© F. Enke Verlag Stuttgart Zeitschrift für Soziologie, Jg. 25, Heft 4, August 1996, S. 315-329 315
Transversale Vernunft und der soziologische Blick Zur Erinnerung an Montesquieu
Gerhard Wagner
Fakultät für Soziologie, Universität Bielefeld, Postfach 1001 31, D-33501 Bielefeld
Z u s a m m e n fa s s u n g : Wolfgang Welschs Vernunftkonzept stellt einen Meilenstein der Theoriebildung dar. Indem sich Welsch jedoch auf den philosophischen Diskurs beschränkt, bleiben ihm die Werke der soziologischen Theoretiker verborgen, die zu einer ähnlichen Position gelangen. In diesem Essay wird gezeigt, daß bereits Montesquieu in Ausein
andersetzung mit dem Sozialen eine durch Transversalität charakterisierte Weitsicht entwickelt, die von Max Weber und Georg Simmel übernommen wird und die heute in kulturvergleichenden Studien präsent ist. Damit soll nicht die Origi
nalität des philosophischen Konzeptes von Welsch bestritten werden. Der Essay ist vielmehr ein Plädoyer für einen im Sinne transversaler Vernunft zu führenden transdisziplinären Dialog.
L
Über die Bedeutung, die dem Gebrauch von Me
taphern in der Wissenschaft zukommt, ist viel dis
kutiert worden. Ein Konsens wurde jedoch nicht erzielt. Während Vertreter eines an naturwissen
schaftlicher Exaktheit orientierten Erkenntniside
als die Verwendung von Metaphern ablehnen, ent
wickeln ästhetisch inspirierte Wissenschaftsschrift
steller ganze Metaphorologien, um aus Beziehun
gen der Ähnlichkeit zwischen inhaltlich nicht be
nachbarten Vorstellungen neue Einsichten zu ge
winnen. Wie immer man zu dieser Problematik steht, Metaphern sind aus dem wissenschaftlichen Diskurs nicht wegzudenken. Ja mehr noch, das Denken selbst wird in diesem Diskurs immer wie
der unter Zuhilfenahme von Metaphern expliziert.
So wird es beispielsweise mit einem Stammbaum verglichen, um zu versinnbildlichen, daß man die Vielfalt der Welt auf einen einheitlichen Ursprung zurückführen müsse, will man deren Ordnung er
kennen.
Eine andere Metaphorik schlagen Gilles Deleuze und Felix Guattari vor, indem sie auf einen Pflan
zentyp namens Rhizom verweisen. Das Rhizom ist eine Kriechwurzel, die den Charakter eines weit
verzweigten Netzwerkes aufweist. Dessen ältere Teile sterben in dem Maße ab, wie sich neue Teile bilden, so daß das Gespinst nach einer gewissen Zeit ein völlig anderes geworden ist. Während bei einem Stammbaum »ein Punkt und eine Ordnung festgesetzt« sind, gibt es bei einem Rhizom nichts, das man als einheitlichen Ursprung interpretieren könnte; statt dessen kann »jeder beliebige Punkt eines Rhizoms ... mit jedem anderen verbunden werden« (Deleuze & Guattari 1977: 11). Im über
tragenen Sinne bedeutet das, daß es dem Denken nicht um Reduktion, sondern um »Konnexion« zu
tun ist (Deleuze & Guattari 1977:11). Das Denken habe »Verbindungen« nachzuspüren, um in der durch »Vielheit« und »Heterogenität« gekenn
zeichneten Welt Konfigurationen von Ordnung zu erkennen (Deleuze & Guattari 1977:1 Iff).
Natürlich gibt es noch weitere Metaphernbildun
gen (Deleuze & Guattari 1977: 9ff). Doch sind mit Stammbaum und Rhizom zwei epochentypische Denkmodelle benannt. Der Stammbaum steht für das klassische Denken, wie man es etwa in der mit
telalterlichen Arbor porphyriana findet. Ihm ge
mäß nimmt Vielfalt nicht nur ihren Ausgang von einer ursprünglichen Einheit, sondern bleibt auch an diese zurückgebunden. Der Einheit kommt ab
solute Priorität zu. Demgegenüber wurzelt das Rhizom in den Diskursen der Postmoderne, in de
nen Vielfalt nicht als bloße Emanation betrachtet wird. Vielmehr will man den vielen Differenzen um ihrer selbst willen gerecht werden. Zwar kann man dabei auf einen Begriff von Einheit nicht ver
zichten. Einheit soll jedoch nicht ursprünglich ge
geben sein, sondern sich »durch die Vielfalt hin
durch« über eine »Konnexion des Heterogenen«
herausbilden; Deleuze spricht deswegen auch von
»Unifizierung« (Deleuze 1976:16).
Die Geistesgeschichte zeigt allerdings, daß das stammbaumartige Denken mit dem Mittelalter nicht zu Ende ging, sondern auch noch die Moder
ne beherrschte. Die Weichen hierfür stellte Rene Descartes, in dessen Rationalismus es eine neue Basis fand. Daß »die Wirkung dieses Menschen auf sein Zeitalter und die neue Zeit nicht ausge
breitet genug vorgestellt werden« kann, versteht sich von selbst (Hegel 1986: 123). So bildete das stammbaumartige Denken die Grundlage des phi
losophischen Systems von Georg Wilhelm Fried
rich Hegel, und wie man anhand der als Differen
316 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 25, Heft 4, August 1996, S. 315-329 zierungstheorie konzipierten Evolutionstheorie
von Herbert Spencer erkennen kann, erlebte die
ses Denkmodell auch im wissenschaftlichen Dis
kurs des 19. Jahrhunderts eine Hochkonjunktur, deren Auswirkungen heute noch spürbar sind.
Eine ganze »Baumkultur« ist das Ergebnis, »von der Biologie bis zur Linguistik« (Deleuze & Guat- tari 1977: 26).
Freilich mehren sich die Belege dafür, daß das nach dem Muster »aus Eins wird zwei, aus zwei wird vier« verfahrende Stammbaum-Modell »völ
lig abgenutzt ist« (Deleuze & Guattari 1977: 8).
Wie »Übertragungen von genetischem Material durch Viren« oder die »Verschmelzung von Zellen unterschiedlicher Spezies« zeigen, geht es in der Welt keineswegs immer so zu, daß »sich das Diffe
renziertere aus dem weniger Differenzierten ent
wickelt« (Deleuze & Guattari 1977: 18). Aus die
sem Grunde wird in den neueren »Schemata der Evolution ... das alte Modell des Baumes und der Abstammung« einer Relativierung unterzogen (Deleuze & Guattari 1977: 18). So ergänzt man in der Biologie den Begriff der Differenzierung um den der Symbiose (Margulis 1981). Auch in der Linguistik erfährt das »immer wieder gern benutz
te Bild des Stammbaums« eine Korrektur; der Ar- boreszenz wird ebenfalls durch den Begriff der Symbiose der Boden entzogen (Schmitt 1993: 78).
Dabei meint Symbiose einen Vorgang, den Deleu
ze und Guattari als »Rhizom machen« bezeichnen;
zwei oder auch mehrere Einheiten gehen eine Ver
bindung miteinander ein und konstituieren eine neue Einheit, »insofern sie heterogen sind« (D e
leuze & Guattari 1977:17). Angesichts dieser An
schlußfähigkeit des Rhizom-Modells an neuere wissenschaftliche Einsichten ist die Popularität verständlich, die es trotz aller Kritik genießt (vgl.
etwa Frank 1983: 438ff). So stellt Erich Jantsch in seiner Theorie der Selbstorganisation einen Zu
sammenhang her zwischen dem Konzept der dissi
pativen Strukturen und dem Bild des Rhizoms (Jantsch 1992: 316ff, 408f). Und auch für eine neue philosophische Explikation von Vernunft steht das von Deleuze und Guattari skizzierte Denkmodell Pate. Vor kurzem hat Wolfgang Welsch ein Ver
nunftkonzept vorgestellt, das sich im wesentlichen herleiten läßt vom Modell des Rhizoms (Welsch 1995: 761ff).
