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Philosophische Grundlagen menschenrechtsrelevanten Denkens im

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Denkens im Menztus 1

Von Wolfgang Ommerborn, Bochum 1. Vorbemerkung

In den letzten Jahren sind zahlreiche Arbeiten zum Thema Menschenrechte in China entstanden. Häufig geht es dabei aus gutem Grund um die aktuelle Frage der Berücksichtigung entsprechender Rechte durch die Machthaber in der Volksrepublik China. Da die Idee der Menschenrechte, wie sie heute verbreitet ist, ihren Ursprung im Westen hat, drängt sich natürlich die Frage auf, ob es in der chinesischen Tradition, vor allem in der diese Tradition dominierenden konfuzianischen Schule, auch ähnliche theoretische Uber- legungen gegeben hat. In diesem Zusammenhang zeigt sich innerhalb des wissenschaftlichen und politischen Diskurses eine deutliche Polarisierung zwischen der Ansicht, dass im Konfuzianismus keine Ansätze menschen- rechtsrelevanter Ideen formuliert worden seien 2 und der Auffassung, dass es diese sehr wohl gegeben habe. 3 Vertreter der ersten, häufig kultur¬

relativistisch bzw. kulturessentialistisch intendierten Behauptung verweisen vor allem auf die besondere Betonung des - wie es z.B. heißt - Gleichheit, ein freies individuelles Subjekt und individuelle Autonomie ausschließen¬

den gemeinschaftsbezogenen Charakters des Einzelnen im Konfuzianis¬

mus, der ein anderes Menschenbild vermittle als die Idee der Gleichheit und die in der Neuzeit herausgebildete Theorie des Individualismus im Westen implizierten. Die dem Konfuzianismus so unterstellte exklusive Fixierung auf den Aspekt der Gesellschaftsgebundenheit des Einzelnen, in dem er sich als eigenständiges Individuum und Subjekt völlig aufzulösen scheint, wird von den Vertretern des zweiten Ansatzes jedoch als nicht zutreffend und einseitig zurückgewiesen. Er wird von ihnen zwar nicht völlig negiert,

1 Dieser Aufsatz entstand im Rahmen des von der Fritz Thyssen Stiftung

geförderten

Projekts „Das Buch Mengzi im Kontext der

Menschenrechtsfrage".

2 Zum Beispiel R. Ames 1988, H. G.

Möller

1999, S.-U.

Müller

1996, H.

Rose-

mont 1998, R.

Trauzettel 1991.

3 Zum Beispiel Wm.Th. de Bary 2001,1. Bloom 1998, H. Roetz 1998, G. Paul

1997.

(2)

aber in seiner mit diesem ausschließlichen Anspruch vorgetragenen Geltung bestritten. Sie entdecken im Konfuzianismus hingegen sehr wohl Ansätze wie der Idee einer ursprünglichen Gleichheit oder individuellen Autonomie

des Menschen. Hinzu kommt die ebenfalls einen essentiellen Kulturalis¬

mus widerspiegelnde Auffassung spezieller chinesischer bzw. ostasiatischer Menschenrechte, die den gegenüber dem Westen angeblich „völlig anderen"

Charakter ostasiatischen Denkens aufzeigen sollen. Sie richtet sich vor al¬

lem gegen den Gedanken der Universalität der westlichen Menschenrechts¬

konzeption und wirft dem Westen, wenn er diese einfordert, „Menschen¬

rechtsimperialismus" vor. Dahinter vermuten die Befürworter des zweiten Ansatzes in ihrer Kritik eher aktuelle politisch-ideologische Interessen von Vertretern autoritärer Regime in Ost- und Südostasien und weniger ein Bemühen um kulturelle Authentizität. Eine weitere Meinung innerhalb der Debatte streitet zwar die Universalität der westlichen Menschenrechte ab und spricht, wie manche Vertreter des Kulturalismus, ebenfalls von spezi¬

fisch chinesischen Menschenrechten, 4 gleichzeitig wird aber auf die Tradi¬

tion des „konfuzianischen Humanismus" verwiesen, die nicht der Form, aber dem Inhalt nach den westlichen Menschenrechten ähneln und somit, gegen die Auffassung von Kulturalisten, einer spezifischen, aus der Tra¬

dition begründeten chinesischen Politik - die Mühlhahn als „Praxis der politischen Repression in China" 5 charakterisiert - widersprechen würden.

In diesem Ansatz finden sich darum auch gewisse Anknüpfungspunkte zur Auffassung der Gegner des kulturalistischen Arguments.

Die Auseinandersetzung mit der chinesisch-konfuzianischen Kultur¬

tradition am Beispiel der Ideen eines ihrer exponierten Vertreter, Menzius lS (ca. 372-289 v. u. Z.), kann hinsichtlich dieser Debatte Klarheit schaffen.

In dem vorliegenden Aufsatz geht es um die philosophischen Grundlagen in der Lehre des Menzius, aus denen sich Ansätze menschenrechtsrelevanter und proto-demokratischer Konzepte ableiten lassen, die nach Auffassung des Menzius auch im politischen Handeln zur Auswirkung kommen sollten.

Dazu gehören die von naturrechtlichen Inhalten geprägte Theorie der uni¬

versalen moralischen Natur des Menschen und des sich daraus ergebenden essentialistischen Menschenbegriffs, so dass die Auffassung, der Konfuzi¬

anismus habe keinen allgemeinen Begriff des Menschen, könne also schon von daher auch keinen Träger universaler Menschenrechte kennen, als nicht zutreffend zurückgewiesen werden muss. Weiterhin zeigt sich, dass auf der Basis der Ontologie und Anthropologie des Menzius sich auch Hinweise

4 Zum Beispiel K. Mühlhahn 1995.

5 K. Mühlhahn 1995, S. 19.

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auf die für die Idee der Menschenrechte wichtigen Konzepte der Würde des Menschen und der moralischen Autonomie des Einzelnen ergeben. Aus all dem resultiert schließlich direkt der für das politische Denken grundsätzli¬

che Gedanke, jeder Mensch, auch ein Mitglied des einfachen Volkes, besitze das Potential, Herrscher der Welt zu werden, auf den im letzten Abschnitt dieser Arbeit noch eingegangen werden soll. Weitere für die politische The¬

orie relevante Implikationen dieser Philosophie aus dem Menzius, die unter der Bezeichnung „Politik der Menschlichkeit" (renzheng iH zusammen- gefasst werden, sollen in einer gesonderten Arbeit thematisiert werden.

Natürlich kann es hier nicht darum gehen, den Nachweis für die Behaup¬

tung zu erbringen, im Menzius finde sich die Forderung nach Menschen¬

rechten und Demokratie, wie sie heute für uns relevant sind. Rechte werden von Menzius auch nicht formuliert. Aber es sind reichlich Grundlagen und Ansätze vorhanden, die in entsprechende Richtungen weisen. Dass diese Vorstellungen schließlich innerhalb der chinesischen Geschichte nicht nennenswert zur Geltung gekommen sind, hat aber nichts mit ihrer theoretischen Bedeutsamkeit zu tun. Tatsächlich waren viele von Menzius vorgetragene Ideen den Mächtigen nicht nur zu seiner Zeit, sondern auch in

den folgenden Jahrhunderten eher ein Dorn im Auge, so dass sie einfach ig¬

noriert oder sogar kraft kaiserlicher Autorität verboten wurden. 6 Aber auch das ist offensichtlich nur ein Beweis für die auch nach Einschätzung der Herrschenden politische Brisanz der im Menzius vorgetragenen Konzepte, die sich weniger an deren Machtinteressen als vielmehr an den Interessen des ganzen Volkes orientieren.

2. Die strukturelle Identität der Natur des Menschen und der kosmischen Ordnung: Universalität der sittlichen

Normen und essentialistischer Begriff des Menschen

Menzius' Theorie von der Natur des Menschen {xing enthält natur¬

rechtliche Elemente. Dieser Aspekt spiegelt sich im Kontext ontologischer Überlegungen in der von ihm aufgezeigten Beziehung von xing und tian

^ (Himmel) wider. Der Begriff tian hat in der Geschichte der chinesischen Kultur neben der Bedeutung physikalischer Himmel und Natur(welt) ei¬

nen religiösen Inhalt und wird in dem Zusammenhang auch im Sinne einer personalen Gottheit verstanden. In der frühesten religiösen Verwendung

6 Die Rezeption dieser Konzepte des Menzius im kaiserlichen China wird ebenfalls in weiteren Publikationen im Rahmen dieses Projekts bearbeitet.

