(Wild)Tiere im Wald:
Gestalter von Prozessen und Voraussetzung für Biodiversität
Rainer Luick
NABU-Naturschutztag:
Wald ist Vielfalt
19. September 2020 / Potsdam
3 Positionen /
Argumente
Das Konstrukt, wie wir uns bei uns “natürliche Natur“ vorstellen müssen, wird immer noch
ohne die Wirkungen / Prozesse von Tieren (Großherbivoren / Prädatoren) gedacht.
Die Evolution und biologische Vielfalt unserer Kulturlandschaften und auch der Wälder
assoziieren mit den Wirkungen und Prozessen von Nutztieren.
Unsere Naturschutzstrategien (Offenland und Wald) werden auch in Großschutz- und
Wildnisgebieten ohne Tiere (Großherbivoren / Prädatoren) entwickelt und umgesetzt.
Die holozäne Megafauna in Mitteleuropa
Ohne die Ausrottung durch den eingewan- derten Menschen
wäre vermutlich der Großteil der
Menagerie noch
präsent. Wir erinnern uns noch an:
Wisent,
Auerochs,
Elch und
Wildpferd
Flächenhaft vertreten nur noch Reh- und
Schwarzwild
Von den “wilden“
Tieren sind:
Dürfen nur in begrenzten Regionen und dort
vielfach mit schwieriger Akzeptanz vorkommen:
Rotwild, Steinwild, Gamswild und Biber
Vor 5 bis 10.000 Jahren
- vielleicht doch nicht überall
dichter Wald?
Wald
(Schweine) weide vom Altertum
bis in die Neuzeit
Quelle:
Brüder von Limburg, November (aus: ”Les trés riches heures”
Stundenbuch des Herzogs von Berry), um 1416.
Landschaften / Wälder im
17. Jh.
Quelle:
Ausschnitt aus:
Landschaft mit Sicht auf München und heimkehrender Jagdgesellschaft, F.-J. REICH
(1665-1715),
Bayer. Staatsgemälde- sammlungen,
München.
Wald im 18. Jh.
Gegen Ende des 18. Jh.
gab es auch in Mitteleuropa selbst in den Bergregionen von Schwarzwald, Schwäbischer Alb, Harz usw.
keine
nennens- werten
Waldbestände mehr!
Brennholz
Bauholz (Schiffbau)
Grubenholz
Papier / Pappe / Zellstoff
Werkzeug / Fahrzeugbau
Waldnutzungen
Brennholz
Bauholz (Schiffbau)
Grubenholz
Papier / Pappe / Zellstoff
Werkzeug / Fahrzeugbau
Waldnutzungen
Holzköhlerei
Glasmacherei
Harzgewinnung
Pechgewinnung
Schneflerei
Zeidlerei
Brennholz
Bauholz (Schiffbau)
Grubenholz
Papier / Pappe / Zellstoff
Werkzeug / Fahrzeugbau
Waldnutzungen
Holzköhlerei
Glasmacherei
Harzgewinnung
Pechgewinnung
Schneflerei
Zeidlerei
Waldweide
Streugewinnung
Schneitelwirtschaft
Albanien
“Wald“ in Albanien
“Prozesse“ durch zu viel Tiere
CBD
EU-Biodiv- Strategie
NBS
Messt Sie an Ihren
Leistungen
Problemlage:
Dramatischer qualitativer und vor allem quantitativer Arten-
verlust (vor allem im Offenland).
Prioritäres Ziel:
Erhaltung der heimischen Biodiversität!
Massiver Artenschwund auch in
Schutzgebieten.
B Konkrete Visionen
B1.2.1 Wälder
Besonderer Schutz alter Waldstandorte und Erhaltung sowie möglichst Vermehrung der Waldflächen mit
traditionellen naturschutzfachlich bedeutsamen Nutzungsformen bis 2020.
Bis zum Jahre 2020 haben sich die Bedingungen für die in Wäldern typischen Lebensgemeinschaften
(Vielfalt in Struktur und Dynamik) weiter verbessert.
