupation serbischen Territoriums machte, und zuletzt den Entscheidungsprozeß, der zur russischen Generalmobilma-

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chung führte, so wird man nicht der in der historischen Forschung vorherr- schenden These zustimmen können, daß Frankreich in der Julikrise 1914 ein

»minor player«15 gewesen sei. Vielmehr erscheint der »forgotten bellige- rant«16 als ein Akteur von herausgehobener Bedeutung, der mit seinem Tun oder Unterlassen an entscheidenden Stellen dieser internationalen Krise dem Gang der Dinge eine Wendung zu geben vermochte, die sie nicht in einen friedlichen Ausgleich, sondern in die »Ur-Katastrophe des 20. Jahrhun- derts«17 einmünden ließ.

Fragt man nun nach den Motiven dieses Handelns sowie den es konditio- nierenden Umständen und schreitet in diesem Sinne - von der Peripherie ins Zentrum rückend - noch einmal alle Stationen der vorliegenden Untersu- chung ab, so wird man zunächst konstatieren können, daß weder die politi- sche noch die militärische Führung Frankreichs die ganze Dimension der Auseinandersetzung erkannte, die von der Julikrise ihren Ausgang nahm und in dieser Hinsicht der Kriegsausbruch tatsächlich durch einen »lack of imagi- nation«18 befördert wurde. Zwar war man sich auch in Frankreich der Tat- sache bewußt, daß eine militärische Auseinandersetzung zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht mehr einem Krieg der Kabinette, sondern einem exi- stentiellen Ringen der Nationen gleichen sollte. Doch zog man aus dieser Einsicht nicht die Schlußfolgerung, daß sich ein solcher Konflikt über einen langen Zeitraum erstrecken würde. Sollte der Gang der historischen For- schung bestätigen, daß der deutsche Generalstab im Juli 1914 einen Krieg von ungewisser Dauer erwartete, in dessen Rahmen es zu einer gegenseitige^n]

Zerfleischung der europäischen Kulturstaaten19 kommen würde, so wird man festhalten müssen, daß das Kriegsbild der aristokratischen Entscheidungsträ- ger des Deutschen Reiches sehr viel moderner war als das ihrer bürgerlichen Gegenspieler in Frankreich.

Doch auch wenn die militärische und politische Führung Frankreichs - insgesamt betrachtet - den Charakter des modernen Kriegs verkannte, da das 19. Jahrhundert wohl die Leidensfähigkeit des Menschen im Dienst der gro- ßen Ideen noch unterschätzen konnte, leichtfertig erfolgte der Rekurs auf das militärische Instrumentarium nicht. Auch für Frankreich war der Krieg eine ultima ratio der Politik - einer Politik, die freilich in den letzten Jahren vor Kriegsausbruch nicht mehr dem Erhalt des internationalen Systems, sondern allein der Sicherung des nationalen Vorteils galt und dabei in zunehmendem Maße militärischen Kalkulationen Rechnung trug.

So erkannte die militärische und politische Führung Frankreichs in diesem Zeitraum recht deutlich, daß sich aufgrund der russischen Machtentfaltung

15 Zit. KLESLING, France, S. 227.

1 6 Zit. LANGDON, Long Debate, S. 165.

1 7 Zit. KENNAN, Bismarcks europäisches System, S. 12.

18 Zit. REMAK, Origins, S. 147.

19 Zit. Moltke an Bethmann Hollweg, 28. 7. 1914, in: Helmut von Moltke, Erinnerun- gen, Briefe, Dokumente 1877-1916. Hg. von Eliza von MOLTKE, Stuttgart 1922, S. 4.

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und des habsburgischen Machtverfalls die internationale Gesamtlage des Deutschen Reiches kontinuierlich zu dessen Nachteil wandelte und daß maßgebliche Entscheidungsträger innerhalb der Reichsleitung diese Ent- wicklung mit großer Sorge beobachteten und ihr möglicherweise mit mili- tärischen Mitteln entgegentreten würden. Doch anstatt die internationale Situation des Kontrahenten erträglich zu gestalten, wurde seine sich zuneh- mend prekär ausnehmende Lage ignoriert, teilweise mit Genugtuung wahr- genommen oder gar wissentlich befördert.