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bezieht er sich wohl auf den Himmel als Naturgottheit, 7in der frühen Zhou- Zeit wird er in den von der Herrscherschicht praktizierten Kult um die in einer Apotheose verklärten Ahnen integriert und spielt später eine zentrale Rolle im Staatskult des kaiserlichen China. Im Menzius finden sich ohne Zweifel noch Einflüsse der traditionellen religiösen Bedeutung, wenn es z.B.

in Ubereinstimmung mit der alten Theorie vom Mandat des Himmels (tian- ming ^ pp) heißt, der Himmel habe einem Herrscher die Welt zur Regie¬

rung übergeben und einen neuen Herrscher angenommen, der ihm von des¬

sen Vorgänger vorgeschlagen wurde. 8 Insgesamt spielen diese Vorstellungen aber nur eine untergeordnete Rolle, denn Menzius ist an religiösen Fragen nicht interessiert. Ihm geht es bei der Erwähnung der tianming-Theorie vor allem um das politische Konzept der Herrschaftslegitimation (ming np) und nicht um das religiöse Konzept des Himmels (tian). 9 Es handelt sich hierbei möglicherweise auch nur um gewisse Zugeständnisse gegenüber traditionel¬

len Vorstellungen.

Der Begriff „Himmel" bezieht sich im Menzius in erster Linie auf die Totalität der von sittlichen Normen getragenen weltlichen Seinsordnung, in die der Mensch eingebettet ist und in die er sich einfügen soll. Er verweist somit auf eine vom menschlichen Willen und Tun unabhängige und ihm übergeordnete natürliche und moralische (Ordnungs-)Instanz, die dazu dient, sein (sittliches) Denken und Handeln ontologisch zu legitimieren.

Die alternative Vorstellung, dass der Mensch sich selbst seine sittliche Ordnung schafft, er also auf eine wie auch immer geartete übergeordnete Begründungsinstanz verzichten kann, kennt Menzius - wie der gesamte Konfuzianismus - nicht. Der Mensch ist nun in seiner Wesensstruktur

7 Darauf verweisen z.B. noch Stellen aus dem Shijing &f (Buch der Lieder), wo es heißt, der „blaue Himmel" blickt auf die überheblichen Menschen herab (B. Karlgren 1950,S. 151f.) oder der „große weite Himmel" sendet Segen und Unheil (B. Karlgren 1950, S. 140) oder sammelt Wolken und bringt den Regen (B. Karlgren 1950, S. 164).

8 Mengzi 5A5 (R. Wilhelm 141f.; J. Legge 354ff.). Übersetzungen: Mong Dsï. Die Lehrgespräche des Meisters Meng Ko. Übersetzt von R. Wilhelm (Köln 1982); The Chi¬

nese Classics. Vol. II. The Works of Mencius. With a translation, critical and exegetical notes, prolegomena, and copious indexes by J. Legge (Hong Kong 1960). Die Vorlage für die Übersetzungen aus dem Chinesischen bildet der chinesische Text des Menzius in der Ausgabe von Legge.

9 Eine distanzierte Haltung gegenüber dem Himmel und dafür stärkere Konzentra¬

tion auf das irdische Geschehen zeigt sich auch schon bei seinem Vorgänger Konfuzius.

Im Lunyu sagt z.B. ein Schüler des Konfuzius, man könne den Meister nicht über den

„Weg des Himmels" (tiandao) reden hören. Lunyu 5.13. Lunyu yizhu. Von Yang Bojun.

Ausgabe: Zhonghua shuju. Beijing 1980, S. 46.Eno schreibt hierzu: Konfuzius Einstellung zeige, dass er „den gesellschaftlichen und psychologischen Nutzen der Ii [i.e. Riten] be¬

tonte, während er eine Haltung des Schweigens oder der Skepsis hinsichtlich magischer Wirkungskräfte und religiöser Handlungen einnahm." (R. Eno 1990, S.96).

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mit der universalen Ordnung des Himmels eng verbunden, da sich diese in seiner Natur widerspiegelt. Darum kann Menzius sagen: „Wer seine Natur (xing) erkennt, erkennt auch den Himmel (tian)" 10 Der Mensch besitzt also das Prinzip dieser Ordnung als Bestandteil seiner Natur; es ist somit Teil seines Seins, und er muss, da das Prinzip mit der Geburt nicht von Anfang an bewusst und aktualisiert ist, notwendig auch die angeborene Fähigkeit haben, dieses im Erkenntnisprozess zu erfassen, um es in seinem Denken und Handeln bewusst realisieren zu können. Damit ist ihm natürlich die Möglichkeit gegeben, sich für oder gegen das Gute zu entscheiden. Insge¬

samt spiegeln sich in diesem Konzept wichtige Bestandteile naturrechtlicher Vorstellungen wider: Sowohl die Ethik als auch die politische Theorie gehen

im Menzius von einer übergeordneten natürlichen Seinsordnung aus, deren Struktur gleichsam in der Natur des Menschen angelegt ist. Von dieser na¬

türlichen Seinsordnung werden die Prinzipien der sittlichen Ordnung des Menschen und der von ihm konstituierten politischen und gesellschaftlichen Ordnung und Institutionen abgeleitet.

Die Auffassung, jeder Mensch trage das die universale Ordnung wider¬

spiegelnde sittlich Gute als Bestandteil in seiner Natur, wird im Menzius vielfach vorgetragen. So wird z.B. die in der Ethik des Konfuzianismus eine

grundlegende Rolle spielende Norm der Menschlichkeit (ren {H) als die Es¬

senz des Menschseins (ren A) bezeichnet: „Menschlichkeit ist das, was den Menschen ausmacht. Stimmen [Mensch und Menschlichkeit] überein, wird

das dao genannt." 11 Der Begriff dao (wörtlich: Weg) verweist auf die um¬

fassende sittliche Ordnung des Himmels und darum deren universalen Cha¬

rakter. Der Mensch, der Menschlichkeit praktiziert, befindet sich demnach im Einklang mit dieser Ordnung und folgt dem Weg des Himmels (tiandao

?C xË). Gleichzeitig orientiert er sich damit an dem ihm selbst immanenten Prinzip, das der Struktur des Himmels entspricht. An anderer Stelle werden neben Menschlichkeit weitere sittliche Prinzipien als immanente Bestand¬

teile des Menschen aufgezählt:

Jeder Mensch hat in seinem Herzen (xin Mitleid (ceyin IBJ Scham und Abneigung (xiuwu j| SB), Verehrung und Respekt (gongjing %) sowie [die Unterscheidung von] Richtig und Falsch (shifei jû^Ë). Mitleid im Herzen ha¬

ben, das ist [Ausdruck von] Menschlichkeit; Scham und Abneigung im Herzen haben, das ist [Ausdruck von] Gerechtigkeit (yi H); Verehrung und Respekt im Herzen haben, das ist [Ausdruck von] Anstand (Ii jfta); [die Unterscheidung von] Richtig und Falsch im Herzen haben, das ist [Ausdruck von] Wissen (zhi

MengzilhX (184; 448).

Mé?»gz¿7B16(200;485).

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H1). Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Anstand und Wissen sind uns nicht von außen eingegeben worden. Sie sind unser ursprünglicher Besitz. Wir denken nur nicht daran. 12

In diesem Zitat findet sich explizit der Hinweis auf die Immanenz dieser für den Konfuzianismus grundlegenden sittlichen Prinzipien und es wird gleichzeitig darauf hingewiesen, dass sie in der Regel nicht von Anfang an bewusst sind. Der Ausdruck „ursprünglicher Besitz" hat hier aber nicht, wie z.B. in Piatons Anamnesislehre und Ideenlehre, die Bedeutung eines apriori-Wissens, an das der Mensch sich wieder erinnern kann und muss, denn Menzius kennt weder den Gedanken einer präexistenten individuellen Seele, welche die Prinzipien vor der Geburt (bei Piaton mit göttlicher Hilfe) schaut, noch den einer transzendenten Sphäre der Prinzipien jenseits unserer weltlichen Seinsordnung. Wichtig ist für Menzius vielmehr, dass es sich bei

dem Besitz um etwas handelt, das jeder Mensch natürlich als Bestandteil sei¬

nes Menschseins von Geburt an als Anlage in sich trägt, das ihm also nicht von außen gegeben bzw. zugestanden werden muss, z.B. durch die Autorität

einer religiösen Autorität oder politischen Macht, das er zudem erkennen und, wenn er sich dafür entschieden hat, in seinem Handeln bewusst um¬

setzen kann.

Impliziert ist in diesem Konzept sowohl der Anspruch auf universale Gültigkeit der entsprechenden Normen als auch die Vorstellung eines allge¬

meinen Menschenbegriffs, da diese Prinzipien ausnahmslos allen Menschen in gleicher Weise zugeschrieben werden. Die nicht selten vorgetragene Auffassung, der Konfuzianismus besitze überhaupt keinen abstrakten und essentialistischen Begriff des Menschen und seiner Natur, 13 kann auf der Grundlage des xz>zg-Konzepts im Menzius eindeutig als falsch zurück¬

gewiesen werden. Die Bedeutung dieser beiden Aspekte für das Menzius - i. e. der Anspruch auf universale Gültigkeit und der allgemeine Menschen¬

begriff - soll durch die folgenden Ausführungen noch stärker untermauert werden. Sie sind wichtige Kriterien zur Stützung der Hypothese, dass auch im alten China zumindest Ansätze menschenrechtsrelevanten Denkens vorhanden sind, da eine universale Norm vom Anspruch her nicht auf die

spezifische Kulturtradition, in der sie vorgetragen wird, beschränkt bleibt sowie eine höhere Autorität darstellt, als die jeweils herrschende politische Macht, die sich ihr folglich auch zu unterwerfen hat, und ein allgemeiner Begriff des Menschen notwendig ist, um diesen ausnahmslos als Träger uni¬

versaler Menschenrechte in Erscheinung treten zu lassen.

