Energierohstoffe
Energie & Umwelt
Magazin der Schweizerischen Energie-Stiftung SES – 1/2012
> «Wir verbrauchen die Zukunft derjenigen, die nach uns leben wollen»
> Umdenken! bei der Enerigeaussenpolitik
> Atommüll-Endlager: Das Auswahlverfahren läuft verkehrt
So , 1 1. Mä rz 20 12
ns ch en St ro m ge ge n A to m
inhaltsvErzEichnis
Impressum
ENERGIE & UMWELT Nr. 1, März 2012 Herausgeberin:
Schweizerische Energie-Stiftung SES, Sihlquai 67, 8005 Zürich, Telefon 044 275 21 21, Fax 044 275 21 20 info@energiestiftung.ch, www.energiestiftung.ch Spenden-Konto: 80-3230-3
Redaktion & Layout: Rafael Brand, Scriptum, Telefon 041 870 79 79, info@scriptum.ch Redaktionsrat:
Jürg Buri, Rafael Brand, Dieter Kuhn, Felix Nipkow, Bernhard Piller, Linda Rosenkranz, Sabine von Stockar Re-Design: fischerdesign, Würenlingen
Korrektorat: Vreny Gassmann, Altdorf Druck: ropress, Zürich,
Auflage: 10000, erscheint 4 x jährlich
Klimaneutral und mit erneuerbarer Energie gedruckt.
Abdruck mit Einholung einer Genehmigung und unter Quellenangabe und Zusendung eines Beleg- exemplares an die Redaktion erwünscht.
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SCHWERPUNKTTHEMA: Energierohstoffe
4 «Wir verbrauchen die Zukunft derjenigen, die nach uns leben wollen»
Der Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur verläuft entlang des wärms ten der möglichen Zukunftspfade und wird bei 4 bis 6 Grad plus enden.
Das Problem dabei ist: Ab einer bestimmten Grenze wird unsere Anpas- sungsfähigkeit überschritten. Die Welt wird nicht untergehen, aber wir, die Menschen.
8 Interview mit Co-Autor Andreas Missbach, EvB:
«Rohstoff – Das gefährlichste Geschäft der Schweiz»
Ein Viertel der Rohstoffe weltweit wird über die Schweiz gehandelt. Die Firmen mit Sitz in Zug und Genf profitieren von Steuer geschenken und bauen die Rohstoffe grösstenteils zu haarsträubenden Bedingungen ab. Einen Über- blick über den Rohstoffhandel Schweiz gibt das neu erschienene Buch «Roh- stoff – Das gefährlichste Geschäft der Schweiz».
10 Umdenken! – in Richtung nachhaltige Energieversorgungssicherheit
Energieaussenpolitik heisst für den Bundesrat in erster Linie Energieversor- gungssicherheit. Der Haken ist, dass der Bundesrat Energieversorgungssicher- heit mit «Sicherung von Energie importen» gleichsetzt. Stattdessen sollte es aber darum gehen, sich von der Abhängigkeit der fossilen Energien zu lösen.12 Grundlagen-Wissen: Endliche Rohstoffe – Seltene Erden
Mastschweine wachsen schneller, wenn sie täglich eine geringe Menge «Seltene Erden» zu fressen bekommen. Seltene Erden werden als Druckmittel bei interna- tionalen Konflikten eingesetzt. Und Seltene Erden sind gar nicht so selten – aber extrem schwer in reiner Form zu gewinnen.
14 Wie viel Energie braucht eigentlich die Stromproduktion?
Es wird selten darüber gesprochen, wie viel Energie die Stromproduktion braucht. Der Primärenergiefaktor gibt darüber Auskunft. Klar ist: Erneu- erbare Energien sind in der Produktion effizienter als Atom- oder Gaskraft- werke. Ein triftiger Grund mehr, mit dem Atomausstieg die Stromversorgung auf erneuerbar zu trimmen.
16 Neuerscheinung: Susan Boos, Fukushima lässt grüssen
Susan Boos reiste nach der Atomkatastrophe zweimal nach Japan. Ihr neues Buch «Fukushima lässt grüssen» schlägt den Bogen bis in die Schweiz. Ein Gespräch über den Besuch in der Sperrzone, die Ohnmacht der Behörden und der Versuch der Menschen, sich mit dem Undenkbaren zu arrangieren.
18 Atommüll-Endlager: Das Auswahlverfahren läuft völlig verkehrt
Bis Ende 2012 werden 21 Gemeinden mit möglichen Oberflächenanlagen für ein potenzielles Atommüll-Lager beschäftigt. Dies, obwohl fundamentale Fra- gen noch immer ungeklärt sind: Von technischen Aspekten der Tiefenlage- rung bis zum Standort im Untergrund. Hier läuft etwas verkehrt.20 l News l Aktuelles l Kurzschlüsse l
22 Atomkraft nach Fukushima – Vom leisen Abgesang zum Absturz
Die Dreifachkatastrophe Erdbeben–Tsunami–Atomkrise hat Japan in hohem Grad trau matisiert. Die Schäden sind immens. Die Regierung unter Premier Noda scheint fest entschlossen, möglichst bald möglichst zahlreiche Reak- toren wieder ans Netz zu bringen. Die Bevölkerung ist allerdings fest ent- schlossen, gegen jede Wiederinbetriebnahme zu kämpfen.
Editorial
Erneuerbar – sonnenklar !
Von GERI MüllER SES-Präsident / Nationalrat
Liebe LeserInnen, ungefähr 80%
der in der Schweiz gebrauchten Primärenergie (Öl, Gas, Kohle, Uran) stammen aus Ländern, die nicht demokratisch regiert werden (Ausnahme Norwegen). Die Bevölkerung hat keinen Gewinn durch den Verkauf ihrer Rohstoffe. Armut und Un- ruhen prägen ihren Alltag. Wenn der Energiefluss ge- fährdet ist, schreiten amerikanische und europäische Truppen ein (Irak, Libyen, etc.). Die Menschen haben in ihrem Land keine Perspektiven und wandern aus.
Ein Bruchteil davon gelangt an die EU-Aussengrenze und wird als Wirtschaftsflüchtlinge abgefertigt oder in der Schweiz als Fall «Bettwil» abgehandelt. Anders gesagt, diese Rohstoffe sind die Grundlage unserer wirtschaftlichen Überlegenheit, die der Bevölkerung, denen die Rohstoffe gehören, zum Nachteil gereichen.
Die Abbaugebiete von Uran leiden unter radioaktiven Verseuchungen, an den Erdöl- und Gasquellen wer- den Bevölkerungsgruppen gegeneinander ausgespielt;
beides hat verheerende Auswirkungen – bis nach Bett-
wil. Öl findet man vor allem in muslimischen Ländern.
Ob uns deshalb die islamische Welt so suspekt ist?
Die Ungerechtigkeit wächst damit, dass diese Roh- stoffe, welche endlich sind, zu einem absoluten Spott- preis gehandelt werden. Unser Energiehunger wird kurzfristig gedeckt, die nachfolgende Generation wird dafür einen enormen Preis bezahlen. Die Folgen der Atomtechnologie sind heute nach wie vor unbekannt.
Kein Mensch weiss, wie das schwer radioaktive Mate- rial eine Million Jahre lang aufbewahrt werden soll.
Die Folgen der CO2-Ausstösse sind heute durch Klima- veränderungen langsam spür- und auch absehbar, den Preis dafür will aber niemand bezahlen.
Einfach gesagt: Unser System ist auf zwei Batterien aufgebaut, fossil (Aufladezeit 300 Millionen Jahre) und dem nicht wiederaufladbaren Uran. Es ist schon lange möglich, Häuser so zu bauen, dass sie weder beheizt noch gekühlt werden müssen; es ist eine Idiotie, den menschlichen Körper mit 1000 Kilo Material durch die Gegend zu kutschieren (Auto) und ein Versorgungssy- stem aufzubauen, das billiger wird, je weiter her die Güter kommen. Ich bin überzeugt, dass die Gesell- schaft, welche erneuerbar denkt und handelt, sich in
Zukunft durchsetzen wird. <
«Wir verbrauchen die Zukunft derjenigen, die nach uns leben wollen»
zUrück zUr zUkUnftsfähigkEit: Was bEdEUtEt dEnn «diE grossE transformation»?
Der Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur verläuft entlang des wärmsten der möglichen Zukunftspfade und wird bei 4 bis 6 Grad plus enden. Das Problem dabei ist:
Ab einer bestimmten Grenze wird unsere Anpassungsfähigkeit überschritten. Die Welt wird nicht untergehen, aber wir, die Menschen. Wir verbrauchen die Zukunft der jenigen, die nach uns noch leben wollen. Wir müssen – nach einer Zeit des Hyperkonsums und der Verschwendung – endlich wieder normal werden. Höchste Zeit also, mit dem aktiven Umbau in Richtung nachhaltige Gesellschaft anzufangen.
