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373 F K IV T C: J E

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EIL

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UGENDHILFE UND DIE

E

NTWICKLUNGSDYNAMIKEN IM

F

ELD

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RIMINALITÄTSKONTROLLE

‚Ich kann dir nur sagen Friederike, sei vorsichtig und denke daran, was alles vorkommt. Erst gestern stand wieder was drin’.

‚Ich weiß ja, gnäd´ge Frau. Aber man is ja doch auch kein Kind mehr’.

‚Und wenn es klingelt, mache nicht gleich auf und schiebe dir lieber erst eine Fußbank ran, dass du durchs Oberfenster sehen kannst wer eigentlich draußen ist […]’.

‚Ja gnäd’ge Frau’.

‚Und wenn du aufmachst, immer noch eine Kette vor und immer bloß durch die Ritze […] Neulich ist erst wieder eine Witwe totgemacht worden, und wenn du gleich alles aufreißt, kann es dir auch passieren, oder sie streuen dir Schnupftabak in die Augen, oder sie haben einen Knebel, und du kannst nicht mal schreien. Und dann rauben sie alles aus […]’ (Theodor Fontane ‚Die Poggenpuhls’ 1894)1.

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IV.1 ‚(NO)MORE OF THE SAME’–VERSCHIEBUNGEN IM PRÄVENTIONSDISKURS

Das wesentliche Merkmal der Kontrolle und Sanktion von Abweichung im keynesianischen Wohlfahrtsstaat besteht darin, dass die Logiken und Rationalitäten des Sozialen auch das Feld der Kriminalitätskontrolle durchdringen. Kriminalität bzw. Devianz in einem allgemeineren Sinne werden im Kern als Ausdruck eines zugrundeliegenden Problems betrachtet: der ‚positional-dispositionalen Matrix’ - in der der Akteur zu verorten ist - und deren ‚Abstand’ von der fordistischen Normalität. Die Bearbeitung dieser Matrix geschieht im Feld der Kriminalitätskontrolle zwar zwangsförmig, folgt aber auf der Ebene der Technologien und Rationalitäten im Wesentlichen jenen Logiken, die auch für das Feld des Sozialen konstitutiv sind. Das Feld der Kriminalitätskontrolle im sozialen Interventionsstaat des keynesanischen Fordismus lässt sich insgesamt als ein ‚Straf-Wohlfahrtskomplex’ beschreiben. Vor dem Hintergrund ihrer, durch diesen Verweisungszusammenhang markierten, relativen Abhängigkeit, können die Rationalitäten und Praxisökonomien im Feld der Kriminalitätskontrolle von den Verschiebungen im Feld des Sozialen und den Modulationen der politischen Rationalitäten des sozialen Staates nicht unberührt bleiben: Die Verschiebungen im Feld der Kriminalitätskontrolle lassen sich im Kontext der selben gesellschaftlichen und politischen ‚Hintergrundsgrammatiken’ (vgl. Veyne 1992) analysieren, in die auch das Feld des Sozialen eingebettet ist.

Im fortgeschritten liberalen Feld der Kriminalitätskontrolle, so die These, finden sich sehr analoge Verschiebungen zu denen im Feld des Sozialen. Dies gilt insbesondere mit Blick auf Prozesse einer ‚Ökonomisierung’ und einen Aufstieg des Managerialismus, eine Fokussierung lokaler Gemeinschaften und vor allem in Hinblick auf die ‚Repräsentation’ bzw. die ‚Subjektivierung’ der ‚kontrollunterworfenen’ Akteure selbst.

Einige der zentralen Verschiebungen und Umstrukturierungen im Feld der Kriminalitätskontrolle lassen sich anschaulich anhand einer Informationsschrift mit dem Titel ‚Jugend und Polizei gemeinsam gegen Kriminalität’ illustrieren, die die Landeskriminalämter Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern (2000: 4 f) an den Schulen ihrer Länder verteilen. „Warum“, wird dort gefragt „brechen manche Kinder und Jugendliche das Gesetz?“. Diese Gretchenfrage des Krimsinalitäts-Präventionskomplexes, wird wie folgt beantwortet:

„Es gibt da z.B. die tiefen Ursachen der Kriminalität, die in der Person des Täters oder in seinem Umfeld liegen. Kriminalität kann aber auch durch die konkrete Situation, durch Tatgelegenheiten, begünstigt werden, oder auch dadurch, dass es die Gesellschaft nicht schafft, bereits überführte Täter wieder auf den rechten Weg zu bringen. […] Wusstet ihr eigentlich, dass …?

[…] jeder Mensch die Chance hat, ein Leben zu führen, bei dem er nicht mit den Strafgesetzen in Konflikt kommt […] die Polizei in den meisten Fällen Kriminalitätsursachen nicht beheben kann und deshalb Kriminalitätsvorbeugung eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist, bei der das Engagement jedes einzelnen Menschen gebraucht wird

Kriminalitätsursachen am besten dort bekämpft werden können, wo sie entstehen und dass es in vielen Gemeinden bereits kommunale Präventionsräte gibt

[…] ihr es selbst in der Hand habt, ob ihr kriminell werdet oder nicht“.