12

Me»gz¿6A6(163;402f.).

13 Zum Beispiel R.T. Ames 1991, S.-U.

Müller 1997.

(7)

Weiter heißt es im Menzius:

Worin nun stimmen die Herzen (xin) [aller Menschen] überein? In Vernunft

(Ii 3) und Gerechtigkeit [stimmen sie überein]. Die Weisen haben zuerst ent¬

deckt, worin unsere Herzen übereinstimmen. Darum erfreuen Vernunft und Gerechtigkeit unser Herz ebenso, wie Fleisch von Grasfressern und Masttieren unseren Gaumen erfreut. 14

Hier, wie an anderen Stellen des Menzius, wird hervorgehoben, dass das be- wusste Erkennen und Ausüben höchster Sittlichkeit Menschen möglich ist,

die über ein hohes Wissen verfügen, nämlich den Weisen bzw. Edlen. Den Status des Weisen bzw. Edlen zu erlangen, ist natürlich das Ziel des konfu¬

zianischen Erkenntnisprozesses. Das Erreichen bzw. Nichterreichen dieser Stufe hat aber auf den grundlegenden ontologischen Wert des Menschen (seine „Würde") keinen Einfluss, da dieser, wie noch zu zeigen sein wird, etwas ist, das dem Menschen von anderen nicht genommen werden kann. 15 Das heißt, dass die in dem Konzept des Weisen unbestreitbar enthaltene Tendenz zum Elitismus die Hypothese des Vorhandenseins eines einheitli¬

chen Menschenbegriffs im Menzius prinzipiell nicht erschüttern kann. Der Weise ist darum, obwohl er die sittlichen Prinzipien erkannt hat und sie in seinem Handeln aktualisiert und daraus auch seine exponierte Position in der Gesellschaft ableiten kann, in Bezug auf sein ursprüngliches Menschsein nicht höherwertiger als jeder andere Mensch. Grundsätzlich stellt das Men¬

zius fest: „Warum sollte ich von anderen Menschen verschieden sein? Selbst Yao und Shun waren so wie andere Menschen." 16 Der wesentliche Wert des Menschen basiert darauf, dass er die Anlagen zur Sittlichkeit in sich trägt und damit die potentielle Fähigkeit, höchste Sittlichkeit zu erkennen und zu realisieren. Es ist somit „die Möglichkeit, Leistungen moralischer Art zu erbringen", 17 die das Wesen des Menschen kennzeichnet und ihn auch gegenüber allen anderen Lebewesen heraushebt. Darin aber sind der Weise und der normale Mensch ihrem Wesen nach gleich. Darum ist Menzius auch überzeugt, dass jeder Mensch ein Weiser werden kann. 18

Wenn exponierte Personen wie die Weisen das Gute kultivieren können, muss das aber nicht notwendig auf eine Immanenz dieses Prinzips ver¬

weisen. Es könnte ebenso gut gegen Menzius behauptet werden, dass der Mensch sich die moralischen Normen, in welcher Weise auch immer, nur a posteriori aneignen kann. Tatsächlich finden sich entsprechende Argumente

14 Mengzi 6A7 (165; 406Î.).

15 Siehe hierzuTeil 3.

16 Mengzi 4B32 (133; 340).

17 H. Roetz 1998, S. 195.

18 Siehe hierzuTeil 5.

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auch innerhalb der konfuzianischen Tradition. So vertritt z.B. Xunzi írf (313-238 v.u.Z.) in seiner Kritik an der Theorie von der guten menschlichen Natur des Menzius die Auffassung, der Mensch weise im Gegenteil in seiner Natur nur die Anlagen zur Schlechtigkeit auf und könne erst durch spätere Kultivierung, i. e. durch positiven Einfluss von außen, das Gute überhaupt realisieren. 19 Im Menzius selbst findet sich aber auch schon ein Argument - im Hinblick auf Xunzis Kritik sozusagen avant la lettre -, das diesen

Einwand zu entkräften sucht. Dass der Mensch die Anlage zur Sittlichkeit tatsächlich in sich trägt, zeigt sich, so Menzius, nämlich in seiner Fähigkeit, spontan und intuitiv richtig zu denken und zu handeln, ohne dass er diese durch Lernen von außen erworben hätte:

Was die Menschen können (neng fb), ohne es gelernt zu haben, das ist ihr [an¬

geborenes] gutes Können (liangneng fë). Was die Menschen wissen (zhi £P), ohne darüber zu reflektieren, das ist ihr [angeborenes] gutes Wissen (liangzhi A £P). 20

An anderer Stelle sagt er:

Jeder Mensch hat ein Herz, das die Leiden anderer nicht ertragen kann (bu ren ren zhi xin ^ S A¿ >\j)- Die früheren Könige hatten ein Herz, das die Leiden anderer nicht ertragen konnte. So übten sie eine Politik aus, [die dem Prinzip,] die Leiden anderer nicht ertragen zu können [entsprach]. Wer mit einem Herzen, das die Leiden anderer nicht ertragen kann, die Politik, die das Leiden anderer nicht ertragen kann, praktiziert, der bewirkt, dass sich beim Regieren die Welt auf seiner Handfläche dreht. 21

Menzius sucht die in diesem Zitat mit Bezug auf die idealtypischen weisen Herrscher des Altertums allgemein formulierte Uberzeugung der Existenz intuitiven Wissens bzw. intuitiver Fähigkeiten im Menschen auch an kon¬

kreten Beispielen nachzuweisen, die er als seine Theorie verifizierende em¬

pirische Beobachtungen versteht, wenn er an dieser Stelle weiter erklärt:

Dass ich sagen kann, alle Menschen haben ein Herz, das die Leiden anderer nicht ertragen kann, zeigt sich in Folgendem: Wenn man nun plötzlich ein Kind sieht, das im Begriff ist, in einen Brunnen zu fallen, wird jeder in seinem Herzen von Furcht und Mitleid ergriffen [und es retten wollen]. Er handelt aber nicht so, weil er Kontakt zu den Eltern [des Kindes] bekommen oder von seinen Freunden gelobt werden möchte oder weil er fürchtet, in schlechten Ruf

19 Siehe hierzu vor allem: Xunzi, Kap. 17.23.Ausgabe: Sibu beiyao.

20 Mengzi 7A15(187; 456). Die Vorstellung eines spontanen richtigen Denkens und Handelns könnte auf daoistische Einflüsse zurückzuführen sein. Indem diese Art des Denkens und Handelns einen sittlichen Inhalt erhält, kann von der konfuzianischen Um- interpretation eines daoistischen Konzepts gesprochen werden.

21 Mengzi 2A6(74; 201).

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zu geraten. Daraus wird ersichtlich, dass man ohne Mitleid (ceyin), Scham und Abneigung (xiuwu), Rücksichtsnahme (drang ff fÜ) und [die Unterscheidung von] Richtig und Falsch (shifei) im Herzen kein Mensch ist. Mitleid im Herzen beruht auf der Anlage (duan îrë) von Menschlichkeit, Scham und Abscheu im Herzen beruht auf der Anlage von Gerechtigkeit, Rücksichtsnahme beruht auf der Anlage von Anstand, [die Unterscheidung von] Richtig und Falsch beruht auf der Anlagevon Wissen. Diese vier Anlagen (siduan |Z9 ÎS) hat jeder Mensch, ebenso wie er über vier Gliedmaßen verfügt. Wer die vier Anlagen besitzt und behauptet, er könne (neng) sie nicht praktizieren, beraubt sich selbst [seiner immanenten Fähigkeiten] [...] Wer sie vollenden kann, ist in der Lage, die ganze Welt zu schützen; wer sie nicht vollenden kann, der kann nicht einmal seinen Eltern dienen. 22

Der Mensch handelt in bestimmten Situationen intuitiv sittlich richtig, weil das seinen natürlichen Anlagen (siduan), die er wie seine „vier Gliedmaßen besitzt", entspricht und daran erkennt man sein Menschsein und die eigent¬

liche Natur dieses Menschseins. An anderer Stelle verweist Menzius auf die spontanen Gefühle eines Kleinkindes zu seinen Eltern, die gemäß seiner Auffassung ganz natürlich sind und nicht das Resultat von Reflexionen

und Abwägungen: Weil der Mensch die Anlage des Guten in sich trägt, „ist es so, dass ein noch wie ein Baby lallendes und auf den Arm genommenes Kleinkind, nicht anders kann als seine Eltern zu lieben." 23 Ebenso, führt er weiter aus, wird das Kind, wenn es etwas größer geworden ist, seinen älteren Brüdern mit Achtung (jing fbegegnen. Menzius versucht also sein Argument auf empirische Füße zu stellen, denn die von ihm hier jeweils

geschilderten Reaktionen und Verhaltensweisen können durchaus als im gesellschaftlichen Miteinander normaler Menschen in normalen Situationen beobachtbare Phänomene bezeichnet werden.