Von HARAlD WElZER
Professor für Transformationsdesign an der Universität Flens burg, Direktor der Stiftung Futur Zwei
Der Erwärmungsanstieg der globalen Durch- schnittstemperatur verläuft entlang des wärms ten der möglichen Zukunftspfade.
Entsprechend schaut es mit dem Anstieg der Meere oder dem Abschmelzen der Gletscher aus: Alle realen Befunde erreichen oder übertreffen die pessi- mistischsten Prognosen. Das ist auch kein Wunder, hat sich doch allein in den vergangenen zwei Jahr- zehnten der weltweite Ausstoss von Treibhausgasen nahezu verdoppelt. Wir verzeichnen – mit Ausnahme des Wirtschaftskrisenjahres 2009 – jedes Jahr einen
neuen Rekord im Energie- und Materialverbrauch genauso wie in den dabei anfallenden Emissionen.
Anders Levermann vom Potsdam-Institut für Klima- folgenforschung hat vor einiger Zeit in einem Arti- kel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung darauf hingewiesen, was das Problem dabei ist: Ab einem bestimmten Niveau des Temperaturanstiegs braucht man sich keine Gedanken mehr zu machen, wie die Welt mit 4, 5 oder 6 Grad plus aussieht, weil die An- passungsfähigkeit menschlicher Kulturen und Gesell- schaften damit überschritten sein wird.
Nicht die Welt, aber wir, die Menschen, werden untergehen
Die Welt wird nicht untergehen, auch wenn es noch wärmer wird als die 2 Grad plus, die man allgemein
Foto: Langreder/S.-Fischer-Verlag Fotos: dreamstime.com
für die «Leitplanke» ungefährdeten Überlebens hält – aber wir, die Menschen. Das ist keine apokalyptische, sondern realistische Aussage. Unsere Welt wird je- doch nicht mit einem Knall untergehen, sondern in einer sich vertiefenden Ungleichheit von Überlebens- chancen. Das wird ein paar Jahrzehnte dauern.
Jahr zehnte, in denen die Gesellschaften besser oder schlechter versuchen werden, mit den sich verändern - den klima tischen Bedingungen umzugehen, Extrem- wetterereignisse zu überstehen, in wachsender Res- sourcenkonkurrenz Sieger zu bleiben – kurz: In denen sie mit wachsender Vergeblichkeit versuchen werden, das zu bewältigen, was ihnen als «Krise» erscheint.
Konsumiert und weggeworfen wird mehr denn je
Schon Dennis Meadows, einer der Autoren der «Limits to Growth», hat darauf hingewiesen, dass der Umgang mit den Endlichkeitskrisen und der Ressourcenüber- nutzung im Wesentlichen im Kurieren der Symptome bestehen wird, nicht etwa im Verlassen des fatalen Wachstumspfades oder im Experimentieren einer an- deren Kultur, einer, die nicht «Verschwendung» und
«Verbrauch» zur Leitmaxime erhoben hat. Und es ge- schieht nicht ohne Bitterkeit, wenn man feststellen muss, dass 40 Jahre Nachhaltigkeitskommunikation und Ökologiebewegung zwar zu einer nachhaltigen Veränderung des Bewusstseins geführt haben, aber leider doch fast nichts anderes verändert haben als eben das Bewusstsein. Konsumiert wird mehr denn je zuvor, weggeworfen ebenfalls.
Aber wie kann das eigentlich alles sein? Wieso zeigen alle Daten zu Ressourcen- und Umweltverbrauch steil nach oben, wenn zum Beispiel die Deutschen so um- welt- und energiebewusst sind, dass sie in Sachen Atom- ausstieg stolz zum «deutschen Sonderweg» stehen?
Die Antwort ist einfach: Weil in diesen selben Jahr- zehnten der Konsum kontinuierlich angestiegen ist und mit ihm der Materialverbrauch und damit die Mengen an Müll und Emissionen. War zum Beispiel ein Austin Mini vor 40 Jahren tatsächlich klein und
transportierte mit 34 PS und 617 Kilogramm Gewicht immerhin vier Personen, gibt es ihn heute als Limou- sine, Cabrio, Roadster, Kombi, Coupé und SUV mit bis zu 211 PS und 1380 Kilogramm Gewicht.
Die Verwandlung langlebiger Konsumgüter in kurzlebige
Ressourceneffizientere Produkte lösen die älteren, verbrauchsintensiven nicht ab, sondern treten neben sie; zudem steigert sich die Zahl der Autos oder Flat- screens pro Haushalt kontinuierlich. Die Kaskade der permanenten Erhöhung von Aufwand wird auch durch noch so gut gemeinte Technologie nicht un- terbrochen, sondern fortgeschrieben (siehe Textbox unten). Aber genau so muss es in einer Wachstums- wirtschaft auch sein. Die funktioniert nämlich nur dann, wenn sie über die Befriedigung der vitalen Bedürfnisse hinaus pausenlos neue erfindet und die Verbraucher in dumpfe Befriediger von Wünschen verwandelt, von denen sie kurz zuvor noch gar nicht wussten, dass sie sie hatten.
Die selbstverständliche Benutzeroberfläche unseres Alltags
Man sieht, dass ökologisches Bewusstsein und ganz und gar zerstörerisches Verhalten in friedlicher Ko- exi stenz leben können. Denn es wird ja chronisch überschätzt, wie viel eigentlich der kognitive oder gar der reflexive Teil unserer Wahrnehmungen, Deutungen und Entscheidungen zum Handeln bei- trägt. Die Neuro wissenschaften betonen nicht zu Unrecht, dass das menschliche Gehirn chronisch be- müht ist, so viel Arbeit wie möglich in den Bereich der Gewohnheiten und Routinen zu verlagern, was nichts anderes bedeutet, als die Lösung wiederkehrender Orientierungs- und Bewältigungsanforderungen in eine unbewusste Praxis zu verlagern. Und genauso lässt sich in soziohistorischer Perspektive argumen- tieren, dass Gesellschaften über ihre materiellen, institutionellen und mentalen Infrastrukturen den Verkehr zwischen den Individuen so regeln, dass das allermeiste davon nicht jeweils neu verhandelt,
Hybrid-Geländewagen, die 2 Liter Benzin we- niger verbrauchen als ihre konventionellen Schwestermodelle, aber ebenfalls 2,5 Tonnen wiegen, sind als Transportmittel keinen Deut weniger irrational.
Die EU hat derlei Unfug inzwischen kodifiziert:
die Produktkennzeichnung PKW-EnVKV, die die Energieeffizienz von Autos markiert, basiert auf der Berechnung von Schadstoffausstoss relativ
zum Fahrzeuggewicht, so dass ein monströser Audi Q7 ein besseres Energielabel bekommt als ein Kleinwagen, der weniger als die Hälfte verbraucht. Mehr ist weniger. Das ist «double speech» nicht im Zeitalter von Orwell, sondern von Greenwashing.
Die Menge an gekaufter Kleidung hat sich in den USA in nur einem Jahrzehnt (von 1998 bis 2007) verdoppelt, die an Möbeln um 150% gesteigert
(Schor 2011). Die Ikearisierung der Welt, also die Verwandlung langlebiger Konsumgüter in kurz- lebige, schreitet mit irrsinniger Geschwindigkeit voran. Die Nutzungsdauer bei elektronischen Geräten wird bewusst von den Herstellern durch geplante Obsoleszenz verkürzt, und mittlerweile werden in den USA und in Europa 30 bis 50%
aller Nahrungsmittel direkt entsorgt, weil sie nur noch gekauft, aber gar nicht mehr konsumiert werden (Kreutzberger/Thurn 2011).
Von Obsoleszenz und Energieeffizienz: Mehr wäre weniger!
Unsere Welt wird jedoch nicht mit einem Knall untergehen, sondern in einer sich vertiefenden Ungleichheit von überlebenschancen.
Ressourceneffizientere Produkte lösen die älteren, verbrauchsintensiven nicht ab, sondern treten neben sie.
sondern voreingestellt, also gleichsam automatisch abläuft. Das heisst: Wichtig für das, was wir tun, ist die selbstverständliche Benutzeroberfläche unseres Alltags, weniger das, was wir über das eine oder an- dere denken.
