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Archiv "Die Begegnung mit einem klassischen Arzt" (09.01.2006)

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A62 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 1–2⏐⏐9. Januar 2006

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as also ist der Grund. Ich dachte schon, es wäre das Alter. Die Finger zit- terten bereits seit Monaten, intensiver, als ich es mir lei- sten kann.

„Ich würde mich operieren lassen“, sagt der Radiologe und nennt mir den Namen ei- nes Oberarztes der Chirurgie im größten Krankenhaus des alten Westberlin. Nach einigen erfolglosen Versuchen habe ich den mir bislang unbekann- ten Kollegen am Telefon. Kur- ze Schilderung der Situation, einige Rückfragen, morgen ist der Vorstellungstermin.

Ein seltener Menschentyp Irgendwann steht er dann vor mir, höflich, freundlich, zu- packend. Hört die Krankenge- schichte, sieht meine Hände, meinen Hals, die Laborwerte, das Szintigramm, stellt Fragen zur familiären und beruflichen Situation. Nach einem Tele- fongespräch schlägt er mir ei- nen OP-Termin in drei Tagen vor. So habe ich mir Ärzte im Krankenhaus immer vorge- stellt, so sind sie jedenfalls mir meist begegnet. Doch dieser Menschentyp scheint seltener geworden zu sein, das System lässt es nicht mehr zu.Am Auf- nahmetag soll ich mich ab 7 Uhr bereithalten. Ich bin es ab 6,knöpfe das Hemd am Hals hinten zu, ziehe die Thrombo- se-Strümpfe an und warte.

6.30. „Bitte schlucken Sie die- se Tablette mit einem kleinen Schluck Wasser. Sind Sie be- reit?“ Das Bett rollt durch die Gänge, Aufzug runter, Aufzug rauf, ringsherum geschäftiges Treiben, Lampen an der Decke, eine Schleuse. „Viel

Glück.“ „Können Sie hier rü- berrutschen? Wir ziehen Ih- nen das Hemd aus.“ Auf mir liegt eine flauschige, an- gewärmte Decke. „Ich bin Schwester Heike, die Anästhe- sieschwester, und werde Sie ab jetzt begleiten.“ Eine kleine warme Hand greift nach mei- ner Linken. Blaue Augen kommen ganz nah. „Ist alles in Ordnung?“ „Ich lege Ihnen jetzt einen Zugang am Hand- rücken.“ Ich liege still und bin ganz ruhig. Diese Augen . . . Geräusche. Das Bett rollt, dann wieder Ruhe. Meine lin- ke Hand ist wie festgebunden,

am Hals hängt irgendetwas.

Wo sind diese . . .? Der Ver- such, den Kopf zu schütteln, misslingt. Ich wollte doch noch Danke sagen.

Eine fast unsichtbare Narbe Am Abend sitzt der Oberarzt am Bett, entschuldigt sich dafür, ruhige, kleine Augen hinter blitzenden Gläsern.

Müde sieht er aus, berichtet:

„Hemithyreoidektomie links, Recurrens präpariert und er- halten, rechts kleine Knöt- chen, unbedeutend, Neben- schilddrüsen am Ort belas-

sen. Haben Sie Schmerzen?

Sagen Sie bitte Ha-Ho-Hi.

Sie sollten sich einen tüchti- gen Endokrinologen suchen . . .“ Das Telefon plärrt, ruft ihn weg. Was folgt, ist Rou- tine. „Und jetzt Beine bau- meln, na also.“

Extraktum: An einem Dienstag habe ich den mir bis dahin unbekannten Oberarzt telefonisch um Hilfe gebeten, am nächsten Tag mich vorge- stellt, am folgenden Montag wurde ich aufgenommen, am Dienstag operiert, am Don- nerstag entlassen.Am nachfol- genden Montag war ich wieder an meinem Arbeitsplatz. Ge- blieben ist eine fast unsichtba- re Narbe, die Erinnerung an blaue Augen und die Begeg- nung mit einem klassischen Arzt, einem von denen, die dieses gesamte erbärmliche System tragen und von deren Existenz und Bedeutung die ständig daherplappernde poli- tische Klasse nicht die geringste Ahnung hat. Und ich bin ein- fach dankbar und ahne wieder, was mich einst zur Medizin trieb. Dr. med. Jürgen Brandis

Seit 2003 veröffentlicht das Deutsche Ärzteblatt regelmäßig Arzt- geschichten – zunächst aus der Literatur, seit Heft 3/2004 vorwie- gend Beiträge aus der Leserschaft.

Die Begegnung mit einem klassischen Arzt

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chweigend schaut Frau A. mich aus ihren brau- nen Augen an, während der Ehemann ihren gemein- samen Kinderwunsch vor- trägt. Zu ihrem Erstaunen spreche ich fließend Franzö- sisch, und sie kann mit mir selber sprechen. Die Elfen- beinküste ist ihre Heimat;

der erste Sohn, aus einer an- deren Beziehung, ist bei der Tante geblieben. Der neue Ehemann, ebenfalls von der Elfenbeinküste, ist in Deutschland gut integriert;

er spricht sehr gut Deutsch und trägt die Dienstkleidung von United Parcel Service.

Die Diagnostik der Hor- mone war unauffällig. Ich veranlasse anschließend die Prüfung der Eileiterdurch- gängigkeit in einer Kin- derwunsch-Praxis. Von dort kommt Frau A. schwan- ger zurück. Der bei dieser

Gelegenheit durchgeführte Schwangerschaftstest war positiv. Bei der Anlage des Mutterpasses sind die HIV- Antikörper positiv. Dieses teile ich dem Ehepaar in einem gemeinsamen Ge- spräch mit. Der Ehemann ist wütend, seine Frau schweigt und beginnt schließlich, lei- se zu weinen.

„Tais-toi“, zischt er nur.

Sei still. „Vas-y.“ Geh jetzt.

Schnell erkläre ich noch, dass bei antiviraler Thera- pie, guter Begleitung der Schwangerschaft, und so weiter und so fort, das Ri- siko gering ist, dass . . . Mei- ne Vision ist inzwischen schrecklich klar: Kraft sei- ner besseren Lage in jeder Hinsicht wird er sie zum Abbruch nötigen und sie dann verstoßen, weil sie ja das Virus mitgebracht und ihn gegebenenfalls ange-

steckt hat. Sie müsste erst einmal das Gegenteil be- weisen können.

Eine Woche später sitzt mir das Paar wieder gegen- über. Ich habe alle meine Argumente für die Schwan- gerschaft bereitliegen. „Com- ment allez-vous?“ frage ich. „Bien“, lächelt sie. „Wir werden das Baby bekom- men“, sagt er, und bedeu- tungsschwer fügt er hinzu:

„Docteur, j’aime ma femme.“

Im relativen Dunkel mei- nes Ultraschallraums sehe ich fast nur das Weiße sei- ner Augen, und ich glau- be, wir alle drei hatten Trä- nen der Rührung in den Augen.

Frau A. hat die Schwan- gerschaft gut getragen und einen gesunden Sohn per Kaiserschnitt geboren. Sie hat berichtet, dass ihr Mann freundlich zu ihr sei; gese- hen habe ich ihn seitdem nicht mehr. Dr. med. Annette Klöpper-Auffermann

Die Liebe in den Zeiten von Aids

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