Die immanenten Anlagen des Menschen haben also das sittlich Gute zur Grundlage. Woher aber kommt das in der Welt nicht zu leugnende Schlechte?

Das ist eine Frage, die sich auch Menzius, der in einer Zeit gesellschaftlicher und politischer Turbulenzen lebte, notwendig aufdrängen musste. Im Menzius sind seine zahlreichen Klagen und Kritiken gegenüber schlechten Herrschern und Würdenträgern dokumentiert. Impliziert ist dabei gleich¬

sam im Hinblick auf sein Argument von dem angebornen guten Wissen und Handeln die grundsätzliche Frage, warum in Wirklichkeit viele Menschen de facto grausam handeln, sie also, um das oben genannte konkrete Beispiel anzuführen, in bestimmten Situationen ein in Gefahr geratenes Kind nicht nur nicht retten würden, sondern ein Kind sogar eigenhändig umbringen

Mengzi 2A6 (74f.; 202f.).

Mengzi 7A15(1S7;456).

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könnten, wenn es z.B. der Sprössling eines Feindes ist. Das Phänomen des sittlich Schlechten bei dem von seiner ursprünglichen Natur her guten Men¬

schen wird von Menzius im Zusammenhang mit seinem Konzept vom qing flf des Menschen erklärt. Qing spiegelt den Grad der Aktualisierung bzw.

Nichtaktualisierung des immanent Guten wider; es ist also gleichsam für das Auftreten des Schlechten zuständig. Menzius sagt: „Weil [wir sehen können,

dass] qing zum Guten geleitet werden kann, kann ich die Natur (xing) als gut bezeichnen." 24 Qing ist somit die äußere Manifestation der inneren Natur des Menschen, darum wird dieser Begriff, der in der Regel mit „Emotionen",

„Gefühle" übersetzt wird, hier in Anlehnung an Heiner Roetz mit „Wesen"

des (konkreten) Menschen wiedergegeben. 25 Es bildet beim Menschen de facto die Instanz, in der sowohl das sittlich Gute als auch das sittlich Schlechte zum Ausdruck kommen kann, i. e. es kann sich zum Guten neigen, zur ursprünglichen Natur des Menschen, oder zum Schlechten, nämlich fort von der ursprünglichen Natur. Bei qing handelt es sich folglich um eine Ebene, die ontologisch betrachtet erst nach der Ebene des xing kommt, denn

sie enthält schon etwas, nämlich die Potenz zum Schlechten, das nicht mehr zur ursprünglichen Natur des Menschen gehört. Da also das Schlechte on¬

tologisch nicht Teil der Natur des Menschen ist - Menzius: „Wenn jemand etwas Schlechtes tut, liegt der Fehler nicht in seinen ursprünglichen An¬

lagen (cai ^t)" 26 - muss dessen Ursprung außerhalb davon angesiedelt sein.

Tatsächlich hängt für Menzius das Entstehen des Schlechten von äußeren Einflüssen ab. Er macht das durch einen Vergleich anschaulich:

Die Natur des Menschen tendiert zum Guten, wie das Wasser [seiner Natur nach] nach unten fließt. Es gibt keinen Menschen, der nicht [seiner Natur nach]

gut wäre, so wie es kein Wasser gibt, das nicht [seiner Natur nach] nach unten fließt. Man kann nun auf das Wasser schlagen und es so aufspritzen lassen, dass

es höher als die Stirn reicht. Man kann es dämmen und so leiten, dass es einen Berg hoch fließt. Aber ist das etwa die [ursprüngliche] Natur des Wassers?

[Nein!] Das ist durch äußeren Einfluss bewirkt. Der Mensch kann darum zum Schlechten gebracht werden, weilseine Natur ebenso beschaffen ist. 27

Menzius begnügt sich aber auch hier nicht nur mit dem abstrakten und all¬

gemeinen Vergleich der Natur bzw. des Wesens des Menschen mit Wasser, um diesen grundsätzlichen Aspekt zu erklären, sondern rekurriert wieder auf bestimmte empirische Beobachtungen, um die Richtigkeit seiner Auf¬

fassung zu untermauern:

24 Me»gzi6A6(163;402).

25 H. Roetz 1992, S. 344f.

26 Me»gzi6A6(163;402).

27 Mé?»gz¿6A2(160;395f.).

(11)

In guten Zeiten sind die Kinder meist gut, in schlechten Zeiten sind die Kinder meist grausam. Es ist aber nicht so, dass der Himmel sie mit unterschiedlichen Anlagen ausgestattet hätte, vielmehr kommt das daher, dass ihr Herz [in äu¬

ßere Verstrickungen] gerät. 28

Der Mensch selbst hat also in seiner ursprünglichen Natur (xing) nichts Schlechtes. Das Schlechte ist vielmehr etwas, das durch äußere Einwirkun¬

gen und Reize entsteht, wenn das konkrete Wesen (qing) als die äußere Mani¬

festation der Menschennatur, i. e. als die Natur im aktualisierten Zustand, in eine von dieser fortführenden Richtung fehlgeleitet wird. Andererseits muss aber festgehalten werden, dass die Möglichkeit, sich zum Schlechten zu ent¬

wickeln, dann auch im Menschen selbst liegt, nämlich in seinem konkreten Wesen. Interessant ist, wenn Menzius an einer Stelle sagt:

Dass der Mund [schöne] Geschmäcke erstrebt, das Auge [schöne] Farben, das Ohr [schöne] Töne, die Nase [schöne] Gerüche und die vier Gliedmaßen Wohlergehen und Bequemlichkeit, [auch] das ist Natur (xing). Aber darin liegt

Schicksal (ming np) 29 . Darum nennt der Edle das nicht Natur. 30

Wenn Menzius hier den Ausdruck „Natur" (xing) benutzt und nicht „We¬

sen" (qing), verweist das auf die Verbindung der beiden Begriffe. Dieser Zu¬

sammenhang zeigt sich ebenfalls in dem oben aufgeführten Vergleich zwi¬

schen der Natur des Menschen und der Natur des Wassers: Schlechtes kann beim Menschen entstehen, ebenso wie Wasser zum Spritzen gebracht wer¬

den kann. Beides wird durch äußere Manipulation bewirkt. Aber es kann auftreten, weil die Natur des Menschen bzw. des Wassers so „beschaffen ist", i.e. in ihrem aktualisierten, mit der Außenwelt konfrontierten Zustand manipuliert werden kann. Das Wesen ist die aktualisierte, mit den Reizen der Außenwelt über die Sinnesorgane in Berührung gekommene Form der Natur. Darum ist es auch Natur. Da es aber aufgrund der äußeren Einflüsse

28 Mengzi 6A7 (164; 404Í).

29 Der Begriff ming bezieht sich auf die Entwicklungen/Umstände im Leben des Menschen, die dieser nicht selbst verursacht, die er positiv oder negativ erleidet, die aber nicht im Sinne einer unabwendbaren Prädestination seines gesamten Lebensablaufs zu verstehen sind. Dass der Mensch sterben muss, ist natürlich ming, aber sein Tod, i.e. die Art, wie erstirbt und wann er stirbt, ist nicht unumstößlich vorherbestimmt. Sokann ein Mensch sich selbst entscheiden, ob er sich unter eine steil aufragende, vom Umstürzen bedrohte Mauer stellt oder nicht. Mengzi 7A2 (184; 450). Eine teleologische Komponente hat der Begriff gleichwohl, wenn an gleicher Stelle gesagt wird, dass der Tod nach dem Ausschöpfen des dao „rechtes Schicksal" (zhengming IE np) ist, hingegen der Tod „in Fes¬

seln" „nicht (fei rechtes Schicksal" ist. So wie Piaton sagt: „Solcher Erinnerungen [i.e.

der Ideen] also sich recht bedienend, mit vollkommener Weihung immer geweiht, kann ein Mann allein wahrhaft vollkommen werden (téleios)." (Phaidros 249c).

30 Mengzi 7B24 (202; 489).

(12)

auch Schlechtes entfalten kann, ist es mit der ursprünglichen Natur, die nur die Anlagen zum Guten enthält, nicht identisch. Darum bezeichnet der Edle diese Form der Natur nicht als Natur. Es handelt sich aber bei den sinn¬

lichen Aspekten der Natur auch um Eigenschaften, die an sich nicht schlecht sind, die jedoch, wenn sie kein sittliches Maß haben, schlecht werden kön¬

nen, wenn der Mensch zu viel gute Speisen etc. begehrt, 31 i. e. das Wasser künstlich dämmt oder umleitet. Da jeder Mensch von Natur diese Anlagen hat und er, wenn er z.B. längere Zeit keine Nahrung zu sich genommen hat, ganz natürlich ein Hungergefühl entwickelt, werden sie in dem Zitat oben als ming bezeichnet, i. e. als vom Menschen selbst nicht beeinflussbare Eigenschaften. Der Mensch hat das natürliche Bedürfnis der Nahrungs¬

aufnahme ebenso wie das Wasser natürlich nach unten fließt.