Im Vergleich zur keynesianisch-fordistischen Logik der Kriminalitätskontrolle, werden in diesen, auf den ersten Blick nicht sonderlich spektakulär klingenden, Ausführungen, zahlreiche Aspekte ausgeführt, die eine deutlich andere Konnotation aufweisen, als die Begründungen und impliziten

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Ursachenzuschreibungen, die für die im Fordismus dominanten ‚normierend normalisierenden’ Präventionslogiken typisch sind. Dies impliziert zwar nicht, dass die bisherigen Begründungen und Strategien der Prävention als Ganze obsolet wären - sie bleiben in einigen gesellschaftlichen Bereichen, vor allem in jenen, die noch ausgeprägte Züge des fordistischen Wohlfahrtsstaates aufweisen, sogar dominant - allerdings rücken ihnen neue Strategien an die Seite und teilweise auch an ihre Stelle.

Das Feld der Kriminalitätskontrolle befindet sich, vergleichbar mit dem Feld des Sozialen, in einem strukturellen Wandlungsprozess, der durch eine Vielzahl fragmentierter, teils konvergenter, teils widersprüchlicher Ungleichzeitigkeiten gekennzeichnet ist. Wenn man, wie es etwa Bourdieus Trias von Habitus Felder und Praxis nahe legt, davon ausgehen muss, dass sich auch die Praktiken sozialer Ordnungsformation, Regulation, Regierung bzw. der Gouvernementalität nicht in allen gesellschaftlichen Bereichen auf dieselbe Weise entwickeln und wirksam werden (können), so ist jeder Versuch die Vielgestallt und Innovationen im Feld der Kriminalitätskontrolle flächendeckend abzubilden von Beginn an zum Scheitern verurteilt (vgl. Arbeitsstelle Kinder- und Jugendkriminalprävention 2000: 5). Nichtsdestoweniger lassen sich zentrale Entwicklungslinien und -logiken rekonstruieren.

Obwohl die Rationalitäten und praxisökonomischen Regelmäßigkeiten der beiden Felder relativ autonom, nicht auseinander deduzierbar und schon gar nicht aufeinander reduzierbar sind, finden deutliche Analogien und Strukturgleichheiten in den jüngeren Entwicklungen innerhalb der Felder des Sozialen und der Kriminalitätskontrolle, die jedoch von widersprüchlichen Entwicklungen in der Beziehung zwischen beiden Feldern begleitet werden. Während in einigen Bereichen der Kriminalitätskontrolle die Logiken des Sozialen zurückgedrängt, die Gestaltungsmacht seiner institutionellen Vertreter eskamotiert und die Grenze zwischen beiden Feldern in einigen Kontexten - etwa dort, wo anti-sozialstaatliche, resozialisierungsfeindliche, polizeifixierte und abschreckungsgerichtete Strategien in den Vordergrund rücken (vgl. Sack 1995: 34) - deutlich rigider gezogen werden als bisher, findet sich zeitgleich eine Art ‚komplementäre Konkurrenz‘ (vgl. Lindenberg/Schmidt-Semisch 2000) zwischen den jeweiligen Ansätzen, sowie eine übergreifende Entwicklung ‚neo-sozialer’ Strategien der Risiko-Governance, in der die Grenzen beider Felder bis zur Unkenntlichkeit verschwimmen2 (dazu bereits Cohen 1985).

Die Gleichzeitigkeit in der diese Entwicklungen stattfinden macht es erforderlich, auf die Annahme zu verzichten, dass „lediglich eine kohärente […] Ideologie durch eine andere ersetzt wird“ (Harris/Kirk 2000: 112). Die Feststellung von Bewegungstendenzen und Verschiebungen der Feldlogiken und Diskurskonstellationen impliziert nicht, dass andere, vorgängige Muster und Rationalitäten völlig verschwunden wären, sondern verweist auf Gewichtsverlagerungen, Balanceverschiebungen, Relativierungen, Revitalisierungen, Überlappungen, Ziel- und Rationalitätsmodulierungen etc. bekannter, wiederentdeckter, ‚umbenannter’ und neuer Strategien, die – so widersprüchlich sie im

2 Insbesondere das letztgenannte Moment wird von Akteuren aus beiden Feldern mit einiger Regelmäßigkeit – je nach

Perspektive – als ‚Kriminalisierung der Sozialpolitik’ oder als ‚Resozialisierung der Kriminalpolitik’ beschrieben, kritisiert, gefordert etc.

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einzelnen auch sind - in ihrer Gesamtheit die Felder und Subfelder der Kriminalitätskontrolle wie des Sozialen strukturieren.