Status quo + shifting baselines
Deshalb hat der status quo ein so ungeheures Behar- rungsvermögen. Wenn wir Veränderung denken, den- ken wir sogleich, sie liesse sich über Veränderungen des Bewusstseins einleiten, aber was das Alltagsleben reguliert, ist nur zum geringsten Teil eine Angelegen- heit des Bewusstseins. Zudem werden schleichende Veränderungen meist nicht registriert, weil sich die Wahrnehmung an die Veränderung ihrer Umwelten permanent nachjus tiert. Umweltpsychologen nennen dieses Phänomen «shifting baselines» – im Rahmen einer Mehrgenerationenstudie mit südkalifornischen Fischern wurde diese Verschiebung des Referenz- punktes daran gezeigt, dass das Bewusstsein über den Artenschwund und die Überfischung desto geringer
wurde, je jünger die Befragten waren: Sie kannten es gar nicht anders. Man hat den Eindruck, alles blie- be im Grossen und Ganzen gleich, obwohl sich Fun- damentales verändert hat. Der normativen Kraft des Faktischen muss man daher nicht nur kognitiv, sondern auch materiell etwas entgegensetzen, zum Beispiel ganz handfeste Beispiele: real existierende autofreie Städte (wie das belgische Hasselt), real existierende Bioener- giedörfer, real existierende Bürgergenossenschaften zur Versorgung mit erneuerbaren Energien usw.
Wir verbrauchen die Zukunft
Beides, die normative Kraft des Faktischen wie die permanente Nachjustierung der Wahrnehmung an das Gegebene, macht unsichtbar, was sich jenseits der Oberfläche, also im Fundament der Gesellschaft verändert. Deshalb fällt im Augenblick auch noch kaum auf, dass moderne Gesellschaften eine Genera- tionenungerechtigkeit etabliert haben, wie sie für die Moderne beispiellos ist: Nicht nur im Fall der Staats- schulden, auch bei den Naturressourcen werden, da die gegenwärtige Generation radikal über ihre (Na- tur-)Verhältnisse lebt, Kredite aufgenommen, die die folgenden Generationen zu bezahlen haben. Da dies zum Teil zu irreversiblen Übernutzungen führt, wird es gar nicht zum Schuldendienst kommen können, sprich wir verbrauchen die Zukunft derjenigen, die nach uns auch noch leben wollen.
Hin zur nachhaltigen, postcarbonen Gesellschaft
Erst vor diesem Hintergrund wird überhaupt deut- lich, wie umfassend sie denn eigentlich sein müsste, die viel zitierte «grosse Transformation» zur nachhal- tigen oder «postcarbonen» Gesellschaft: Dabei kann es sich keineswegs um ein Projekt handeln, in dem bloss technologische Parameter der Energieversorgung ge- wechselt werden, sondern es geht um den Wechsel eines kulturellen Modells. In Zukunft wird man Pro- bleme nicht mehr durch Expansion lösen können, so wie die Moderne es immer getan hat, sondern nur durch Reduktion, nicht durch mehr von allem, son- dern durch weniger von allem.
Dies leuchtet auch deshalb ein, weil ja die erste in- dustrielle Revolution, die neuerdings allenthalben als Blaupause für die dritte, die Nachhaltigkeitsrevoluti- on, betrachtet wird, keineswegs nur darin bestanden hat, durch die Nutzung fossiler Energien jene Pro- duktivitätsschübe zu ermöglichen, die die Dynamik der kapitalistischen Wirtschaft und die gigantischen Wohlstandsgewinne auslösten. Diese erste industriel- le Revolution schuf ein ganz neues Familienmodell, einen ganz neuen Typus von Individuum, gänzlich neue Vorstellungen von individuellem und gesell- schaftlichem Wachstum, neue Rechtsverhältnisse, kurz: eine neue Kultur (Welzer 2011).
Jetzt kann es nur darauf ankommen, die mit dieser Nicht nur im Fall der Staatsschulden, auch bei den
Naturressourcen werden, da die gegenwärtige Generation radikal über ihre (Natur-)Verhältnisse lebt, Kredite aufgenommen, die die folgenden Generationen zu bezahlen haben.
Revolution gewonnenen zivilisatorischen Standards aufrechtzuerhalten und zugleich den Ressourcenauf- wand radikal zu senken. Das ist eine historische Auf- gabe, nicht die Substitution von konventionellen Au- tos durch Elektrofahrzeuge. Für diese Aufgabe haben wir zwar noch kein Rezeptwissen, aber wenigstens einen Begriff: Statt um Wachstum kann es in Zukunft nur um Kultivierung gehen.
Abbau von Privilegien = Rückgewinn der Zukunftsfähigkeit
Aber die Rückgewinnung von Zukunftsfähigkeit ist auch eine politische Aufgabe. Sie setzt eine ganz neue Intoleranz gegenüber der chronischen Verletzung des Rechts auf künftiges Überleben voraus. Ohne tief greifenden Wandel von Wirtschafts- und Lebensweise wird man nicht durch das 21. Jahrhundert kommen und nicht einmal eine «Energiewende» hinkriegen.
Es bedurfte harter politischer Entscheidungen, die ge- gen mächtige Widerstände getroffen werden mussten, um z.B. den Manchester-Kapitalismus zu zivili sieren.
Aber sie wurden getroffen: Kinderarbeit wurde ver- boten, der Acht-Stunden-Tag durchgesetzt (Menasse 2006: 26f). Weder die Abschaffung der Sklaverei noch die Erkämpfung der Bürgerrechte in den USA waren Ergebnisse herrschaftsfreier Kommunikation. An die- sen Beispielen sieht man, dass Modernisierung immer das Resultat eines mühsam erkämpften Abbaus von Privilegien ist.
Die Privilegierten sind wir!
Und genau aus diesem Grund sind unsere Gegenwarts- gesellschaft und ihre Politik so antiquiert: Weil diese Politik darauf verzichtet, Privilegien der Ressourcen- nutzung so einzuschränken, wie es in der Geschichte der Moderne immer der Fall war. Die heutige Politik tritt deswegen auf der Stelle, weil Privilegiensicherung zum einzigen Inhalt des Politischen geworden ist.
Aber die am meisten Privilegierten sind wir: die Be- wohnerInnen der frühindustrialisierten Gesellschaften, mit ihrem exorbitant hohen Pro-Kopf-Verbrauch.
Wenn es also um den Umbau zu einer zukunftsfä- higen Gesellschaft geht, kann der Schlüssel dafür nur unsere eigene Deprivilegierung sein. Einfacher gesagt:
Es kommt darauf an, nach einer Phase des völlig aus dem Ruder gelaufenen Hyperkonsums wieder normal zu werden. Um es – wiederum völlig antiquiert – mit Seneca zu sagen: Nie ist zu wenig, was genügt.
Es ist Zeit anzufangen
Die neue politische Demarkationslinie befindet sich zwischen «Zukunftsfähigkeit» und «Zukunftsfeind- lichkeit», und diese verläuft quer zum tradierten po- litischen Spektrum. Das hat eine Reihe von Gründen:
Der wichtigste ist wohl, dass es für die Transforma- tion moderner, auf Ressourcenübernutzung und auf fossile Energien gebauter Gesellschaften keinen Mas- terplan gibt.
Denn man weiss heute nur in Umrissen, wie eine nach haltige und enkeltaugliche moderne Gesellschaft aussehen würde – zum Beispiel, dass sie in vielerlei Hinsicht kleinteiliger und weniger komplex sein wird als das, was wir im Augenblick für modern und entwick lungsfähig halten. Eine solche Gesellschaft wird weniger mobil sein, einen engeren Bezug zu Gü- tern und ihrer Knappheit haben sowie eine erstaun- liche Renais sance von Vergemeinschaftungsformen und Wirtschafts kooperationen erleben, die wir lange für überholt und für hoffnungslos altmodisch hielten:
Genossenschaf ten, Gemeinschaften, Nachbarschaften werden kollektive Güter bewirtschaften und in einer Kultur des Teilens von Fahrzeugen, Werkzeugen und Werkstoffen nicht nur achtsam mit Ressourcen um- gehen, sondern auch eine neue Kultur des Sozialen entwickeln.
Das alles übrigens wird entweder so kommen, weil eine soziale Bewegung von Akteuren der Zukunfts- fähigkeit proaktiv die Gestaltung einer solchen Ge- sellschaft in die Hand nimmt, die dann attraktiv und modellhaft wird, oder es wird so kommen, weil die Kumulation von Finanzcrash, Klimawandel, Ressour- cenknappheiten und Generationenungerechtigkeit solchen Mangel und solche Konflikte erzeugt, dass sich kleinteilige Überlebensgemeinschaften aus schie- rer Not organisieren müssen. Das nun wäre gegen- über der proaktiven Gestaltung einer nachhaltigen Gesellschaft gewiss die schlechtere Alternative. – Es ist also Zeit, damit anzufangen. <
Ohne tief greifenden Wandel von Wirtschafts- und lebensweise wird man nicht durch das 21. Jahrhundert kommen.