Schlechtes und grausames Verhalten kommt demnach nicht aus der Natur des Menschen selbst, sondern hängt von äußeren Manipulationen, schlech¬

ten Einflüssen ab, denen er in seinem Leben ausgesetzt ist und in die sein Herz verwickelt werden kann. Wenn also jemand ein Kind in den Brunnen stürzen lässt, ohne ihm zu helfen oder selbst ein Kind tötet, dann beruht das gemäß Menzius' Theorie auf Ursachen, die im prinzipiellen Sinn außerhalb dieses Menschen liegen, z.B. wenn er, aus welchen Gründen auch immer, den Vater des Kindes hasst oder ihn als seinen Feind betrachtet und dieses Gefühl auch auf dessen Kind überträgt. Ganz eindeutig handelt es sich in solchen Fällen für Menzius aber um negative Haltungen und Gefühle, die a posteriori durch bestimmte äußere Bedingungen und Umstände entstan¬

den sind und die mit der eigentlichen Natur des Menschen nichts zu tun haben. Sie verdunkeln und unterdrücken vielmehr das intuitive Denken und die intuitiven Fähigkeiten, die aus seiner eigentlichen Natur kommen.

Erschöpfend im ontologischen Sinn wird die Frage nach der Ursache des Schlechten damit jedoch nicht beantwortet. Andere Konfuzianer haben die entsprechenden Probleme, die mit den jeweils exklusiven Interpretationen des xing sowohl des Menzius als auch des Xunzi verbunden sind, zu lösen versucht, indem sie z.B. die Anlagen zum Guten und Schlechten gleichsam

als Potenzen in der Natur (xing) des Einzelnen ansiedeln. In der Theorie des Menzius hingegen ist der äußere Einfluss bei der Entfaltung des Schlechten für den Menschen ausschlaggebend, ganz gleich, was der ontologische Grund des Schlechten auch sein mag.

31 Auf diesen Aspekt weist auch Zhu Xi 7^ IS (1130-1200) hin, der die Einnahme von der Erhaltung des Lebens dienenden Nahrungsmitteln als im Einklang mit Ii 3H (Uni¬

versales Ordnungsprinzip) bezeichnet, die Forderung nach „exzellenten Speisen und Getränken" hingegen den menschlichen Begierden (renyu \ $£) zuordnet und kritisiert (Zhuziyulei, Kap. 13, 416).

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Wichtig ist jedenfalls festzuhalten, dass es Menzius bei seinem Argument offensichtlich nicht darum geht, den Menschen von der Verantwortung für unmoralisches Verhalten freizusprechen, weil der ontologische Grund des Schlechten außerhalb des Menschen angesiedelt ist und der Mensch den entsprechenden Einflüssen hilflos ausgesetzt wäre, denn damit würde es auch nicht die Freiheit der Entscheidung für das Gute oder Schlechte geben und die von den Konfuzianern immer wieder geforderte sittliche Kultivierung, die dem normalen Menschen einiges an Disziplin und har¬

tem Lernen abverlangt, also kein leichter Weg der Erkenntnis ist, würde ad absurdum geführt. Vielmehr hat der Mensch mit dem Wesen (qing), der aktualisierten Natur, eine ontologisch auf der zweiten Stufe angesiedelte immanente Instanz, welche ihm selbst die Verantwortung zur Entscheidung für das Gute oder Schlechte zuweist, wobei äußere Einwirkungen diese Entscheidung natürlich beeinflussen. Menzius vergleicht an einer Stelle den immer wieder zu schlechten Handlungen neigenden Menschen anschaulich mit einem Trinker, der, wie er bemerkt, „die Trunkenheit [in seinem Inners¬

ten] verabscheut, aber dennoch kräftig Wein trinkt." 32 Dieser weiß, dass er eigentlich nicht trinken sollte, kann sich aber, da er dem Alkohol verfallen ist, i. e. sich über einen längeren Zeitraum an ihn gewöhnt hat, schwer davon lossagen. Seine Alkoholsucht hat gemäß Menzius' Theorie ihre Ursache aber nicht in seinem xing, sondern ist durch den äußeren Prozess des ständigen Weinkonsums verursacht, zu dem er einmal, von äußeren Reizen angeregt,

gekommen ist. Er spielt sich also auf der Ebene des qing ab. Es bedarf nun einer großen Anstrengung, wenn der Trinker sich von seinem Laster be¬

freien will. Er hat aber grundsätzlich die Möglichkeit, sich für diesen Weg des Entzugs zu entscheiden, so schwer ihm das auch fallen mag, ebenso wie er sich weiter für den Alkohol entscheiden kann. Das Gleiche gilt auch allge¬

mein für die Entscheidung des Einzelnen, Gutes oder Schlechtes zu tun.

In diesem Entscheidungsprozess kommt xin j[j (Herz, Geist) eine zen¬

trale aktive Rolle zu. Nach Auffassung des Menzius ist xin das Organ im Menschen, mit dem das immanente Gute des xing bewusst gemacht wird, darum sagt er, wie oben zitiert, „Mitleid im Herzen haben, das ist [Aus¬

druck von] Menschlichkeit [...]", und an anderer Stelle rekurriert er darauf, dass die sittlichen Prinzipien ihre Wurzel (gen tü) im Herzen haben. 33 Aber das Herz kann auch, wie schon erwähnt, in äußere Verstrickungen geraten und damit Schlechtes zulassen, wenn der Mensch schlechte Gedanken hat.

Dann ist das aber nicht der Zustand des ursprünglichen, sich des Guten Mengzi4A3(114; 294).

Mengzi 7A21 (189; 460).

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bewussten Herzens (benxin 2^ ;L\), 34 das der Mensch, wie Menzius erklärt, verlieren, vernachlässigen (shi bzw. loslassen (fang aber auch wieder finden kann. 35 Allgemein gesprochen, ist das Herz das aktive Organ des Einzelnen, das durch Reflexion das Gute erkennt, i. e. sich das Gute bewusst macht, und somit das Wesen (qing) des Menschen in die richtige Richtung (zur ursprünglichen Natur und ihren sittlichen Prinzipien) leitet, wohinge¬

gen die Sinnesorgane die Instanz im Menschen sind, die das Wesen von den Außendingen in die Irre, i. e. zum Schlechten, verführen können:

Die Sinnesorgane wie Augen und Ohren denken nicht und werden von den Dingen (wu f^J) getäuscht. Wenn Dinge [i. e. die Sinnesorgane] und Dinge [i. e.

die Außendinge] miteinander in Kontakt kommen, führt das [vom immanen¬

ten Guten] fort. 36

Die Sinnesorgane können damit aber auch das Herz und folglich das Be- wusstsein vom Zustand des ursprünglichen Herzen beeinflussen. Der Mensch muss aus diesem Grund die Fähigkeiten seines ursprünglichen Her¬

zen „ausschöpfen", denn, so heißt es im Menzius:

Das Organ Herz aber denkt und erlangt mittels Denken [das Gute]. 37 Wer sein Herz ausschöpft, erkennt seine Natur. 38

Die wirkliche Realisierung des immanent Guten basiert also auf einen vom Herzen, i.e. dem Einzelnen, der dieses benutzt, aktiv geführten geistigen Kultivierungsprozess, der, wenn er vollendet ist, mehr ist, als das oben ge¬

nannte intuitiv richtige Reagieren auf konkrete Situationen. Sein Ergebnis bedeutet die bewusste und freie Entscheidung für das Gute. Der Weise ist dann im höchsten Maße derjenige, der nicht einfach spontan, i. e. unbewusst, sittlich handelt, wie jemand, der ohne zu reflektieren situationsgemäß ein in einen Brunnen zu fallen drohendes Kind rettet (sozusagen spontan „aus dem Bauch heraus", „aus seiner Natur heraus"), sondern der immer mit Ab¬

sicht sittlich handelt, i.e. sich für das Sittliche entscheidet. Er kann das, weil er sich selbst optimal kultiviert und das ursprüngliche gute Herz vollständig aktualisiert hat. Xing und xin befinden sich bei ihm in Ubereinstimmung.

