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Hof und Hofgesellschaft in Hannover im 18. und 19. Jahrhundert

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Hof und Hofgesellschaft in Hannover im 18. und 19. Jahrhundert

VON HEIDE BARMEYER

EINLEITUNG

Hof, höfische Gesellschaft und aufgrund einer festen Rangordnung nach Etikette und Zeremoniell geregeltes höfisches Leben sind auch in ihrer Spätphase im 19. Jahrhundert nur verständlich, wenn man ihre Maßstäbe setzende idealtypische Ausprägung zur Zeit des Absolutismus und Barock kennt. Ein Blick auf die Verhältnisse um 1700 ist zur Erklärung höfischer Strukturen des 19. Jahrhunderts im Falle Hannovers von besonderer Be- deutung. Denn hier brach zu Beginn des 18. Jahrhunderts mit der Perso- nalunion zwischen Hannover und Großbritannien (1714) eine Entwick- lung ab, die sich bis dahin im Einklang mit der vergleichbarer deutscher und vieler europäischer Staaten befunden hatte. Im 18. Jahrhundert trat eine Erstarrung und Verfestigung der politischen, wirtschaftlichen und ge- sellschaftlichen Verhältnisse, eine hannoversche Sonderentwicklung, ein.

Der sich daraus für das 19. Jahrhundert ergebende Rückstand konnte trotz vielfacher Bemühungen bis zum Ende des Königreichs Hannover (1866) nicht gänzlich beseitigt werden. Versuche aus den letzten Jahrzehnten des Königreichs nach Auflösung der Personalunion (1837), an die um 1700 ste- hengebliebene Entwicklung im Bereich von Hofzeremoniell und -etikette wieder anzuknüpfen, muten vor dem Hintergrund wirtschaftlich, gesell- schaftlich und verfassungsrechtlich total veränderter Verhältnisse fast ge- spenstisch an. An dem scheinbar nur nebensächlichen Aspekt läßt sich symbolhaft aufzeigen, in welcher Diskrepanz zu den tatsächlichen Ver- hältnissen sich das Selbstverständnis der beiden letzten weifischen Herr- scher befand. Auch hier liegt eine Teilerklärung für den nicht zufälligen politischen Untergang Hannovers 1866.

Der barocke Hof des monarchischen Absolutismus, wie wir ihn als politi- sche Institution in Deutschland um 1700 in vielfältigen Ausprägungen, auch in Hannover, finden, konnte auf eine lange Entstehungsgeschichte

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und auf ältere westeuropäische Vorbilder zurückblicken. Seine idealtypi- sche Ausprägung erfuhr er in Versailles unter Ludwig XIV., und im Zei- chen der französischen Hegemonialmacht wurde das dort entwickelte Muster im übrigen Europa stilbildend. Daneben aber wirkte die spanisch- habsburgische Tradition des Wiener Hofes und übte eine „unbestrittene Ausstrahlungskraft auf die vielen kleineren und mittleren geistlichen und weltlichen Höfe im eigentlich Reich" aus1. In welcher Variante auch im- mer — der Hof als politisch-soziale Erscheinungsform ist im Absolutismus weit mehr als Wohnort des Herrschers, seiner Familie und der durch Ver- wandtschaft, sozialen Rang oder Amt ihm nahestehender und verpflichte- ter Mitglieder der höfisch-aristokratischen Gesellschaft. Der Hof bildet die Spitze der hierarchisch geordneten absolutistischen Ständegesellschaft2, ist aber dabei gleichzeitig politisches Organ des absoluten Herrschers „zur Bändigung der Aristokratie durch Rangabstufung und Zeremoniell"3, poli- tische Institution, durch die „die alte Aristokratie zum Hofadel, zur Kult- dienerschaft der göttlichen Herrschermajestät"4 diszipliniert und umfunk- tioniert wird. Dort, wo es den absolutistischen Herrschern gelungen war, die politische Entmachtung des Adels, teilweise nach erbitterten Standes- kämpfen, durchzusetzen, wurde zur Kompensation eine soziale Privilegie- rung und Refeudalisierung vorgenommen. Der entpolitisierte Adel wurde an den Hof gezogen und damit der ständigen Kontrolle des Herrschers unterworfen. Die so ganz auf den Herrscher ausgerichtete aristokratische Hofgesellschaft war das politische, wirtschaftliche und kulturelle Zen- trum des absolutistischen Staates. Trotz ihres zahlenmäßig relativ gerin- gen Umfangs — bezogen auf die Gesamtbevölkerung — ging von ihr der prägende Einfluß auf alle Bereiche von Staat und Gesellschaft aus5.

1 Peter Baumgart, Der deutsche Hof der Barockzeit als politische Institution. In:

August Buck (Hrsg.), Europäische Hofkultur im 16. und 17. Jahrhundert. Ham- burg 1981 ( = Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung Bd. 8), S. 28-45, S. 26.

2 Norbert Elias, Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie. Darmstadt 41979 ( = Soziologische Texte Bd. 54). S. 95.

3 Carl Hinrichs, Staat und Gesellschaft im Barockzeitalter. In: ders. Preußen als historisches Problem. Ges. Abh. hrsg. von Gerhard Oestreich. Berlin 1964.

S. 215.

4 Ibid.

5 Vgl. dazu Hinrichs, s. o. Anm. 3, S. 219 ff.

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DER BAROCK-ABSOLUTISTISCHE HOF UNTER KURFÜRST ERNST-AUGUST UND KURFÜRSTIN SOPHIE

Die Glanzzeit einer barock-absolutistischen Hofhaltung als Zentrum von Staat und Gesellschaft finden wir in Hannover unter Herzog /Kurfürst Ernst August (1679-98) und Sophie von der Pfalz (t 1714). Politische Vor- aussetzung war der im 30jährigen Krieg einsetzende Aufbau einer absolu- tistischen Herrschaft und der Aufstieg der in Hannover residierenden Ca- lenberger Linie6. Ernst August, der jüngste von vier Söhnen des Herzogs Georg von Calenberg (1630-1641), seit 1659 mit Sophie von der Pfalz (1630-1714) verheiratet, war seit 1661 Fürstbischof von Osnabrück. 1679, nach dem Tod seines Bruders Johann Friedrich, übernahm er die Calenber- ger Herrschaft und entfaltete von da an in Hannover und Herrenhausen eine glanzvolle barocke Hofhaltung, die nicht nur der Repräsentation diente, sondern bewußt in den Dienst weitreichender politischer Ambitio- nen gestellt wurde. In seiner Regierungspraxis konnte er an die Maßnah- men seines Bruders anknüpfen, der mit der Regimentsordnung von 1670 die gesamte Regierungstätigkeit zentralisiert hatte. Um der infolge von

6 Herzog Georg von Calenberg (reg. 1636—41) hatte noch während des Dreißig- jährigen Krieges seine Residenz in die Stadt Hannover verlegt. (Residenzver- gleich vom 18. 2. 1636), eine Entscheidung, die im Interesse des absolutistisch regierenden Landesherrn das Ende der politischen Selbständigkeit der Stadt be- deutete, aber auch eine rege Bautätigkeit auslöste und zum wirtschaftlichen und bevölkerungsmäßigen Aufschwung der Stadt führte. Vgl. dazu: Günter Scheel, Hannovers politisches, gesellschaftliches und geistiges Leben zur Leibnizzeit.

In: Leibniz. Sein Leben, sein Wirken, seine Welt, hrsg. von Wilhelm Totok und Carl Haase. Hannover 1966. S. 83—115. Die vier Söhne Georgs von Calenberg lösten sich in der Herrschaft von Celle und Calenberg ab. Nach dem Tod Jo- hann Friedrichs 1679, der den absolutistischen Ausbau des Landes vorangetrie- ben hatte, folgte ihm in Hannover Ernst August, sein jüngerer Bruder.

Ernst August 1659 Sophie von der Pfalz

(1629-98) © (1630-1714) Fürstbischof von Osnabrück (1661)

Herzog von Calenberg (1679) Kurfürst von Hannover (1692)

Georg Ludwig

I

(1660-1727)

Kurfürst von Hannover (1698)

als Georg I. König von Großbritannien und Irland (1714)

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häufigen Erbteilungen erfolgten Zersplitterung der weifischen Besitzun- gen Einhalt zu gebieten, setzte Ernst August 1683 gegen den Widerstand seiner jüngeren Söhne die Primogenitur durch. Mit seiner ambitiösen Ge- mahlin, die als protestantische Enkelin des Stuartkönigs Jakob I. von Eng- land nach den Bestimmungen der Glorreichen Revolution (1688) und des Act of Settlement (1701) dem weifischen Haus die Anwartschaft auf den Thron Großbritanniens einbrachte, verfolgte er lange, zielstrebig und schließlich mit Erfolg die Rangerhöhung zum Kurfürsten. 1692 erklärte der Kaiser Hannover zur 9. Kur, 1710 erhielt Hannover als Kuramt die Erz- schatzmeisterwürde

7

. Vor dem Hintergrund der Herrschaftskonsolidie- rung und eines aufsehenerregenden politischen Aufstiegs erlebte Hanno- ver zwischen 1680 und 1698, dem Regierungsantritt und dem Tod Ernst Augusts, seine Blütezeit, die goldenen Tage Herrenhaus ens. Unter seinem Sohn Georg Ludwig (1698/1714—27) wurden sie in abgeschwächter Form fortgesetzt, bevor sie 1714 bei Beginn der Personalunion mit der Übersied- lung des Hofes nach London ihr Ende fanden.

Was machte nun den Glanz Hannovers unter Ernst August und Sophie aus, so daß sein Ruhm von Reisenden in ganz Europa verbreitet wurde und an bestimmten Festlichkeiten hochgestellte Persönlichkeiten in gro- ßer Zahl teilnahmen? Es waren die Oper, der venezianische Karneval, das Theater, die Musik und die Sommerresidenz Herrenhausen mit ihren be- rühmten Gärten.