II.
Welsch zufolge ist dieses Modell »paradigmatisch für Wirklichkeit heute« (Welsch 1988: 142). Der
Begriff des Rhizoms tauge zum »Leitwort einer neuen und erschließungskräftigen Denkweise bzw.
Weitsicht« (Welsch 1995: 360). Er erlaube es, das klassische Einheitsdenken zu überwinden, ohne, wie dies bei Theoretikern der Pseudo-Postmoder
ne geschieht, die Vielheit und Heterogenität zu verabsolutieren. Im Bild des Rhizoms werden, so Welsch, die vielen Differenzen in einer Weise ge
faßt, »daß im gleichen Zug auch Verbindungen und Übergänge bedacht werden können ... Deleu
ze und Guattari ... zeigen, daß das Unterschiedli
che selber schon durch Kreuzungen, durch laterale und transversale Operationen entsteht, daß die Differenzen also nicht in einem grundsätzlichen Gegensatz zu den Verbindungen stehen, sondern sich mittels ihrer bilden und weiterhin solche Ver
bindungen einschließen und neue eröffnen. „Hete
rogenität und Konnexion“ bilden ein Paar. In die
ser Verbindung von Differenz und Übergang liegt die entscheidende Errungenschaft dieses Kon
zepts« (Welsch 1995: 365).
Konsequent macht Welsch diese spezifische Ver
bindung von Differenz und Übergang zur Grund
lage seiner Konzeption von Vernunft. So sei in Übergängen zwischen Differenzen, die keinen
»gemeinsamen Kontext« aufweisen, sondern »von je eigener Konfiguration und Typik« sind, stets ein Vermögen im Spiel, »das nicht an eine der beteilig
ten Rationalitäten gebunden ist, sondern das sich im Vergleich zu ihnen als „rein“ darstellt« (Welsch 1995: 751f). Dessen Leistung bestehe darin, diese verschiedenen Formen von Rationalität »in der Unterschiedlichkeit ihrer Logik vor Augen zu bringen, sie also nicht nur jeweils gesondert zu analysieren, sondern sie auch zu vergleichen und in ihren Gemeinsamkeiten und Unterschieden zu bestimmen« (Welsch 1995: 751). Dieses Vermögen bezeichnet Welsch als transversale Vernunft. D ie
se zeichne sich dadurch aus, »daß sie Übergänge zwischen Heterogenem vollzieht - so aber daß die
se Übergänge die Heterogenität nicht tilgen, son
dern allererst in der rechten Weise zur Darstellung bringen« (Welsch 1995: 752).
Übergange müssen demnach keineswegs immer zu neuen Einheiten führen. Indem Vernunft die Dif
ferenzen als »irreduzible Komplexe mit je eigenem Recht« behandelt, sorgt sie zunächst einmal für
»Gerechtigkeit« (Welsch 1995: 699). In diesem Fall ist das Heterogene »einzig in der Übergangstätig
keit der Vernunft - in seinem Erscheinen vor dem Auge der Vernunft - verbunden« (Welsch 1995:
752). Darüber hinaus »deckt Vernunft aber auch bestehende Verbindungen auf und bahnt neue Verknüpfungen an«; insofern ist sie eben nicht nur
Gerhard Wagner: Transversale Vernunft und der soziologische Blick 317 mit Differentem, sondern immer auch mit Ver
flechtungen befaßt, die der Vernunft als »Brücken des Übergangs« dienen können (Welsch 1995:
754). Nun ist Welsch darin zuzustimmen, daß das Denken in Übergängen dem durch das Stamm
baum-Modell vorgegebenen »Trennungsdenken«
radikal widerspreche (Welsch 1995: 766).
Seine Einschätzung, das Denken in Übergängen sei der Moderne kaum vertraut, trifft indessen nur bedingt zu. Denn ebensowenig, wie das stamm
baumartige Denken mit der beginnenden Moder
ne seinen Niedergang findet, ist das rhizomatische Denken eine Entdeckung der Postmoderne. In Wahrheit entstand es bedeutend früher. Wiewohl eine exakte Datierung nicht möglich ist, sprechen doch gute Gründe dafür, daß ihm zum ersten Mal Ausdruck verliehen wurde im Werk des Charles- Louis Joseph de Secondat, Baron de la Brede et de Montesquieu. Daß Montesquieu Vorläufer hatte, soll keineswegs bestritten werden. Doch war er der erste, dem es in überzeugender Weise gelang, sich von den theologischen Prämissen der Antike und des Mittelalters freizumachen, ohne das stamm
baumartige Denken in einer der zahlreichen von Descartes inaugurierten metaphysischen Formen fortzuschreiben.
Angeregt durch Berichte, in denen Reisende schil
derten, daß sich in fremden Ländern andere von den europäischen Verhältnissen unterscheidende Ordnungen eigneten, bemühte sich Montesquieu in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts um einen neuartigen Umgang mit der Vielfalt der Welt, in
dem er es vermied, nach einem einheitlichen Ur
sprung zu fahnden. Wie seine Schriften belegen, ging es ihm um »die Erklärung der Unterschiede und die Begründung des Eigenwertes dieser Ord
nungen«; in Distanz zu den herrschenden theologi
schen und metaphysischen Systemen entwickelte Montesquieu eine »vergleichende Methode«, die den Blick nicht länger auf das Gemeinsame im Verschiedenen fixierte, sondern es ermöglichte, den Verschiedenheiten um ihrer selbst willen nachzuspüren (Dilthey 1969: 233). Tatsächlich er
arbeitete er eine Weitsicht, die nicht nur das Bild des Rhizoms, sondern auch das Konzept der trans
versalen Vernunft vorwegnimmt. Diese Weitsicht kann man als den soziologischen Blick bezeichnen.
Lange bevor in den wissenschaftlichen Disziplinen Biologie und Linguistik von Symbiose die Rede war und lange bevor die Philosophen der Postmo
derne ihr Interesse an Vielfalt entdeckten, ent
wickelte Montesquieu in Auseinandersetzung mit dem Sozialen eine Theorie, in der es um Heteroge
nitäten und Konnexionen, um Differenzen und Übergänge geht. Damit sollen weder Originalität noch Relevanz der Schriften von Deleuze, Guatta- ri und Welsch in Frage gestellt werden. Vielmehr gilt es, gewisse außerhalb der Philosophie akku
mulierte Wissensbestände ins Gedächtnis zu rufen, zumal bestimmte Aspekte des soziologischen Dis
kurses, über die diese Autoren mit Nonchalance hinweggehen. An sich könnte man als Soziologe diese Nichtbeachtung auf sich beruhen lassen. In einer Zeit jedoch, in der die Soziologie auf dem Prüfstand steht und sich jedes bessere Feuilleton berufen fühlt, dieser Disziplin ein Versagen zu at
testieren, ist es angezeigt, an ihr eigentliches Lei
stungspotential zu erinnern.
III.
Um Montesquieus Weitsicht herauszuarbeiten, empfiehlt sich zunächst ein Vergleich mit dem Werk von Giovanni Battista Vico, einem Zeitge
nossen Montesquieus, der sich einen Namen als Kritiker des Rationalismus machte. Er warf Des
cartes vor, sich lediglich um eine methodische Fun
dierung der Naturwissenschaften gekümmert zu haben. Tatsächlich hatte Descartes für die Be
schäftigung mit der von den Menschen geschaffe
nen historischen Welt, die nicht nur in der Antike, sondern auch in der Renaissance und im Humanis
mus gepflegt worden war, nur Spott übrig. Ange
sichts der konkurrierenden Dogmen, mit denen die Theologen seiner Zeit auf das Chaos des Drei
ßigjährigen Krieges reagierten, suchte er nach ei
nem Fundament des Denkens, das gegenüber spe
ziellen religiösen Bindungen neutral sein sollte und dieselbe absolute Gewißheit bieten konnte, welche die mittelalterliche Theologie bereitge
stellt hatte (Toulmin 1994: 120ff).