Was den russischen Faktor betrifft, so hatte sich die französische Staats- führung in den letzten Jahren vor Kriegsausbruch kontinuierlich darum be- müht, die militärische Macht des Bündnispartners gegen das Deutsche Reich zu lenken. In seinen Analysen war der Generalstab zu der Erkenntnis ge- langt, daß nur ein russischer Angriff, der in Richtung Berlin geführt wurde, den Gegner nachhaltig zu bedrohen vermochte. Eine solche Offensive machte aber eine Verlagerung des Gravitationszentrums der strategischen Konzentration des Bündnispartners erforderlich, und diese konnte erst mit einem Ausbau des russischen Eisenbahnnetzes einhergehen. In diesem Zu- sammenhang sind nun aber die Ursachen für den Ausbau der militärischen Infrastruktur Rußlands zu finden, den der Generalstab in den Fassungen der Militärkonvention von 1912 und 1913 festsetzte, den die politische Führung bei allen sich bietenden Gelegenheiten einforderte und der Bethmann Holl- weg ganz im Einklang mit dem Urteil des französischen Generalsstabs urtei- len ließ: Rußland militärische Macht schnell wachsend; bei strategischem Aus- bau Polens die Lage unhaltbar20. Denn von diesem Ausbau der russischen Infrastruktur erhoffte sich Frankreich nichts Geringeres, als im Falle einer militärischen Auseinandersetzung das Deutsche Reich auf die Defensive zu beschränken und ihm derart die Fähigkeit zu nehmen, Krieg führen zu kön- nen. In der Sache handelte es sich dabei um einen Wunsch nach umfassender Sicherheit, der auf einen fundamentalen Wandel der Machtbalance im inter- nationalen Staatensystem ausging, sich in der Wahrnehmung des Deutschen Reiches leicht als ein Streben nach hegemonialer Herrschaft ausnehmen konnte und das europäische Sicherheitsdilemma beträchtlich verschärfen mußte.

Was nun den »einzig verbliebene[n] zuverlässige[n] Bundesgenossefn]«21

des Deutschen Reiches betraf, so hatte Frankreich dessen Machtverfall, der im Jahr 1912 mit dem partiellen Zusammenbruch des Osmanischen Reichs dramatisch voranschritt, zwar nicht befördert, wohl aber mit Freude zur Kenntnis genommen, daß in einer militärischen Auseinandersetzung der Großmächte nunmehr ein beachtliches habsburgisches Kontingent durch die Balkanstaaten an der europäischen Peripherie gebunden werden würde. Mit einem außenpolitischen Denken, das sich wenig um die Rückwirkungen des

2 0 Zit. ERDMANN, Riezler-Tagebuch, S. 183 (Eintrag vom 7. 7. 1914).

21 Zit. MOMMSEN, Österreich-Ungarn aus der Sicht des deutschen Kaiserreichs, S. 230.

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habsburgischen Verfalls auf das Staatensystem sorgte, korrespondierte dann in der Julikrise die Auffassung, daß selbst ein begrenzter militärischer Erfolg Österreich-Ungarns kein hinnehmbares Arrangement sei, wenn auch diese Auffassung Poincares und Paleologues nicht primär einem militärischen, sondern einem bündnispolitischen Kalkül entsprang. Auch auf die Außenpo- litik Frankreichs trifft damit zu, was der amerikanische Historiker Paul W.

Schroeder einmal hinsichtlich des Machtverfalls der Habsburgermonarchie für die europäischen Großmächte insgesamt konstatiert hat:

No government addressed itself to the most obvious and critical question of all: how was this new, crucial development to be managed? How, that is, could it be harmonized with the overall European balance, incorporated into the prevailing international sy- stem, without raising the already fearful strains upon that system to the point of explo- sion? No one thought of this problem or suggested doing anything about it22. Einer der Gründe, die für ein außenpolitisches Handeln maßgeblich waren, das den Bedingungen des Systemserhalts keine Rechnung mehr trug, ist im französischen Fall in einer militärischen Planung zu finden, die mit dem am- bitiösen Unterfangen eines uneingeschränkten Angriffs auf das Deutsche Reich deutlich über die militärischen Möglichkeiten der eigenen Nation hin- ausging und die gerade in ihrer Überanstrengung die Sicherung des nationa- len Vorteils dringend gebot. Durch eine militärische Doktrin, die das Signum der offensive ä outrance trug, war Frankreich seit 1911 in eine strategische Gesamtsituation geraten, in der es kaum mehr Raum für Konzessionen gab und die Sicherheit des Landes selbst von Machtschwankungen affiziert wer- den konnte, die prima facie unbedeutend anmuteten.