Die heutige Politik tritt deswegen auf der Stelle, weil Privilegiensicherung zum einzigen Inhalt des Politischen geworden ist.
literatur
n Kreutzberger, Stefan/Thurn, Valentin (2011): Die Essensvernichter: Taste the Waste – Warum die Hälfte aller Lebensmittel im Müll landet und wer dafür ver- antwortlich ist, Köln.
n Levermann, Anders (2011): Die Erderwärmung um acht Grad wird es niemals ge- ben, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (29.12.2010).
n Meadows, Donella H./Meadows, Dennis L./Randers, Jørgen u.a. (1972): The Limits to Growth. A report for the Club of Rome's project on the predicament of mankind, New York.
n Menasse, Robert (2006): Die Zerstörung der Welt als Wille und Vorstellung:
Frankfurter Poetikvorlesungen, Frankfurt am Main.
n Schor, Juliet (2011): Wie wir sind. Ausprägung, Ursachen und Folgen der west- lichen Konsumkultur, Vortrag auf der Zweiten Konferenz des Denkwerks Zukunft
«Weichen stellen. Wege zu zukunftsfähigen Lebensweisen» (15.1.2011), Berlin.
n Welzer, Harald (2011): Mentale Infrastrukturen. Wie das Wachstum in die Welt und in die Seelen kam, Schriften zur Ökologie der Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin.
Interview von
lINDA ROSENKRANZ, Kommunikationsverantwortliche SES
Andreas Missbach, die industrialisierte Welt hängt am Tropf der Rohstoffhändler. Wie gross ist die Branche überhaupt?
«
Sie hat heute einen Anteil am Welthandel von rund 26 Prozent. Volumenmässig sind es sogar fast drei Viertel. Der grösste Teil der Handelsschiffe auf den Weltmeeren sind Tanker, Container machen einen kleinen Teil aus. Diese Tanker transportieren vor allem Öl, die Hälfte des Rohstoff-Welthandels dreht sich heute um das schwarze Gold. Auch Metalle sind begehrt. Pflanzliche Rohstoffe wie Baumwolle, Nahrungs- und Futtermittel sowie pflanzliche Öle unter anderem für Kosmetika, Wasch- und Putzmit- tel, machen ebenfalls einen knappen Viertel des Roh- stoff-Welthandels aus.»
Das Buch «Rohstoff – Das gefährlichste Geschäft der Schweiz» zeigt unter anderem, welche Rolle der Schweiz im internationalen Rohstoffhandel zukommt. Wie wichtig sind Schweizer Firmen wie Vitol oder Glencore?
«
Schweizer Rohstofffirmen1 bestimmen zwischen 15 und 25 Prozent des weltweiten Handels. Im Ölge- schäft ist die Schweiz gar führend: Rund ein Drittel des weltweiten Öls wird hier gehandelt. Beim Öl aus Kasachstan beträgt der Schweizer Anteil 50 Prozent, rund 75 Prozent beim russischen Öl. Sichtbar wirdvon diesem Handel nichts, denn die Rohstoffe kommen nie in die Nähe der Schweiz, deshalb hat man dieser Branche bisher wohl so wenig Aufmerk- samkeit geschenkt. 2010 trug der Rohstoffhandel 3 Prozent zum Bruttoinlandprodukt bei, das ist 1 Pro- zent mehr als die Maschinenindustrie – eine Schwei- zer Traditions branche.
»
Was charakterisiert die Rohstoffbranche?
«
Auffällig ist eine extreme Aggressivität und eine hohe Risikobereitschaft. Die Schweizer Firmen lieben Länder mit schwachen Regierungen. Dort ist die Kon- trolle gering. Ein Beispiel, das erst nach Abschluss des Buches öffentlich wurde: Zwei Tage vor der Staats- gründung des Südsudan hat Glencore bekannt gege- ben, sie hätte Ölrechte erworben. Man muss sich das vor Augen halten: Es existierten weder Parlament, noch Justiz, Presse oder eine organisierte Zivilgesell- schaft, aber Glencore hatte bereits die Rechte am Öl.Oder Libyen, wo die Genfer Firma Vitol die Rebellen unterstützte. Im Halbwochenrhythmus schickte sie einen vollen Tanker nach Bengasi, um die Rebellen mit Benzin zu versorgen. Vitol steht heute natürlich sehr gut da, wenn es um das libysche Öl geht. Man ist nicht wählerisch und packt die Gelegenheiten.
»
intErviEW mit co-aUtor andrEas missbach
«Die Schweiz trägt eine Verantwortung für ihre Firmen»
Ein Viertel der Rohstoffe weltweit wird über die Schweiz gehandelt. Nur weiss das fast niemand. Das Schlimme daran: Die Firmen mit Sitz in Zug und Genf profitieren von Steuer geschenken und bauen die Rohstoffe grösstenteils zu haarsträubenden Bedingungen ab. Einen überblick über den Rohstoffhandel Schweiz gibt das neu
erschienene Buch «Rohstoff – Das gefährlichste Geschäft der Schweiz», herausgegeben von der Erklärung von Bern (EvB). Ein Interview mit Co-Autor Andreas Missbach.
Quelle: Audrey Gallet/EvB
Auffällig ist eine extreme Aggressivität und eine hohe Risikobereitschaft. Die Schweizer Firmen lieben Länder mit
schwachen Regierungen. Dort ist die Kontrolle gering.
Andreas Missbach,
Co-Autor von «Rohstoff – Das gefährlichste Geschäft der Schweiz»
Andreas Missbach ist Sozialwissenschaftler und hat über den Nord-Süd-Konflikt in der internationalen Klimapolitik promoviert. Seit 2001 ist er bei der Erklärung von Bern zuständig für den Fachbereich Banken und Finanzplatz Schweiz mit den Schwerpunkten Steuergerechtigkeit und soziale Verantwortung von Banken. Andreas Missbach ist Mitglied der Geschäftsleitung der Erklärung von Bern und Co-Autor von
«Rohstoff – Das gefährlichste Geschäft der Schweiz».
Schweizer Rohstofffirmen haben im Ausland immer wieder negative Schlagzeilen mit Korruptionsaffären gemacht. Lassen sich auch Schweizer Behörden «ein- wickeln» in die unsauberen Rohstoff-Geschäfte?
«
Im Vergleich zu früher sind die Verstrickungen heute sicher weniger offensichtlich. Früher war der Zuger Wirtschaftsdirektor zeitgleich Wirtschaftsan- walt. Sein damaliger Sekretär sagte einmal, dass er am Morgen die Arbeit für den Wirtschaftsdirektor erledigte und am Nachmittag Briefkastenfirmen auf- setzte, natürlich beides im selben Büro. Staat und private Wirtschaftskanzlei gehörten dazumal zusam- men, das ist heute nicht mehr so extrem. Für Schwei- zer Rohstofffirmen ist die kantonale Ebene aber im- mer noch am wichtigsten, weil hier die steuerlichen Sonderregeln gemacht werden, von denen sie profi- tieren. Da sind sie sehr gut verwurzelt. Ebenfalls gut vernetzt sind sie natürlich international. Dass da zwi- schendrin noch die Schweizer Bundespolitik ist, fällt solchen Firmen wohl nicht auf.»
Ist es überhaupt realistisch, dass so ziale und ökolo- gische Kriterien eingehalten werden?
«
Theoretisch ist das auf jeden Fall möglich. Aber nur auf Kosten der extrem hohen Profitraten. Zum Beispiel dürfte man Vorkommen in ökologisch sehr sensiblen Gebieten gar nicht fördern. Und wo dennoch abgebaut wird, müsste die beste verfügbare Technik angewendet werden. Nach sozialen Kriterien müssten als Erstes die Leute entschädigt werden, die früher von dem Land gelebt haben, das heute nur noch ein Loch ist. Stattdessen fliesst fast alles Geld den Firmen zu, die die Minen betreiben. Also auch den Schweizer Rohstofffirmen, die selber begonnen haben, Bergbau zu betreiben. Glencore zahlt dem Staat für eine Kupfermine in Sambia 0,6 Prozent des Umsatzes. Den ganzen Rest sackt die Zuger Firma selber ein. Grund-sätzlich kämen noch die Gewinnsteuern dazu. Aber dank sehr verschachtelter Firmenstrukturen und aggressiver Steuervermeidung können sie buchhal- terisch jedes Jahr einen Verlust ausweisen. Glencore zahlte in den vergangenen Jahren nie Gewinnsteuern, obwohl sich die Kupferpreise zum Teil vervierfacht hatten. Die Schweiz trägt eine Verantwortung dafür, dass die Förderländer leer ausgehen und muss ihre Gesetzgebung anpassen.
»
Kann man als EinzelneR überhaupt etwas dagegen tun?
«
Klar! Jeder kann etwas tun, zum Beispiel die Kam- pagne Recht ohne Grenzen unterstützen. Und sonst gelten die alten Rezepte wie beispielsweise: Weniger Fleisch essen und wenn, dann Schweizer Weidefleisch, dann hat man immerhin die Rohstoffe für die Futter- mittel nicht verschwendet. Weniger Autofahren und auch mal ein Handy ein paar Jahre behalten. Denn klar ist: Rohstoffe sind endlich. Lange können wir nicht mehr auf solch grossem Fuss leben.»