Das Vorhandensein eines allgemeinen Begriffs des Menschen im Menzius zeigt sich deutlich, wenn das Menschsein darin gegenüber dem Sein anderer Lebewesen abgrenzt wird. Ein Lebewesen, das die natürlichen Anlagen zur Sittlichkeit nicht besitzt, kann nach Auffassung des Menzius nämlich nicht

34 Mengzi 6A10 (167;414).

35 Mengzi 6A10 (167; 414); 6A11 (167;414).

36 Mengzi 6A15 (169; 418).

37 Mengzi 6A15 (169; 41S).

38 Mengzi 7A1 (184; 448).

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zur Gattung Mensch gezählt werden, sondern muss mindestens zur Gat¬

tung Tier gehören. 39 Dass Tiere von anderer Gattung als der Mensch sind, sagt er explizit, wenn er auf grundsätzlich unterschiedliche Vorlieben z.B.

bei der Nahrungsaufnahme 40 von Menschen und Tieren rekurriert:

[Der berühmte Koch] Yiya legt vor mir [Speisen] aus, die mein Gaumen be¬

gehrt. Wenn es so wäre, dass das, was seinen Gaumen erfreut, wesentlich (xing) verschieden wäre, vondem, was andere Menschen [erfreut], so wie bei Hunden und Pferden, die von uns in der Gattung (lei Jjf) verschieden sind, wie könnten dann alle Menschen dem Geschmack des Yiya folgen? 41

In gleicher Form verweist er dann darauf, dass unser Gehörsinn, weil er bei allen Menschen gleich ist, bestimmte musikalische Klänge und unser Seh¬

sinn, weil er bei allen Menschen gleich ist, bestimmte wohlgestaltete Men¬

schen schön finden würden. Er betont in diesem Zusammenhang auch, dass die exponierten Weisen und die Normalmenschen von der gleichen Gattung sind. An anderer Stelle im Menzius heißt es: „Der Weise ist verglichen mit der Masse des Volkes von gleicher Gattung. [Er] ragt [nur] aus seiner Gat¬

tung heraus (chu yu qi lei tH Ä fjg)." 42 Der Grund, warum der Weise „aus seiner Gattung herausragt", ist für Menzius natürlich seine Fähigkeit, die immanente Sittlichkeit vollständig zu aktualisieren: „Worin der Edle sich von den Menschen unterscheidet, ist das, was er im Herzen bewahrt. Der Edle bewahrt Menschlichkeit und Anstand im Herzen." 43 Dass Menzius nicht nur die Gattung der Tiere von der des Menschen, sondern auch die Natur der Tiere von der des Menschen unterscheidet, 44 zeigt sich, wenn er in der berühmten Auseinandersetzung mit Gao Buhai p (ca. 420-350 v.u.Z) um die Frage der Beschaffenheit der Natur des Menschen die rhe¬

torische Frage stellt: „Ja ist es denn so, dass die Natur des Hundes gleich

39 Interessant ist, dass später im Neo-Konfuzianismus der Song-Zeit die Auffassung vertreten wird, dass auch Tiere in begrenzter Form sittlich handeln können. Zhu Xi spricht sogar vom ren und yi ü der Tiere. Zhuziyulei, Kap.4, S. 177. Das wird aber als instinktives sittliches Handeln erklärt im Gegensatz zum Menschen, der bewusst sittlich handelt und sich darum auch sittlich kultivieren kann. Im Menzius findet sich diese Auf¬

fassung noch nicht.

40 Gemeint ist der Unterschied zwischen der verfeinerten Küche des Menschen und dem natürlichen Fressverhalten der Tiere.

41 Mengzi 6A7 (164; 405).

42 Mengzi 2A2 (72; 196).

43 Mengzi 4B2S (130; 333).

44 Eine solche Schlussfolgerung aus der Verschiedenheit der Gattungen ist nicht zwin¬

gend, wie später die Neo-Konfuzianer der Song-Zeit zeigen. Zhu Xi geht in seiner Onto¬

logie von der wesentlichen Gleichheit aller Dinge aus, denn jedes Ding hat Ii (Universale Ordnungsstruktur), das für ihn identisch mit xing ist, als sein Wesensprinzip. Siehe hierzu W. Ommerborn 1998.

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der Natur des Ochsen ist und die Natur des Ochsen gleich der Natur des Menschen?" 45 Sie ist eine Reaktion auf Gao Buhais Auffassung, der Mensch habe in seiner Natur weder Gutes noch Schlechtes, die Natur also in Bezug auf die Sittlichkeit indifferent sei, 46 und der Natur darum mit „Leben" (bzw.

Lebewesen) gleichsetzt (shengzhi wei xing ^ M tt). 47 Damit negiert er einen Unterschied zwischen der Natur des Menschen und der Natur der Tiere. Für Menzius besteht hier aber ein wesentlicher Unterschied, wie seine

gesamte Diskussion um die Natur des Menschen deutlich macht.

Die für uns wichtige Frage ist aber, ob ein Mensch sich in seinem Denken und Handeln von seiner ursprünglichen Natur so weit entfernen kann, dass er mit den Tieren auf eine Stufe gestellt werden kann, was auch implizieren würde, dass er dann wie ein Tier behandelt werden darf. Im Menzius wird tatsächlich an einigen Stellen der Unterschied zwischen Mensch und Tier als gering bezeichnet und zudem die Möglichkeit eingeräumt, der Mensch könne dem Tier nahe kommen:

Das, was den Menschen von den Tieren unterscheidet, ist gering. Die meisten Menschen ignorieren ihn [i. e. den Unterschied], nur der Edle bewahrt ihn. 48 Wenn das qi der Nacht (yeqi $t ü) nicht ausreicht, um [das Gute] zu bewahren,

dann ist der Mensch von den sich [dem Guten] widersetzenden {wei jS) Tieren nicht weit entfernt. 49

Der Mensch hat dao. [Doch] wenn er [nur] gute Speisen, warme Kleidung und eine angenehme Unterkunft hat, aber keine [sittliche] Belehrung genießt, dann kommt er den Tieren nahe. 50

An einer Stelle nennt er denjenigen, der seiner ertrinkenden Schwägerin nicht die rettende Hand reicht, einen Wolf 51und sagt über den vergeblichen Versuch, unverbesserliche Menschen (wangren |^ A) zu erziehen:

Wenn jemand so ist, warum nicht gleich ein Tier auswählen [um es zu be¬

lehren]? Welche weiteren Schwierigkeiten {you he nan J£ {nj j§) hätte man dabei mit Tieren? 52

45 Mengzi 6A3 {161; 397).

46 Gao Buhai sagt: „Die Natur (xing) ist dem fließenden Wasser gleich. Wird [dem Wasser] ein Abfluss nach Osten verschafft, dann fließt es nach Osten; wird [dem Wasser]

ein Abfluss nach Westen verschafft, dann fließt es nach Westen. Die Natur des Menschen ist indifferent hinsichtlich [der Entwicklung zum] Guten oder Schlechten, ebenso wie das Wasser indifferent hinsichtlich [des Fließens nach] Osten und Westen ist." Mengzi 6A2

(160; 395).

47 Mengzi 6A3 (161;396).

48 Mengzi 4B19 (127;325).

49 Mengzi 6A8 (165; 408).

50 Mengzi 3A4 {97;251).

51 Mengzi 4A17 {120;307).

(17)

Zudem degradiert er Kernkonzepte gegnerischer Denker mit dem Hinweis, sie implizierten ein Verhalten, das den Menschen mit den Tieren auf eine Stufe stelle:

Herrn Yang [Zhus Prinzip] „Jeder für sich selbst" negiert [dieBeziehung zum]

Herrscher. Herrn Mo [Dis Prinzip] „Allgemeine Liebe" negiert [die Bezie¬

hung zum] Vater. [Die Beziehungen zu] Vater und Herrscher negieren, das ist [das Verhalten der] Tiere. 53

Der Mensch kann sich also wie ein Tier verhalten und entfernt sich damit offensichtlich von den Prinzipien seiner spezifischen Natur.

Dass der Mensch seine Natur vollständig verlieren kann, ist aber ausge¬

schlossen, denn er „hat dao", i.e. er besitzt die sittlichen Anlagen, „ebenso wie er vier Gliedmaßen besitzt." 54 Der essentialistische Begriff des Men¬

schen und seiner Natur wird also auch hier nicht erschüttert. Der Mensch behält seine Natur in gleicher Weise, wie in Bezug auf den Gattungsbegriff jemand, von dem behauptet wird, er verhalte sich wie ein „Schwein", aus

diesem Grund nicht der Gattung Tier zugeordnet werden kann. Man kann höchstens sagen, dass er wegen seines Verhaltens auf der niedrigsten Stufe seiner Gattung steht, ebenso wie es auf der anderen Seite Menschen gibt, nämlich die Weisen, die „aus ihrer Gattung herausragen". Aber auch der sich wie ein „Schwein" verhaltende Mensche besitzt immer und unverlierbar in seiner Natur das Potential und die Möglichkeit zum moralischen Handeln.