Gefährliche außenpolitische Konsequenzen des »Kults der Offensive« re- sultierten dabei aus dem Umstand, daß er nach einer numerischen Superiori- tät des Angreifers verlangte, über die Frankreich zu Beginn der militärischen Auseinandersetzungen nicht in ausreichendem Maße verfügen konnte. Zwar stand nach Ansicht der militärischen und politischen Führung keine Ablen- kung durch eine italienische Intervention zu befürchten, da die »Least of the Great Powers« nach ihrer Einschätzung aufgrund eines opportunistischen Kalküls zu Beginn der Auseinandersetzungen in Neutralität verharren und erst zu einem Zeitpunkt in den Großen Krieg eintreten würde, an dem sich die Machtbalance zu Gunsten des einen oder anderen Lagers irreversibel ge- neigt hätte23. Doch auch nach einer umfassenden Konzentration aller aktiven Kontingente nahm sich die numerische Superiorität Frankreichs bescheiden aus, und ein erfolgversprechender Angriff würde sich erst im Fall einer briti- schen oder spezifischen russischen Intervention entwickeln lassen: Sei es, daß Frankreich in den British Expeditionary Forces eine beträchtliche Unterstüt- zung erwuchs; sei es, daß Rußland durch einen Angriff in Richtung Berlin er- hebliche deutsche Kontingente in Ostpreußen zu binden verstand. Sicherlich

2 2 Zit. SCHROEDER, Rumania, S. 19.

2 3 Vgl. BOSWORTH, Least of the Great Powers.

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ist zutreffend, daß die Existenz einer britischen und einer russischen Option Frankreichs außenpolitischen Handlungsspielraum erweiterte, doch war letztlich der Manövrierraum sehr begrenzt, den man aufgrund dieser unter- schiedlichen Kombinationsmöglichkeiten gewann.

Denn auch wenn man von dem Umstand abstrahiert, daß es nach franzö- sischer Auffassung nur unter spezifischen Bedingungen und nicht mit natur- gesetzlicher Notwendigkeit zum britischen Kriegseintritt kommen würde, so nahm sich selbst im Fall einer umgehenden Intervention Großbritanniens die Lage problematisch aus. Hegten doch die militärischen und die politi- schen Entscheidungsträger Frankreichs die Befürchtung, daß das Expediti- onskorps im entscheidenden Augenblick verspätet und in reduziertem Um- fang entsandt werden könnte. Aufgrund dieser Sorge konnten die Expeditio- nary Forces kein konstitutiver Bestandteil des Plan XVII sein, und in seinen

»Grundlagen« ist dies auch explizit vermerkt worden.

Die Dependenz von Umfang und Art des russischen Angriffs hatte sich zudem noch einmal verstärkt, als Frankreich im Jahr 1912 mit Rücksicht auf Großbritannien gezwungen wurde, sein strategisches Konzept auf eine Of- fensive in Lothringen auszurichten und damit im Kriegsfall in eine ungün- stige Ausgangssituation zu geraten drohte. Obgleich nach Ansicht der mili- tärischen Führung allein eine unmittelbar zu Beginn der militärischen Aus- einandersetzungen erfolgende Invasion des belgischen Territoriums Aussicht auf den Triumph bot, hatten Ministerpräsident und Außenminister, zuletzt auch gegen den Widerstand eines Teils des Kabinetts, einen solchen Schritt abgelehnt oder, um präziser zu formulieren: an die Bedingungen eines ent- sprechenden deutschen Handelns geknüpft. Im Erwartungshorizont der mi- litärischen Führung stand damit aber aufgrund einiger die Mobilmachung regelnden Besonderheiten zu befürchten, daß Frankreich im entscheidenden Augenblick zu einem Angriff in Lothringen gezwungen sein würde, und in diesem Fall würde es nicht möglich sein, dem Deutschen Reich aus eigener Kraft eine vernichtende Niederlage beizubringen. Denn ein solcher Angriff konnte nicht zu einem Triumph, sondern nur zu einem partiellen Erfolg füh- ren, und andere Mächte würden dann über den Ausgang des Großen Krieges entscheiden. Kurzum: Frankreich hatte sich mit dem Plan XVII auf eine mi- litärische Planung eingelassen, die auf außenpolitischem Terrain zu einer er- heblich verstärkten Allianzbindung führten mußte, und dieser Nexus wurde zudem noch durch den Umstand akzentuiert, daß ein übereinstimmendes Handeln der Bündnispartner angesichts bedeutender partikularer Interessen im Kriegsfall nicht garantiert war.

Denn was die russischen Pläne betraf, so mußte der französische General- stab feststellen, daß die strategischen Absichten des Bündnispartners nicht den Forderungen entsprachen, die der Plan XVII an sie stellte. Obgleich al- lein ein Angriff in Richtung Berlin erhebliche deutsche Kontingente binden und Frankreich an seiner Front eine numerische Superiorität sichern konnte, sollte nach Auffassung des russischen Generalstabs eine solche Offensive erst

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nach einer Okkupation Ostpreußens und einer Niederlage der Habsburger- monarchie erfolgen.