1 Firmen, die in der Schweiz ansässig sind, werden im Buch als Schweizer Firmen bezeichnet. Eine genaue Definition ist schwierig, denn es handelt sich bei diesen Konstrukten um eigentliche multiple juristische Persönlichkeiten, die in ihren Strukturen extrem verschachtelt sind und sich in unterschiedlichen rechtlichen Räumen bewegen.
Die Mopani-Kupfermine in Sambia gehört der zugerischen Glencore: Die Schwefelemissionen betragen bis das 70-fache des gültigen Grenzwertes.
Die Mopani-Kupfermine in Sambia gehört der zugerischen Glencore: Die Schwefelemissionen betragen bis das 70-fache des gültigen Grenzwertes.
Quelle: Audrey Gallet/EvB
Die Schweiz trägt eine Verantwortung dafür, dass die Förderländer leer ausgehen und muss ihre Gesetzgebung anpassen.
«Rohstoff – Das gefährlichste Geschäft der Schweiz» ist im September 2011 im Salis Verlag erschienen und im Buchhandel erhältlich.
Umdenken! – in Richtung nachhaltige Energieversorgungssicherheit
sEs-fordErUng zUr schWEizEr EnErgiEaUssEnpolitik
Von BERNHARD PIllER SES-Projektleiter
Sie ist schon eher alt, die Strategie für eine Ener- gieaussenpolitik der Schweiz1 und stammt aus dem Jahr 2008. Weil sich die energiepolitischen Vorzeichen mittlerweile und vor allem im März 2011 durch die Atomkatastrophe in Fu- kushima fundamental verändert haben, ist eine Überarbeitung der schweizerischen Energieaussen - politik dringend notwendig. Aber nicht nur deswegen, sondern auch wegen ihrer aus Sicht der SES komplett falschen Ausrichtung.
Gute Analyse – falsche Massnahmen
Aber beginnen wir von vorne: Die ersten Sätze tönen verheissungsvoll. Die Analyse ist korrekt: Die Ener- gienachfrage steigt kontinuierlich, die Schweiz ist stark abhängig von Energieimporten und die Endlich- keit der Reserven der fossilen Energieträger wird fest- gestellt. So weit so gut. Die Prioritätensetzung bei den
Massnahmen richtet sich nun ganz und gar nicht der Analyse gemäss, wie es für einen zukunftsfähig und nachhaltig handelnden Bundesrat zu erwarten wäre.
Falschannahme 1
Versorgungssicherheit = Energieimporte
Die offizielle Energieaussenpolitik verfolgt die drei Hauptziele Energieversorgungssicherheit, Wirtschaft- lichkeit und Umweltverträglichkeit. An erster Stelle steht die Energieversorgungssicherheit, und da wird als vorrangiges Ziel die «Sicherung von Energieimporten»genannt. Unter anderem wird erwähnt, wie sich der Bundesrat für die «EGL AG networking energies» und ihre Trans-Adria-Gaspipeline (TAP) einsetzt, indem er in den Iran und nach Aserbaidschan reist und der Schweizer Gaswirtschaft als Türöffner dient. Dies wird als vorrangige Aufgabe der Schweizer Energieaussen- politik verstanden. Wir erinnern uns alle an Calmy- Rey mit Kopftuch bei den iranischen Mullahs und dem antisemitischen iranischen Diktator Ahma- dinedschad. Und dies nur, damit AXPO/EGL und Co.
dereinst vielleicht mal Gas aus dem Iran für ihre ita- lienischen Gaskraftwerke bekommen. Gas aus einem Land, mit welchem man aus Menschenrechtssicht ohnehin alle Handelsbeziehungen abbrechen müsste.
Falschannahme 2
Wirtschaftlichkeit = billige Energie
An zweiter Stelle steht die Wirtschaftlichkeit, sprich die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Schweiz und die Versorgung mit genügend kostengünstiger Ener- gie. Dies obwohl mehr als anerkannt ist, dass Energie auf Basis der Kostenwahrheit teurer werden muss.
Es darf also nicht alleine darum gehen, Energie mög- lichst kos tengünstig auf den Markt zu bringen. Denn der Energieverbrauch wird erst sinken, wenn Energie knapp und teurer wird.
Falschannahme 3
Umweltverträglichkeit = Export
Das dritte Hauptziel der Schweizer Energieaussen- politik heisst Umweltverträglichkeit. Unter Umwelt- verträglichkeit versteht der Bundesrat eine «klima-
Energieaussenpolitik heisst für den Bundesrat in erster linie Energieversorgungssicher- heit. Damit ist die SES einverstanden. Der Haken ist aber, dass der Bundesrat Energie- versorgungssicherheit mit «Sicherung von Energieimporten» gleichsetzt. Stattdessen sollte es aber darum gehen, sich von der Abhängigkeit der fossilen Energien zu lösen. Es braucht ein Umdenken hin zu einer zukunftsfähigen Energieversorgungssicherheit – und eine solche kann nur erneuerbar sein.
Foto: «Leuna refinery», greenpeace, Paul Langrock
Die Schweiz ist zu 80% von Importen nicht erneuerbarer Energien abhängig.
freundliche und effiziente Energienutzung», wobei bereits als zweiter Punkt der Export innovativer Tech- nologien erwähnt wird.
Die Widersprüche sind so offensichtlich wie glasklar.
Klimafreundlich kann nur bedeuten «weg von den fossilen Energien», aber in den Hauptzielen eins und zwei verfolgt der Bundesrat genau das Gegenteil. Und beim Export innovativer Technologien geht es der Schweiz in erster Linie um neue Absatzmärkte und erst in zweiter Priorität um ernsthafte, nachhaltige Energie- und Entwicklungshilfe.
Zu 80% von Energieimporten abhängig
Die Schweiz ist zu über 80% von Energieimporten ab- hängig. Sowohl Erdöl wie auch Gas und Uran werden zu 100% importiert. Der Uranimport wird sich nach dem Atomausstieg glücklicherweise erübrigen. Aber Erdöl und Erdgas stellen ein immenses Problem dar.Sie stammen zu einem grossen Teil aus geopolitisch instabilen Weltregionen, sind endlich und heizen un- ser Klima auf. Was läge also näher, als sich bei einer neuen Energieaussenpolitik eine Ausstiegsstrategie als prioritäres Ziel zu setzen?
Die Lösung liegt auf der Hand und ist relativ einfach.
Marcel Hänggi hat sie im letzten E&U auf den Punkt gebracht: «Es geht darum, fossile Energie vom Markt fern zu halten.»2 Der Bundesrat weiss, wie das funk- tioniert und hat es mit dem beschlossenen Atomaus- stieg vorgemacht. Ein Umstieg auf 100% erneuerbare Energien bei der Stromversorgung ist nur über ein Verbot von neuen Atomkraftwerken erreichbar.
Der heutige Bundesrat ist lernfähig, er hat in der Atom- politik die Zeichen der Zeit erkannt. Will heissen, er hat erkannt, dass die mit grossen Risiken verbundene Atomkraft keine Zukunft hat. Das war und ist ein starkes Zeichen. Nun muss der Bundesrat – angesichts der fatalen Klimaerwärmung – auch eine Ausstiegs- strategie aus den fossilen Energien erarbeiten. Zuerst beim Erdöl, später beim Erdgas. Das Konzept dazu ist wie erwähnt einfach: Der Import fossiler Energien muss per Kontingent kontinuierlich Jahr um Jahr um z.B. 2% reduziert werden. Die Energiepreise für das stetig sinkende Kontingent fossiler Energien werden im Inland auf dem freien Markt ausgehandelt. Eine solche Energiepolitik ist für die Markteilnehmenden transparent und planbar und gibt genügend Optionen und Zeit, mit Energieeffizienz und Erneuerbaren in Richtung nachhaltige Energiezukunft zu schreiten.
Schöne Worte statt Taten
Es braucht also eine nationale Kommission für den Ausstieg aus den fossilen Energien, wie sie SES-Präsi- dent und Nationalrat Geri Müller in einer Motion im Jahr 2008 gefordert hat. Der Bundesrat lehnte im Mai 2008 jedoch die Motion ab. In seiner Antwort schreibt er: «Der Bundesrat treibt seine Energiepolitik konse- quent voran, um u. a. die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern weiter zu reduzieren. [..] Eine zusätz-
liche Expertenkommission hält der Bundesrat daher nicht für notwendig.» Schöne Worte, doch die Realität ist eine andere: Der Verbrauch fossiler Energien in der Schweiz sinkt keinesweg, sondern verharrt seit Jah- ren auf unverändert hohem Niveau.