Die italienische Oper, „wie keine zweite Kunstgattung ein Kind des barok- ken Hofes"

8

, bot als Gesamtkunstwerk, an dem im Stil der Zeit alle Künste teil hatten, dem Herrscher und der Hofgesellschaft die Bühne, auf der sie sich darstellen konnten. Architekten, Maler, Bildhauer, Dekorateure, Dichter, Musiker, Schauspieler, Pyrotechniker und die Hofgesellschaft selbst wirkten in einer Synthese von Raum, Wort, Bild und Ton zusam- men, um mit festlichem Gepränge barockes Lebensgefühl und politisches Selbstverständnis des Herrschers repräsentativ als großes Illusionstheater

7 Breit und detailliert dazu: Georg Schnath, Geschichte Hannovers im Zeitalter der neunten Kur und der englischen Sukzession 1674—1714. ( = Veröff. d. Hist.

Kom. f. Niedersachsen u. Bremen, XVIII, 1—4), 4 Bde und Namenweiser, Bd. III:

1698-1714, Hildesheim. Im Folgenden zitiert als: Schnath III.

8 Joachim Lampe, Aristokratie, Hofadel und Staatspatriziat in Kurhannover. Die Lebenskreise der höheren Beamten an den kurhannoverschen Zentral- und Hofbehörden 1714-1760. 2 Bde. Göttingen 1963 ( = Untersuchungen zur Stän- degeschichte Niedersachsens Bd. 2/1.2. = Veröff. d. Hist. Kom. f. Niedersach- sen u. Bremen, XXIV) Bd. 1, S. 112. Im Folgenden zitiert als: Lampe I.

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zu zelebrieren9. Hier war die Bühne, „auf der sich im Ritual des Zeremo- niells die sakrale Darstellung und Verehrung der göttlichen Herrscherma- jestät" vollzog10. Gegründet worden war die Oper von Herzog Johann Friedrich11. Den gesteigerten Ansprüchen seines Bruders genügte das Ko- mödienhaus jedoch nicht mehr, und so wurde in seinem Auftrag ein neu- es Opernhaus gebaut, das in Größe und technischer Ausstattung allen An- forderungen entsprach und von den Zeitgenossen als das schönste der ganzen Welt gerühmt wurde12. Zur Eröffnung führte man 1689 eine Oper mit dem programmatischen Titel: „Henrico Leone" auf13. Ihr Held, Hein- rich der Löwe, läßt vor den Augen der Zuschauer die ruhmreiche Vergan- genheit des Weifenhauses wieder erstehen. Dichtung und historische Wahrheit werden in den Dienst einer Politik gestellt, die nach Rang- und Prestigeerhöhung strebt und diese drei Jahre später mit der Verleihung der Kurwürde auch erreicht.

Neben der Oper war es der venezianische Karneval, der in ganz Euopa Aufsehen erregte. Auf ihren Italienreisen hatten die weifischen Brüder den Karneval in Venedig kennengelernt. Auch nach seiner Vermählung setzte Ernst August seine Italienreisen fort und war dann monatelang von Hannover abwesend. So war es sicher für das Land und die fürstliche Fa- milie von Vorteil, den jährlichen Karneval in Hannover selbst zu einem der Höhepunkte höfischer Feste auszugestalten. Unter Ernst August wur-

9 Vgl. Rudolf zur Lippe, Hof und Schloß — Bühne des Absolutismus, in: Absolu- tismus, hrsg. von Ernst Hinrichs, Frankfurt 1986. S. 138-162. (stw 535).

10 Hinrichs, s. o. Anm. 3, S. 214 f.

11 Johann Friedrich (1625-79), Herzog von Calenberg (1648-65), Herzog von Celle (1665-79).

Über Johann Friedrich gibt es keine umfassende moderne Untersuchung. Nach einer vorbereitenden Magisterarbeit (Hannover Sommersemester 1985) unter- sucht Annette Igert in einer Dissertation das Verhältnis von Landesherr und Landständen in Calenberg-Grubenhagen unter Herzog Johann Friedrich (1665—1679). Es zeigt sich schon jetzt, daß Johann Friedrich durchaus einen ei- genständigen und bedeutenden Beitrag zum Ausbau des Absolutismus und zur kulturellen Leistung Hannovers im Barockzeitalter erbracht hat.

12 Lampe I., S. 112 f. In Anm. 86 zitiert Lampe aus einem begeisterten Bericht Aurora Königsmarcks, der späteren Mätresse Augusts des Starken von Sachsen, an die Königin von Schweden aus dem Jahr 1693 über die hannoversche Oper.

Ferner erwähnt er einen Brief der Lady Montague vom 17.12.1716, in dem die- se feststellt, das hannoversche Opernhaus sei viel schöner als das wiener.

13 Ibid. S. 113-116.

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de es Tradition, vom 1. Januar bis Fastnacht in einer Folge rauschender Festlichkeiten den Winter vergessen zu machen. In rascher Folge lösten sich nach der Eröffnung mit einer französischen Komödie „Spielabende, Galatage, große Aufzüge, Wirtschaften und Wasserspiele mit Illuminatio- nen" ab14. „Die beliebtesten Veranstaltungen der Karnevalswochen schei- nen die venezianischen Redouten auf dem Rathause gewesen zu sein: öf- fentliche, zwanglose Maskenbälle, zu denen jeder Untertan freien Zutritt hatte"15. Welche Bedeutung man dem Karneval in Hannover beimaß, läßt sich ermessen, wenn man erfährt, wieviel der Kurfürst sich dies Vergnü- gen kosten ließ. Für 1698 gab er 30 000 Taler aus, also mehr, als der ge- samte Opernhausbau und seine Einrichtung gekostet hatten16.

Das Theater und Theaterspielen war an allen Höfen des 17./18. Jahrhun- derts von großer Wichtigkeit. Neben den großen Bühnenaufführungen mit professionellen Schauspielern, Wandertruppen, war es vor allem die Spielfreude der Hofgesellschaft selbst, die sich in der Aufführung von zahllosen Bühnenstücken ein Betätigungsfeld suchte. Immer wieder fand sich eine Gelegenheit, dem Landesherrn zu huldigen, ein fürstliches Fami- lienmitglied zu feiern oder einen erlauchten Gast zu ehren. Zwangloser, als es sonst die Etikette zuließ, konnte sich die Hofgesellschaft einschließ- lich der Herrscherfamilie im Spiel amüsieren. Vor allem in der Sommerre- sidenz Herrenhausen, wo man so lange wie möglich während der freund- licheren Jahreszeit weilte, wurde das Gartentheater zur Bühne für häufi- ges Theaterspiel. Schloß und Garten waren seit 1666 im Auftrag des Her- zogs Johann Friedrich entstanden, und über Jahrzehnte wurden von ver- schiedenen Architekten, Italienern und Franzosen, Erweiterungen und Ausbauten vorgenommen. Nach dem Tod Ernst Augusts wurde Herren- hausen zum Witwensitz der Kurfürstin Sophie, die es weiter verschönern und den Garten vervollkommnen ließ17.

Schließlich sei noch die Musik erwähnt, die im Hofleben einen hervorra- genden Rang einnahm. Unter der unbestrittenen Leitung von Agostino Steffani waren vor allem Italiener in den musikalischen Spitzenstellungen

14 Ibid. S. 116 f.

15 Ibid. S. 117.

16 Nach Lampe I., S. 116, Anm. 98. Der Bau hatte 24 640 Taler gekostet, ibid. S. 112 Anm. 83.

17 Vgl. Lampe I., S. 118 f., insbesondere Anm. 111. Die grundlegende Monographie zu Herrenhausen: Udo v. Alvensleben, Herrenhausen, die Sommerresidenz der Weifen. Berlin 1929. (= Kunstwiss. Studien, Bd. 2).

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am Hof tätig18. Während die Kammermusik italienisch war, war die In- strumentalmusik französisch geprägt.

Über Italien, genauer gesagt Venedig, wurde auch Händel an den hanno- verschen Hof geholt19, allerdings erst unter Georg Ludwig 1710 und aus seinem Aufenthalt in Hannover wurde nur ein kurzes Gastspiel. London besaß verständlicherweise für Händel die stärkere Attraktion und dort entfaltete er dann über Jahrzehnte bis zu seinem Tod seine überragende Operntätigkeit. Wenn Hannover auch trotz allen barocken Glanzes unter Ernst August und Sophie offenbar für Genies eines Formats wie Händel und Leibniz dennoch keinen besonders reizvollen Wirkungsrahmen bot, so zeigt ihre Berufung doch, welche Ansprüche man dort stellte und wel- ches Niveau man dem kurfürstlichen Hof für angemessen hielt.

Der Ablauf des Jahres gestaltete sich für die Hofgesellschaft in großer Re- gelmäßigkeit. Auf den Karneval folgte der Besuch der Braunschweiger Messe im Frühjahr und sobald die Witterung es zuließ, siedelte man nach Herrenhausen über. Im Herbst besuchte man den verwandten Hof von Salzdahlum und schließlich beschloß man das Jahr zwischen Oktober und Dezember mit der Jagd in der Göhrde.

Die Monate in Herrenhausen wurden immer wieder auf das Angenehm- ste von verwandtschaftlichen und fürstlichen Besuchen unterbrochen, die Anlaß zu Theateraufführungen, Konzerten, Maskeraden, Ballettdarbietun- gen, Feuerwerken, Wasserspielen, Umzügen und ähnlichem boten. Von allen diesen Festen verbreitete sich das Ansehen des hannoverschen Ho- fes und ließ ihn im Wettstreit der europäischen Höfe in der führenden Gruppe rangieren.

So leicht, frei und relativ ungezwungen sich die Hofgesellschaft bei vie- len Festen auch gab, so streng nach Rang, Zeremoniell und Etikette war das höfische Leben bis in letzte Feinheiten auch alltäglicher Vorkommnis- se festgelegt und geregelt.