Vor diesem Hintergrund nehmen sich dann die Erklärungen, die Paleolo- gue im Jahr 1936 gegenüber Renouvin machte, nicht mehr als eine Apologie des eigenen Handelns, sondern als eine in der Formulierung sicherlich über- zeichnete, in der Sache aber zutreffende Beschreibung dessen aus, was die französische Außenpolitik in den letzten Jahren vor Ausbruch des Großen Krieges umtrieb. Le grand, souci non settlement des milieux militaires, mais du

gouvernement frangais, so sagte er dem Historiker, c'etait d'avoir Γ assurance qu'en cas d'attaque allemande la Russie s'engager ait rapidement contre I'Al- lemagne - et non pas seulement contre I'Autricbe-Hongrie24. In der Endphase

der Julikrise sollte eben dieser grand souci dazu führen, daß Paleologue keine Einwände gegen eine Generalmobilmachung geltend machte und sich auch dem um ein politisches Arrangement bemühten Ministerpräsidenten und Außenminister Viviani nur ein begrenzter Handlungsspielraum eröffnete.

Die genannten militärischen Sachzwänge konnten aber nur deshalb so wir- kungsmächtig für Frankreichs Außenpolitik werden, weil seine politischen Entscheidungsträger eine militärische Auseinandersetzung in zunehmendem Maße als unvermeidlich erachteten. Seinen Grund hatte dies nicht allein in der schon erwähnten Befürchtung, daß das Deutsche Reich angesichts seiner sich prekär ausnehmenden Gesamtlage möglicherweise zu einem Präventiv- krieg schreiten würde, sondern darüber hinaus auch in einem Faktor, der sich kaum mit dem erstgenannten verbinden läßt. Denn nach Auffassung der Ent- scheidungsträger bestimmte nicht nur Angst, sondern auch Arroganz den außenpolitischen Kurs des Kontrahenten.

Die militärische und politische Führung Frankreichs war zwar durchaus der Ansicht, daß der Kaiser und sein Kanzler prinzipiell friedlich gesinnt wa- ren und auch die Expansion des Deutschen Reiches mit der Bewahrung des Friedens zu verbinden suchten. Doch ist nicht zu verkennen, daß nach Auf- fassung der französischen Beobachter sehr unterschiedliche Kräfte auf die deutsche Außenpolitik einzuwirken vermochten und ihnen die Reichsleitung nicht immer als ein Faktor von maßgeblicher Bedeutung galt. Denn zu unter- schiedlichen Gelegenheiten stellten sie sich die Frage, ob Wilhelm II. und Bethmann Hollweg sich im entscheidenden Augenblick nicht als zu schwach erweisen würden, um die Kräfte zu zähmen, die eine militärische Konfronta- tion heraufbeschwören konnten.

Diese letzte Bemerkung darf nun nicht in dem Sinne verstanden werden, daß man in Frankreich der Ansicht gewesen wäre, daß eine Mehrheit der Deutschen Krieg zu führen wünschte. Diese Absicht glaubte die außenpoli- tische Führung nur innerhalb kleiner Minderheiten zu erkennen. Doch was die Entscheidungsträger als Bedrohung perzipierten, war der Umstand, daß sich nach ihrer Auffassung in der öffentlichen Meinung des Deutschen Rei-

2 4 Zit. GlRAULT, Maurice Palelogue repond a Pierre Renouvin, S. 61.

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ches ausgreifende außenpolitische Ambitionen mit einer Geisteshaltung ver- banden, die aufgrund des rasanten Aufstiegs der eigenen Nation glaubte, deutsche Interessen auch mit dem Mittel rücksichtloser machtpolitischer Pression und ungeachtet der widerstreitenden Interessen anderer Groß- mächte durchsetzen zu können.