Das Feld der Kriminalitätskontrolle kann, in Anlehnung an Bourdieu, als ein dynamisches Kräfte- und Kampffeld betrachtet werden, in dem die unterschiedlichen ökonomischen, sozialen und kulturellen Interessen von öffentlichen und privaten Gruppen, Institutionen und Professionen vertreten, vermarktet, bekämpft oder in ‚ressortübergreifenden’ Bündnissen zusammengeführt werden. Dies kann im Ergebnis, je nach Feld oder Teilfeld, nicht nur zu widersprüchlichen Zielen, sondern auch zu diversen Kontrollstilen führen, die sich in unterschiedlichem Maße als eher punitiv, entschädigend, befriedend oder therapeutisch beschrieben lassen (vgl. Cohen 1993). Die zeitgleich rekonstruierbaren, präventiven Strategien reichen dabei von Integrationsbemühungen bis zur Vertreibung, vom Sanktionsverzicht bis zu atavistischen Strafformen, von der Stärkung der ‚Zivilgesellschaft’ und der Mobilisierung ihrer informellen Konfliktlösungspotentiale bis zu einer ‚Wiederkehr des Leviathan’ (Hansen 1999) in einem ‚post-sozialen Sicherheitsstaat’ (Fitzpatrick 2001).

Die Diversität und immanente Widersprüchlichkeit findet sich dabei nicht nur im Sinne einer - seit der ‚Geburt’ der Kriminologie bestehenden (vgl. Downes/Rock 1998) - Pluralität verschiedener Ansätze. Auch innerhalb eines Ansatzes, Konzepts oder Programms und selbst innerhalb von derselben wissenschaftlichen Abhandlung, finden sich - häufig mit nur wenigen Zeilen Abstand - widersprüchliche Erklärungsmuster sowie ‚Subjektrepräsentationen’, in denen der ,homo oeconomicus’, der ‚psycho-sozial deprivierte’, der ‚verantwortungslose’, der ‚anders-’ oder der schlicht ‚bösartige’ Akteur, wie es Henner Hess (2001a) formuliert, „vergnügt miteinander kopulieren“. Diese widersprüchlichen Gleichzeitigkeiten verbieten es, eine durchgängige Logik der Kontrollstrategien in fortgeschritten liberalen Gesellschaften zu unterstellen (vgl. Cohen 1994, Groenemeyer 2002, O’ Malley 1999, Sparks/Leacock 2002). Es kann eher davon ausgegangen werden, dass je nach Feld, Feldstruktur, Verteilung der Gruppen und Stand der Kräfteverhältnisse in diesen Feldern die eine oder andere Strategie, Technik und Zielsetzung einflussreicher ist bzw. über eine Art konjunkturelle Vorrangstellung verfügt.

In der Gesamtbetrachtung lässt sich jedoch nichtsdestoweniger davon sprechen, dass eine der zentralen Bewegungen und Verschiebungen im Feld sozialer Kontrolle in fortgeschritten liberalen Gesellschaftsformationen - analog zu den Entwicklungen im Feld des Sozialen – die Erprobung von Strategien ist, die sich im Gegensatz zu den klassischen sozialdisziplinierenden Präventionsstrategien von Versuchen der direkten Formung des Individuums verabschieden und versuchen, es als rationalen und eigenverantwortlichen Unternehmer seiner selbst zu reformulieren. Diese Kontrollrationalitäten zielen nicht mehr nur auf die Erzeugung eines die verallgemeinerten Ideale und Normalitätszumutungen verinnerlichenden und gleichzeitig selbstidentischen ‚Individuums’, sondern viel stärker auf die situative (Kontext)Steuerung (vgl. Wilke 1992) eines flexiblen (vgl. Sennett 1998), kontextsensiblen ‚Dividuums’ (vgl. Deleuze 1993), das sich „über aktive Selbstkontrolle durch Einsicht im Angesicht der aufgewiesenen Konsequenzen“ (Krasmann 2000: 306), rational kalkulierend und um sein Eigenwohl bemüht, gegenüber den unterschiedlichen Normen, Regeln und Regelmäßigkeiten der

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je relativ eigenlogisch herrschenden Praxen einzelner gesellschaftlicher Felder verhält, bzw. verhalten (können) muss.

Um die je unterschiedlichen Kontrollziele zu gewährleisten, findet sich eine zunehmende Subversion der in der fordistischen Phase des Kapitalismus dominanten Formen einer bürokratischen Überwachung und Erzeugung einer individuellen Bringschuld für die rechts- und sozialstaatlich garantierte soziale Teilhabe zugunsten von Kontrollstilen, die auf die Motivation und Befähigung zur Teilnahme in Lebens-, Praxis- und Sinnzusammenhänge gerichtet sind, die einerseits mit Marktanforderungen konfrontiert und nach ökonomischen Mustern restrukturiert und andererseits kleinräumig-partikulargemeinschaftlich gestaltet werden.

Pointiert formuliert besteht ein zentrales Moment der Umstrukturierung des Feldes der Kriminalitätskontrolle darin, dass einer bürokratischen ‚Kolonialisierung von Lebenswelten’ eine Kolonialisierung des Einzelnen durch partikular-gemeinschaftliche Anforderungen seines lebensweltlichen Nahraums an die Seite tritt und dem ‚modernen’ Versuch der Erzeugung eines ‚homo sociologicus’ (Dahrendorf 1974) seine ‚Re-Subjektivierung’ als sozial, moralisch und ökonomisch selbstverantwortlicher rationaler Akteur.