Die Rangverhältnisse des Hofes waren nach einem noch von Ernst August 1696 erlassenen Rangreglement bestimmt, eine Ordnung, die im Wesent- lichen unverändert das ganze 18. Jahrhundert hindurch Gültigkeit behielt.

Wegen der Abwesenheit der Herrscher von Hannover seit 1714 fand kei- ne den Verhältnissen entsprechende Fortentwicklung statt und erst im 19. Jahrhundert empfand man die Diskrepanz zu den allgemeinen gesell-

18 Ausführliche biographische Angaben zu Steff ani macht Lampe I., S. 124 Anm. 134.

1 9 Zur Berufung Händeis nach Hannover vgl.: Lampe I., S. 130 ff., Schnath III., S. 509-512, ferner Scheel, S. 113, s. o. Anm. 6.

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schaftlichen Verhältnissen als so groß, daß man — ohne Erfolg allerdings

— eine zeitgemäße Modifizierung in Angriff nahm20.

Die Bedeutung und Vitalität des kurfürstlichen Hofes in seinen Glanzzei- ten beruhte auf der Übereinstimmung von repräsentativer Selbstdarstel- lung und tatsächlicher Substanz. Hohe erstklassige Kunst besaß politische Relevanz, stand im Dienst des Weifenhauses und unterstützte seine politi- schen Ambitionen. Leibniz war nicht in erster Linie der geistreiche Ge- sprächspartner einer philosophisch interessierten Kurfürstin und ihrer in- tellektuellen Tochter für Mußestunden. Seine Aufgabe war es vielmehr, Hofhistoriographie zur Ehre der Dynastie zu betreiben, um aus der glor- reichen Vergangenheit politischen Anspruch für die Gegenwart abzulei- ten; ganz konkret, um aus der Geschichte die Forderung nach der 9. Kur zu begründen.

Ebenso direkt ließe sich die politische Indienstnahme der Musik am Bei- spiel Agostino Steffanis nachweisen. Auch er, wie sein Freund Leibniz, ein barocker Hofmann, dem Ideal des breit gebildeten „honnête homme"

entsprechend und wie dieser nicht nur mit seinen Opern der Erhöhung und Mystifizierung des Weifenhauses dienend, sondern auch in politi- schen diplomatischen Missionen tätig.

Die Totalität höfischen Lebens durchdrang alle Bereiche und ließ keine Trennung in privat und öffentlich, politisch und kulturell zu. Der Hof und sein Herrscher waren das Zentrum allen Geschehens. Hier wurde nicht nur über Politik und Lebensstil entschieden, hier wurde auch — trotz aller feudalständischen Bindungen und trotz feststehender Vorgaben hinsicht- lich in Zeremoniell und Etikette zu berücksichtigenden sozialen Ranges

— bestimmt, wer zur Hofgesellschaft gehörte und wer nicht. Denn der ab- solutistische Herrscher konnte frei nach Gutdünken entscheiden, wen er in seine Nähe zog und welchen Rang er ihm in der Hofgesellschaft zu- wies ; d. h. anders als bei der alten Aristokratie drückte sich in der Hofge- sellschaft aus, wer aktuell in Gunst stand und welchen Einfluß er hatte.

Die Hofgesellschaft war also zum Teil situationsbedingt und wandlungs- fähig. Sie stand auch Elementen offen, die sich nicht auf Geburt und Her- kunft berufen konnten, sondern aufgrund individueller Fähigkeiten die Aufmerksamkeit, das Interesse, die Huld des Herrschers auf sich zogen:

Künstler, Gelehrte, Mätressen und Scharlatane, eine bunte Gesellschaft unterschiedlichster Herkunft fand sich gerade an einem lebendigen Hof

2 0 Zum Rangreglement von 1696 vgl.: Schnath III und Carl Ernst von Malortie, Der Hannoversche Hof unter dem Kurfürsten Ernst August und der Kurfürstin Sophie. Hannover 1847.

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ein. Wie stark ein kraftvoller Herrscher trotz seiner Bindung an die alte Geburtsaristokratie, deren Spitze er war, die Zusammensetzung seiner engsten Umgebung bestimmen konnte, zeigte sich unter Ernst August und Sophie an dem großen Ausländeranteil an der Hofgesellschaft

21

. Italiener, gefolgt von Franzosen, spielten eine große Rolle, aber auch Türken und Engländer mischten sich in die bunte Gesellschaft

22

.

Nicht erst 1714, schon mit dem Tod Ernst Augusts 1698 waren im Grunde die Glanzzeiten von Hannover-Herrenhausen vorbei. Was unter Kurfürst Georg Ludwig folgte, bevor mit dem Beginn der Personalunion eine hun- dert Jahre anhaltende Erstarrung einsetzte, war nur noch ein blasser Nachklang hochgestimmter Zeiten. Die Vitalität fehlte, das eigentliche Le- ben spielte sich immer mehr außerhalb des Hofes ab, politische Entschei- dungen fielen an anderer Stelle.

Sofort mit dem Regierungsantritt Georg Ludwigs änderte sich die Situa- tion

23

. Sparsamkeit, der Repräsentation wenig entgegenkommende Eigen- schaften des Kurfürsten und seine unglückliche Ehegeschichte

24

trugen dazu bei, daß die Ausgaben im Hofetat für Repräsentation zusammenge- strichen wurden. Der Ausländeranteil an der Hofgesellschaft ging zurück.

Der Hof des Kurfürsten war nach seiner Scheidung 1694 ein Hof ohne Kur- fürstin, an dem die Mätressen eine große Rolle spielten. Der Hofstaat der verwitweten Kurfürstin Sophie behielt daneben, vor allem seitdem die Sukzessionsordnung von 1701 sie zur designierten Thronfolgerin von Großbritannien bestimmt hatte, eigenes Gewicht für den höfischen Alltag bestehen nun zwei Höfe nebeneinander: der in seinen Mitteln be- schränkte der hochbetagten Kurfürstinmutter, dessen Reihen sich mehr und mehr lichten, und der formlose des regierenden Kurfürsten .. ,"

25

.

21 Vgl. Schnath III, S. 12 und S. 499 ff., ferner Lampe I, S. 123 ff. und S. 143 ff.

22 Schnath III, S. 385 f.

23 Zu Georg I. vgl.: Ragnhild Hatton, Georg I. Ein deutscher Kurfürst auf Englands Thron. Frankfurt 1982.

24 1682 hatte Georg Ludwig seine Cousine Sophie Dorothea aus Celle geheiratet.

Die Ehe wurde 1694 geschieden. Durch Sophie Dorothea, Tochter Georg Wil- helms, des älteren Bruders Ernst Augusts, der in Celle regierte, fiel Georg Lud- wig bei dessen Tod 1705 die Anwartschaft auf das cellische Erbe zu, was zur Vereinigung der beiden weifischen Linien führte.

25 Vgl. Lampe I, S. 133 f.

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DIE GESELLSCHAFTLICHE ENTWICKLUNG HANNOVERS IM 18. JAHRHUNDERT: ADEL UND STAATSPATRIZIAT26 Seitdem der Landesherr nicht mehr in Hannover residierte, verloren Hof, Hofgesellschaft und Hofadel an Bedeutung. Die Emporkömmlinge, die durch besondere Gnade Eingang in die Hofgesellschaft gefunden hatten, konnten ihre Stellung nicht behalten. Während der mehr als hundertjähri- gen Abwesenheit des Landesherrn bestimmten in Hannover zwei Stände die Verhältnisse: Der Adel und das sogenannte Staatspatriziat. Bei dem hannoverschen Geburtsadel handelte es sich um eine landsässige Aristo- kratie, die aufgrund von Privilegien und Gewohnheitsrechten ihre heraus- gehobene politische, soziale und wirtschaftliche Führungsrolle über Jahr- hunderte halten und aufgrund der besonderen Situation Hannovers län- ger als in anderen deutschen Staaten bewahren konnte.

Die Privilegien des Adels bestanden:

„1. in seinem Vorrang vor allen übrigen nichtadeligen Ständen und sei- nem Recht auf bestimmte Titel, Anredeformeln und Wappenattribute, 2. in der Rechtsungleichheit zu seinen Gunsten,

3. in seiner Hof- und Turnierfähigkeit,

4. in der Befreiung von gewissen Steuern wie Kontribution und Lizent, sowie von der Dienstpflicht auf den Ämtern,

5. in seiner Qualifikation zu bestimmten Ämtern und Stiftsplätzen"27. Zu diesen gesetzlich verankerten Rechten kamen gewohnheitsrechtlich begründete Ansprüche, nach denen dem Adel zustanden:

„1. die Ministerstellen,

2. die Ratsstellen in der Kammer, Kriegskanzlei und Regierung zu Stade, 3. die Gesandtschaftsposten,

4. die Hofchargen,

5. die Berghauptmannsstellen auf dem Harz, 6. die Landdrosteien,

7. die Offizierschargen in bestimmten Garderegimentern,

8. die Titel Geh. Kammerrat, Geh. Kriegsrat, Geh. Legationsrat, Land- drost, Oberhauptmann, Drost, Forstmeister"28.

Der umfangreiche Katalog von Adelsvorrechten belegt eindeutig die Vor- rangstellung des ersten Standes. Steuerlich, rechtlich und politisch privile- giert konnte er nicht nur, was für die Versorgung seiner Angehörigen von

2 6 Im Folgenden im wesentlichen nach Lampe.

27 Ibid. I, S. 9.

2 8 Ibid. S. 10.