Obgleich dem Urteil des Historikers Klaus Wilsberg durchaus zuzustim- men ist, daß es in den letzten Jahren vor Kriegsausbruch zu einer zunehmen- den Trennung der Interessensphären beider Staaten gekommen war und des- halb zum Zeitpunkt der Julikrise »keine akuten bilateralen Reibungspunkte«

zwischen dem Deutschen Reich und Frankreich mehr existierten, führt die- ser Befund doch erst in der historischen Retrospektive zu der Erkenntnis, daß »ein wirklich gewichtiger Kriegsgrund [...] zwischen Deutschland und Frankreich nicht mehr [bestand]«25. Denn in der Wahrnehmung der Zeitge- nossen nahm sich die Lage der Dinge anders aus. Nach ihrer Einschätzung stand eben zu befürchten, daß der Reichsleitung in einer internationalen Krise unter dem Druck der öffentlichen Stimmungslage die außenpolitische Direktion verloren gehen und dann auch ein letztlich unbedeutender Zwi- schenfall in einen Großen Krieg einmünden konnte. Que tout serait facile, so klagte Frankreichs Botschafter Jules Cambon in einem Zeitalter, in dem die Frage nach Krieg und Frieden nicht mehr nur ein Gegenstand von Verhand- lungen zwischen den Kabinetten, sondern auch von Erörterungen durch den politischen Massenmarkt war, s'il n'existait nipresse, ni opinion.

Ein »Topos des vermiedenen Krieges«27, wie er im Denken der außenpoli- tischen Entscheidungsträger unlängst vom Historiker Friedrich Kießling konstatiert worden ist, läßt sich damit für die politische Führung Frankreichs in den letzten Jahren vor Kriegsausbruch nicht feststellen. Vielmehr macht die Analyse des französischen Falls deutlich, daß es aufgrund einer Lageein- schätzung, die den Großen Krieg als unvermeidlich erachtet, auch in einem parlamentarischen System zu einer Außenpolitik im Banne des Militärischen kommen kann, die ihr Ziel nicht mehr primär in der Bewahrung des Frie- dens, sondern in der Präparation des militärischen Triumphs erblickt. Deut- lich wird dieser die französische Außenpolitik begleitende Grundzug auch - aber dies sei nur am Rande vermerkt - im Wandel des Urteils, das sich die politische Führung vom Wert des Abkommens machte, das seit 1902 für den Fall einer militärischen Auseinandersetzung Italien unter bestimmten Bedin- gungen zur Neutralität verpflichtete und in dem Poincare weniger ein Instru- ment zur Bewahrung des Friedens als ein Mittel zur Beeinflussung der mili- tärische Balance der Kräfte erkannte.

Angesichts einer nicht zu verkennenden Militarisierung der französischen Außenpolitik im allgemeinen und einer den Großen Krieg als zunehmend

2 5 Zit. WILSBERG, Kooperative Momente und Konflikt, S. 355.

2 6 Zit. Jules Cambon an Pansa, 4. 1. 1914, in: SERRA, Lettres de Jules Cambon, S. 88.

2 7 Vgl. Friedrich KIESSLING, Wege aus der Stringenzfalle. Die Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges als »Ära der Entspannung«, in: GWU 55 (204), S. 284-304, hier S. 293,298.

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unvermeidlich erachtenden Lageanalyse im besonderen, drängt sich die schon in den einleitenden Passagen dieser Untersuchung aufgeworfene Frage auf, ob und in welchem Maße sich die französischen Entscheidungsträger in der Julikrise in ihrem Handeln von dem Gedanken an einen Präventivkrieg leiten ließen. Waren sie doch der Auffassung, daß in einem Großen Krieg, der seinen Ausgang auf dem Balkan nahm, ungemein günstige Erfolgsaussichten bestanden, und war ihnen zugleich doch auch bewußt, daß der Krieg für Frankreich durchaus unter sehr viel ungünstigeren Umständen ausbrechen konnte.

Im einzelnen beruhte diese Lageeinschätzung auf den Annahmen, daß die Habsburgermonarchie im Rahmen einer militärischen Auseinandersetzung auf dem Balkan gezwungen sein würde, einen sehr beachtlichen Teil ihrer Kontingente zu binden, und daß Rußland in einem Krieg, der aus dem Osten kam, seinen Angriff gemäß der strategischen Forderungen Frankreich führen würde, daß jedoch in einem Krieg, der über einen mitteleuropäischen oder gar kolonialen Interessenskonflikt ausbrach, kaum mit einer solchen Unter- stützung seitens des Bündnispartners zu rechnen war. In einem Klima allge- meiner Unsicherheit konnte aufgrund dieser Erwägungen durchaus die Ver- suchung eines militärischen Prävenire entstehen.

Für die militärische Führung Frankreichs läßt sich dann auch tatsächlich ein Denken in solchen Bahnen aktenkundig, zwar nicht in einem unmittelba- ren Zusammenhang mit der Julikrise, wohl aber grundsätzlich, nachweisen.