Mit naturnahen Bewirtschaftungsformen werden die natürlichen Prozesse zur Stärkung der ökologischen Funktionen genutzt. Historische Waldnutzungsformen wie Mittel-, Nieder- und Hutewald mit ihrem hohen Naturschutz- oder Erholungspotenzial werden
weitergeführt und ausgebaut.
B Konkrete Visionen
B1.3.1 Wildnisgebiete
Bis zum Jahre 2020 kann sich die Natur auf
mindestens 2 % der Landesfläche Deutschlands
wieder nach ihren eigenen Gesetz-
mäßigkeiten
entwickeln.
.
Prozesse / Störungen
Totholzakkumulation Stürme / Windwurf
Fließgewässerdynamik / Überschwemmungen / Vernässungen
Waldbrand
Erdbewegungen i.w.S Insektenkalamitäten Neophyten / Neozoen Prädatoren
Herbivore
Stochastische
Gestaltungsfaktoren, die für Vielfalt,
Vergehen und Erneuerung in natürlichen
Ökosystemen
verantwortlich sind
(Wildnis erzeugen)
WILDNIS /
Begriffsdefinition BfN (2014)
“Wildnisgebiete im Sinne der NBS sind ausreichend große, (weitgehend) unzer-
schnittene, nutzungsfreie Gebiete, die dazu dienen, einen vom Menschen unbeein-
flussten Ablauf natürlicher Prozesse dauerhaft zu gewährleisten.“
Natürliche Prozesse in Wildnisgebieten
sind ergebnisoffen
.11 Positionen
Zur Wildnis
https://wildnisindeutschland.de/gebiete/
Schöne Ziele, aber …
.
Prozesse /
Störungen
Zustimmung Neutral Ablehnung (Nicht-beachtung)
Totholzakkumulation
Stürme / Windwurf ()
Fließgewässerdynamik / Überschwemmungen / Vernässungen
()
Waldbrand
Erdbewegungen i.w.S
Insektenkalamitäten () ()
Neophyten / Neozoen ()
Prädatoren ()
Herbivore ()
In deutschen Nationalparken
Das Konstrukt
Buchen-Tannen- (Fichten)-Wald
Abieti-Fagetum / Koch 1926
, Luquet 1926Belchen / Südschwarzwald
Die Normen des (Deutschen)
Naturschutzes
Entwicklung Optimal Differenzierung Zerfall
SCHERZINGER 1996
Lebenszyklus eines
Buchen-Tannen-Urwaldes
Im Laufe der mehrhundertjährigen Lebenszeit eines Urwaldes ändert sich die Biodiversität markant: Sowohl extrem artenarme (Brandfläche, homogene Entwicklungsphasen / “Stangenholz“), als auch besonders artenreiche Phasen (Katastrophenflächen, Zerfallsphase, Zusammenbruch) sind einem natürlichen (Wald-) Ökosystem inhärent.
20% 20% 30% 30%
Jahre 600
Entwicklung Optimal Differenzierung Zerfall
SCHERZINGER 1996
Dieser Zustand ist Norm (LRT) und Benchmark des
Naturschutzes und berücksichtigt keine Prozesse / Störungen
20% Abieti-Fagetum /
Koch 1926, Luquet 1926
Der zentraleuropäische Bergmischwald
(Abieti-Fagetum / Koch 1926, Luquet 1926)
5000 4500 4000 3500 3000 2500 2000 1500 1000 500 0 500 1000 1500 2000
Das Dogma von Natur / Wald ohne Tiere
Die “Norm“, die Definition, wie dieser LRT (Bergmischwald und andere LRTs) “heute“ aussehen müssen, wurde in den 1930er Jahren festgelegt und erfolgte in einer Zeit als wissenschaftliche Erkenntnisse (u.a. Megaherbivoren) noch nicht existierten,
erlebbare Erfahrungen (Waldweide) nicht mehr präsent waren und als TABU-Aspekt betrachtet wurden.
Aufforstungen
1800 1850 1900 1950 2000
Trennung von Offenland und Wald
WALDWEIDE
Normierung
“moderner“ Wald
Weidetiere sind ein zentrales Element von natürlichen
Ökosystemen.