Damit verliert die seit Ende des Absolutismus in unterschiedlichen Formen immer feingliedriger gewordene Strategie der ‚Disziplinierung’, verstanden als der Versuch der Formung des Inneren eines ‚Subjekts’, seine vor allem auf dem Höhepunkt der fordistischen Phase des Kapitalismus kaum hinterfragte Dominanz gegenüber den unterschiedlichsten Formen der Exklusionsverwaltung (vgl. Steinert/Cremer-Schäfer 2000, Schaarschuch 1998) sowie der Regulation, des Managements (vgl. Scheerer 1997) und der Gestaltung von sozialen, ökonomischen und räumlichen Arrangements (vgl. Smandych 1999).

IV.1.1 VOM AUFSTIEG UND FALL DES PROFESSIONELLEN PARADIGMAS

In ganz Europa werden Kriminalität und soziale Kontrolle etwa ab Mitte der 1970er Jahren zunehmend ‚polititisiert’ (vgl. Tham 2000, Garland 2001), d.h. die Frage des richtigen Umgangs bzw. der sinnvollen Bekämpfung von Kriminalität wird zu einem aktuellen Politikfeld und zu einer Frage der öffentlichen politischen Meinung (vgl. Kerner/Weitekamp 1997: 486).

Diese Politisierung stellt einen bedeutenden Einschnitt in die praxisökonomischen Logiken des Feldes der Kriminalitätskontrolle seit der Nachkriegsphase dar.

Insbesondere in der Hochphase des keynesianischen Wohlfahrtsstaates werden Abweichler in erster Linie als erziehungs- besserungs- oder heilungsbedürftige Klienten oder Patienten repräsentiert. Die Frage von Abweichung und deren Kontrolle wird entsprechend als eine ‚de-politisierte’ vor allem ‚technische’ Angelegenheit betrachtet, die am besten dem Expertenwissen der Professionellen des fordistischen Sozialstaats und des Strafwohlfahrtskomplexes überlassen bleibt (vgl. Garland/Sparks 2000, Gronemeyer 2001). Gleichzeitig sind es auch diese Professionellen aus den liberalen Mittelklassen selbst, die den zentralen Stellenwert wohlfahrtsstaatlicher Elemente in den Strategien sozialer Kontrolle sicherstellen und ausbauen und die den Einzug des Wohlfahrtsstaates bis in den

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strafrechtlichen Umgang mit Abweichung hinein vorantreiben (vgl. Harris 2000, Ludwig-Mayerhofer 2000a). Vor allem aus diesen Professionellen rekrutiert sich in den umkämpften Feldern des Sozialen, wie der Kontrolle, eine einflussreiche Gruppe, der es gelingt eine in beiden Feldern maßgebliche ‚professionelle Ideologie’ (Cullen/Gendreau 2001) zu etablieren

„[which] succeeded in characterising retributive or expressive concerns as irrational and inappropriate – unworthy emotions that ought best to be repressed – to the point where explicitly punitive sentiments came to be more or less absent from official discourse about crime and its control” (Garland 2000: 353).

Die wohlfahrtsstaatliche Orientierung der liberalen Eliten ist jedoch nicht einfach einem uneigennützigen Altruismus geschuldet. Insbesondere als Professionelle des öffentlichen Sektors stellen sie – mehr noch als ‚die Armen’ selbst - Mitglieder einer gesellschaftlichen Klasse dar, die durch die Errungenschaften des Wohlfahrtsstaates, vor allem durch eine relative Aufwertung der Bedeutung des kulturellen Kapitals und die Umverteilungseffekte von „compensatory national insurance, social security, national health-care, mortgage subsidies and state-funded education“ (Garland 2000: 236) in mehr oder weniger allen westlichen Gesellschaften die höchsten praxisökonomischen und positionalen Gewinne erzielten können (vgl. Bourdieu 1997). Statistisch gesehen sind es ihre Söhne und Töchter, die von den neuen Aufstiegsmöglichkeiten im Bildungsbereich den größten Nutzen ziehen und sie es selbst, die von Berufsmöglichkeiten und gleichzeitigen Aufwertungen und Sicherung ihrer Positionen durch die Expansion sozialer Dienste auch im Bereich der Strafe und Kontrolle profitierten (vgl. Perkin 1989, Cremer-Schäfer 1999). Es ist vor allem die ‚Demokratisierung’ der akademischen Bildung, die sie als eine progressive Fraktion des gehobenen Kleinbürgertums hervorbringt. Allerdings muss sich diese Fraktion zunächst zwischen den bürgerlichen und den traditionalen Arbeiter- wie Angestelltenmilieus profilieren (vgl. Bourdieu 1982). Diese Profilierung vollzieht sich nicht zuletzt auf der Ebene ‚symbolischer Kämpfe’ (vgl. Bourdieu 1997, Mörth/Fröhlich 1994) wobei eine Demonstration ‚postmaterieller Werte’ (dazu: Featherstone 1991) inklusive einer ‚zivilisierte’ bzw. liberale Denk- Wahrnehmungs- und Handlungsweise gegenüber Kriminalität und Devianz, nicht nur professionsadäquat ist, sondern, im Sinne einer demonstrativ aufgeklärten und gebildeten Haltung, auch als ein symbolisch wirksames Distinktionsmerkmal fungiert, gegenüber den ‚beschränkten’, ‚reaktionären’ oder ‚vulgären’ Anschauung und Haltungen anderer Fraktionen der mittleren Klassen (vgl. Garland 1990, Mörth/Fröhlich 1994, Hess 2001).