Denn dem Leiter der militärischen Operationsabteilung des britischen Stabes erklärte der Generalstab schon zu Beginn des Jahres 1913, daß es aus den vorgenannten Gründen far better for France sein würde, if a conflict were not too long postponed28. Keine Belege lassen sich aber in den Quellen für die Annahme finden, daß auch die außenpolitische Führung in diesen Bahnen dachte und in den letzten Jahren vor Kriegsausbruch oder in der Julikrise eine als günstig eingestufte Gelegenheit zu nutzen suchte, um den als unver- meidlich erachteten Krieg der Großmächte frühzeitig zu Gunsten Frank- reichs zu entscheiden. Hinsichtlich der ungemein günstigen militärischen Er- folgsaussichten, die im Juli 1914 bestanden, wird man deshalb nur festhalten können, daß diese Frankreichs Außenpolitik erleichtert, nicht aber maßgeb- lich im Sinne eines Prävenire bestimmt haben.

Im Zusammenhang mit der Frage, ob der Außenpolitik Frankreichs in der Julikrise der Zug eines militärischen Prävenire zu eigen war, rückt auch ein anderer Gegenstand in das Blickfeld der Untersuchung. Es handelt sich dabei um die Auswirkungen, die mit einem militärischen Erfolg Österreich-Un- garns auf dem Balkan für die Machtbalance im gesamten System verbunden waren.

In seinen Untersuchungen hatte der französische Generalstab früh er- kannt, daß Art und Umfang des russischen Angriffs auf das Deutsche Reich

2 8 Zit. Nicolson an Grey, 24. 2. 1913, in: BD 9/2, 656.

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durch Art und Umfang des habsburgischen Angriffs auf Rußland bestimmt wurden. Folglich hatte dann auch nach Ansicht der militärischen und politi- schen Führung die Balance der Macht mit dem Verfall der Habsburgermon- archie im Zeitraum 1912-1913 einen Frankreich begünstigenden Wandel er- fahren, der sich im Urteil seiner Entscheidungsträger um so bedeutender aus- nehmen mußte, als der neue Primat des uneingeschränkten Angriffs Frank- reich in mehrfacher Hinsicht von den militärischen Möglichkeiten seines Bündnispartners abhängig machte. Dennoch ist es - insgesamt betrachtet - fraglich, ob die Kräfte, die Österreich-Ungarn im Falle einer militärischen Demütigung Serbiens zuwachsen mußten, die Machtbalance des Gesamtsy- stems in einem Maße beeinträchtigen konnten, das sich für Frankreichs Si- cherheit gefahrvoll ausgenommen hätte. Gab es doch mit der russischen Machtentfaltung auch eine gegenläufige Tendenz zu einem habsburgischen Erstarken, und nimmt man zur anwachsenden Macht des Bündnispartners noch die Aussicht auf eine militärische Intervention Großbritanniens hinzu, so wird die letztlich geringe Bedeutung einer balkanischen Auxiliarmacht er- sichtlich. Aufgrund der Imponderabilien, die sich mit einer britischen Inter- vention verbanden, mußte insbesondere die russische Machtentfaltung den Einfluß der balkanischen Auxiliares kontinuierlich verringern, letztlich gar in der Bedeutungslosigkeit versinken lassen.

Vor dem Hintergrund dieses Gedankens wird man daher nicht der These Isaacs zustimmen können, daß die Bewahrung des Status quo auf der Balkan- halbinsel ein genuines Ziel der Außenpolitik Frankreichs gewesen sei, und gerade angesichts der russischen Machtentfaltung stellt sich vielmehr die Frage, ob es Frankreich unter militärischen Gesichtspunkten in der Julikrise nicht möglich gewesen wäre, einen Kurs der Konzessionen zu steuern und mit einer gewissen Gelassenheit auf eine Neugruppierung der Balkanmächte zu reagieren. Frankreich führte im Juli 1914 keinen Präventivkrieg, denn we- der suchten seine außenpolitischen Entscheidungsträger eine ungemein gün- stige strategische Lage auszunutzen, noch erwartete man von der Entfesse- lung des habsburgischen Gullivers einen Wandel der europäischen Macht- balance, der die eigene Sicherheit gefährlich beeinträchtigte. Wohl aber wird man sagen können, daß die mit einem militärischen Erfolg der Habsburger- monarchie für die osteuropäische Machtbalance verbundenen Konsequenzen - wenn sie auch das außenpolitische Handeln Frankreichs in der Julikrise 1914 nicht maßgeblich bestimmten - eine aus anderen Gründen getroffene Entscheidung zusätzlich bekräftigten. Denn wer einen Großen Krieg für die nicht allzu ferne Zukunft befürchtet, der wird kaum dazu neigen, einen mili- tärischen Vorteil aus der Hand zu geben, und er wird dies insbesondere dann nicht tun, wenn seine strategischen Pläne, die so unverkennbar das Zeichen der Überanstrengung trugen, ihn auf die Sicherung des nationalen Vorteils verpflichten.