Für einen Ausstieg aus den fossilen Energien ist eine solche ExpertInnenkommission also von zentraler Be- deutung. Sie müsste dem Bundesrat ein klares Umset- zungskonzept vorlegen – und zwar als erste Priorität einer Energieaussenpolitik, die diesen Namen auch ver- dient. Das oberste Hauptziel wäre dann die komplette Loslösung von der Auslandabhängigkeit von fossilen Ener gien. Der momentan unter Federführung des Eid genössischen Departements für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK) von Bundesrätin Doris Leuthard laufende Prozess hin zur Energiestra- tegie 2050 muss unbedingt dafür genutzt werden.
Die Chancen packen!
Nur ein aktiver, planbarer Ausstieg aus den fossilen Energien ermöglicht es, die extrem hohe Auslandab- hängigkeit der Schweizer Energieversorgung zu re- duzieren bevor diese Abhängigkeit plötzlich und unverhofft grossen volkswirtschaftlichen Schaden anrichtet. Eine solche Energieaussenpolitik würde auch helfen, geopolitische Ressourcenkonflikte zu vermeiden und wäre eine ehrlich gemeinte, nachhal- tige Energieversorgungssicherheit. Ein schrittweiser Ausstieg eröffnet den Schweizer KMU-Betrieben im erneuerbaren Energien- und Effizienzsektor zudem überlebenswich tige, wirtschaftliche Chancen. Und zu guter Letzt wäre eine solche Energieaussenpolitik endlich Klimaschutz, der etwas bewirkt! <
1 www.news.admin.ch/NSBSubscriber/message/attachments/13414.pdf 2 E&U 4/2011, S. 7.
Eine nachhaltige Schweizer Energieaussenpolitik muss den Ausstieg aus den fossilen Energien zum Hauptziel haben, bevor diese Abhängigkeit plötzlich und unverhofft grossen ökologischen und volkswirtschaftlichen Schaden anrichtet.
Foto:dreamstime.com
Mastschweine wachsen schneller, wenn sie täglich eine geringe Menge «Seltene Erden»
zu fressen bekommen. Seltene Erden werden als Druckmittel bei internationalen
Konflikten eingesetzt. Und Seltene Erden sind gar nicht so selten – aber extrem schwer in reiner Form zu gewinnen.
Endliche Rohstoffe – Seltene Erden
grUndlagEn-WissEn
Von DIETER KUHN SES-Vizepräsident
In wohl jedem Unterrichtszimmer für Chemie hängt ein «Periodensystem der Elemente (PSE)»
an der Wand1. Dabei dient die Ordnungs- oder Kernladungszahl Z, die bei natürlich vorkom- menden und stabilen Elementen von 1 bis 92 geht, zur groben Sortierung und Namensge- bung. Die Elemente mit Z zwischen 57 (Lanthan) und 71 (Lutetium) heissen Lanthanoide, sind Metalle und werden als «Seltene Erden» bezeichnet.
Gar nicht so selten, aber in geringer Konzentra tion
Seltene Erden sind gar nicht so selten wie der Name suggeriert. Aber sie treten stets nur in geringer Kon- zentration auf, und es gibt keine reichen Lagerstät-
ten. Die erwähnten Mineralien Monazit und Bastnäsit sind in anderes Gestein eingesprengt oder liegen als Sande in mechanischem Gemenge mit anderen Mine- ralien vor. So oder so sind also Anreicherungsverfahren nötig. Das heute am meisten eingesetzte Verfahren ist eine Kombination von Ionenaustausch und Komplex- bildung. In jedem Fall birgt der Einsatz von Chemika- lien zur Flotation2 grosse Risiken für die Umwelt (Ein- träge ins Grundwasser, Versagen von Dämmen von Absetzbecken, Staubemissionen, usw.). Seltene Erden werden z.B. bei Windkraftanlagen für Permanent- magnete (Neodym) gebraucht, die in den Generatoren eingebaut sind. Aber auch die Steuerstäbe von AKW- Reaktoren enthalten mit Europium ein Metall der Sel- tenen Erden. Und bei der Handyherstellung kommen sie als Leuchtmittel oder in Displaygläsern zum Ein- satz, werden aber auch in Mikrofonen, Lautsprechern und magnetischen Datenspeichern verarbeitet (siehe Textbox S. 13).
Abbau, Export und Import
Bekannt ist, dass China nahezu das weltweite Mono- pol für Seltene Erden hat: China fördert über 95% der weltweiten Vorkommen, verfügt aber nur über 38% der Reserven. Andere wichtige Reserven befinden sich in der ehemaligen Sowjetunion (19%), in den USA (13%), in Australien (5%) und in Indien (3%). Zu den wich- tigsten Importeuren von Seltenen Erden gehören Eu - ropa, die USA und Japan. Europäische Hauptimporteure sind Frankreich (38%), Österreich (24%) und die Nie- derlande (16%). Seltene Erden werden hier gebraucht für Magnete, Legierungen, Auto-Katalysatoren, usw.
Seltene Erden als politisches Druckmittel
Ebenfalls bekannt ist, dass China im Herbst 2010 den Export Seltener Erden insbesondere nach Japan dras- tisch reduzierte, was zu einer weltweiten Besorgnis oder gar Hysterie führte. Diese Exportbeschränkung hing vermutlich mit einem Zwischenfall bei einer In- selgruppe zusammen, um die China und Japan seit Eine bis vor kurzem kaum beachtete Element-GruppeDie «Seltenen Erden» sind silbrig-glänzende, relativ weiche und reaktionsfähige Metalle. Mit Wasser oder verdünnten Säuren reagieren sie unter Wasserstoff- bildung. Man unterscheidet die leichteren «Cerit-Erden» (Cerium, Praseodym, Neodym, Promethium, Samarium, Europium, Gadolinium) und die schwereren
«Ytter-Erden» (Terbium, Dysprosium, Holmium, Erbium, Thulium, Ytterbium, Lute- tium). Es gibt über hundert Mineralien, die Seltene Erden enthalten; aber nur zwei sind bezüglich Häufigkeit wichtig: Bastnäsit und Monazit enthalten bevorzugt Cerit-Erden. Die Ytter-Erden findet man in den sehr seltenen Mineralien Gadolinit oder Xenotim.
Wegen ihrer grossen Ähnlichkeit untereinander treten die Seltenen Erden immer gemeinsam auf. Sie können sich gegenseitig sehr gut ersetzen, können aber kaum andere Elemente ersetzen. Ausnahmen sind Cerium und Europium: Ce(4+) kann Uran oder Thorium ersetzen, und Eu(2+) kann Strontium oder Blei ersetzen.
Obwohl Seltene Erden Schwermetalle sind, konnte eine Toxizität (wie sie für Schwermetalle typisch ist) bisher nicht schlüssig nachgewiesen werden.
1 Das PSE wurde 1869 fast gleichzeitig und unabhängig voneinander von den Che- mikern Dmitri Mendelejew und Lothar Meyer aufgestellt.
2 Flotation (von englisch: to float – schwimmen) ist ein physikalisch-chemisches Trennverfahren für feinkörnige Feststoffe.
über hundert Jahren streiten: Es geht um die von Ja- pan Senkaku, von China Diaoyutai genannten Inseln.
Japan kontrolliert die Inseln seit 1895.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden sie amerika- nisches Protektorat und zusammen mit Okinawa 1971 an Japan zurückgegeben. China jedoch argumentiert, dass die Inseln von Alters her zur «chinesischen Pro- vinz Taiwan» gehören. Und seit bei den Inseln Gas und Öl gefunden wurden, sind die unbewohnten Felsen im Ostchinesischen Meer ein Streitfall um Ressourcen.
Weil Japan einen chinesischen Schiffskapitän vor die- sen Inseln verhaftet hatte, griff China als Druckmit- tel zur Exportreduktion von Seltenen Erden. China begründet die Exportbeschränkungen allerdings mit grösserem Eigenbedarf.
Der Acht-Punkte-Plan für Seltene Erden
Dieser künstlich erzeugte Nachschub-Engpass hatte u.a. zur Folge, dass man sich über das Recycling von Seltenen Erden in Europa Gedanken machte und einen Acht-Punkte-Plan entwickelte:n Errichtung eines Kompetenz-Netzwerks «Seltene Er den» mit allen relevanten Akteuren (Recycling- Unternehmen, Hersteller, Behörden, Vertreter von Politik und Wissenschaft)
n Grundlagenforschung zur Raffination und Verar- beitung von Seltenen Erden
n Europäische Stoffstrom-Analyse, um besser zu wis- sen, welche Seltene-Erden-Stoffströme in Europa bestehen
n Identifizierung von Pilotprojekten, wo recycelt wer- den soll (Magnete aus Elektromotoren und Genera- toren; Lampen, Bildschirme, Katalysatoren, usw.) n Aufbau eines Sammel-Systems für Reststoffe, die
Seltene Erden enthalten
n Entwicklung von Pilot-Recycling-Anlagen
n Investitionssicherheit schaffen: Wegen der stark schwankenden Rohstoffpreise soll die Europäische Investitionsbank die Risiken für Investoren in Re- cyling-Projekte verringern
n Rechtlichen Rahmen schaffen, um das Recycling von Seltenen Erden zu optimieren
Man schätzt, dass dieser Acht-Punkte-Plan in etwa zehn Jahren umgesetzt werden könnte – wenn man dies wirklich will!