Nach seiner Überzeugung gab es nur zwei Tätig
keiten des Geistes, durch die man »ohne jede Furcht vor Täuschung zur Erkenntnis der Dinge«
gelangen konnte: »nämlich Intuition und Dedukti
on« (Descartes 1905: 12). Dabei verstand er unter Intuition nicht »das mannigfach wechselnde Zeug
nis der Sinne oder das trügerische Urteil, das sich auf die verworrenen Bilder der sinnlichen An
schauung stützt, sondern ein so einfaches und in
stinktives Begreifen des reinen und aufmerksamen Geistes, daß über das Erkannte weiterhin kein Zweifel übrigbleibt« (Descartes 1905: 12). Unter Deduktion verstand er »all das, was sich aus be
stimmten anderen, sicher erkannten Dingen, mit Notwendigkeit ableiten läßt« (Descartes 1905:13).
318 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 25, Heft 4, August 1996, S. 315-329 Die Intuition müsse durch die Deduktion deswe
gen ergänzt werden, »weil man von den meisten Dingen, wenngleich sie nicht von sich aus evident sind, doch ein sicheres Wissen hat, wenn sie nur von wahren und klar erkannten Prinzipien aus durch eine kontinuierliche und nirgendwo unter
brochene Bewegung des intuitiv jeden Einzel
schritt hervorbringenden Denkens abgeleitet wer
den« (Descartes 1905: 13).
Descartes exemplifizierte seine Methode anhand der Geometrie, doch war er bestrebt, sie auf den ge
samten Bereich der Natur auszudehnen. Daß ihr Grenzen gezogen waren, mußte er selbst bald er
kennen. Was sich im naturwissenschaftlichen B e
reich als prekär erwies, erschien vollkommen unzu
länglich im historischen. Hier setzte Vico mit seiner Kritik an. Einem Denken, das ausschließlich deduk
tiv von ersten, intuitiv erschauten Prinzipien ausge
he, müsse jedes Verständnis der von den Menschen gemachten historischen Welt versperrt bleiben,
»weil es alles Veränderliche, Willkürliche nicht zu erfassen vermag. So kommt Vico zu dem Schluß, daß die ersten Regeln der cartesianischen Methode das Wesen der Geschichte völlig außer acht lassen«
(Grassi 1976: 493). Wolle man der Geschichte ge
recht werden, müsse man sich einer anderen Metho
de befleißigen. Im Rückgriff auf Gedankengut aus der Antike erkannte Vico diese Methode in einer besonderen Art von Induktion, die eine Ingenium genannte Fähigkeit zur Voraussetzung hat.
Wie seine Frühschriften belegen, verstand Vico unter Ingenium das Vermögen, Verbindungen her
zustellen, Dinge aufeinander zu beziehen, die für den gewöhnlichen Menschen nichts miteinander zu tun haben. Das Ingenium ermögliche es, Ge
trenntes zu vereinen, Verschiedenes miteinander zu verbinden: »Ingenium facultas est in unum dissi- ta, diversa conjungendi« (Vico 1852: 99). Bei die
sem Vorgang des Zusammenfassens soll sich das Ingenium auf einen ganz bestimmten Aspekt der verschiedenen Dinge konzentrieren. Vico war nämlich ausschließlich an einer »collatio simili- um», einer Zusammensetzung des Ähnlichen in
teressiert; aus diesem Grunde spezifizierte er das Ingenium als Fähigkeit, wodurch der Mensch Ähnlichkeiten betrachtet und schafft: »Ea enim in- genium est, quo homo est capax contemplandi ac faciendi similia« (Vico 1852: 103). Die Methode, die sich auf das Ingenium stützt, nannte Vico denn auch »inductione similium» (Vico 1852: 103; vgl.
Grassi 1968: 506f; 1976: 496ff, 507ff).
Vico bediente sich der Induktion des Ähnlichen bei der Abfassung seines Hauptwerkes, dessen er
ste Auflage 1725 erschien und bezeichnenderweise den Titel Principi di una scienza nuova d ’intorno alia communa natura delle nazioni trägt: »Obgleich er gelegentlich übertreibt, bleibt es beachtlich, wieviele gemeinsame Strukturen er an prima facie gänzlich verschiedenen Kulturen aufgewiesen hat«
(Hösle 1990: CLX). Damit gab sich Vico jedoch keineswegs zufrieden. Wie sich der 1744 publizier
ten dritten und vollständigen Auflage der Scienza nuova entnehmen läßt, war er sein Leben lang der Überzeugung, daß »gleichförmige Ideen, die bei Völkern entstehen, die miteinander nicht bekannt sind, ein gemeinsames wahres Prinzip haben müs
sen« (Vico 1990: 143). Sein Ziel war es herauszu
finden, »in welchen Dingen alle Menschen von Ewigkeit her übereingekommen sind und immer noch Übereinkommen; denn diese Dinge werden uns die allgemeinen und ewigen Prinzipien geben können, wie sie zu jeder Wissenschaft erforderlich sind und auf deren Grundlage alle Völker entstan
den sind und sich als solche erhalten« (Vico 1990:
143).
Hier sieht man freilich, daß Vico dem Denken Descartes’ näherstand, als er sich eingestehen wollte: »Vicos vielberedeter Antikartesianismus ist dadurch gekennzeichnet, daß er in seinen An
sätzen von den Grundentscheidungen des karte- sianischen Rationalismus abhängig bleibt, den er zu überwinden und zu überbieten trachtete« (Fell
mann 1981:10). Zwar ging Vico insofern über D es
cartes hinaus, als er die sinnliche Anschauung und die Beschäftigung mit der von den Menschen ge
machten geschichtlichen Welt rehabilitierte. Seine Induktion des Ähnlichen stellt jedoch eine bloße Inversion der deduktiven Methode des Rationalis
mus dar. Auch Vico war an absoluten Prinzipien interessiert. Indem er sich auf die Suche nach dem
»einen gemeinsamen wahren Hintergrund« mach
te, von dem ausgehend sich die geschichtliche Welt in ihrer Vielfalt entwickelt, verschaffte er in sei
nem Werk dem stammbaumartigen Modell des Denkens neuerlichen Ausdruck (Vico 1990: 93).
IV.
Mit diesem Ansatz stand Vico nicht allein. Ernesto Grassi zeigt, daß die auf dem Geniebegriff basie
rende Induktion des Ähnlichen im 18. Jahrhundert verbreitet war. Man findet sie beispielsweise auch bei Ludovico Antonio Muratori, der das »Ingeg- no« ganz im Sinne Vicos als »jene Fähigkeit und aktivite Kraft« bestimmte, »durch die der Intellekt sammelt und einigt und die Ähnlichkeit, die Bezie-
Gerhard Wagner: Transversale Vernunft und der soziologische Blick 319 hung und den Grund der Dinge aufweist« (Mura-
tori zitiert nach Grassi 1976: 498). Man kann Ni
klas Luhmann also darin zustimmen, daß der Be
griff des Ingeniums im 18. Jahrhundert »die Fähig
keit zu vergleichen bezeichnete« (Luhmann 1987:
25). Daß es beim Vergleich stets darum geht, »das Gemeinsame in sehr verschiedenen Dingen zu se
hen«, ist allerdings eine Behauptung, die schon für dieses Jahrhundert nicht mehr zutrifft (Luhmann 1987: 25). Mit Montesquieu haben wir einen Den
ker vor uns, dem es nicht nur auf das Gemeinsame, sondern auch und gerade auf das Verschiedene an
kam.