Hinsichtlich der menschlichen Natur wird diese Uberzeugung deutlich, wenn Menzius in seiner Geschichte vom Ochsenberg sagt, derjenige der

sein ursprüngliches gutes (angeborenes) Herz (liangxin) ignoriere (fang einem Berg vergleichbar sei, der einmal üppig bewaldet war, dann aber abgeholzt wurde und nun kahl ist. 55 Der ursprüngliche vegetationsreiche Zustand des Berges wird von Menzius in diesem Vergleich als dessen

„Natur" (xing) bezeichnet. Er führt dann weiter aus, dass zwar auf dem Berg weiterhin Vegetation keimt, die jungen Pflanzen aber immer wieder

52 Mengzi 4B2S (131;334).

53 Mengzi 3B9 (109; 282). Es wurde schon darauf verwiesen,dass die Neo-Konfuzianer der Song-Zeit den Tieren eingeschränktes sittliches Verhalten zuschreiben. Zhu Xi z.B. spricht explizitdavon, dass Bienen die Beziehung zwischen Herrscher und Untertan praktizieren und Wölfe undTiger die Beziehung zwischenVater undSohn. Zhuzi yulei, Kap. 4,177.

54 Mengzi 2A6 (74; 203). Zhao Qi kommentiert die in diesem Abschnitt des Menzius auftretende Stelle „Daraus wird ersichtlich, dass man ohne Mitleid im Herzen kein Mensch ist den Ausdruck „kein Mensch sein" {fei ren ye ^ \ jQ) folgendermaßen:

„Wer die vier [Anlagen (siduan)] nicht hat, der ist ein Tier und hat nicht das Herz des Men¬

schen. Der Mensch jedoch, hat dieses [Herz]. Die meisten Menschen aber können es [nur]

nicht aktualisieren." Mengzi Zhao zhu, Kap. 3, 15b. Ausgabe: Sibu beiyao.

55 Mengzi 6k% (165; 407 Í.).

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von Tieren abgefressen werden, so dass sie sich nicht zu großen Bäumen ent¬

wickeln können. Es fehlen den Gewächsen somit die Zeit und angemessene Bedingungen, um in Ruhe natürlich zu gedeihen und zu vollständigen Bäu¬

men heranzureifen. Ebenso ergeht es dem Menschen, der von außen durch negative Einflüsse daran gehindert werden kann, die Keime seiner Natur vollständig zu entwickeln. Die Keime aber sind vorhanden und sie können durch die richtige „Belehrung" zum Wachsen gebracht werden. Dass dies möglich ist, beweisen die „Edlen", die das Gute optimal aktualisiert haben.

Wenn Menzius in einem der oben genannten Zitate nur von einem „gerin¬

gen Unterschied" zwischen Mensch und Tier spricht, ist das sicherlich eine Untertreibung, denn es handelt sich dabei um die Fähigkeit zur Aktuali¬

sierung der ihm, anders als den Tieren, selbst inhärenten Sittlichkeit. Die Bezeichnung als „gering" könnte hier auch eine pädagogische Funktion er¬

füllen. Er will vielleicht Menschen, die sich durch ihr Verhalten wie „Tiere"

benehmen, anspornen, den Unterschied durch Lernen zu überwinden, und ihnen vermitteln, dass es auch ihnen möglich ist, dieses Ziel zu erreichen.

Dass andererseits Mensch und Tier viele Gemeinsamkeiten aufweisen, ist aber auch offensichtlich. Es sind beides Lebewesen mit Körperlichkeit, die bei Tieren wie den Affen sogar sehr ähnlich ist, 56 und Sinnesbedürfnissen.

Darin sind sie sich gleich. Das aber ist für Menzius anders als für Gao Buhai eben nicht das, was die eigentliche Natur des Menschen im Gegensatz zur Natur des Tieres ausmacht. Der Unterschied ist, wie die oben angeführten Zitate zeigen, dass der Mensch die Anlage zur Sittlichkeit in seiner Natur hat und fähig ist, Sittlichkeit zu erkennen und auszuüben. 57 Diese Fähigkeit ist aber eine Potenz, die er nie vollständig verlieren kann. Es ist die Potenz, die jeder Mensch in sich trägt und die sein wahres Menschsein ausmacht. Er kann sich ihrer jedoch aufgrund negativer äußerer Einflüsse nicht bewusst sein bzw. sie temporär „vergessen". Und dann kann er sich auch wie ein

„Schwein" verhalten. An einer Stelle erzählt Menzius eine Geschichte von dem Weisen Shun, der sich, als er sich in die abgelegenen Berge zurückzogen hatte und darin „mit Hirschen und Wildschweinen" (!) umherstreifte, von

56 Zhu Xi verweist z.B. explizit auf die körperliche Ähnlichkeit von Menschen und AfTen. Er sagt: „Was die AfTen anbetrifft, so ähneln sie in ihrer Gestalt den Menschen.

Zudem sind sie die Tiere mit den höchsten geistigen Fähigkeiten (zuiling H). Sie kön¬

nen nur nicht sprechen." Zhuzi yulei, Kap.4, 177.

57 Interessant ist, hier auf Jiao Xun ^ f¡ (1763-1820) zu verweisen, der in seinem Kommentar zum Mengzi 4B19 erläutert: „Essen und Trinken, [der Verkehr zwischen]

Mann und Frau, diese Natur (xing) hat der Mensch, aber auch die Tiere haben diese Natur. Darin gibt es keinen Unterschied [zwischen Mensch und Tier]. Aber die Natur des Menschen ist gut und die Natur der Tiere ist nicht gut. Der Mensch kann Sittlichkeit (yi) erkennen und die Tiere können nicht Sittlichkeit erkennen." Mengzi zhengyi, Kap. 16,17a.

Ausgabe: Sibu beiyao.

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den dort hausenden „Wilden" (yeren ÜJ A) nur wenig unterschied. 58 Sobald Shun aber mit einer guten Tat oder einem guten Wort in Kontakt kam, heißt es weiter, war er „wie ein strömender Fluss, der sich Bahn verschafft hatte und nicht mehr aufzuhalten war." Wenn ein Weiser wie Shun temporär wie ein Wilder und zusammen mit Tieren lebt, sich also auf deren Stufe begibt, dann hat das mit den spezifischen äußeren Umständen zu tun, in denen er sich zu der Zeit befand und denen er sich anpassen musste. Seine moralische Natur, das Charakteristikum seines Menschseins, und die damit verbun¬

dene Möglichkeit sittlichen Handelns waren aber selbst in diesem Zustand vorhanden, wenn sie auch nicht zur Geltung gebracht wurden oder werden konnten. Dieser Tatbestand trifft jedoch nicht nur auf die Weisen, sondern in einem prinzipiellen Sinn auf alle Menschen zu.

Auf die Frage, ob ein Mensch, der sich wie ein Tier verhält (z.B. die genannten „Wilden" in den Bergen?) auch wie ein Tier behandelt werden darf, wird im Menzius zwar nicht direkt eingegangen, ist aber, wie deutlich geworden sein sollte, grundsätzlich auszuschließen, da dies seiner Anthro¬

pologie und Ontologie völlig widersprechen würde. 59 Man kann vermuten, dass dieser Aspekt als notwendige logische Konsequenz dieser Lehre nicht mehr explizit erwähnt werden musste. Dass es andererseits Menschen gibt, vornehmlich Herrschende, die andere Menschen willkürlich wie Tiere be¬

handeln, weiß Menzius und er kritisiert dieses Verhalten heftig. 60Es zeigt sich auch in dem Zusammenhang offensichtlich, dass nach seiner Auffassung der Mensch seine gute Natur immer behält und darum auch erwarten kann, menschlich behandelt zu werden. Andere Menschen oder Gruppen von Menschen auf die Stufe von Tieren oder Untermenschen herabzusetzen, ist, wie die Geschichte der Menschheit leider zeigt, ein allgemeines Phänomen und nicht selten ein praktisches ideologisches Instrument von Gruppen, um eigene Interessen besser durchsetzen zu können. Menzius' Lehre schließt ein solches Verhalten aber als politisches Mittel eindeutig aus.

Ein grundsätzliches Problem der xzVzg-Theorie des Menzius ist natürlich, dass sie, wie andere naturrechtlich, aber auch religiös oder metaphysisch argumentierende Theorien, einem „naturalistischen Fehlschluss" unterliegt, indem sie vom Sein (Natur) auf das Sollen (Normen) schließt. Interessanter wäre in dem Zusammenhang sicherlich die xzVzg-Theorie des Xunzi, für die

58 Mengzi7Al6(lS7;456L).

59 Zhu Xi erklärt später, dass die „Barbaren" (i. e. nicht-chinesische Völker) „zwischen Mensch und Tier stehen" würden. Er sagt an dieser Stelle aber zugleich, dass selbst die

„Barbaren", wenn auch unter großen Schwierigkeiten, schließlich umerzogen werden kön¬

nen. Zhuzi yulei, Kap. 4, 177. Das aber ist eine Fähigkeit, die er den Tieren nicht zubilligt, über die vielmehr nur der Mensch qua Natur verfügt.