Wirkte die russische Machtentfaltung in dieser Hinsicht in einem den fran- zösischen Manövrierraum erweiternden Sinn, so haftet ihr doch ein dialekti-

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scher Grundzug an und nahm sie sich für Frankreichs Handlungsmöglich- keiten ambivalent aus. Denn in ihr findet man einen der Faktoren, die in der Julikrise eine bündnispolitische Zwangslage konstituierten, die den außen- politischen Kurs der Republik ganz maßgeblich bestimmen sollte und in der eine uneingeschränkte Unterstützung Rußlands erforderlich schien, um den als übermächtig eingeschätzten Bündnispartner nicht nachhaltig zu verstim- men oder ihn möglicherweise gar zu verlieren.

Aufgrund eines Machtbegriffs, der geographischen, demographischen und insbesondere militärischen Faktoren entscheidende Bedeutung zumaß, ging die Staatsführung Frankreichs in den letzten Monaten vor Kriegsausbruch von einer nahezu unheimlichen Machtentfaltung Rußlands aus, die die Machtbalance innerhalb des Bündnisses grundlegend wandeln und die Bezie- hungen beider Nationen auf eine neue Grundlage stellen mußte. So gelangte insbesondere Paleologue in diesem Zeitraum zu der Einschätzung, daß Ruß- land aufgrund seiner wachsenden Macht in nicht allzu ferner Zukunft auch ohne den Beistand Frankreichs handlungsfähig und daß der Bündnispartner folglich kaum noch gezwungen sein würde, den französischen Interessen Rechnung zu tragen.

In diesem Zusammenhang trat für die außenpolitische Führung Frank- reichs noch erschwerend hinzu, daß nach ihrer Ansicht - trotz aller Anstren- gungen, die man unternommen hatte, um die Blockstruktur des europäischen Staatensystems zu konsolidieren - die internationale Konstellation auch noch im Jahr 1914 beträchtliche Entwicklungsmöglichkeiten barg und ein renversement des alliances grundsätzlich nicht ausgeschlossen werden konnte. Diese Feststellung darf nun nicht in dem Sinn verstanden werden, daß in den letzten Jahren vor Ausbruch des Großen Kriegs die akute Gefahr eines russischen Seitenwechsels bestanden hätte. Wohl aber wird man kon- statieren können, daß Frankreich die außenpolitischen Möglichkeiten seines Bündnispartners überschätzte und ein deutsch-russisches Rapprochement selbst dann nicht für ausgeschlossen erachtete, als aufgrund der Liman-von- Sanders-Krise die Beziehungen beider Staaten merklich erkalteten. Denn wenn es galt, die Optionen der anderen Mächte zu taxieren, wogen traditio- nelle Rivalitäten und Feindbilder schwer, und folglich maß man der ver- gleichsweise neuen Entwicklung eines deutsch-russischen Interessengegen- satzes im Osmanischen Reich geringere Bedeutung zu als der alten Feind- schaft, mit der sich Rußland und die Habsburgermonarchie auf dem Balkan begegneten. Eine solche Wahrnehmung mußte zudem durch die strategi- schen Absichten Rußlands in ihrem Bestand verfestigt werden. Plante doch der Generalstab des Zaren in der ersten Phase einer militärischen Auseinan- dersetzung zunächst mit einem umfassenden Angriff den ihm verhaßten habsburgischen Rivalen niederzuzwingen.

Nahm sich der Manövrierraum des Bündnispartners aufgrund seiner Machtentfaltung und der Existenz einer deutschen Option beträchtlich aus, so befand sich Frankreich im Jahr 1914 in der unangenehmen Situation, daß

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den bündnispolitischen Handlungsspielraum erweiternde Möglichkeiten mehr und mehr abhanden gekommen waren. Denn allein aus demographi- schen Gründen waren einer erneuten Aufrüstung enge Grenzen gesetzt und zusätzliche Rüstungen des Deutschen Reichs nur durch Bündnispartner zu kompensieren. Lenkte man jedoch den Blick jenseits der eigenen Grenzen, so mußte man feststellen, daß Großbritannien von einer allianzhaften Bindung an den Kontinent nichts wissen wollte, und folglich stand für die außenpoli- tischen Entscheidungsträger nicht zu erwarten, daß man sich für den Fall ei- ner russischen Verstimmung einmal im beruhigenden Besitz einer britischen Rückversicherung wissen würde.