Ob Montesquieu das Werk Vicos zur Kenntnis nahm, kann nicht nachgewiesen werden (Shackle- ton 1961:114ff; Hösle 1990: CCLXVIII). Muratori indes war ihm sogar persönlich bekannt. Er traf ihn auf einer Italienreise und rezipierte dessen Ausführungen zum Feudalismus (Shackleton 1961: 107; Montesquieu 1992 II: 286). Trotz dieser Anleihen unterschied sich die Weitsicht Montes
quieus jedoch grundlegend von der Muratoris. Wie Kurt Weigand betont, läßt sich die besondere
»Blickrichtung Montesquieus ... schon in seinen frühen Arbeiten fassen« (Weigand 1994: 39). Hier muß insbesondere der 1717 gehaltene Vortrag „De la difference des genies“ erwähnt werden, dessen Manuskript leider verschollen ist. Doch gibt es Re
konstruktionen, die nahelegen, daß Montesquieus Aufmerksamkeit »auf den Unterschieden, nicht - wie die seiner Zeitgenossen - auf einer General
formel« ruhte (Weigand 1994: 39). Daß sich für Montesquieu das Ingenium nicht im Vergleich von Ähnlichkeiten erschöpfte, wird durch die Lektüre einer anderen Frühschrift bestätigt. Die Rede ist von den Lettres persanes.
Montesquieu begann die Arbeit an diesem Text im selben Jahr, in dem er den Vortrag „De la differen
ce des genies“ hielt. Tatsächlich kann man die Let
tres persanes als eine Umsetzung seines in diesem Vortrag vorangebrachten Ingenium-Konzeptes in
terpretieren. Das 1721 ohne Angabe des Verfas
sers publizierte Werk birgt eine beispielhaft an
hand einer Zusammenschau von Orient und Okzi
dent entwickelte Art des Vergleichens, bei der nicht nur die Unterschiede dieser Gesellschaften ins Zentrum der Betrachtung gerückt werden, son
dern auch klargestellt wird, daß es einen beide Ge
sellschaften übergreifenden gemeinsamen Kon
text nicht gibt. Orient und Okzident werden als Ordnungskonfigurationen von je eigener Rationa
lität thematisiert, die sich weder aufeinander noch auf einen einheitlichen Ursprung reduzieren las
sen. Doch damit ist das Besondere der Lettres per
sanes noch nicht vollständig benannt. Christoph Miething zufolge läßt sich der in diesem Werk praktizierte Vergleich dadurch charakterisieren,
»daß der konkrete Ort der Erkenntnis in keiner der geschilderten Welten lokalisiert werden kann«
(Miething 1986: 70).
In der Sekundärliteratur ist wiederholt darauf hin
gewiesen worden, daß es Montesquieu um eine
»reziproke, eine Über-Kreuz-EntWicklung« gehe (Stackeiberg 1988: 326), die in einer »wechselseiti
gen Relativierung von Ost und West« zum Aus
druck komme (Schunck 1991: 364). Wenn das zu
trifft, ist es dann aber nicht gerechtfertigt, Montes
quieus Verständnis von Ingenium im Sinne jenes Vermögens zu begreifen, das Welsch transversale Vernunft nennt? Dieses Vermögen ist Welsch zu
folge ja »auf heterogene Komplexe in all ihrer Al- terität bezogen und vermag diese Komplexe, zwi
schen ihnen übergehend, in ihrem Verhältnis zu bestimmen, ohne daß die Heterogenität dabei ver
wischt oder vermengt, verzeichnet oder auch nur zusammengezwungen würde. Übergehend stellt dieses Vermögen vielmehr erst die rechte Relation dieser Komplexe - die Relation ihres Zusammen
hangs und ihrer Gegenwendigkeiten - her«
(Welsch 1995: 752). Die Lettres persanes dienen letztlich nichts anderem, als einem solchen Vermö
gen Ausdruck zu verschaffen.
Sicher ist die hier vorgeschlagene Lesart der Let
tres persanes nicht ohne weiteres nachvollziehbar, steht sie doch einer anderen Interpretationshal
tung gegenüber, der zufolge es sich bei diesem Werk um eine vom Geist der Frühaufklärung in
spirierte, mit allerlei Exotik ausgeschmückte Sati
re auf das zeitgenössische Frankreich handele. Der Vergleich zwischen Orient und Okzident, so wird behauptet, diene der Erzeugung eines Verfrem
dungseffektes zum Zwecke der Kritik. Dem Ori
ent komme »kein Eigenwert« zu; er fungiere »als Hintergrund und Gegensatz« (Bremer 1971: 36).
Es ist keine Übertreibung, diese Interpretations
haltung, bei der die Lettres persanes einer zeitge
nössischen, seit Moliere und Racine gepflegten pseudo-orientalischen Sparte der belles lettres zu
geordnet werden, als herrschende Meinung zu be
zeichnen. Diese Meinung erheischt insofern Evi
denz, als sie sich auf die Rezeption stützen kann, die diesem Werk zu Lebzeiten Montesquieus zu
teil wurde.
Das »mondäne Dilettantenpublikum« der Pariser Salons war an Unterhaltung und weniger an wis
senschaftlichen Zusammenhängen interessiert (Hausmann 1976: 433). Montesquieu hatte dessen
320 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 25, Heft 4, August 1996, S. 315-329 Geschmack zweifelsohne antizipiert. Gleichwohl
wird man den Lettres persanes nicht gerecht, wenn man sie auf den Status einer Satire reduziert. Die vorherrschende Interpretationshaltung, in diesem Werk »no more than a piece of frivolity and a pro
tracted joke« zu sehen, greift bei weitem zu kurz (Stark 1960: 7). Insgesamt ist für das 18. Jahrhun
dert eine »harmonische Vereinigung« der belles lettres und der sciences kennzeichnend; eine derar
tige »Synthese von Literatur und Wissenschaft«
findet man auch in den Lettres persanes (Haus
mann 1976: 434). Montesquieu maß der literari
schen Komponente allerdings eine gewichtigere Funktion zu, als bloßes Mittel zur Tarnung vor der Zensur zu sein. Er kreierte eine besondere literari
sche Form, die es ihm erlaubte, seine Weitsicht an
gemessen zu illustrieren. Insofern bediente er sich der Literatur als Erkenntnisinstrument.
V.
Daß die Form gegen den Inhalt nicht gleichgültig sei, daß man vielmehr von der Art der Darstellung Rückschlüsse auf die Art des Denkens ziehen kön
ne, ist eine Einsicht, hinsichtlich der Konsens be
steht selbst zwischen den Vertretern des Stamm
baum-Modells und denen des Rhizom-Modells. So streben die Anhänger des Stammbaum-Modells danach, ihre Theorien in Form monographisch konzipierter Bücher zu publizieren. Ihr Ziel ist das System, verstanden als Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee, wobei die Darstel
lung der logischen Entfaltung dieser Idee zu die
nen hat. Als Beispiel hierfür kann Descartes ange
führt werden, für den selbst noch die wissenschaft
lichen Disziplinen »einem Baume vergleichbar«
geordnet waren (Descartes 1955: XLII). Aber auch Vicos Scienza nuova charakterisiert eine stammbaumartige Struktur. Man findet den
»Stoff« strikt chronologisch »zubereitet« (Vico 1990: 41) und das gesamte Buch »gemäß der Idee vom Baum der Wissenschaften« gegliedert (Hösle 1990: XCIV).
Demgegenüber veröffentlichen die Vertreter des Rhizom-Modells ihre Theorien zunächst in Form kleinerer Texte, die verschiedenen literarischen Gattungen angehören und den unterschiedlichsten Themen gewidmet sein können, um sie dann, eventuell modifiziert, in Sammelwerken miteinan
der in Verbindung zu bringen. In ihren Augen sind Bücher Dokumente der Vielfalt, deren Einheit keineswegs in einer systematisch zu entfaltenden Idee gründet, sondern konstituiert wird durch die
Verbindungen, die zwischen den mannigfaltigen Erkenntnissen selbst bestehen. Ein Beispiel hier
für liefern Deleuze und Guattari mit ihrem Buch Tausend Plateaus, als dessen Einleitung der zuvor selbständig publizierte Text „Rhizom“ fungiert (Deleuze & Guattari 1992). Was sich bei ober
flächlicher Betrachtung als Ausgeburt pseudo
postmoderner Unübersichtlichkeit ausnimmt, stellt einen epistemologisch motivierten Versuch dar, eine Form der Darstellung auszuweisen, die dem Denken von Heterogenität und Konnexion, von Differenz und Übergang adäquat ist.