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erheblicher Bedeutung war, alle wichtigen Posten im Kurstaat besetzen, sondern auf diese Weise in den entsprechenden Institutionen die anste- henden Entscheidungen in seinem Interesse beeinflussen. In einer noch weitgehend feudalständisch geprägten Gesellschaft war die Stellung des ersten Standes fast unanfechtbar, sobald der Landesherr mit dem von ihm in seiner Zusammensetzung bestimmten Hofadel als Herausforderung nicht mehr präsent war. Der zweite Stand hatte nur die Möglichkeit, auf dem prinzipiell akzeptierten ständischen Aufbau der Gesellschaft sich dem Adel anzupassen, sich mit ihm zu arrangieren und ggf. um Aufnahme in ihn nachzusuchen oder aber prinzipiell anders begründete Gesell- schaftsvorstellungen zu entwickeln; das geschah erst allmählich gegen Ende des 18. Jahrhunderts im Zeitalter der Französischen Revolution.

Die bis 1714 in Hannover durch keine auffälligen Besonderheiten charak- terisierte Situation nahm danach eine Entwicklung, die von der der mei- sten anderen deutschen Staaten abwich. Aus dem einsässigen Adel über- nahm eine Oligarchie weniger, eng verwandtschaftlich miteinander ver- bundener Familien als regierende Aristokratie die Geschicke des Landes.

Sie achtete streng auf genealogische Abgeschlossenheit und hielt ihre ka-

stenartige Exklusivität dadurch aufrecht, daß sie genau auf Einhaltung des

Kriteriums ritterbürtiger Ebenbürtigkeit von mütterlicher und väterlicher

Seite her drang. Die Abwehrhaltung anderen sozialen Gruppen gegenüber

zeigte sich vor allem im Verhalten dem 2. Stand gegenüber, dem sog. han-

noverschen Staatspatriziat. Es handelt sich hierbei um eine bürgerliche

Oberschicht, die sich im Dienst des modernen Staates bewährt hatte und

zu einer nichtadeligen Aristokratie aufgestiegen war, eine Art von neu-

zeitlichen Ministerialen. Obwohl Neuschöpfung und aufgrund individuel-

ler Leistung zu Sozialprestige gelangt, lebte das Staatspatriziat vollständig

nach den Wertkategorien einer feudalständischen Gesellschaft: Wie der

Adel achtete man streng auf Ebenbürtigkeit, homogene Verwandtschaft,

gleichartige Besitz- und Traditionsverhältnisse, gemeinsame Stellung und

Funktion im Staat und gemeinsames Ethos. Das Ergebnis war nach mehre-

ren Generationen eine Geschlossenheit, die weit über das im bürgerlichen

Honoratiorentum Übliche hinausging und der im Adel um nichts nach-

stand. Das Dilemma dieser bürgerlichen Aristokratie (Sekretariokratie) be-

stand nun im Laufe des 18. Jahrhunderts darin, daß man nach den glei-

chen Grundprinzipien wie der alte Adel lebte, diese mit der Tendenz zur

Standesverfestigung womöglich noch rigoroser anwandte, um sich nach

unten abzuschotten, gleichwohl aber selbst vom Adel anerkannt und in

den ersten Stand aufgenommen werden wollte. Das Staatspatriziat wollte,

nachdem es de facto zu einem neuen Adel geworden war, auch die Rech-

(12)

te und Privilegien des alten Adels und damit die volle Aufnahme in die- sen. Mit diesem Anspruch stieß man jedoch in Hannover auf den erbitter- ten Widerstand des Adels. Dieser ging in seiner strikten Ablehnung so weit, daß er nicht einmal die kaiserliche Nobilitierung anzuerkennen be- reit war29. Die in Hannover regierende Aristokratie, die aufgrund der be- sonderen politischen Umstände mehr Macht besaß als in den absoluti- stisch regierten Staaten, sträubte sich mit allen ihr zur Verfügung stehen- den Mitteln, sich den sich wandelnden gesellschaftlichen Verhältnissen anzupassen. In mechanischer Übersteigerung des Ebenbürtigkeitsprinzips, hinter der sich krasser Standesegoismus verbarg, weigerte man sich auch noch in der Spätphase der ständischen Gesellschaft, sich neuen Elemen- ten zu öffnen. Das Ergebnis war eine Verfestigung, Versteinerung der so- zialen Verhältnisse in Kurhannover, die mit der hohlen, leblosen Mecha- nisierung eines sinnentleerten Hoflebens korrespondierte30.

Eine wegen ihres Verfassers, ihres Gegenstandes und ihres Abfassungsda- tums besonders aufschlußreiche Quelle für die Frage nach dem Verhältnis von Adel und Staatspatriziat in Hannover im letzten Drittel des 18. Jahr- hunderts ist ein Aufsatz von Ernst Brandes: „Über die gesellschaftlichen Vergnügungen in den vornehmsten Städten des Churfürstenthums", er- schienen im Jahr der Französischen Revolution (1789) in den Annalen der Braunschweig-Lüneburgischen Churlande31. Der Autor, selbst dem Staats- patriziat angehörend, ist als Reform-Konservativer und Kritiker der Fran- zösischen Revolution im Sinne Edmund Burkes bekannt geworden. Mit seiner Abhandlung legt er so etwas wie eine soziologische Studie über die gesellschaftlichen Verhältnisse in Hannover vor. Für die Hauptstadt Han- nover hält er ebenso wie für Celle und Stade, im Gegensatz zu Lüneburg und zur Sondersituation der Universitätsstadt Göttingen, die strenge ge- sellschaftliche Trennung zwischen erstem und zweitem Stand für charak- teristisch; auch plädiert er für eine Aufrechterhaltung dieser Trennung32. Vom hannoverschen Adel berichtet er selbst, dieser sei „auswärts sehr we- gen seines Stolzes verschrien"33, meint aber feststellen zu können, daß er sich in seinen hochfahrenden, beleidigenden Äußerungen zu mildern be-

2 9 Ibid. S. 280 ff.

3 0 Vgl. Lampe I, S. 2 8 2 - 2 8 4 .

31 Annalen der Braunschweig-Lüneburgischen Churlande 3, 1789, 4, S. 761—800 und 4, 1790, 1, S. 5 6 - 8 8 .

32 Ibid. S. 784 f.

33 Ibid. S. 778.

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ginne34. Zur ersten Gesellschaft zählt er alle, die hoffähig sind, also alten Adel und die Offiziere. Weil sie materiell so gestellt sind, daß sie nicht ih- rem Lebensunterhalt nachgehen müssen, sondern sich der Muße widmen können, kann man von ihnen „vorzügliche Ausbildung für die Gesell- schaft"35 erwarten. Die erste Klasse umfaßt nach Brandes „die begütert- sten Einwohner und die ersten Staatsdiener"36. Zu ihrem gesellschaftli- chen Auftreten stellt er fest: „Der Aufwand unter dem ersten Stande ist im Ganzen, sowohl was den Putz der Damen, als den Ostentations-Luxus be- trifft, ungleich stärker als in den übrigen Ständen"37.

Ausführlich und klar analysierend geht Brandes dann auf den zweiten Stand, das Staatspatriziat, ein, das er besonders gut kennt. „Eine genaue Definition von des zweiten Rangs Fähigkeit läßt sich nicht angeben. Der größte Teil desselben besteht aus der angesehnsten Dienerschaft vom neuen Adel und Bürgerstande. Die Grenzen sind jedoch sehr unbestimmt.

— Der Rang entscheidet nicht allein. Auf Familienkonnexionen, Reich- tum, Besitzstand wird ebensowohl Rücksicht genommen. . .. Meiner Mei- nung nach sollten alle diejenigen Familien hieher gerechnet werden, de- ren größerer Teil die zu einer guten Gesellschaft gehörige Bildung erhal- ten hätte. . . . Ein gutes hat das Ägyptische oder Indianische Kastenwesen des zweiten Ranges in Hannover; daß dadurch die Rechtlichkeit, die die hiesige Dienerschaft vor denen mancher anderen Staaten so vorteilhaft auszeichnet, gewissermaßen mit erhalten wird, die leicht bei der Einrei- ßung aller Grenzpfähle sehr leiden könnte. . . . Der neue Adel hat sich zu Zeiten vom zweiten Range absondern wollen, sich aber doch gewöhnlich wieder mit demselben vermischt"38. „Die Geistlichkeit in Hannover er- scheint selten in den größern Gesellschaften des zweiten Ranges und nie beim Tanze . . ."39. Über das Militär stellt Brandes fest, dieses teile „in den hiesigen Landen mit Recht die gesellschaftlichen Vorzüge des Adels"40. Während in Frankreich das Bürgertum für Gleichheit, Freiheit und Brü- derlichkeit eintritt, politische Mitsprache verlangt und die Abschaffung von Adelsprivilegien fordert, ist der hannoversche Vertreter des Bildungs- bürgertums bereit, die positiven Seiten der ständischen Trennung anzuer-

34 Ibid.

35 Ibid. S. 780.

3 6 Ibid. S. 780.

37 Ibid. S. 781.

38 Ibid. S. 787 f.

3 9 Ibid. S. 788.

4 0 Ibid. S. 789.

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kennen, auch wenn für ihn Bildung als die „gute Gesellschaft" wesentlich charakterisierendes Kriterium vor traditionellen Elementen an Bedeutung gewinnt. Die revolutionäre, die ständischen Schranken sprengende Kraft des Bildungsarguments wird bezeichnenderweise von Brandes nicht kon- sequent zu Ende gedacht, sondern durch Einbindung in traditionelle Kri- terien seiner Gefährlichkeit beraubt.