Weidetiere induzieren vielfältige Prozesse / Störungen auf unter- schiedlichen Raumebenen
(Makro-, Meso- und Mikroskala), davon profitieren (sind abhängig) zahllose Biozönosen / Arten.
PLÄDOYER
Prozesse, die mit (Wald)Weide
korrelieren Strukturen
(biotisch,
abiotisch im Makro- und
Mikromaßstab)
Wanderungen / Taxi für
Diasporen
(kurz und lang)
Futter / Selektion
Exkremente
Kadaver
(theoretisch)
Beispiele für Diasporen von Wildpflanzen:
Viele Formen sind evolutiv für das Tiertaxi geschaffen
RL-Arten
korrelieren mit Vektor Zoochorie
Ozinga, W.A., C. Römermann, R.M. Bekker, A.
Prinzing, W.L. Tamis, J.H. Schaminée, S.M.
Hennekens, K. Thompson, P. Poschlod, and M.
Kleyer. 2009. Dispersal Failure Contributes to Plant Losses in NW Europe. Ecology Letters 12, no. 1: 66–74.
Bild: G. Koch / Botanische Bildtafeln
Im Grunde keine natürlich vorkommenden Megaherbivoren mehr.
Rinder in Weidehaltung dramatisch
abnehmend und wenn noch, dann meist in intensiver Weide; Transhumanz mit Schafen steht vor dem Aussterben.
Einwandernde Arten, wie Wisent oder Elch
überleben nur wenige Stunden auf deutschem Hoheitsgebiet; sich wieder etablierende Arten wie der Biber, werden schon wieder als Plage angesehen.
SITUATION
Zur Situation des einzigen verblie- benen Gestalters und Prozessaus- lösers unter den großen Grasern:
Vielfach
“Mastgebiete“ für Prestige- und
Trophäenjagd in widernatürlichem
ökoystemaren Umfeld und tierökologisch
fragwürdigem
“Management“.
Verbreitungskarte Rotwild in D und in
angrenzenden Regionen
Historische
Hude(Weide)- wälder in
Deutschland
Berücksichtigt sind Flächen mit > 5 ha. Danach gab es um das Jahr 2000 in ganz Deutschland noch ca. 5.500 ha Waldweiden an ca.
218 Standorten; nur 62 Weidegebiete hatten
> 20 ha Fläche
Quelle: GLASER & HAUKE 2004
Berücksichtigt sind Flächen mit > 5 ha. Danach gab es um das Jahr 2000 in ganz Deutschland noch ca. 5.500 ha Waldweiden an ca.
218 Standorten; nur 62 Weidegebiete hatten
> 20 ha Fläche
Quelle: GLASER & HAUKE 2004
5.500 ha von 11,4 Mio ha
Waldweide ist in D damit im Grunde kein Nutzungs-
(Problem)aspekt?
Historische
Hude(Weide)- wälder in
Deutschland
Typologie der juristischen
Regelungen zur Waldweide in den LWaldGs der Bundesländer
Typ 1
Verbot mit der Möglichkeit von Ausnahmegenehmigungen
Typ 2:
Theoretische Möglichkeit über die Genehmigung als Nebennutzung
Typ 3:
Theoretisch möglich über eine
Waldumwandlungsgenehmigung
(kann Planfeststellung, UVP + FFH-Verträglich- keitsprüfung umfassen und Ausgleichszah-
lungen + Ersatzaufforstungen nach sich ziehen)
Typ 4:
In allen Bundesländern ist im
Kontext von normativen Schutz- gebietskulissen wie Biotopschutz- wald (Waldbiotope), historischen Waldnutzungen (Schonwälder) die Waldweide (theoretisch) möglich, wenn diese zur Erreichung des
Schutzzweckes notwendig ist ?????
Typ 5:
Historisch tradierte Waldweide-
nutzungen wie in den bayerischen Alpen, den fränkischen Hutangern oder den Allmendweiden im
Südschwarzwald
Typologie der juristischen Regelungen zur Waldweide in den LWaldGs der Bundesländer
Realitäten
NSG Borkener
Paradies (NRW) 33 ha!