So frappierend es klingt, die Lettres persanes las
sen sich als Prototyp der rhizomatischen Darstel
lungsform begreifen. Montesquieu gilt als Erfinder des Briefromans (Hausmann 1976: 432; Schunck 1991: 359). Die dem Briefroman eigene Struktur weist nun aber dieselben Merkmale auf, die für ein Rhizom kennzeichnend sind. Im Unterschied zur stammbaumartigen Struktur des auf einer Idee ba
sierenden, sich durch eine »logisch entwickelte, gradlinige Handlung« auszeichnenden herkömmli
chen Romans ist der Briefroman durch »Diskonti
nuität« charakterisiert (Bremer 1971: 23). Wie Eduard Spranger bemerkt, wird diese literarische Form durch »eine diskontinuierliche Reihe von Äußerungseinheiten« konstituiert (Spranger 1930:
76). Emil Staiger spricht in diesem Zusammen
hang von einer »Bewegung von Gipfel zu Gipfel«
(Staiger 1952: 150). Die Äußerungen eines Korre
spondierenden werden jeweils »durch diejenigen anderer Personen ergänzt. Erst alle Briefe zusam
men konstituieren mit der schrittweisen Abfolge ihrer jeweiligen Verlaufsstrecke die gesamte Er
zählstrecke des Romans« (Bremer 1971: 23).
Der Briefroman stellt ein dichtes, sich in Progressi
on befindliches Gespinst von Äußerungseinheiten dar, die insofern aufeinander verweisen, als sie he
terogen sind. Die Einheit des Werkes liegt nicht in einer vorgegebenen idee fondamentale, sondern bildet sich sukzessive heraus durch Konnexion ein
ander entsprechender brieflicher Äußerungen.
Daß ein solches Konstrukt kaum mehr mit einem Baum, geschweige denn mit einem Stammbaum verglichen werden kann, bringt Roger Caillois recht plastisch zum Ausdruck: »Quand on veut donner Pidee d’une telle oeuvre, ce sont les meta- phores empruntees au regne vegetal qui viennent les premieres tenter Pesprit. On imagine, on recon- nait, des racines qui plongent en des terrains cu- rieusement disparates, et qui nourrissent ä la fin un tronc unique oü prennent naissance quelques branches maitresses et une multitude de ramilles minuscules. L’ensemble forme Parbre le plus con-
Gerhard Wagner: Transversale Vernunft und der soziologische Blick 321 fus, le plus mal equilibre du monde, un arbre pres-
que monstrueux, ä l’aspect deconcertant et qui ne se ressemble pas toujours« (Caillois 1949: 181).
Von den Interpreten der Lettres persanes ist denn auch immer wieder »Systemlosigkeit« (Bremer 1971: 24) sowie das »Fehlen von Logik und Konti
nuität« (Desgraves 1992: 102) angemerkt worden.
So lesen wir etwa bei Jean Ehrard: »II est sans dou- te vain de chercher dans les Lettres un ordre logi- que qui s’apparenterait au plan dont l’auteur est le premier ä nier l’existence ... II est plus interessant de decouvrir, au dela du desordre apparent, tout un reseau d’analogies, de correspondances, d’e- chos et d’oppositions« (Ehrard 1974: 146). Mon
tesquieu war nun fürwahr gerade an dieser Planlo
sigkeit gelegen: »Letztlich sind in gewöhnlichen Romanen nur dann Abschweifungen möglich, wenn sie selbst wieder einen Roman bilden. Ge
danken und Überlegungen haben keinen Platz im gewöhnlichen Roman; dies würde dem Plan und der Art des Werkes zuwiderlaufen, da die Perso
nen nicht dafür gemacht sind, Überlegungen anzu
stellen. Dagegen handelt es sich im Briefroman nicht um frei gewählte Personen, und die Gegen
stände folgen keinem vorgefertigten Plan; der Ver
fasser hat daher die Freiheit, philosophische, poli
tische und moralische Gedanken in einen Roman einzufügen« (Montesquieu 1991a: 5).
Mit dem Briefroman schneiderte sich Montes
quieu eine literarische Form, die ihm ein Höchst
maß an gedanklicher Freiheit ermöglichte. Diese Form erlaubte es nicht nur, Exkurse in verschiede
ne wissenschaftliche Disziplinen zu unternehmen, deren Erkenntnisse aufeinander zu beziehen und miteinander zu verflechten, ohne sich an einer baumartigen Ordnung orientieren zu müssen. D ie
se Form gestattete es ihm vielmehr auch, das Stammbaum-Modell des Denkens überhaupt zu überwinden, um ein an Differenzen und Übergän
gen orientiertes Denken auszubilden. Denn an
ders als für Vico und Muratori konnte wirkliche Einsicht in die von den Menschen gemachte ge
schichtliche Welt für Montesquieu nur darin beste
hen, »die Verschiedenartigkeit der verschiedenen gesellschaftlichen Ordnungsmöglichkeiten zu be
greifen« (Jonas 1968: 23). Ihm kam es darauf an,
»die Nuancen der Dinge zu kennen, Urteilskraft hinsichtlich der Unterschiede zu haben«; wer über sie verfüge, brauche »nicht ständig die Robe der Gelehrsamkeit anzuziehen, wie es diejenigen tun, die tödlich langweilige Bücher schreiben, deren Voraussetzungen falsch sind« (Jonas 1968: 29).
VI.
Ein langweiliges Buch sind die Lettres persanes beileibe nicht. Der Leser wird ohne Zweifel gut unterhalten. Das Besondere an diesem Buch ist je
doch die Tatsache, daß seine Voraussetzungen stimmen. Europa war seit längerem schon aus den Fugen geraten. Die Zeit der großen Entdeckungen lag über zweihundert Jahre zurück. Seitdem waren die Kontakte zu anderen Gesellschaften institutio
nalisiert worden. Reisende hatten eine wahre Flut an Berichten publiziert, aus denen sich die Men
schen in Europa über die fremden Länder infor
mieren konnten. Die Konsequenzen, die mit die
ser Erweiterung des geographischen Horizonts einhergingen, waren gewaltig: »Das Neueste aber, was die Ferne lehrte, war wohl die Relativität. Der Gesichtswinkel veränderte sich. Begriffe, die bis
her transzendent erschienen waren, hingen nur noch von der Verschiedenheit des Ortes ab; auf die Vernunft begründete Praktiken erschienen nur mehr Angewohnheiten; umgekehrt erschienen ex
travagant anmutende Gebräuche logisch, wenn man sie erst einmal nach Herkunft und Umwelt er
klärt hatte« (Hazard o.J.: 38).
Diese Erfahrung von Relativität erschütterte Eu
ropa nachhaltig. Die Einsicht, daß andere Gesell
schaften nach Prinzipien geordnet waren, die sich zwar einerseits radikal von den im Okzident als ra
tional geltenden unterschieden, denen man jedoch andererseits eine gewisse Rationalität nicht ab
sprechen konnte, stürzte das europäische Denken in eine Krise. In der Folge wurde es immer schwie
riger, nach dem Muster der in der Antike und im Mittelalter gebräuchlichen Randvölkerreflexion zu verfahren, der gemäß andere Gesellschaften als barbarisch und heidnisch bezeichnet worden wa
ren, um sie entweder auszugrenzen oder zu er
obern und anschließend zu missionieren (Kosel- leck 1975). Weder ließen sich die vielen unter
schiedlichen Formen von Rationalität auf die eu
ropäische reduzieren, noch konnte man einen plausiblen, alle Formen übergreifenden Kontext ausmachen. Um die Wende zum 18. Jahrhundert trat zutage, daß es nicht länger möglich war, das Neue, das die Kenntnis der fremden Länder mit sich brachte, »in den alten Rahmen einzuordnen«
(Hazard o.J.: 49). Faktisch war damit dem Stamm
baum-Modell des Denkens der Boden entzogen.