DER HANNOVERSCHE HOF IM 18. JAHRHUNDERT UND DAS GEISTIG-KULTURELLE LEBEN ZU AUSGANG DES JAHRHUNDERTS Der seit 1714 seines Mittelpunktes und Glanzes beraubte Hof wurde trotz der Abwesenheit des Herrschers in vollem Umfang aufrechterhalten und zwar über mehr als einhundert Jahre. Dabei mögen sich hierfür im Laufe der Zeit die Gründe bei den Herrschern geändert oder zumindest verscho- ben haben. Für Georg Ludwig war es zweifellos nicht leicht, die vertraute Residenz und ein Land zu verlassen, das er schon sechzehn Jahre als Kur- fürst regiert hatte. Zur vielfältig belegten Anhänglichkeit an seine Kurlan- de, die nicht zur zweitrangigen Dependence herabsinken sollten, kam die Ungewißheit, ob die Sukzession in Großbritannien tatsächlich auf Dauer gesichert sei. Denn schließlich wurde sie von den Stuartprätendenten bis in die 40er Jahre des 18. Jahrhunderts aktiv angefochten, auch die Tories unterstützten sie nur mit Skrupeln und für den sich absolutistisch verste- henden Herrscher selbst war die großbritannische Krone von Parlamentes Gnaden kein unproblematisches Geschenk. Wichtiger war zu Beginn des 18. Jahrhunderts in Hannover aber sicher, daß der barock-absolutistische Hof politisch nicht völlig an Gewicht verlieren durfte. So versuchte man, alles unverändert beim Alten zu lassen. Nicht nur der Hofetat wurde un- verkürzt beibehalten, auch die Hofgesellschaft verhielt sich so, als sei der Kurfürst noch leiblich anwesend. Hofetikette und -zeremoniell liefen nach dem gewohnten Schema ab, d. h. die Hofgesellschaft machte weiter wie gewohnt ihre Aufwartungen im Schloß, um dem Herrscher die Reve- renz zu erweisen —, bestenfalls einem Stellvertreter, meist aber dem im Salon auf einem Lehnsessel aufgestellten Porträt41; eine gespenstische Szene, die überdeutlich zeigt, wie hohl und zur reinen Fassade erstarrt das Hofleben allmählich wurde.

41 Lampe I., S. 136.

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Leben kam in diese Szenerie erst, wenn der Herrscher nach Hannover zu- rückkehrte. Die Reisen der George von London nach Hannover42 waren die Höhepunkte höfischen Lebens, an denen in Hannover und Herren- hausen alles buchstäblich entstaubt wurde. Georg I. war noch sechsmal in seinen Kurlanden43 und starb auf der letzten Reise in Osnabrück.

Georg II., der bei seinem Abschied aus Hannover immerhin schon 31 Jah- re alt und seit 1698 Kurprinz gewesen war, also das Land gut kannte und als Hannoveraner und Deutscher fühlte, besuchte während seiner Regie- rungszeit Hannover zwölfmal44. Sein 1714 erst siebenjähriger Sohn Fried- rich Ludwig war als Statthalter unter der Obhut eines Oberhofmarschalls in Hannover zurückgeblieben und hatte dort die Vakanzen überbrücken sollen. Der Siebenjährige Krieg führte dann zu einer Unterbrechung der Reisen von England nach Hannover. Georg III., der nach dem frühen Tod seines Vaters45 im Generationensprung 1760 die Thronfolge antrat, hat trotz seiner langen Regierungszeit46 Hannover niemals besucht. Das Kur- fürstentum war für ihn, einen gebürtigen Engländer, ein fremdes Land, dem er sich zwar verpflichtet fühlte, zu dem es ihn aber nicht besonders stark hinzog. Er hat die Interessen Hannovers in seiner Politik durchaus loyal wahrgenommen und vertreten47. Den Plan einer Erweiterung des

42 Vgl. Hans Patze, Zwischen London und Hannover. Bemerkungen zum Hofleben während des 18. Jahrhunderts. In: Staat und Gesellschaft im Zeitalter Goethes.

Festschrift für Hans Tümmler, hrsg. von Peter Berglar. Köln/Wien 1977.

S. 95-129.

43 Georg I. war 1716, 1719, 1720, 1723, 1725 und 1727 in seinen Kurlanden.

44 Georg II. war 1729, 1732, 1735, 1736, 1740, 1741, 1743, 1745, 1748, 1750, 1752 und 1755 in Hannover.

45 Friedrich Ludwig, der Prince of Wales, starb 1751 mit 44 Jahren.

46 Georg III. hat von 1760 bis 1820 regiert. Allerdings mußte sein Sohn, der spätere Georg IV., seit 1811 kontinuierlich die Regentschaft übernehmen, da Georg III.

aufgrund einer Stoffwechselkrankheit (Porphyria) auf Dauer in geistige Um- nachtung fiel.

47 Die Weifen sind in der englischen Geschichtsschreibung überwiegend negativ dargestellt worden. Vgl. Edgar Kalthoff, Die englischen Könige des Hauses Hannover im Urteil der britischen Geschichtsschreibung, in: Nds. Jb. f. LG 30, 1958, S. 55—197. Seit einigen Jahren bahnt sich ein Wandel an, hin zu einer ob- jektiveren, von nationalen Vorurteilen freien Betrachtungsweise. Diese Ent- wicklung wurde untersucht in der Staatsexamensarbeit (Hannover Sommerse- mester 1983) von Angelika Koch, Die Englischen Könige des Hauses Hannover in der neueren englischsprachigen Geschichtsschreibung. Erster Höhepunkt dieser neuen Sichtweise war die zitierte Arbeit von Ragnhild Hatton (s. o.

Anm. 23). Zum Verhältnis von Hannover und England unter Georg II. vgl. neu- 253

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Leineschlosses durch den Kauf von fünf Grandstücken zwischen Opern- haus und Mühlenstraße hat er aktiv verfolgt48. Mehrere seiner Söhne ha- ben zwischen 1780 und 1800 in Hannover residiert. Trotzdem ließ sich in den kriegerischen Wirren der napoleonischen Zeit ein Verfall des Stadt- schlosses nicht verhindern. Erst nach der Befreiung von den Franzosen 1813 wurde eine Wiederherstellung des Schlosses vorgenommen.

Georg IV. ist dann 1821, also zum frühestmöglichen Zeitpunkt, nach Han- nover gereist49. Als Regent in unruhigen und politisch unsicheren Zeiten hatte er keine Möglichkeit gehabt, England zu verlassen; schon bald nach seiner Krönung aber trat er die Reise an, die ganz im Stil des 18. Jahrhun- derts durchgeführt wurde.

Damit die Reisen stattfinden konnten, mußten mehrere Bedingungen er- füllt sein: in England mußten politisch stabile Verhältnisse herrschen und auf dem Kontinent durften keine kriegerischen Verwicklungen die Reise unmöglich machen. Die Reisen selbst liefen dann über mehr als einhun- dert Jahre nach einem im wesentlichen unveränderten, bis ins letzte De- tail ausgefeilten barocken Zeremoniell ab, 1716 genauso wie 1821. Über den genauen Ablauf von Beginn der königlichen Reise im Frühjahr in St. James in London, über die Kanalüberfahrt, die Reise zu Land durch die Niederlande nach Hannover-Herrenhausen, den mehrmonatigen Aufent- halt mit allen Festlichkeiten und die Rückreise bis zum Wiedereintreffen in England im Herbst/Winter desselben Jahres gibt es viele ausführliche Berichte. Sie zeigen, von welcher europäischen politischen Bedeutung das Ereignis sein konnte. Für eine kurze Zeit schienen die goldenen Tage von Herrenhausen wiederzuerstehen. Und nun waren die Feste, Feierlichkei- ten, Theater-, Musik- und Opernaufführungen nicht mehr nur Fassade, sondern wie in den guten alten Zeiten vor 1714 wieder Rahmen für be- deutendes politisches Geschehen. Sie gaben die Kulisse ab für die Besu- erdings: Uriel Dann, Hannover und England 1740—1760. Diplomatie und Selbst- erhaltung. Hildesheim 1986 ( = Quellen und Darstellungen zur Geschichte Nie- dersachsens, Bd. 9).

48 Patze, s. o. Anm. 42, S. 111.

49 Die Reise Georg IV. wird von einem Zeitgenossen detailliert und mit Rückblik- ken auf die früheren Reisen der George geschildert. Heinrich Dittmer, Authenti- sche und vollständige Beschreibung aller Feyerlichkeiten, welche in dem Han- noverschen Lande bey der Anwesenheit Sr. Königl. Majestät Georgs des Vier- ten während dem Monate October 1821 veranstaltet worden. Hannover 1822.

Einzelne Reisen hat auch Carl Ernst von Malortie in den Beiträgen zur Ge- schichte des Braunschweig-Lüneburgischen Hauses und Hofes (1860 ff.) behan- delt.

(17)

che hochgestellter europäischer Persönlichkeiten, Fürsten und Staatsmän- ner, die diplomatische Fäden spinnen, politische Geschäfte aushandeln und Verträge abschließen wollten

50

.

Hof und regierende Aristokratie hielten im letzten Drittel des 18. Jahrhun- derts um so hartnäckiger an ihrer Vorrangstellung fest, je geringer ihre tat- sächliche Bedeutung war. Hoffähigkeit und strenge Beachtung der Stan- desunterschiede blieben, wie Ernst Brandes 1789 schrieb, in der Residenz- stadt streng gewahrt. Geistig-kulturelle Impulse aber gingen zu dem Zeit- punkt in steigendem Maße von gesellschaftlichen Gruppierungen aus, die zum Hof in keinem oder nur sehr lockerem Kontakt standen. Von überre- gionaler geistig-wissenschaftlicher Ausstrahlung war die 1737 gegründete Universität Göttingen. Sie war eine für die Zeit moderne Reformuniversi- tät und wurde als die freiheitlichste aller deutschen Hochschulen bezeich- net. Ihre Professoren genossen eine Vorzugsstellung und waren mit ihren Publikationen von jeder Vorzensur befreit. In Göttingen studierten nicht nur die Söhne des hannoverschen Bildungsbürgertums, auch der Adel Hannovers und aus dem übrigen Reich wählte die angesehene Universi- tät

51

— so studierte ζ. B. der junge Freiherr vom Stein hier — und auch die weifischen Prinzen verbrachten mehrere Jahre an der Georgia Augusta.