Um die aus den Fugen geratene bündnispolitische Machtbalance neu aus- zurichten und derart der internationalen Konstellation Handlungsspielraum abzuringen, hätte für Frankreich nur die Möglichkeit bestanden, durch einen Ausgleich mit dem Deutschen Reich das Ausmaß an Bedrohung zu reduzie- ren, mit dem man sich konfrontiert sah. Doch Poincare war bereits in seiner Amtszeit als Ministerpräsident und Außenminister Bemühungen, die über den Abbau von Spannungsmomenten hinaus nach einer grundsätzlichen An- näherung an das Deutsche Reich strebten, mit aller Entschlossenheit entge- gengetreten. Fürchtete er doch schon im Fall einer partiellen Distanz den russischen Bündnispartner zu verlieren und damit isole, disqualifie et dimi- w«e29, das heißt: bündnislos, bündnisunfähig und mit beträchtlicher Einbuße an großmächtlicher Existenz dazustehen.

Doch man würde insbesondere dem französischen Präsidenten nicht ge- recht, wollte man sein Handeln in der Julikrise allein aus übermächtigen Zwangslagen erklären, was dann in der Folge zu der einmal von dem briti- schen Historiker James Joll gestellten Frage führen müßte, ob es nicht in der Julikrise 1914 der Persönlichkeit eines Bismarcks oder Lenins bedurft hätte, um der Politik ihre Autonomie zurückzugeben30. Grundsätzlich muß festge- halten werden, daß auf Seiten der französischen Entscheidungsträger keine oder nur geringe Bereitschaft bestand, sich gefahrvollen Entwicklungen ent- gegenzustellen und daß auch ihre persönlichen Ziele sich ganz im Einklang mit den vorherrschenden Tendenzen ihrer Zeit befanden. Diese letzte Be- merkung führt abschließend noch einmal von den »konditionierenden ob- jektiven Umständen« auf die »subjektiven Motive«31 der Entscheidungsträ- ger zurück, und in diesem Zusammenhang muß insbesondere für Poincare festgehalten werden, daß seiner Außenpolitik in der Julikrise ein Groß- machtbegriff unterlag, der der Kategorie des Prestiges hohe Bedeutung zu- maß. Eine Kapitulation vor einer machtpolitischen Drohung der Habsbur- germonarchie und des Deutschen Reiches galt ihm als ein unerträglicher Prestige- und Rangverlust, als eine profane Beeinträchtigung jener chose

2 9 Zit. Poincare an Jules Cambon, 27. 3.1912, in: N L Jules Cambon, MAE, PA-AP 43/

58, fol. 27.

3 0 Vgl. JOLL, Origins, S. 204.

31 Zit. VIERHAUS, Handlungsspielräume, S. 291.

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intangible et sacree qu'est l'honneur national2. Poincares Handeln wurde damit nicht zuletzt von Werten bestimmt, die im Denken der Zeit zu den At- tributen und Maximen einer Großmacht zählten und denen im Rahmen einer vergleichenden europäischen Betrachtung einmal nachzugehen lohnend scheint - finden sich doch in den Quellen oftmals Hinweise darauf, daß ein bestimmtes Tun oder Unterlassen geboten sei, da der Status der großmächt- lichen Existenz nach ihm verlange.

Doch eine solche Untersuchung geht weit über den Rahmen dieser Disser- tation hinaus; nach Ansicht des Verfassers würde sie aber der Historiogra- phie ein Forschungsfeld erschließen, das einzelne Ereignisse vielleicht nicht in einem grundsätzlich neuen, wohl aber deutlicherem Licht erscheinen ließe.

Möglicherweise würde sich im Zuge einer solchen Untersuchung für die Au- ßenpolitik Frankreichs insgesamt bestätigen, was mit Blick auf die Julikrise 1914 konstatiert werden kann: daß sie sich weniger durch einen Zug nationa- ler Singularität denn europäischer Normalität auszeichnete. Galt doch auch das Handeln Frankreichs in letzter Instanz der Behauptung seines Groß- machtstatus, der sich in seinem Fall mit dem ungeschmälerten Fortbestand einer Allianz verband, die durch das Deutsche Reich im Juli 1914 gefährlich herausgefordert worden war.

3 2 Zit. Bertie, Annual Report France 1912,1. 8.1913. in: BDFA France 13/108. Der bri- tische Botschafter zitierte in seinem Bericht aus einer Rede, die Poincare im Dezember 1912 in der Assemblee nationale und im Senat gehalten hatte.

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