Mithin ist es kein Zufall, daß in der Scienza nuova
»von der Gegenwart kaum die Rede« ist (Hösle 1990: CCLVIIIf). Vico beschränkte seine Studie auf die Welt der Antike und des Mittelalters. Der
322 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 25, Heft 4, August 1996, S. 315-329
»neuen Welt« widmete er noch nicht einmal fünf Seiten (Vico 1990: 592ff). Diese zeugen indessen von seinem Unvermögen im Umgang mit der neu entdeckten Vielfalt. Zwar gestattete es ihm sein Genie durchaus, Gemeinsamkeiten mit der Ge
schichte des Okzidents ausfindig zu machen. So übe etwa der Kaiser von Japan eine Humanität
»ähnlich der römischen zu Zeiten der Punischen Kriege« aus; auch habe seine Sprache »etwas der lateinischen Ähnliches« (Vico 1990: 593). Die Un
terschiede hingegen waren Vico keiner Beachtung wert. Er bediente sich sogar der altständigen Asymmetrien, was freilich kein Wunder ist, wenn man bedenkt, daß sein Wissen über die neue Welt aus den Reiseberichten der »missionierenden Pa
tres« stammte (Vico 1990: 593). Deren Schilderun
gen waren durchtränkt von der Vorstellung okzi- dentaler Superiorität (vgl. Montgomery Watt 1991:
104).
Da schienen die von Händlern verfaßten Reisebe
richte ein höheres Maß an Objektivität zu bieten.
Nach deren Lektüre mußte selbst »dem be
schränktesten Leser aufgehen, daß es dort ...
menschliche Wesen gab, die ihm in nichts nach
standen und deren Leben sich doch aufs tiefste von dem seinen unterschied; an die Stelle des ihm so vertrauten Begriffs der Überlegenheit mußte er den der Verschiedenheit setzen« (Hazard o J.: 45).
Für Montesquieu jedenfalls stand, wie er später auch im Esprit des lois festhalten sollte, außer Fra
ge, daß es dem Handel eigen sei, »störende Vorur
teile« zu beseitigen; und so meinte er schon für sei
ne Zeit konstatieren zu dürfen: »Der Handel hat bewirkt, daß die Kenntnis der Sitten aller Völker überall hingedrungen ist; man hat sie miteinander verglichen, und daraus ist viel Gutes entstanden«
(Montesquieu 1992 II: 2). Von daher ist es ver
ständlich, daß Montesquieu die dem Orient gewid
meten Ausführungen der Lettres persanes auf die Reiseberichte von Händlern stützte. Um die orien
talische Welt angemessen schildern zu können, be
nutzte er insbesondere die Berichte von Jean Chardin und Jean-Baptiste Tavernier, denen er auch prompt im 72. Brief seine Reverenz erwies (Montesquieu 1991b: 142).
Chardin und Tavernier hatten lange Jahre im Mor
genland gelebt. Ihre Berichte enthielten reichlich Material, um sich ein Bild von der Unterschied
lichkeit der orientalischen Gesellschaft machen zu können. Tatsächlich nahm man derlei Informatio
nen im Frankreich des ausgehenden 17. und begin
nenden 18. Jahrhunderts mit Interesse auf. Die Relativitätserfahrung wurde von Montesquieus Zeitgenossen ja keineswegs nur negativ bewertet.
Sie provozierte vielmehr im gleichen Zug eine ge
wisse »Freude am Mannigfaltigen« (Meinecke 1965: 157). So entwickelte sich insbesondere die Beschäftigung mit dem Orient zu einer Mode, die ihren Niederschlag nicht nur in den Komödien und Tragödien von Moliere, Racine und anderer hom
ines des lettres fand. Auch seitens der Wissenschaft begann man sich mit dem Orient zu befassen. Die Märchen aus tausendundeiner Nacht wurden ebenso übersetzt wie der Koran. Überdies wurde eigens eine Bibliotheque orientale eingerichtet. Es ist bekannt, daß sich Montesquieu dieser Quellen bei der Produktion der Lettres persanes bediente.
Gleichwohl kommt den besagten Reiseberichten ein herausgehobener Stellenwert zu. Denn diese interessierten Montesquieu nicht allein wegen der darin versammelten Daten. In keinem geringeren Maße fesselte ihn das Reisemotiv als solches, schien doch das Reisen neben neuen Erkenntnis
sen auch eine neue Art des Erkennens zu beför
dern. Reisen bedeutete damals nicht, »blendenden Bildern nachjagen, unter den verschiedenartigen Himmeln eine Empfindsamkeit spazieren führen«;
sondern es hieß, »die Sitten, die Grundsätze, die Philosophien und Religionen vergleichen, Sinn für das Relative bekommen, hieß: die Dinge einander gegenüberstellen« (Hazard o.J.: 55). Diese neue Art des Erkennens herauszuarbeiten, war Montes
quieu angelegen. Mit dem Briefroman hatte er eine adäquate literarische Form entwickelt, um der zeitgenössischen Relativitätserfahrung Rech
nung tragen zu können. Es war also nur konse
quent, einen Großteil der Äußerungseinheiten der Lettres persanes zu einem Reisebericht zu vernet
zen.
VII.
Neben der Diskontinuität ist die Multiperspektivi- tät ein wesentliches Charakteristikum, durch das sich der Briefroman vom herkömmlichen Roman unterscheidet. Um mit Jean Rousset zu sprechen:
»La multiplication des correspondants a pour re- sultat de modifier profondement l’univers roma- nesque; il se presente comme un reseau de rela
tions complexes ... Le monde est un tissu de rela
tions qui se diversifient et s’entremelent; c’est ce que le lecteur comprend au seul jeu de ces lettres innombrables qui, sous ses yeux, s’echangent et s’entrecroisent, qui partent et arrivent en des po
ints sans cesse differents. Derriere ces lettres, il y a tous ces personnages divers, qui non seulement ont chacun leur caractere et leur style, mais encore
Gerhard Wagner: Transversale Vernunft und der soziologische Blick 323
leur maniere de comprendre et de s’expliquer leur situation; l’optique de chacun varie constamment, d’abord selon ce caractere, ensuite selon la place qu’il occupe dans le groupe et selon le moment oü il ecrit. La multiplication des personnages entraine la multiplicite des points de vue et des eclairages;
cette diversite d’optiques est une marque essenti
elle des romans de ce type« (Rousset 1962: 1019).
In den Lettres persanes kommen die verschieden
sten Standpunkte zu Wort. Natürlich sind die Äu
ßerungen nicht alle von derselben Relevanz. Und für sich allein genommen sind sie auch nicht son
derlich aufschlußreich. Zusammen eröffnen sie je
doch die Chance, so unterschiedliche Gesellschaf
ten, wie sie Okzident und Orient darstellen, in ei
ner Weise zu vergleichen, die beiden gerecht wird.
Wie hat man sich das vorzustellen? Pierre Testud weist der Beantwortung dieser Frage den Weg:
»Toutes ces voix n’ont certes pas la meme impor
tance, mais toutes ont leur importance: grace ä el- les, le roman s’ouvre de la fagon la plus naturelle ä la diversite des points de vue. Cette faculte etait es
sentielle. Quand il s’agit en effet de confronter dif- ferents types de societe, il est precieux de pouvoir rassembler plusieurs temoignages, de les faire confluer vers un personnage central« (Testud 1966:
644). Tatsächlich gibt es in den Lettres persanes eine Person, die sich um eine vergleichende Zu
sammenschau der vielen verschiedenen Stand
punkte bemüht.