Die Göttinger Universitäts- und Bildungsgesellschaft vermittelte zwischen den Ständen und war der Umschlagplatz für von England kommendes Gedankengut. Im Studium lernten sich die englischen Prinzen, deutsche und hannoversche Adelige und Bürgerliche kennen und knüpften Bezie- hungen an, die für ihr Leben, ihren Berufsweg und z. T. sogar für die han- noversche Politik von Bedeutung wurden. Stein, Brandes und Rehberg schlössen in Göttingen Freundschaft und die englischen Prinzen lernten in den ausgehenden 80er Jahren von Göttingen aus Land und Leute ken- nen — Beziehungen, die für den jüngsten der Söhne Georgs III., den Her-

50 Ein willkürlich herausgegriffenes Beispiel ist der Herrenhäuser Vertrag von 1725, der anläßlich der vorletzten Reise Georgs I. zwischen Hannover und Preu- ßen abgeschlossen wurde und das damals besprochene preußisch-englische Heiratsprojekt. Schilderungen dieser Reise bei Malortie, Beiträge zur Geschich- te des Braunschweig-Lüneburgischen Hauses und Hofes, 1. Heft 1860, S. 129-137.

51 Max Braubach, Die Lebenschronik des Freiherrn Franz Wilhelm von Spiegel zum Diesenberg. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Aufklärung in Rhein- land-Westfalen. Münster 1952. ( = Veröff. d. Hist. Kom. des Provinzialinstituts für Leindes- und Volkskunde XIX, Westf. Briefwechsel und Denkwürdigkeiten Bd. IV, dort das Kapitel 2 : Göttinger Kommilitonen des Freiherrn vom Stein.

(S. 37-64).

(18)

zog von Cambridge, für seine späteren Jahre in Hannover wichtig wur- den.

Die Sonderrolle Göttingens ließ auch in gesellschaftlicher Hinsicht, wie Brandes schrieb, keinen Vergleich mit der verwaisten Residenzstadt Han- nover zu. Auch hier gab es ein reges geistig-literarisches Leben, das mit dem Hof allerdings nichts mehr zu tun hatte. Mitglieder der Sekretariokra- tie, bürgerliche Beamte und Literaten machten Hannover in den 7Oer und 80er Jahren zu einem literarischen Zentrum ersten Ranges, dem die Na- m e n Zimmermann5 2, Boie53 und Hölty5 4 Glanz und Ausstrahlung verlie- hen. Auch die Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution wur- de in Hannover fundiert und auf hohem Niveau geführt: Brandes5 5 und Rehberg5 6 vertraten die für Hannover so typische reform-konservative

52 Johann Georg Zimmermann, Schriftsteller, Mediziner, gebürtiger Schweizer, seit 1768 in Hannover lebend, wohin er als Leibarzt berufen wurde und wo er bald der Modearzt der adeligen Gesellschaft und der „hübschen" Familien war.

Angaben zu ihm, umfangreiche Auszüge aus seinen Briefen und Publikationen bei: Henning Rischbieter, Hannoversches Lesebuch, 1. Bd. 1650—1880. Hanno- ver2 1978. S. 90 ff.

53 Heinrich Christian Boie, Literat, Mitglied des Göttinger Hainbundes, Herausge- ber des ersten deutschen Musenalmanachs, später des „Deutschen Museums", lebte von 1776—81 in Hannover, wo er in einem literarisch interessierten Kreis zu Johann Christian Kestner und dessen Frau Charlotte Buff (Werthers Lotte), Georg Brandes und dessen Sohn Ernst, der Familie Rehberg und anderen enge Kontakte pflegte.

54 Ludwig Christoph Heinrich Hölty gehörte zu den Hainbunddichtern und ver- brachte sein letztes Lebensjahr in Hannover (1775/76), wo er die Verbindung zu Boie suchte.

55 Über Ernst Brandes vgl. die zweibändige Biographie von Carl Haase, Hildes- heim 1973 und 1975 ( = Veröff. d. Hist. Kom. f. Niedersachsen und Bremen XXXII und XXXIII).

56 August Wilhelm Rehberg (1757-1836) ist von seiner Biographie her ein inter- essantes Beispiel für die besondere soziale und kulturelle Entwicklung Hanno- vers im 18. Jahrhundert. Aus einfachen Verhältnissen stammend hat er sich nach dem Studium in Göttingen mühsam durchschlagen müssen, bevor er 1783 die Stelle eines Sekretärs beim Herzog von York, dem Zweitältesten Sohn Georgs III., Friedrich, erhielt, der Fürstbischof von Osnabrück war. Hier ent- stand eine Verbindung zu Justus Moser, die sein politisches Denken stark beein- flußt hat. Vom Herzog von York vermittelt, wurde Rehberg Referent im hanno- verschen Ministerium. Nach den Wirren der napoleonischen Zeit kehrte Reh- berg 1814 als enger Mitarbeiter des Grafen Münster in die Regierung zurück, wo er bis zu seiner Entlassung 1819 im Sinne behutsamer Reformen tätig war.

(19)

Sichtweise, während der berühmte Leibarzt und Hofmedikus Zimmer- mann die reaktionären und sein Gegner in der Polemik, Knigge5 7, die dem Jakobinismus nahestehenden Argumente artikulierte. Der Hof gab keinen Treffpunkt für derartige politische und literarische Diskussionen ab. Die neuen bürgerlichen Organisationsformen, die dafür entstanden, waren sog. Assembleen, Klubs nach englischem Vorbild und schließlich Ver- eine5 8. Die Bewegung, die hier ihren Ausgang nahm, überwand die Stän- degesellschaft und bereitete das 19. Jahrhundert, die bürgerliche Klassen- gesellschaft vor.

Aber nicht nur in diesen bildungsbürgerlich-elitären Zirkeln kündigte sich die neue Zeit an. Über Zeitschriften und Zeitungen wurde der Kreis derer, die nach der Französischen Revolution die Verhältnisse nicht mehr als gottgegeben akzeptierten, sondern am Maßstab von Freiheit und Gleich- heit kritisch beurteilten, weiter gezogen. Die entstehende öffentliche Mei- nung fand im von der Zensur eng gesteckten Rahmen nur geringe Entfal- tungsmöglichkeiten. Seit 1763 erschien zweimal wöchentlich das Hanno-

Seine literarische Tätigkeit machte ihn zum frühesten Wortführer der Histori- schen Schule. Eine auch das politische Wirken berücksichtigende Biographie Rehbergs gibt es nicht. Wichtige Ansätze dazu nun in der Dissertation von Mijndert Bertram, Staatseinheit und Landesvertretung — Die erste oder provi- sorische Allgemeine Ständeversammlung des Königreiches Hannover und ihre definitive Organisation (1814-1819), 1986.

57 Adolph Franz Friedrich Ludwig Freiherr von Knigge (1752—1796) ist bekannt ge- worden durch sein Buch „Über den Umgang mit Menschen", das fälschlicher- weise als Anstände- und Regelbuch verstanden wird, während es dem Autor aus antifeudal-emanzipatorischer Absicht darum ging, zu selbstbewußtem bür- gerlichen Verhalten zu erziehen. Dem Gedankengut der Aufklärung verpflich- tet, hat er als Freimaurer und Mitglied des Illuminatenordens den Oberfläch- lichkeiten des Hoflebens entgegenzuwirken versucht. Als freier Schriftsteller in Frankfurt und Heidelberg tätig, dann (1790) diplomatischer Vertreter Hannovers in Frankfurt, wurde er Wortführer des Jakobinismus in Deutschland. Hierüber kam es zu einer erbitterten literarisch-politischen Fehde mit Zimmermann, die die damalige deutsche literarische öffenüichkeit lebhaft interessierte und schließlich sogar zu einem Beleidigungsprozeß zwischen den beiden Kontra- henten führte.

58 Zur sozialgeschichtlichen Bedeutung der Vereine vgl. den grundlegenden Auf- satz von Thomas Nipperdey, Verein als soziale Struktur in Deutschland im spä- ten 18. und frühen 19. Jahrhundert. In: Geschichtswissenschaften und Vereins- wesen im 19. Jahrhundert. Beiträge zur Geschichte historischer Forschung in Deutschland. Göttingen 1972 ( = Veröff. des Max-Planck-Instituts für Geschich- te 1) S. 1 - 4 4 .

(20)

versehe Magazin, eine Zeitschrift offiziösen Charakters, Sprachrohr der aufklärerischen, an der Weiterbildung der Bevölkerung zum Nutzen des Landes interessierten höheren Beamtenschaft59. Hier sollten im typisch aufklärerischen, hausväterlichen Stil praktisches Wissen vermittelt und nützliche Kenntnisse verbreitet werden. Eingestreute Erzählungen morali- sierenden Charakters dienten der Besserung der Sitten. Nach Ausbruch der Franzözischen Revolution wurden 1793 die Hannöverischen politi- schen Nachrichten gegründet, die bis 1801 als regierungsfreundliches Nachrichtenblatt zweimal wöchentlich und zweispaltig im Umfang von acht Seiten erschienen. Hier wie bei der von Brandes angeführten Ausein- andersetzung mit der Revolution war längst keine Bewunderung mehr für die Vorgänge in Frankreich vorhanden, sondern man propagierte ein am englischen Vorbild entwickeltes Staatsmodell. Dies alles waren nur zag- hafte Ansätze einer allgemeinen öffentlichen Diskussion. Erst als mit der Aufhebung der Zensur durch die französische Besatzungsmacht 1803 das Ventil geöffnet wurde, ergoß sich eine Flut von Flugschriften über das Land, in denen die inneren Zustände behandelt wurden60. Man kritisierte die Rückständigkeit der Wirtschaft, die unzweckmäßig verwickelten Ver- waltungsverhältnisse, die Schwerfälligkeit der verfassungsmäßigen Ge- setzgebung infolge von Schwierigkeiten des Zusammenwirkens des ab- wesenden Königs mit den zuständigen Provinzialständen, erhob den Vor- wurf des Nepotismus und einige Autoren sahen in der Personalunion die Wurzel allen Übels. Mögen hier auch Verzeichnungen und negative Ver- zerrungen vorliegen — Ansatzpunkte für eine derartige Kritik boten die hannoverschen Verhältnisse mehr als genug und die mit der Abwesenheit des Herrschers korrespondierende selbstherrliche und egoistische Stan- despolitik der Adelsoligarchie hat zweifellos überholte gesellschaftliche Verhältnisse festgeschrieben, statt sie zeitgemäß weiterzuentwickeln61.