Ein solcher aufgeklärter Habitus ist in der ‚geordneten’ Welt des Fordismus (vgl. Bauman 1992) nicht zuletzt deswegen praxisökonomisch relativ leicht aufrecht zu erhalten, weil das kriminelle Bedrohungspotential, dem diese Gruppen ‚privat’ ausgesetzt sind, relativ bescheiden bleibt und auch von ihnen selbst, als marginal eingeschätzt wird. Insbesondere in den 1950er und 1960er Jahren lebt diese ‚beherrschte Fraktion der herrschenden Klasse’ (vgl. Ferchhoff/Peters 1981) üblicherweise in Gebieten und bewegten sich in sozialen Feldern – und ihr Nachwuchs besuchte Schulen – in denen relativ wenig direkter Kontakt zu deligitimierten, bedrohlichen und kriminellen Handlungsweisen der ‚Straßen’ zu erwarteten sind3:

3 Dies war in einer historisch relativ kurzen Phase der Fall. Blickt man einige Jahrhunderte zurück kann von einer solchen

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„Their daily routines did not often expose them to the threat of crime, nor did fear of crime occupy a prominent place in their consciousness. Their preferred image of the criminal was that of the under socialised, undereducated, undernourished adolescent – the ,juvenile delinquent’, for whom social reform and correctional treatment were the appropriate response” (Garland 2000: 357).

Der ,Strafmodernismus’ bzw. der ‚Straf-Wohlfahrtskomplex’ und die Ablehnung repressiver Strategien durch die fordistischen Mittelklasseprofessionen wie Sozialpädagogen, Psychologen und Kriminologen, basiert demnach strukturell vor allem auf einigermaßen überschaubaren Kriminalitätsraten, einer relativ großen Distanz der Mittelklasse vom Kriminalitätsproblem (vgl. Garland 2001) sowie einer Dechiffrierung von Kriminalität als ‚soziales Problem’ (vgl. Brusten 1999), das in enger Verknüpfung mit jenen ‚schlechten sozialen Bedingungen’ steht, von denen angenommen wird, sie seien vor allem mit den staatlichen und sozialtechnologischen ‚top-down’ Lösungen zu lösen, die am sinnvollsten von Experten und Professionellen zu erbringen seien (vgl. Harris/Kirk 2000). In diesem Kontext wird es erreicht, ‚Kriminalpolitik’ weitgehend außerhalb von politischen Wahlkämpfen in einem „bipartisanian mode” zu formulieren „that delegated policy-formation to professionals and practitioners“ (Garland/Sparks 2000: 10). Die Frage der Gestaltung einer gesellschaftlichen Antwort auf das Problem der Non-Konformität stellt demnach zwar einen unsuspendierbar politischen und politisch umstrittenen Prozess dar (vgl. Downes/Rock 1998), aber kaum ein ‚Politikfeld’ im engeren Sinne. Dem politischen

„Vertrauen in die Rolle des Professionals entsprach ein Typus der praktischen Umsetzung von Sozialer Arbeit in der Gestalt eines ‚bürokratisch-professionellen’ Systems […], das dem Expertenwissen von Soziarbeitern eine Vorrangstellung einräumte – sowohl im Hinblick auf die Kategorisierung der Bedürfnisse der Nutzer, als auch der sich daran anschließenden professionellen Reaktionsweise.“ (Harris/Kirk 2000: 113)

Aus der professionsadäquaten Perspektive der definitionsmächtigen Gruppen ist die Lösung für Kriminalität weitgehend identisch jenen den Lösungen, die im weitesten Sinne wohlfahrtsstaatlich und mit Bezug auf die positional-dispositionale Matrix der betroffenen Akteure erbracht werden können: von der individualisierten Behandlung, Unterstützung und Supervision für Familien, bis zu Maßnahmen, die der Verbessung der Positionen gesellschaftlich unterprivilegierter Gruppen durch sozialstaatliche Reformen dienen sollen. Diese individual- und sozialreformerischen Strategien werden durch eine professionelle Unterstützung der Versuche einer weitgehenden Entkriminalisierung weniger schwerwiegender Delikte und ‚unordentlichen’ Verhaltensweisen ergänzt (vgl. Garland/Sparks 2000, Peters 1995).