Die Rede ist von einem Perser namens Usbek: »A defaut de la vision englobante de „Dieu-le-Pere“, il essayera de trouver, par le seul dynamisme de ses facultes intellectuelles, une Synthese, ou plutöt une approximation unificatrice de tous les points de vue recueillis« (Ouellet 1968: 250). Gemeinsam mit seinem Freund Rica verläßt Usbek 1711 seine Heimatstadt Isfahan. Sie bereisen Europa, gelan
gen nach Paris und erstatten ihren im Orient ver
bliebenen Bekannten in brieflicher Form Bericht.
Beide reisen »aus Wissensdurst«; sie wollen nicht nur die zwischen dem Orient und dem Okzident bestehenden Unterschiede kennenlernen, sondern hoffen auf »Weisheit« überhaupt: »Wir sind in ei
nem blühenden Reich geboren, aber wir waren nicht der Meinung, daß dessen Grenzen auch die unserer Kenntnisse seien und daß nur das Licht des Orients uns erleuchten dürfe« (Montesquieu 1991b: 13). Damit ist zum einen, der Situation der Zeit entsprechend, vorausgesetzt, daß es mehrere Formen von Rationalität gibt. Zum anderen wird aber auch die Möglichkeit des Übergangs zwi
schen diesen offensichtlich als gleichwertig erach
teten Rationalitätsformen in Aussicht gestellt.
Sicher, die Perser können anfangs nicht umhin, ihre neue Umgebung mit fröhlichem Spott zu überziehen. Mit zunehmender Dauer ihrer Reise beginnt jedoch Usbek, okzidentale Denkweisen anzunehmen, anhand derer er die Verhältnisse im Orient beleuchtet. Er löst sich mehr und mehr von der orientalischen Form von Rationalität, ohne da
bei allerdings zur okzidentalen zu konvertieren. In seinen Briefen werden Okzident und Orient viel
mehr in zunehmendem Maße wechselseitig anein
ander relativiert. Man sah sich deswegen zu der Bemerkung veranlaßt, Usbek gehöre im Grunde
»nirgendwo mehr hin«; er sei gewissermaßen »im Nirgendwo beheimatet« (Miething 1986: 77f).
Oder, weniger drastisch formuliert, Usbek habe
»sich „zwischen die Stühle“ gesetzt«; so sei er letzt
lich »heimatlos geworden« (Stackeiberg 1988:
334). Hierbei handelt es sich um Versuche, doch noch einen Ort der Erkenntnis zu bestimmen, von dem aus Usbek die beiden Gesellschaften einem Vergleich unterzogen haben soll. In Wahrheit gibt es keinen solchen „Ort“. Das Reisemotiv und die Flexibilität des Usbekschen Intellekts machen deutlich, daß sich Erkenntnis in Bewegung, losge
löst von jedem gegebenen Raumpunkt, vollzieht.
Insofern empfiehlt es sich, statt eines Ortes einen sozialen Typus zu bestimmen. Was Usbek beiden Gesellschaften gegenüber einnimmt, könnte man bezeichnen als »the very position of the outsider, who ... participates in both systems and at the same time remains aloof from both« (Gearhart 1977: 730). Treffender ist jedoch der Typ des cos
mopolite, der seit der Encyclopedie definiert wird als »un komme qui n ’a point de demeure fixe, ou bien un komme qui n ’est etranger nulle part« (An
onymus 1754: 297). Zwischen Orient und Okzident übergehend, lernt Usbek nicht nur Standpunkte unterschiedlichster Provenienz kennen, die er auf
einander beziehen und gegeneinander abwägen kann, sondern er stellt nach Möglichkeit auch Ver
bindungen zwischen diesen Standpunkten her. So zeichnet sich seine eigene Geisteshaltung immer mehr durch eine Integration heterogener Weltan
schauungen aus: »les sources sont multiples, voire heteroclites. L’on ne saurait parier d’une influence dominante dans le discours d’Usbek. Ce sont des moments juxtaposes et relevant de systemes diffe- rents« (Hoffmann 1992: 799).
Paul Verniere ist daher zuzustimmen, wenn er über die in den Lettres persanes angelegten Bezie
hungen zwischen themes orientaux und themes oc- cidentaux schreibt: »deux pöles, Paris et Ispahan,
324 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 25, Heft 4, August 1996, S. 315-329 deux mondes, l’Orient et l’Occident, artificielle-
ment lies, par l’inquiete personnalite d’Usbek, de- vaient s’affronter dans le recueil« (Verniere 1960:
XIV). Mit der Romanfigur des Usbek führt Mon
tesquieu tatsächlich vor, welche Bedeutungen er mit dem Begriff des Ingeniums verbunden wissen wollte. Es sind dieselben Konnotationen, mit de
nen Welsch sein Konzept der transversalen Ver
nunft ausstattet. Ebenso wie Welsch geht es Mon
tesquieu um Heterogenität und Konnexion, um Differenz und Übergang. Und ebenso wie für Welsch der Begriff der transversalen Vernunft ist für Montesquieu der des Genies ein »Bewegungs
begriff« (Welsch 1995: 764). Beidesmal ist ein Ver
mögen gemeint, kraft dessen sich durch Übergän
ge nicht nur die Gemeinsamkeiten im Verschiede
nen, sondern auch und gerade die Unterschiede er
fassen und, wo möglich, miteinander verbinden lassen.
VIII.
Mit Deleuze und Guattari bezeichnet Welsch die
ses dem Bild des Rhizoms abgeschaute Denken der Übergängigkeit als »Nomadologie« (Deleuze
& Guattari 1977: 37; Welsch 1995: 366). Verständ
lich also, daß er in Homers Odysseus »die Inkarna
tion transversaler Vernunft« erkennt (Welsch 1995: 344). Die Vernunft des Odysseus bestehe darin, »mit divergierenden Ansprüchen und Zie
len so umzugehen, daß sie im Maß des Möglichen vereinbar bleiben«; diese Vernunft unterwirft sich nicht »den Forderungen des Ausschließlichkeits
denkens«, sondern stellt sich vielmehr »der Unter
schiedlichkeit der Ansprüche und ist vernünftig gerade insofern, als sie eine überlegene Strategie entwickelt, die angesichts der Unterschiedlichkeit objektiver Ansprüche gleichwohl eine verbinden
de, nicht beschneidende Form des Umgangs mit dem scheinbar sich Ausschließenden findet«
(Welsch 1995: 92). Wie wir gesehen haben, ist ebenso wie die Reise des Odysseus die des Usbek eine einzige Erfahrung des Weltenübergangs.
Es ist kein Zufall, daß sich Montesquieu intensiv mit dem Werk Homers befaßte. Anlaß hierfür bot ihm der 1714 erneut aufflackernde, als Querelle d ’Homere bekannt gewordene sogenannte Streit der Alten und der Modernen (Hazard o.J.: 386ff;
Mass 1994:361ff). Im 36. Brief der Lettres persanes parodierte Montesquieu diese Debatte (Montes
quieu 1991b: 71f). Für ihn selbst stand die Qualität der Epen Homers jedoch außer Frage: »Die Mü
hen der Fahrt des Odysseus boten dem schönsten
Gedicht der Welt, nächst dem ersten von allen, ei
nen dankbaren Stoff« (Montesquieu 1992 II: 30).
Dabei dürfte ihn nicht allein das Reisemotiv faszi
niert haben, sondern auch die Tatsache, »daß Ho
mer die weit entfernt lebenden und in diesem Sin
ne „fremden“ Völker fast durchweg ohne Vorur
teile und Herabsetzung beschreibt« (Detel 1995:
1021). Das Wort Barbar kommt bei Homer kein einziges Mal vor. Die Asymmetrien, auf deren Grundlage der abendländische Rassismus ent
stand, wurden erst später entwickelt.
Beenden wir hiermit die Rekonstruktion der zwi
schen den Theorien von Welsch und Montesquieu bestehenden Gemeinsamkeiten und wenden wir uns nun der entscheidenden Differenz zu. Diese wird durch die Unterscheidung von Philosophie und Soziologie markiert. Welsch beschränkt seine Studie auf den philosophischen Diskurs. Von der Ästhetik einmal abgesehen, finden in seinem Werk andere wissenschaftliche Disziplinen kaum Gehör.