59 Im Folgenden nach: Carl Haase, Obrigkeit und öffentliche Meinung in Kurhan- nover 1789-1803. In: Nds. Jb. 39, 1967, S. 192-294.

60 Reinhard Oberschelp, Kurhannover im Spiegel von Flugschriften des Jahres 1803. In: Nds. Jb. 49, 1977, S. 209-247.

61 Noch fast eine Generation später, 1831, schrieb der Freiherr vom Stein, auf die Göttinger Unruhen eingehend: „Es gibt in Hannover Gründe zu Beschwerden, Anreizungen zu Bitterkeiten, als Nepotism, Stolz eines zahlreichen, wenig begü- terten, in alle Stellen sich drängenden Adels . . . "

Neue Stein-Ausgabe Bd. VII, Stuttgart 1969, Nr. 926, S. 1043.

(21)

ALLGEMEIN-POLITISCHE UND VERFASSUNGSRECHTLICHE RAHMENBEDINGUNGEN FÜR HÖFISCHES LEBEN IM KÖNIGREICH

HANNOVER

Der 1814 auf dem Wiener Kongreß zum Königreich erhobene Staat be- fand sich weiterhin in Personalunion mit Großbritannien. Diese wurde 1837 aufgelöst, als unterschiedliches Erbrecht in Großbritannien eine Frau, Victoria, die Thronfolge antreten ließ, während in Hannover nach salischem Recht Ernst August, einem Bruder Georgs IV. und Wilhelms IV.

und Sohn Georgs III. der Vorrang gebührte. Erst von diesem Zeitpunkt an bestand also wieder die Möglichkeit, Hannover zum echten Staatsmittel- punkt und Sitz des regierenden Herrschers und seines Hofes zu machen.

Das haben die beiden letzten weifischen Könige, Ernst August (1837-1851) und sein Sohn Georg V. (1851-1866) auch versucht. Wie sie den Hof gestalteten und welchen Charakter die sie umgebende Hofgesell- schaft annahm, hing u. a. von ihrem Herrschaftsverständnis ab. Der ande- re wichtige Faktor ist, daß Hannover seit 1833 ein Verfassungsstaat, eine konstitutionelle Monarchie und keine absolute Monarchie mehr war. Ver- fassungsrechtlich waren damit die Voraussetzungen beseitigt, die im 17. Jahrhundert den Hof und die Hofgesellschaft hatten entstehen lassen.

Das Merkwürdige und Erklärungsbedürftige ist nun aber, daß ausgerech- net in den letzten Jahrzehnten des Königreichs, als die verfassungsrechtli- chen, sozialen und wirtschaftlichen Voraussetzungen für den Hof total verändert waren, man in Hannover an die Erscheinungsformen, die Eti- kette und das Zeremoniell des absolutistisch-barocken Hofes anzuknüp- fen versuchte und dessen Ausdrucksformen zu höchster Verfeinerung und Steigerung weiterentwickelte.

HOF UND HOFGESELLSCHAFT UNTER DER STATTHALTERSCHAFT DES HERZOGS VON CAMBRIDGE (1814-37)

Während der napoleonischen Zeit hatte Hannover unter den kriegeri-

schen Auseinandersetzungen und unter mehrfach wechselnder Besatzung

und politischer Herrschaft zwischen Franzosen und Preußen ein wechsel-

volles Schicksal erlitten. Nach der 1814 durchgesetzten Rangerhöhung

und der auf dem Wiener Kongreß erfolgten territorialen Arrondierung

mußte Hannover — wie die meisten deutschen Staaten — daran gehen,

die überfällige Modernisierung auf allen Gebieten möglichst rasch durch-

zuführen.

(22)

Der für alle wichtigen politischen Entscheidungen bedeutendste hanno- versche Staatsmann war Graf Münster

62

, Leiter der Deutschen Kanzlei in London. Sein politisches Kalkül lief offenbar auf Folgendes hinaus: Er selbst wollte deutscher Minister in London bleiben, um dort direkten Zu- gang zum König bzw. zum Regenten, dem späteren Georg IV., zu haben, um ihn so leichter als von Hannover aus beeinflussen zu können. Die von ihm für Hannover durchgesetzte Rangerhöhung legte nahe, nun einen ständigen königlichen Statthalter in Hannover zu installieren. Dabei er- schien es ihm angebracht, jemanden zu wählen, der keine eigenen politi- schen Ambitionen verfolgte, die seinen Einfluß hätten schmälern können.

Diese Bedingungen schien ihm der jüngste Sohn Georgs III., der Herzog Adolf Friedrich von Cambridge zu erfüllen. Näherliegender wäre es zwar gewesen, für den Posten den älteren Ernst August, den Herzog von Cum- berland, vorzusehen, der in der Thronfolge höher rangierte und tatsäch- lich 1837 bei der Auflösung der Personalunion König von Hannover wur- de. Er hatte schon lange politischen Ehrgeiz und deutliches Interesse für Hannover gezeigt. Gerade dies aber ließ ihn in den Augen des Grafen Münster als den weniger wünschenswerten Kandidaten erscheinen. Er bot all seinen Einfluß auf, den widerstrebenden Herzog von Cambridge für eine Statthalterschaft in Hannover zu gewinnen, was ihm schließlich auch gelang. Dessen offizielle Ernennung zum Militärgouverneur von Hannover

63

erfolgte zu einem Zeitpunkt, als der Herzog von Cumberland schon im befreiten Hannover weilte und dort auf eine politische Chance hoffte. Wenige Tage vor der Ankunft seines Bruders (19.12.) verließ Ernst August Hannover (14.12. 1813).

Der Herzog von Cambridge hat von 1813 bis 1837 in Hannover residiert, von 1813 bis 1816 als Militärgouverneur und nach dem Sturz des Grafen Münster von 1831 bis 1837 als Vizekönig. Sein Zuständigkeitsbereich än-

62 Eine modernen wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Biographie des Gra- fen Münster (1766—1839) gibt es nicht. Für eine erste Information muß man noch immer auf den Artikel von Ferdinand Frensdorff in der ADB 23, 1886, S. 157—185 zurückgreifen. Es bleibt zu hoffen, daß nach dem Nachlaß Münster im Nds HStA Hannover, Dep. 110 A eine moderne Biographie erarbeitet wird.

Im Druck befindet sich das Werk: Biographien zur deutschen Verwaltungsge- schichte, hg. von Kurt G. A. Jeserich und H. Neuhaus. Es enthält einen biogra- phischen Artikel der Verfasserin über den Grafen Münster, in dem die derzeiti- ge Forschungslage berücksichtigt wurde und die wichtigste Literatur genannt wird.

63 Laut königlichem Reskript vom 29.11. 1813 und Patent des Ministeriums vom 20. 12. 1813.

(23)

derte sich zwar in den verschiedenen Stellungen etwas, aber er blieb doch während der ganzen Zeit im wesentlichen auf repräsentative Aufgaben beschränkt

64

. Man kann ihn mit einem Ministerpräsidenten ohne mate- rielle Prärogative vor den übrigen Ministern vergleichen

65

. Auch die Er- weiterung seiner außerordentlichen Vollmachten nach dem Sturz Mün- sters 1831 gaben ihm für normale Zeiten keinerlei Gewalt über die Mini- ster.

Diese Stellung kam seinem freundlich — ungezwungen — jovialen Wesen und seinem wenig ambitiösen Charakter entgegen. Nur Stellvertreter des Königs, erst seines Vaters, dann seiner Brüder

66

zu sein, widerstrebte ihm offenbar nicht. Den Rangabstand zum eigentlichen Herrscher machte er dadurch deutlich, daß er in Hannover nicht im Schloß selbst, sondern im Palais an der Leinstraße und im Sommer in Monbrillant wohnte. Sein un- prätentiöser Lebensstil und sein geselliges Naturell gewannen ihm die Zu- neigung aller Stände und ließen ihn im ganzen Land beliebt sein. Eine umfangreiche Sammlung von Huldigungsgedichten

67

unterschiedlichster Art legt bis heute beredtes Zeugnis von seiner Beliebtheit ab. Es gibt Ge- dichte auf Papier, Pergament, Atlas, Seide, in lateinischer, englischer, deutscher, italienischer, plattdeutscher und oberharzer Sprache und Mundart — bezeichnenderweise kaum solche in Französisch, der eigentli- chen Hof- und Diplomatensprache, die aber nach dem Befreiungskrieg als Sprache des Feindes der politisch erwachenden Nation verpönt war. Die Verfasser und Absender der Huldigungsadressen waren: Arbeiter einer Gewehrfabrik, Harzer Bergleute, „Töchter Clausthals", Schüler des An- dreanums Hildesheim, die Universität Göttingen, die Stadt Emden, der Flecken Carolinensiel, die Bürgerschaft Hamelns, das Landwehrbataillon Gifhorn, die Ortschaften Barsum, Scharnebeck, Otterndorf, Bremerlehe, Melle, Bramsche, die Knappschaft von Rothehütte und Königshof. Seine Beliebtheit bei allen Volksschichten zeigte sich, als er 1821 an der Seite

64 Über den Herzog von Cambridge (1774—1850) finden sich wohl zeitgenössische Äußerungen; in der wissenschafÜichen Literatur aber ist er nicht beachtet wor- den. Informationen finden sich in der ADB 1, 1875 und bei Wilhelm Rothert, Allgemeine hannoversche Biographie, Bd. II, Im Alten Königreich Hannover 1814-1866. Hannover 1914. S. 2 0 - 3 4 .