Zusammenfassend kann die fordistische Phase des Strafrechts als eine Phase seiner administrativen ‚Sozialisierung’ und der zunehmenden Zurückdrängung seines punitiven Gehalts gefasst werden, die in einem weitgehend entpolitisierten Diskurs von liberalen professionellen Eliten getragen wird, für die eine auf Besserung gerichtete, nicht punitive und der Tendenz nach mit dem ‚fehlgeleiteten’ Delinquenten sympathisierende oder zumindest ‚verständnisvolle’ Haltung charakteristisch ist. Allerdings darf diese prinzipielle, ‚sozialstaatliche’ Orientierung nicht darüber hinwegtäuschen, dass

Schriftstellers Daniel Dafoe, die er 1730 dem Lord Mayor von London zukommen ließ: „The whole city, My Lord, is alarmed and uneasy. Wickedness has got such a head, and the robbers and insolence of the night are such that the citizens are no longer secure within their own walls, or safe even in passing their streets, but are robbed, insulted and abused, even at their own doors. [ …] The citizens are oppressed by rapin and violence” (nach: Graycar/ Nelson 1999).

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auch in den sechziger und siebziger Jahren repressive und ausgrenzende Elemente an der kriminalpolitischen Tagesordnung sind (vgl. Ludwig-Mayerhofer 2000, Melossi 2000).

Durch die Vermischung strafjustizieller und sozialstaatlicher Elemente (vgl. Feltes/Sievering 1990) wird eine Form der Bestrafung implementiert, die sich nicht nur auf die Taten, sondern auch auf die unterstellten Bedürfnisse der Unterprivilegierten richtet, die einseitig in den Blick der strafmodernistischen Instanzen sozialer Kontrolle genommen werden: Ihre (zwangsförmige) Behandlung erfolgt ‚for their needs as well as for their deeds’ (vgl. Muncie 1999). Ironischerweise wird gerade durch die diese, prinzipiell mit dem Abweichler sympathisierende Haltung, ein selektiver ‚net-widning’-Prozess (vgl. Cohen 1985) sozialer Kontrolle in Gang gesetzt, der tendenziell zu ungunsten deprivierter Gruppen verläuft (vgl. Albrecht 2000, Müller/Sünker 1995). Kaum weniger ironisch ist auch der genau umgekehrte Effekt, dass die nicht entpolitisierte, sondern im Gegenteil hochpolitische Phase eines ‚getting tough’, wie z.B. im Großbritannien der 1980er Jahre, zumindest phasenweise zu einer Senkung der Haftraten führt. Dies geschieht vor allem weil die Abkehr wohlfahrtsstaatlicher Behandlungskonzepte - über deren Ablehnung sich ‚konservative’ Wohlfahrtsstaatskritiker und ‚linke’ Legalisten einig sind - von einer, sich für eine gewisse Zeit durchsetzenden, Forderung nach ‚just deserts’ (vgl. von Hirsch 1976) und ‚einer Rückkehr zur Gerechtigkeit’ begleitet werden (vgl. Harris/Kirk 2000, vgl. Hudson 2001, Morris et al. 1980).

Im Gegensatz zu Großbritannien kann sich eine solche ‚retributive’ Position, die ‚gerechte Strafen’ präferiert (vgl. Sumner 2001), in der Bundesrepublik nicht durchsetzen. Gleichwohl formiert sich auch hier eine keinesfalls nur von ‚Konservativen’ formulierte Kritik an den straf-wohlfahrtlichen Logiken (vgl. AWO 1994, H.J. Albrecht 2002b). So wirft etwa Detlev Peukert (1986) dem vorherrschenden professionellen Paradigma eine pauschale Problemgruppenkonstitution zum Zwecke der Sozialdisziplinierung von Kinder und Jugendlichen aus der Unterschicht vor und Micha Brumlik kritisiert eine mit dem ‚Soziale-Probleme-Deutungsmuster’ (vgl. Brusten 1999) verbundene „entmündigenden Wirkung von Hilfeinstitutionen“ und „Enteignung des Bewusstseins der Ausgeforschten“ (Brumlik 1980: 114).

Dabei stellen die - politisch betrachtet im wesentlichen ‚linken’ - Kritiken jedoch in aller Regel nicht die sozialstaatliche Orientierung selbst in Frage. Die Kritik zielt vor allem auf die Konsequenzen einer pädagogisierenden Dispositionsorientierung, die statt den Blick auf Fragen der Distributionsgerechtigkeit zu richten, als vermeintlich oder tatsächlich pateranalistische und anti-emanzipatorische Befriedung der Unterprivilegierten ‚entlarvt’ worden ist (vgl. Piven/Cloward 1971, Kunstreich 1999, Muncie 2002).

In diesem Sinne sind behandlungsskeptischen Perspektiven der liberalen Kritiker kaum die treibende Kraft der zeitgenössischen Hinweise darauf, dass sich die Repräsentationen des Abweichlers nach einem sozialstaatsorientierten Schema einer ‚Soziale-Probleme-Definition’ durch die Professionellen deutlich verändert.