Fazit: Einmal mehr zeigt sich, dass
n Rohstoffe abgebaut und technologisch eingesetzt werden, ohne dass sich zuvor jemand Gedanken zu deren Recycling gemacht hat;
n erst eine (echte oder künstliche) Verknappung ei- nen Denkprozess auslöst;
n Abbautechniken, die als integraler Bestandteil ein Anreicherungsverfahren mit Hilfs-Chemikalien ent - halten, potenziell hoch gefährlich sind;
n im Zivilisationsmüll die Seltenen Erden (wie ande- re Materialien auch!) bereits in höherer Konzentra- tion vorliegen als in natürlichen Erzvorkommen;
n Rohstoffe je nach technischer Entwicklung plötz- lich begehrt oder völlig obsolet werden können.
Seltenen Erde sind ein Beispiel dafür, wie etwas ganz unvermutet und plötzlich zum begehrten Rohstoff werden kann. Dann rächt es sich, wenn die Ab - bau- und Anreicherungsmethoden veraltet, die Stoff- ströme nicht bekannt, das Know-how nicht breit ge - streut, die rechtlichen Grundlagen unzureichend und die einzigen treibenden Kräfte die Börsen sind! <
Seltene Erden sind nicht so selten, wie der Name suggeriert: Aber sie treten stets nur in geringer Konzentration auf, und es gibt keine reichen Lagerstätten.
Foto: www.gtresearchnews.gatech.edu
Quellen
Oeko-Institut e.V.: Hintergrundpapier Seltene Erden (Januar 2011).
Daniel Mehl: Seltene Erden (Vortrag am Geochemischen Seminar der Universität Karlsruhe).
Anwendungsgebiete
Seltene Erden finden hauptsächlich in drei Bereichen Anwendung:
1. Keramik- und Glasindustrie (gefärbte Gläser; Sonnenbrillen) 2. Metallurgie > niedrig legierte Stähle (Verbesserung von
Festigkeit, Verarbeitbarkeit, Korrosionsfestigkeit)
> Magnettechnologie (Magnetspeicher) > Reaktorbau (Euro- pium als Bestandteil von Steuerstäben) > Wasserstoff- speicher (fein verteiltes Erbium) > Leuchtfarbstoffe (Bild- röhren, Monitore)
3. Cracken von Erdöl (Katalysatoren)
Vorläufig noch viel geringer ist der Einsatz der Seltenen Erden in folgenden Forschungs-Gebieten:
n Brennstoffzelle n Schweinemast: Man vermutet eine entzün- dungshemmende und immunstimulierende Wirkung. Seltene Erden könnten die präventive Gabe von Antibiotika (die umstritten und z.T. verboten ist) unnötig machen n Supraleitfähigkeit
Von FElIx NIPKOW SES-Projektleiter
Primärenergie ist unverarbeitete Energie, mit der wir im Alltag selten konfrontiert sind, z.B.
natürlich vorkommende Energieträger wie Kohle, Rohöl, Gas oder Wind. Im Gegensatz dazu können wir Endenergie direkt nutzen.
Rohöl zum Beispiel ist Primärenergie, Benzin End- energie. Die Umwandlung von Primär- zu Endener-
gie ist stets mit Verlusten verbunden. Verarbeitete Energieträger sind dafür in der Regel vielseitiger ein- setzbar: Mit Strom kann man Licht erzeugen, Züge antreiben, Computer betreiben und vieles mehr. Für die Stromerzeugung braucht es (oft viel) Primärener- gie – je nach Produktionsart kann diese Bilanz, aus- gedrückt im so genannten Primärenergiefaktor, ganz unterschiedlich ausfallen.
Erneuerbare sind top
Für eine Kilowattstunde (kWh) Atomstrom aus der Steckdose müssen 4,07 kWh Primärenergie aufgewen- det werden, davon 4,06 kWh aus nicht erneuerbaren und 0,01 kWh aus erneuerbaren Quellen. Der Pri- märenergiefaktor lautet also 4,07. Die Windenergie schneidet mit dem Faktor 1,33 – davon 1,22 kWh aus erneuerbaren und 0,11 kWh aus nicht erneuerbaren Quellen – viel besser ab.
Das auf Ökobilanzen spezialisierte Büro ESU-services gibt in einer Studie von 20111 Umrechnungsfaktoren für Strom von Endenergie in Primärenergie an (siehe Tabelle nebenan).
Es wird selten darüber gesprochen, wie viel Energie die Stromproduktion braucht. Der Primärenergiefaktor gibt darüber Auskunft. Klar ist: Erneuerbare Energien sind in der Produktion effizienter als Atom- oder Gaskraftwerke. Ein triftiger Grund mehr, mit dem Atomausstieg die Stromversorgung auf erneuerbar zu trimmen.
Wie viel Energie braucht eigentlich die Stromproduktion?
primärEnErgiE – rohstoff dEr stromprodUktion
Foto links: Erdölabbau aus Ölsand. Erdöl muss aus immer schwerer zugänglichen Quellen mit immer grösserem Energieeinsatz gefördert werden. Foto rechts: Türme für Windkraftanlagen aus Holz statt Stahl sind eine Möglichkeit, den Anteil nicht erneuerbarer Primärenergie zu verringern.
1 Frischknecht et al., Primärenergiefaktoren von Energiesystemen, Version 2.2, April 2011, ESU-services Ltd.
2 56,5% Wasserkraft, 38,1% Atomkraft, 5,4% konventionell-thermische und andere Kraftwerke (BFE, Schweizerische Elektrizitätsstatistik 2010).
3 Elektrizitätsstatistik 2010: Produktion: 25,205 TWh. Davon sind ca. 7% Netzver- luste abzuziehen, bis der Strom an der Steckdose ankommt.
4 Grundlage hier sind die Berechnungen der Umweltverbände von Mai 2011: 61%
Fotovoltaik, 20% Biomasse, 9% Geothermie, 6% Wind und 4% Wasserkraft.
5 Wenn Sie selber solche Berechnungen anstellen möchten, empfiehlt sich der Strommixrechner von ESU-services: www.esu-services.ch/fileadmin/Webtools/
Rechner/210_Primaerenergiefaktoren_v1.4_3.htm
Foto rechts: TimberTower GmbH / Foto links: greenpeace / John Woods
Auf den ersten Blick wird klar, dass er- neuerbare Energien die Nase vorne ha- ben. Für eine Kilowattstunde Strom aus Wind oder Fotovoltaik wird rund drei Mal weniger Primärenergie benötigt als für eine Kilowattstunde aus Uran oder Kohle. Eine allfällige Abwärmenutzung ist in diesen Zahlen nicht berücksich- tigt. Das relativiert die hohen Werte bei Holzheizkraftwerken und Geothermie – hier macht eine Abwärmenutzung Sinn.
Atomstrom schneidet schlecht ab
In der Schweiz werden jährlich zirka 24 TWh Atomstrom produziert.3 Das entspricht ungefähr der Primärenergie von 99 TWh. Würde der Atomstrom mit neuen erneuerbaren Produktions- arten ersetzt4, so könnten die 24 TWh Strom mit nur 40 TWh Primärenergie hergestellt werden. Das heisst, es lies- sen sich im Vergleich zum AKW-Strom 59% der Primärenergie einsparen.Zudem stammen bei den Erneuerbaren 82% der eingesetzten Primärenergie aus erneuerbaren Quellen. Sie gewin- nen also doppelt, denn bei Atomstrom sind es gerade mal 0,25%.5
Nicht die ganze Wahrheit
Doch die Primärenergiebetrachtung ist nicht die ganze Wahrheit, und es zählt nicht nur der Energieaufwand:
n Die Energieträger unterscheiden sich stark in ihrem Einfluss auf Mensch und Umwelt – beispielhaft seien hier der CO2-Ausstoss durch fossile Ener- gieträger, die das Klima anheizen oder die ungelöste Endlagerung radioaktiver Abfälle im Gegensatz zu Geräuschemis- sionen von Windkraftanlagen genannt.
n Die Bilanz erneuerbarer Energien wird sich tendenziell verbessern, da
der technologische Fortschritt eine ef- fizientere Nutzung von Sonne, Wind und Co. erlaubt. Dazu kommen Rück- koppelungseffekte: Die Herstellung von Fotovoltaikzellen braucht viel Strom.