65 So Ernst von Meier, Hannoversche Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte 1680-1866. 2 Bde. Leipzig 1898/99. ND Hildesheim 1973. Bd. I, S. 198.

66 Georg IV. 1820-30. Wilhelm IV. 1830-37.

87 Eine Sammlung von Huldigungsgedichten findet sich in der Landesbibliothek Hannover unter den Signaturen C 200842 und C 15670.

(24)

Georgs IV. das Land bereiste und diese Reise einem Triumphzug glich

68

. Sie zeigte sich ferner anläßlich seiner Geburtstagsfeiern und in vielen Äu- ßerungen der Anhänglichkeit der Hannoveraner an ihn. Die erste hanno- versche Kunstausstellung 1833, die von dem mit seiner Unterstützung ge- gründeten Kunstverein zustandegebracht worden war, wurde an seinem Geburtstage eröffnet und dieses Datum wurde für über einhundert Jahre beibehalten. Als er 1837 das Land verließ, erschien die hannoversche Bür- gerschaft, angeführt von Stadtdirektor Rumann, in Trauerkleidung vor Monbrillant. Und als 1850 die Nachricht von seinem Tod Hannover er- reichte, ließ man das vorbereitete Freischießen einstellen.

Die Hofhaltung war unter ihm trotz des Zeremoniells bürgerlich einfach.

Die noch bestehende schroffe Trennung zwischen adeliger und bürgerli- cher Gesellschaft hätte er gern beseitigt. So führte er Kasinobälle im Wall- modenschen Haus am Markt ein, hatte aber mit dieser Initiative keinen Erfolg, weil sich der hannoversche Adel seinen Bemühungen versagte.

Das Rangreglement Ernst Augusts von 1696 war weiter in Gültigkeit und be- durfte dringend einer Überarbeitung. 1821 wurde eine Kommission einge- setzt, die über zehn Jahre arbeitete, ohne jedoch zu einem verbindlichen Ab- schluß zu gelangen

69

. Daß man sich in Hannover erst so spät und dann er- folglos des überfälligen Problems annahm, hatte politische Gründe: Nach 1814 hatte man sich erst wichtigeren Problemen zuwenden müssen. Dann konnte man vor dem vollen Regierungsantritt Georgs IV. heikle Stil- und Eti- kettefragen schwerlich behandeln. Und nach 1831 standen wieder andere wichtige Punkte auf der Tagesordnung der Politik: die Verfassungsfrage und wirtschaftliche und soziale Reformmaßnahmen (Bauernbefreiung u. a.).

Ein interessantes Zeugnis von den fortbestehenden gesellschaftlichen Verkrustungen in Hannover legt eine 1817 anonym erschienene Schrift ab: „Patriotische Wünsche eines Hannoveraners die völlige Gleichheit al- ler Stände bei Besetzung und Bekleidung der gesammten Staats-Bedie- nungen betreffend. Gleiche Brüder, gleiche Kappen!" Die kritische Be- schreibung der bestehenden Verhältnisse liest sich, als befinde man sich im 18. Jahrhundert. Der Verfasser moniert, daß immer noch der alte Adel

„bei Besetzung der angesehensten und wichtigsten Staats-Bedienungen, außerordentlich viele und große Vorzüge vor den Personen bürgerlichen Standes"

70

genieße und er führt aus, daß dies nicht nur für die Besetzung der hohen Landesverwaltungs- und Justizstellen gelte, sondern auch bei

60 Vgl. Anm. 49.

69 Dazu: Nds. HStA Hannover Des. 82 und Des. 103.

70 Ibid. S. 11.

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Beförderungen und im TiteLwesen. Alter Adel rangiere in jedem Fall vor Bür- gerlichen, unabhängig von Leistung, Qualifikation und Anciennität. Erst seit 1815 sieht der unbekannte. Verfasser zaghafte Ansätze, dieses unzeitgemäße Adelsmonopol zu bre,chen. Er schöpft daraus die Hoffnung, daß nun auch in Hannover nach Jahren schicksalsschwerer Katastrophe und glücklicher Wiedergeburt „die Morgenröthe" schönerer Tage71 aufgehen werde. Der Verfasser schließt im Sinne eines gesamtdeutschen Patriotismus mit der Hoffnung, auch Hannover werde „jedes Verdienst nach Würdigkeit . . . er- heben und auch auf diese Weise das Wohl aller Stände, ohne irgend eine Begünstigung,.. .miteinander.. .vereinigen"72 und damit wie andere deut- sche Staaten dem eigenen und dem gesamten deutschen Wohl dienen.

Die Schrift ist alles andere als radikal, gemäßigt in den Forderungen und mo- derat im Ton. Um so überzeugender und glaubwürdiger wirkt die Beschrei- bung der geltenden Verhältnisse. Wie groß zu diesem Zeitpunkt der Abstand zwischen Hannover und den Reformen auf rheinbündischer Seite einerseits und denen Preußens im Zeichen der Stein-Hardenbergschen Reformen ande- rerseits war, wird hier ganz deutlich. Tiefgreifende Strukturreformen, die auch das Adelsprivileg in allen Bereichen und auf allen Ebenen beseitigt hät- ten, wurden in Hannover vor 1831 nicht ernsthaft in Angriff genommen.

Eine Schilderung der gesellschaftlichen Verhältnisse in Hannover in die- ser Zeit, wie sie ein Hannoveraner in seinen Lebenserinnerungen formu- liert, liest sich, als berichte er vom 18. Jahrhundert. Julius Hartmann schreibt in: Meine Erlebnisse zu hannoverscher Zeit 1839—1866:

„Der Adel hatte seine großen Privilegien bewahrt. Er war weder an geisti- gen Kapazitäten, noch am äußeren Besitz reich, die meisten Rittergüter waren klein, nur einzeln große Herrschaften vorhanden. Aber der Adel hielt zusammen und ersetzte durch starres Festhalten an ererbten Ansprü- chen, nicht selten auch durch abweisendes hochmütiges Benehmen den Mangel an realer Bedeutung. Die Ritterschaften, die calenbergische, die lüneburgische, die bremische usw., welche sich sogar durch die farbigen Aufschläge ihrer roten Galaröcke unterschieden, behaupteten jede für sich und alle gemeinsam ihre einflußreiche Stellung in der hannover- schen Landesverfassung. Die höhere Geltung des Adels wurde auch durch Titel und Rang bezeichnet. Ein adeliger Amtmann hieß Drost, ein adeliger Oberförster Forstmeister, die Äbtissin eines adeligen Stiftes hatte einen höheren Rang als die eines Landesklosters, das adelige Mädchen ward Fräulein, das bürgerliche auch aus den besten Familien Demoiselle,

71 Ibid. S. 35 f.

72 Ibid. S. 40.

263

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schlichtweg Mamsell genannt. . . . Die Zöglinge der Ritterakademie in Lü- neburg, die von gutem Adel sein mußten, trugen auf ihren blauen Fracks goldene Knöpfe mit den Buchstaben Κ St H : die Akademie hatte nämlich das ehemalige Kloster St. Michaelis inne. Man behauptete aber, daß die Buchstaben „Künftiger Staatsminister" bedeuten . . .

Die hohen bürgerlichen Beamten wußten ihrerseits herkömmliche Rechte zu bewahren. Auch sie hielten untereinander mit gewissem Stolze zusam- men und sicherten ihren Söhnen ein Fortkommen in einer der ihrigen ent- sprechenden guten Laufbahn. Daneben rechtfertigten sie ihren Ruf sorg- fältiger, feiner Erziehung, gründlicher Bildung, zuverlässiger Geschäfts- führung und großer Ehrenhaftigkeit. Justiz und Verwaltung wurden vor- trefflich geleitet und gut gehandhabt. Die besten Köpfe konnten freilich aus dem engen Kreise des Landes und dem scheinbar still stehenden öf- fentlichen Geiste auch nicht hinaus. Das milde Regiment des Vizekönigs regte zu Verbesserungen nicht an. Das L. S., welches anstelle des Siegels (loco sigilli) unter die Gesetze gedruckt wurde, las man scherzweise: „Laß' schlüren." Im ganzen freuten die Hannoveraner sich ihres Zustandes und waren Neuerungen abhold"73.

Die relativ offene Situation der Jahre 1814—1819 hatte anfangs scheinbar Möglichkeiten für einen Reformkurs auch in Hannover eröffnet. Aber schon bald setzten sich reaktionäre Kräfte wieder durch und blockierten alle Modernisierungsansätze. Dies blieb so auch während der 20er Jahre.

Der Herzog von Cambridge, wenig energisch und durch seine geringen Kompetenzen in seinen Wirkungsmöglichkeiten beschränkt, sah sich ei- nerseits auf ein wenig reformfreudiges adliges Ministerium angewiesen, andererseits auf den starken Mann in London, den Grafen Münster, der sich längst von reformkonservativen Mitarbeitern wie Rehberg getrennt hatte und sich, ζ. T. wohl zur Erhaltung der eigenen Machtposition, der Reaktion angepaßt hatte.

Erst auf dem Hintergrund der französischen Julirevolution von 1830, un- terstützt von Unruhen und Aufruhr an mehreren Orten im Lande, erhielt die Reformdiskussion in Hannover Auftrieb74. Die Kritik machte sich ζ. T.

vermutlich zu Unrecht, an der Person des Grafen Münster als der Symbol-

73 Julius Hartmann, Meine Erlebnisse zu hannoverscher Zeit 1839—1866. Wiesba- den 1912. S. 23 f.

74 Vgl. zur Situation in Hannover 1831 die ausgezeichnete Untersuchung von Hans-Gerhard Husung, Protest und Repression im Vormärz. Norddeutschland zwischen Restauration und Revolution. Göttingen 1983. ( = Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Bd. 4).

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