Selbst die wenigen Flächen / Standorte die es gibt sind am Verschwinden /
haben große Probleme.
Praktisch Probleme der Gebiete
Flächengröße zu gering » sinnvolles Weidemanagement schwierig
Flächen isoliert in Intensivlandschaften (z.B. Emsland)
Mangel an Flächen zur Heugewinnung
Wenige Akteure mit geeigneten Nutztieren und Interesse
Rechtliche Grauzone
(in Bayern ist die Ablösung alter Waldweiderechte und klare Trennung von Land- und Forstwirtschaft bis heute ein wichtiges Staatsziel)
Probleme mit Weide + Wald
Jagd:
Forst wird instru- mentalisiert:
Befindlichkeiten im Kontext mit
jagdlichen Interessen
Forstrecht
Komplizierte
Genehmigungslage (Verbote) es gilt das Prinzip:
“Waldfunktionen
dürfen nicht beeinträchtigt
werden“.
Naturschutz:
“Ungepflegtheit“,
“Schäden“, statische Ziele
Gesetzliche Regelungen:
Unterstände, Tränken,
Zufütterung, Fangstände, zeitliche
Befristungen usw.
Fehlende
Förderungen
& Auflagen durch
Förder- ungen:
1. + 2. Säule der GAP, CC,
Einge- brannte
“schlechte“
Erinner-
ungen /
Narrative
Worum geht es idR bei “moderner“
Waldweide?
Kulturgeschichtliche Archive
Relikte von Jahrtausende alten evolutiven Prozessen
Genetische Forst+Agrobiodiversität Labor zum Studium ökosystemarer Prozesse
Labor für zukunftsfähige großflächige &
extensive Landnutzungskonzepte
Einzigartiger Beitrag Europas zum Schutz der Biodiversität
Warum Wald-Weide-Projekte?
Historische (Waldweide)nutzung reaktivieren (bes. in Schutzgebieten)
Chancen “moderner“
Waldweiden:
Heute durchaus Sympathieprojekte mit touristischen Potentialen
Alternative für teure Stallbauten in extensiver Mutterkuhhaltung:
Waldtraufbereiche als kostenlose
Unterstände öffnen (schon 10 m genügen)
Fichtenaufforstungen mit geringer / keiner Werterwartung (Rotfäule, Borkenkäfer,
Sturmwurf)
Synergien und Kooperationen bislang meist getrennt agierender Akteure (Forst+ LandW, NatSchutz)
Fennoskandinavische
Weidewälder (LRT 9070)
Normativer
Schutz
New Forest / Dorset /UK
Bild: Carla Michels
Beispiel für interessante touristische
Wertschöpfungsketten
Eichelschwein GmbH
Bild: Hans Huss
Innovative Projekte
Nera Versasca Ziege
Mittlerweile eine positive(re)
Grundeinstellung in Wissenschaft und Gesellschaft. zu.
Neue Wertungen
Zahlreiche (Wald-)-Weideprojekte werden und wurden in allen
Bundesländern vor Ort von Förstern initiiert und begeistert umgesetzt,
Vorbehalte und Ablehnungen nehmen allerdings auf höheren
administrativen Ebenen zu.
Wie sich die Zeiten ändern!
Es gibt in fast allen Bundes- länden mittlerweile eine
Legitimation für die Schaffung
“lichter Wälder“, aber Strategien werden ohne
Herbivore gedacht.
Geschützte Waldflächen mit Prozessschutzcharakter in den Bundesländern in % des Waldanteils
0 1 2 3 4 5 6
5 %= Schutzziel der Bundesregierung für Prozessschutzflächen nach
Nationaler Biodiversitätsstrategie (NBS)
Geschützte Waldflächen mit Prozessschutz
in den Bundesländern in % des Waldanteils
Geschützte Waldflächen mit Prozessschutzcharakter in den Bundesländern in % des Waldanteils
0 1 2 3 4 5 6
5 %= Schutzziel der Bundesregierung für Prozessschutzflächen nach
Nationaler Biodiversitätsstrategie (NBS)