Wenn dieser aus erneuerbaren Quellen kommt, verbessert sich der Anteil erneu- erbare Primärenergie für Fotovoltaik.
n Im Gegenzug verschlechtert sich die Bilanz für fossile und nukleare Strom- produktion, da der Abbau der Primär- energieträger (Uran, Öl, Gas) immer en- ergieintensiver wird. Aus Platzgründen können hier nur Stichworte genannt werden: Schiefergas, Öl aus Tiefseeboh- rungen oder Teersanden, Kohle, für die Berge geköpft werden («Mountain Top Removal») und immer geringere Kon- zentrationen von Uran im Gestein.
Erneuerbare Energien für alle!
Der Primärenergiefaktor für Atom-, Kohle- und Gaskraftwerke nimmt also zu – und zwar desto schneller, je knap- per die Rohstoffe werden. Der einzige Ausweg aus diesem Teufelskreis liegt in der möglichst raschen Abkehr von nicht erneuerbaren Energieträgern hin zu erneuerbaren. Bundesrat und Par- lament haben den Atomausstieg be- schlossen. Jetzt geht es darum, den in- effizienten und dreckigen Atomstrom mit möglichst sauberem, sprich erneu- erbarem Strom zu ersetzen und nicht auf andere ineffiziente Technologien zu setzen.
Die Vereinten Nationen haben das Jahr 2012 zum «Internationalen Jahr der er- neuerbaren Energie für alle» ausgeru- fen. Wir sind alle gefordert, diese Vision umzusetzen. Das Ziel ist vorgezeichnet, nun gilt es, den Weg dahin konsequent zu beschreiten. Erneuerbare Energie für alle – alle für erneuerbare Energien! <
Ausgewogene Information auch für die Schule
Auch wenn sich Bundesrat und Parlament für den Atomausstieg ausgesprochen haben, wird uns das Thema Atomstrom noch Jahr- zehnte beschäftigen. Vor allem kommende Generationen sollen sich intensiv mit dem Thema auseinander setzen und den Umbau der Energieversorgung letztlich vollziehen.
Neue Webseite www.unterrichtatom.ch Ein Baustein dafür liefert die neue Webseite www.unterrichtatom.ch. Darauf ersichtlich und für den Unterricht aufbereitet finden In- teressierte eine Fülle von Informationen zum Thema Atomenergie – auch kritische. Damit füllt die Website eine grosse Lücke und bietet nicht nur Lehrpersonen eine riesige Auswahl an übersichtlich geordneten Fakten und Ma- terialien.
Im Internet ist eine fast unendliche Fülle an Informationen zum Thema Atomenergie zu finden. Auf der neuen Webseite, die sich an Lehrkräfte aller Stufen richtet, sind Fakten und Meinungen zu diesem Thema geordnet und übersichtlich strukturiert zusammen- gestellt. Ein umfassendes Pro- und Kontra- Argumentarium wird durch eine ebenso ausführliche Sammlung von FAQ ergänzt.
Arbeitsblätter, Folien und PowerPoint-Prä- sentationen über die Grundlagen der Atom- energie, die Funktionsweise von AKW, über Radioaktivität, Klima und Schweizer Strom- versorgung können für den Unterricht herun- tergeladen werden.
Sehr nützlich ist auch das integrierte Lexikon.
Alphabetisch geordnet ist alles zu finden, was mit Atomkraft im Zusammenhang steht.
Ein Medien-Verzeichnis, von Büchern bis Filmen, sowie eine Auswahl von relevanten Textdokumenten machen die Webseite www.unterrichtatom.ch zur optimalen Infor- mationsquelle – nicht nur für Schulen.
sEs-info
Stromproduktions- Primärenergie Primärenergie Total
Technologie nicht erneuerbar erneuerbar Primärenergie
Atomkraftwerk 4,06 0,01 4,07
Kohlekraftwerk 3,99 0,03 4,02
Gas-Kombikraftwerk (GuD) 2,33 0,01 2,34
Holzheizkraftwerk 0,16 3,65 3,80
Wasserkraftwerk 0,04 1,18 1,22
Pumpspeicherung 3,81 0,60 4,41
Fotovoltaik 0,39 1,27 1,66
Windenergie 0,11 1,22 1,33
Heizkraftwerk Geothermie 0,19 3,17 3,36
CH-Produktionsmix heute2 1,76 0,65 2,41
zUm gEdEnkEn: 1 Jahr nach fUkUshima
Susan Boos reiste nach der Atomkatastrophe zweimal nach Japan. Ihr neues Buch «Fu- kushima lässt grüssen» schlägt den Bogen bis in die Schweiz. Ein Gespräch über den Be- such in der Sperrzone, die Ohnmacht der Behörden und der Versuch der Menschen, sich mit dem Undenkbaren zu arrangieren.
«Auf jedem Cervelat hat es ein Verfallsdatum.
Das braucht es auch für die AKW.»
Interview von ANGEl SANCHEZ Journalist BR / Fotograf
«Es ist wie über den Krieg zu berichten», schreiben Sie in Ihrem Buch. Freunde fragten vor der Reise ins atomgeplagte Japan: «Hast du keine Angst?» Was hat Ihnen bei der Recherche richtig Angst eingejagt?
«
Angst ist das falsche Wort. Ein Moment, der mir grossen Respekt einflösste, war, als wir vor dem AKW Fukushima Daiichi standen. Wir reisten illegal in die 20-Kilometer-Zone, unser Guide führte uns so nahe ran wie möglich. Eigentlich sieht man da nichts Besonderes.Das ist verrückt: Du bewegst dich in einer Umgebung, die normal aussieht, aber du weisst genau, dass hier nichts mehr normal ist. Hot-Spots sieht man nicht, auch Plutonium nicht, das vielleicht in der Luft schwebt. Auf die Sinne ist da kein Verlass mehr.
»
Das Dosimeter, das die gefährliche Strahlung misst, war immer zur Hand?
«
Nein. Das Dosimeter misst ja bloss die Gamma- Strahlung. Oft suchen JournalistInnen dann Orte, die möglichst hoch strahlen. Wir haben zum Teil auch ge- messen, man muss die Resultate aber mit Vorsicht ge- niessen, denn korrekt messen ist eine hohe Kunst. DasProblem ist auch nicht, dass man bei einem kurzen Auf- enthalt in den kontaminierten Gebieten zu viel Strah- lung abbekommen könnte. Das wirkliche Problem fängt erst an, wenn man immer dort wohnt.
»
Welche Begegnung auf Ihren zwei Reisen nach Ja- pan hat Sie am stärksten beeindruckt?
«
Die Gespräche mit dem Ehepaar Sato. Die Bauern- leute wohnten in der heutigen 20-Kilometer-Zone. Am Tag nach dem Beben verliess die Familie mit den Kin- dern den Hof. Der Mann blieb bei den Tieren. Drei Tage später hört er am Radio, dass sich die Situation im AKW dramatisch zuspitze. Also ging auch er. Zehn Tage spä- ter kehrte er zurück. Die Hälfte seiner Tiere waren ver- hungert, die andere Hälfte siechte vor sich hin. Er konn- te nichts tun. Nicht einmal erschiessen konnte er sie.Ich sprach im vergangenen Dezember mit dem Ehepaar.
Sie sagten, dass die Regierung versprochen habe, jetzt den Stall aufzuräumen. Ganze neun Monate nach dem Unglück!
»
Eine naive Frage: Ist in der 20-Kilometer-Zone ei- gentlich alles Sondermüll?
«
Ja, das meiste dürfte kontaminiert sein.»
Die Zivilisation ist dort zu Ende?
«
Für einige Jahrzehnte sicher. Eine Besiedlung ist un- denkbar. Natürlich will die Regierung dekontaminieren.Solange sie das verspricht, muss sie nicht über Entschä- digungszahlungen reden. Doch die Radionuklide putzt man nicht einfach weg. Sie vermischen sich mit dem Staub, der Wind bläst: Man weiss heute, dass kontami- nierte Flecken wandern. Auch wenn man Dächer oder Asphalt ersetzt, strahlt nach ein paar Monaten alles wie- der. Die Dekontamination ist eine Illusion.
»
Beim Lesen Ihres Buches fällt auf, dass die Men- schen in Japan sehr gefasst bleiben. Wann gewöhnt man sich an die Katastrophe?
«
Ganz simpel: Man arrangiert sich so gut es geht. Bei einem Autounfall räumt man die Strasse frei, versorgt die Verletzten, leistet Trauerarbeit – und weiter gehts.Doch bei einer Reaktorkatastrophe ist alles anders, allein schon wegen der drohenden genetischen Verän- derungen. Die Folgen kommen schleichend. Manche Buchautorin Susan Boos (rechts) vor einer Messstelle in der Präfektur Fukushima –
zusammen mit Bärbel Höhn, Bundestagsabgeordnete der Grünen, und einem jungen Mann aus dem japanischen Dorf Iitate-mura, das evakuiert werden musste.