Diese Veränderung lässt sich etwa anhand einer Literaturdokumentation der ‚Arbeitsstelle Kinder- und Jugendkriminalitätsprävention’ des DJI (1998) verdeutlichen, in der die im Zeitraum von 1985-1997 in den 50 für die Sozialpädagogik wesentlichsten Fachzeitschriften veröffentlichen, praktischen

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kriminalpräventiven Ansätze und Projekte dargestellt werden. Zwar werden dieser Dokumentation zu Folge bei einigen der Projekte ‚sozial benachteiligte’ Jugendliche als Zielgruppe benannt, bei der Beschreibung präventiven Maßnahmen und Strategien lassen sich jedoch in der gesamten Dokumentation - mit Ausnahme von zwei Projekten, die darauf gerichtet sind Jugendliche „von der Straße holen“ (DJI 1998: 84) bzw. „aus dem Bahnhofmilieu zu lösen“ (DJI 1998: 59) - keine Aspekte finden, die unmittelbar mit einem Abbau sozialer Benachteiligung in Verbindung gebracht werden könnten4. Bei den dokumentierten Maßnahmen kommt vor allem den sogenannten

Antiaggressionsprojekten und anderen Formen von Kursen und Trainings eine quantitativ und qualitativ zentrale Bedeutung zu. Diese Maßnahmen zielen im wesentlichen darauf, individuelle Gewaltbereitschaft abzutrainieren, ‚Empathie für Opfer’ zu entwickeln, ‚Konfliktmanagement’ und ‚soziale Kompetenz’ zu lernen, unerwünschte Verhaltenformen, Einstellungen, ‚Bewusstsein’ und ‚Orientierungslosigkeit’ grundlegend zu ändern, über Diskussionen Vorurteile zu irritieren, ‚Selbstkontrolle’ und Ausdauer aufzubauen, „die Jugendlichen wieder ans Aufstehen, ans Arbeiten zu gewöhnen“ (DJI 1998: 65) usw. (vgl. DJI 1998: 9 ff). Der - neben wenigen ‚bildungstheoretisch’ fundierten Ansätzen - überwiegend individualisierte und weitgehend alleine dispositionsbezogene Zugang, trifft auch für die Ansätze zu, die Kinder und Jugendlichen nicht nur als Täter, sondern auch als potentielle Opfer in den Blick nehmen. Diese sind vor allem darauf gerichtet ihre Adressaten Risiken gegenüber zu ‚sensibilisieren’, zur gegenseitigen Kontrolle zu aktivieren und Ratschläge bzw. Anweisungen für ‚kluges‘ und vorsichtiges Verhalten zu geben.

Was neben dem Fehlen eines traditionellen engen Bezugs auf Armut und Deprivation als ‚Ursache’ von Abweichung in diesen Projekten als ein Indikator für den Wandel in der sozialpädagogischen Repräsentation des Abweichlers gewertet werden kann, ist die kritische Auseinandersetzung der Herausgeber - des Deutschen Jugendinstituts - mit dem scheinbar inflationären Gebrauch des Begriffs der ‚Benachteiligung’. Dieser Begriff sei dem „Vorwurf der Beliebigkeit“ und eines „generalstigmatisierende[n] Handeln[s]“ ausgesetzt, „weil [damit] ‚Benachteiligung’ per se als ausreichendes Kriterium für […] Kriminalprävention ausreicht“ (DJI 1999: 26). Mit guten Argumenten ist ja eine direkte und kausalistische ‚evil-causes-evil’ (vgl. Lindesmith 1968: 188 f) Annahme mit Blick auf die ‚Ursachen’ von Non-Konformität unter anderem bereits von Albert K. Cohen (1970) und vor allem von David Matza (1973) kritisiert worden. Diese Kritik wendet sich gegen die im Fordismus vorherrschende Repräsentation des Abweichlers, die gerade auch von den Sozialen Diensten geteilt und vorangetragen wird5 (vgl. Peters 1989, Janssen/Peters 1997, Scherr 2001, Cullen/Gendreau

2001). Was nun aber erstaunt, ist dass die Kritik an der pauschalen Annahme „schlechte Dinge […würden] sich aus schlechten Vorraussetzungen [ergeben]“ (Matza 1973: 29) in einer Weise zum

4 Auch ein Projekt mit dem Titel „Stadtteilorientierte Gemeinwesenarbeit als Mittel der Prävention“ (DJI 1998: 20) kommt

noch in die Nähe eines Bezug auf ‚soziale Benachteiligungen’, in so fern es neben acht weiteren Zielen auch darauf gerichtet ist, „[d]ie Isolation des Einzelnen“ (DJI 1998: 21) dadurch aufzulösen, dass begonnen wird, ein Stadtteilfest „als ‚Initialzündung’ zur Aktivierung der Bewohnerinnen und Bewohner“ zu ‚planen’.