60 Siehe hierzu Teil 3.

(20)

dieses Problem nicht zutrifft, da in ihr die Verwirklichung der sittlichen Normen gerade die Uberwindung der angeborenen menschlichen Natur bedeutet und von den Menschen, i. e. den Weisen, diese Normen auch aus pragmatischen Gründen künstlich geschaffen worden sind, um zu verhin¬

dern, dass die Menschen sich gegenseitig Schaden zufügen. Andererseits ist nicht abzustreiten, dass der Gedanke einer allen Menschen zukommenden moralischen Natur, die strukturell im Einklang mit universalen Normen steht, ein gewichtiges Argument zum Schutz des Einzelnen gegenüber der gegen ihn ausgeübten Willkür und Gewalt seitens der politisch Mächtigen liefert. Es rekurriert auf eine höhere, den Menschen transzendierende In¬

stanz, so dass dieser sich, wenn er der Gewalt anderer ausgesetzt ist, zu¬

mindest darauf berufen kann. Dieses Argument soll also durchaus, um mit Kant zu sprechen, vor „eines anderen nötigender Willkür" schützen. 61 Eine andere Frage ist freilich, inwieweit die Mächtigen in China diese überge¬

ordnete Autorität in ihrem Handeln tatsächlich berücksichtigt haben. Sie berührt aber die prinzipielle Bedeutung dieser Theorie als Begründung für menschenrechtsrelevante Forderungen nicht. Tatsächlich stellt sie auch die philosophische Grundlage für Menzius' Konzept der Politik der Menschlich¬

keit (renzheng {H dar, dessen Verwirklichung er selbst von den Fürsten seiner Zeit beharrlich und unermüdlich einforderte.

3. Würde des Menschen

Aus dem Faktum der Immanenz des Sittlichen in der menschlichen Natur kann nun abgeleitet werden, dass diese und damit auch ihr Träger „Würde"

(Wert) (tianjue ^ ff, gui Je, lianggui tH) besitzt, d.h. Würde stellt eine angeborene und von der übergeordneten Instanz tian jedem Menschen ver¬

liehene Eigenschaft dar. Menzius sagt:

Das Streben nach Würde (gui) ist allen Menschen im Herzen gemeinsam. Alle Menschen tragen in sich selbst Würde (gui). Sie denken nur nicht daran. 62 Weiter sagt er:

Es gibt Himmelswürde (tianjue) und menschliche Würden (renjue A ff)- Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Loyalität (zhong Glaubwürdigkeit (xin fg) und unermüdliche Freude am Guten sind [Ausdruck der] Himmels¬

würde. Fürst, Minister oder hoher Beamter sein, sind [Ausdruck der] mensch-

61 I. Kant: Metaphysik der Sitten, Rechtslehre AB 45,1. I. Kant, Werke in zehn Bän¬

den. Bd. 7. Hrsg. von W. Weischedel. Darmstadt 1983, S. 345.

62 Mengzi 6A17 (170; 419).

(21)

liehen Würden. Die [Menschen des] Altertums pflegten ihre Himmelswürde und die menschlichen Würden folgten [daraufhin]. 63

Menzius unterscheidet hier ganz deutlich zwischen einer unveräußerlichen Würde, die jeder Mensch in seiner Natur hat und die mit den universalen

sittlichen Prinzipien verbunden ist, 64 die somit auch als vorstaatlich und vor jeder kulturbedingten Einflussnahme stehend bezeichnet werden kann, de¬

rer er sich aber meist nicht bewusst ist, und Würden, die einem Menschen von einem anderen, gesellschaftlich und politisch höhergestellten Menschen verliehen, aber auch wieder entzogen werden können, also veräußerlich sind.

Letztere sind demnach von Menschen und ihren Institutionen abhängig. Sie sind nicht universal und notwendig, sondern relativ und kontingent, da sie je¬

weils mit den von den Menschen selbst geschaffenen Bedingungen verbunden sind. Der optimale Zustand bedeutet für Menzius die Kongruenz von Würde und Würden, i. e. wenn die menschlichen Würden der Himmelswürde folgen.

Die Himmelswürde wird aber, weil sie, wie oben erwähnt, nicht bewusst ist, von den Menschen selbst häufig nicht in ihrem Wert erkannt:

Was die Menschen [in der Regel] für Würde (gui) halten, ist nicht die [angebo¬

rene] gute Würde (lianggui). Denjenigen, den der Große Zhao würdigen (gui) kann, den kann der Große Zhao auch erniedrigen. 65

Letzteres kann geschehen, weil sich die Würde, die der Große Zhao zuteilt, auf künstliche vom Menschen selbst geschaffene Würden (renjue) bezieht und nicht auf die angeborene, dem Menschen aufgrund seiner Natur zukommende Würde (tianjue bzw. lianggui). Die beiden Arten von Würde dürfen nicht ver¬

wechselt werden. Hier zeigt sich, dass der eigentliche Wert eines Menschen nicht in seinen gesellschaftlichen Positionen (renjue) liegt, sondern in dem in seinem ursprünglichen Menschsein wurzelnden natürlichen Wert begründet ist, der sich von der ihm angeborenen Anlage zur Sittlichkeit ableitet, wel¬

che wiederum der universalen Ordnungsstruktur des Himmels entspricht.

Die im oben genannten Zitat erfolgte Gleichsetzung von Himmelswürde und sittlichen Prinzipien wie Menschlichkeit und Gerechtigkeit, die als An¬

lagen dem Menschen angeboren sind, lässt die Schlussfolgerung zu, dass die Himmelswürde (tianjue) mit der angeborenen guten Würde (lianggui) iden¬

tisch ist. 66 Der Begriff Himmels würde bezieht sich also auf eine Eigenschaft

63 Mengzi 6A16 (169;41SL).

64 Zhu Xi erklärt tianjue in seinem Kommentar zu Mengzi 6A16 alsmit der Sittlichkeit verbundene „natürliche Würde" (ziran zhi gui § ¿ Jj;). Sishu zhangju jizhu. Mengzi jizhu, Kap. 11, S. 336. Ausgabe: Zhonghua shuju, Beijing 1983.

65 Mengzi 6A17 (170; 420).

66 Zhu Xi sagt inseinem Kommentar zu Mengzi 6A17: „Würde (gui), diein mir selbst ist, wird Himmels würde (tianjue) genannt." Sishu zhangju jizhu. Mengzi jizhu, Kap. 11, 336.

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des Menschen, nämlich seine Potenz und Fähigkeit zum moralischen Denken und Handeln, die ihm von keiner äußeren menschlichen Instanz verliehen wird, sondern die er von Anfang an und immer in seiner Natur hat.

Aus der Tatsache, dass die Natur des Menschen diese Würde besitzt, er¬

geben sich bestimmte Prinzipien des Verhaltens der Menschen untereinander:

Als Geringerer einen Höheren achten, das heißt, einem Würdenträger mit Würde begegnen (gui gui m Jt); als Höherer einen Geringeren achten, heißt den Würdigen ehren (zun xian |¡£ jf). Den Würdigen ehren und ihm mit Würde begegnen, sind gleichsam [Ausdruck des Prinzips der] Gerechtigkeit. 67 Einen Menschen hingegen, dessen Würde man nicht respektiert, degradiert man dadurch und stellt ihn, darauf wurde oben schon hingewiesen, auf eine Stufe mit Tieren oder sogar mit Pflanzen und Nichtlebewesen. Man igno¬

riert mit einem solchen Verhalten das, was den Menschen eigentlich zum Menschen macht, i. e. die ihm wesentliche immanente Sittlichkeit und seine Fähigkeit diese zu praktizieren. Menzius:

Jemanden füttern, ohne sorgsam mit ihm umzugehen, bedeutet, ihn wie ein Schwein zu behandeln. Jemanden lieben, ohne ihn zu achten, bedeutet, ihn wie ein Haustier zu halten. Höflichkeit und Achtung müssen da sein, bevor man jemandem Geschenke überreicht. Sind Höflichkeit und Achtung nicht echt, wird der Edle sich davon nicht täuschen und zum Bleiben bewegen lassen. 68 Der Mensch kann als Mensch erwarten, menschlich behandelt zu werden.

Das muss natürlich nicht bedeuten, dass alle Menschen stets völlig gleich behandelt werden. Dies würde dem hierarchischen Denken des Konfuzi- anismus auch widersprechen. Auf keinen Fall darf das Handeln aber in Unterdrückung und unmenschlicher Behandlung eines anderen ausarten.

Bloom schreibt hierzu:

The degree of respect that is to be shown may vary in accordance with the specific relationships between individuals - depending on kinship ties, gender, age, and social position - and the particular behaviours required vary as well.

But always there is a basic respect required from each human being toward every other human being as a condition of their common humanity. 69

Wir haben es hier mit dem zu tun, was Roetz als „Doppelstruktur der konfuzianischen Ethik" bezeichnet, „die Abstraktion und Konkretion, Allgemeines und Partikulares, Gleichheit und Ungleichheit zu vermitteln

sucht." 70 Roetz kommt darum zu dem Resümee:

67 Mengzi 5B3 (150; 379).

68 Mengzi 7A37 (194; 471Í).

69 I. Bloom 1998, S. 109.

70 H. Roetz 1998, S. 196.

Referenzen

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