Als Rationalitäten, anhand derer die Übergänge der Vernunft illustriert werden, dienen nahezu ausschließlich Paradigmen theoretischer oder künstlerischer Provenienz. Dieses Verfahren ist ohne Zweifel fruchtbar, es hat aber auch seine Schattenseiten. Indem er sich Transdisziplinarität versagt, unterläuft Welsch nicht nur das Konzept der Transversalität: »Was auf die Rationalitäten zutrifft, gilt auch für die wissenschaftlichen Diszi
plinen. Auch sie sind in Wahrheit nicht geschlos
sen, sondern in sich durch Verflechtungen be
stimmt und von Übergängen durchzogen« (Welsch 1995: 946).
Ohne es zu wollen, zementiert er vielmehr auch jene
»Kultur professioneller Abschließung«, die sich die Philosophie aus Furcht vor Enteignung ihrer Ge
genstandsbereiche durch andere wissenschaftliche Disziplinen geschaffen hat (Kilminster 1990: 437).
Tatsächlich entgeht ihm zum einen, daß Transversa
lität schon vor geraumer Zeit auf einer wesentlich anschaulicheren Ebene, nämlich in Auseinander
setzung mit dem Sozialen, thematisiert wurde. Wie die Lektüre der Lettres persanes zeigt, provozierte nicht die Vielfalt an Philosophemen, sondern die an Gesellschaften das Denken der Übergängigkeit.
Zum anderen bemerkt Welsch nicht, daß dieses Denken eine Konstante in der Geschichte der So
ziologie ausmacht. Sicher wird man vergeblich nach Soziologen suchen, die auf die Lettres persanes re
kurrieren. Indes ist dies nicht das einzige Werk Mon
tesquieus. Als dessen Hauptwerk gilt das 1748 in zwei Bänden publizierte Buch De Vesprit des lois.
Diesem Werk kommt nun aber ein Vorbildcharak
ter für spätere Soziologen zu.
Gerhard Wagner: Transversale Vernunft und der soziologische Blick 325
Montesquieus Hauptwerk scheint mit den Lettres persanes nicht viel gemein zu haben. Obwohl der Autor nach wie vor einen guten Stil pflegt, hat er die Synthese von Literatur und Wissenschaft ganz offensichtlich preisgegeben. Das Buch gemahnt sogar an das kartesianische Wissenschaftsideal. Es ist in einunddreißig Bücher gegliedert, die ihrer
seits eine klare Einteilung in Kapitel aufweisen.
Kein Wunder also, daß sich die Interpreten auf die Suche machten nach einer »idee fondamentale qui anime toute l’oeuvre« (Dedieu 1913: 85). Zwar wurde die Frage aufgeworfen, ob die Darstellungs
form des Esprit des lois der Forschungsweise des Autors überhaupt entspreche: »dans quelle mesu- re sa methode d’invention co'mcide-t-elle avec sa methode d’exposition?« (Lanson 1916: 177). Und zweihundert Jahre nach dem Erscheinen des Wer
kes setzte sich die Annahme durch, »que le plan de VEsprit des lois ne revelait guere les vrais rapports entre les idees« (Beyer 1948: 102).
Daß es sich bei diesem Buch um ein Werk handeln könnte, das mit kartesianischer Wissenschaftlich
keit gar nichts zu tun hat, war jedoch ein Gedanke, der sich den Interpreten erst nach und nach auf
drängte. Hatte bereits Friedrich Meinecke hinge
wiesen auf die Forschungsweise Montesquieus, unablässig zu sammeln und alles Gesehene, Erleb
te und Gelesene im Geiste miteinander zu kombi
nieren (Meinecke 1965: 118), so ermöglichten werkgeschichtliche Analysen eine neue Einschät
zung der Komposition des Esprit des lois. Auf ih
rer Grundlage formulierte Weigand: »Eine Reihe selbständiger Bücher wurde zu einem zweibändi
gen Buch zusammengestellt« (Weigand 1992: 10).
Und Simone Goyard-Fabre präzisierte: »Les diffe
rentes parties de VEsprit des lois ... sont juxtapo- sees les unes aux autres plutöt qu’integrees dans un plan rationnel et solide« (Goyard-Fabre 1971:
303).
IX.
Bemerkenswert ist, daß Weigand und Goyard-Fa
bre die naheliegende Schlußfolgerung vermieden, bei Montesquieus Hauptwerk handele es sich aller Gliederung zum Trotze um einen Ausbund an Un
ordnung. Dabei vertrat insbesondere Goyard-Fa
bre die Ansicht, die Komposition des Esprit des lois sei Ausdruck einer von Montesquieu in Abhe
bung von den zeitgenössischen theologischen und metaphysischen Systemen entwickelten Den
kungsart, die eine neue Weitsicht ermögliche: »Le monde humain lui apparait si riche et si complexe
qu’il doit etre impossible d’en rendre compte par les voies rigoureuses et simples de la deduction.
L’energie de sa pensee ... procede done toujours de la multiplicity des lois phänomenales ä l’unite de leur concept, et non, comme le faisait la philo
sophic dogmatique, de l’unite de l’essence ä la plu
rality des existences; ce faisant, eile permet une nouvelle vision du monde humain« (Goyard-Fabre 1971: 298). Leider ist es der Interpretin nicht ge
lungen, diese Weitsicht zu explizieren. Das trifft, soweit ich sehen kann, auch auf die anderen Ex- egeten zu.
Die besagte Energie des Denkens ist uns aber schon in der Romanfigur des Usbek begegnet.
Montesquieu hatte diese Figur ja eigens kreiert, um einen der Situation der Zeit gemäßen Umgang mit Vielfalt zu illustrieren. Man hat wiederholt be
merkt, daß er Usbek zum »Träger seiner Gedan
ken und Gefühle« machte (Bremer 1071: 91; vgl.
Schunck 1991: 361). Und so findet sich das, was Montesquieu in den Lettres persanes in Gestalt des Usbek beförderte, nämlich ein Denken der Über
gängigkeit, auch im Esprit des lois. Montesquieus Hauptwerk ist die konsequente Fortsetzung seines Briefromans. Das gilt sowohl für die Form als auch für den Inhalt. Zwar wird die Einheit des Esprit des lois nicht mehr durch briefliche Äußerungsein
heiten konstituiert, sondern durch Texteinheiten, die der wissenschaftlichen Analyse gewidmet sind.
Doch behält Montesquieu die einem Rhizom ver
gleichbare diskontinuierliche Verweisungsstruktur bei. Dieser formalen Affinität korresponiert eine inhaltliche: »Entre ce dernier ouvrage et la soixan- taine de lettres que Ton peut considerer comme le centre des Lettres persanes (lettres 69 ä 131), une etroite parente se manifeste jusque dans Vordre des matieres« (Roddier 1952: 444).
Offensichtlich sammelte Montesquieu nach der Publikation der Lettres persanes eine Unmenge an sich teilweise zu ganzen Büchern auswachsenden Daten, mit denen er die jeweiligen Stellen des Briefromans anreicherte. Im Zuge dieses Verfah
rens wurde die literarische Komponente durch die wissenschaftliche verdrängt. Der Verfasser, der sich gleichsam in einer Romanfigur verborgen ge
halten hatte, trat nun als solcher auch auf. Er prä
sentierte eine transdisziplinäre Studie, die der Ausarbeitung des in den Lettres persanes begonne
nen Vergleichs unterschiedlicher gesellschaftlicher Ordnungen diente. Ebenso wie in seinem Briefro
man trug Montesquieu in seinem Hauptwerk der zeitgenössischen Relativitätserfahrung Rechnung, indem er geographischen, klimatischen und mor
phologischen Faktoren Aufmerksamkeit schenk