5 Diese Kritik hat in aller Regel nicht impliziert, dass Kriminalität und Kriminalisierung unabhängig von gesellschaftlichen

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Selbstläufer geworden ist, dass sie selbst dort noch in den Mittelpunkt gestellt wird, wo ein Bezug auf schlechte soziale ‚Vorraussetzungen’ kaum erkennbar ist.

Während sich der Rekurs auf ‚schlechte soziale Verhältnisse’ abschwächt (empirisch: Lösel 2002), werden von den Professionellen personenbezogener sozialer Dienste teilweise Aspekte in die präventiven Strategien aufgenommen, in einer retrospektiven Betrachtung des sozialstaatsorientierten Deutungsschemas der fordistisch-keynesianischen Phase des Kapitalismus auffällig abwesend waren: nämlich jegliches substanzielle Interesse am unmittelbaren Kriminalitätsereignis, an ‚kriminogenen’ Situationen und Orten, dem Opferverhalten, den alltäglichen sozialen und ökonomischen Routinen die Kriminalitätsgelegenheiten mit sich bringen usw. (vgl. Garland/Sparks 2000:9).

All dies sind Aspekte die in den Mittelpunkt der kriminalpolitischen und kriminologischen Agenda gerückt sind, die sich selbst wiederum – zumindest in wesentlichen Bereichen – deutlich von den Logiken des Wohlfahrtsstaats und seinen Institutionen entfernt. Dabei verliert die ‚expertokratische’ Herstellung eines zuverlässigen Individuums gegenüber der Vermeidung, Regulierung und Kanalisierung von im weitesten Sinne ‚risikoträchtigen’ Situationen an Gewicht. Das erwachte Interesse an diesen unmittelbaren Kriminalitätshintergründen jenseits der klassischen ‚Soziale-Probleme-Ätiologie’ leitete einen zentralen Bruch in der Analyse abweichenden Handelns in der Phase nach dem keynesianischen Wohlfahrstaat ein. Denn es ist vor allem das Vorrücken dieser Aspekte in das Feld der Kriminalitätskontrolle, durch die nicht nur die politische, sondern auch die bis dahin kaum bezweifelte technologische Relevanz der Betrachtungs- und Bewertungsdispositionen der Professionellen des keynesianischen Strafwohlfahrtssystems herausgefordert wird: „What Pierre Bourdieu would call the habitus of many trained practitioners – their ingrained dispositions and working ideologies, the standard orientations that ,go without saying’ – has been undermined and rendered ineffective” (Garland 2001: 5, vgl. Krasmann 2000b)

Ein dadurch induzierter Perspektivenwechsel, weg von der sozialtechologischen Konzentration auf das Individuum, ist auch aus einer emanzipatorischen und gegen eine Expertokratie der Stakeholder der formellen Kotrollinstanzen gerichteten Perspektive eine Forderung (vgl. z.B. Steinert 1992, 1995 Sünker 1992) und - zumindest bis vor kurzem – keinesfalls ein Gegenstand der Kritik6. Das Anliegen

eines nicht unbedeutenden Teils (herschafts)kritischer Sozialpädagogen und Kriminologen, den ‚Kriminellen’ als Individuum theoretisch wie handlungspraktisch ‚abzuschaffen’ oder ‚irrelevant’ zu werden lassen, um damit den moralisierenden und herrschaftlichen Zugriff auf das Individuum unnötig zu machen, weist zunächst deutliche Parallelen zu Kontrollstrategien auf, die sich mit einer Konzentration auf die Situation begnügen (vgl. Cremer-Schäfer/Steinert 1998, Krassmann 2000, Sessar 1997). So schlagen die dezidiert kritischen Kriminologen Hanak, Stehr und Steinert (1989) vor, den ‚alltäglichen Umgang mit Kriminalität’ auf der Basis einer genauen Beschreibung der prävalenten

6 So etwa die Reaktion der kritischen Kriminologen Helga Cremer-Schäfer und Heinz Steinert (199: 229) auf die von Henning

Schmidt-Semisch und Michael Lindenberg (1996) skizzierte Bewegung hin zu ‚situationsorientierten’ Präventionsformen in fortgeschritten liberalen Gesellschaftsformationen. Es entstehe so die vehemente Kritik von Cremer-Schäfer und Steinert, der irreführende Eindruck „die ‚Aus- und Vorverlagerung’ ergebe eine veränderte Qualität von Kontrolle: Tatsächlich baut sie immer noch und immer selbstverständlicher auf der Abwehr, dem Ausschluß von Personen auf […] Gäbe es stattdessen

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Merkmale, der Situationen und Beteiligten zu analysieren, um somit die Möglichkeiten zur Vermeidung von Schädigung und Verlusten bei kriminalisierten wie nicht-kriminalisierten ‚Ärgernissen und Lebenskatastrophen’ herauszuarbeiten. Diese Möglichkeiten werden jenseits einer degradierenden, moralisch autoritären und individualisierenden Soziale-Probleme-Definition verortet (vgl. Steinert 1992). Statt Fälle von Kriminalität zu bestimmen, damit Konflikte zu enteignen und gleichzeitig dadurch zu personalisieren, dass die als problematisch identifizierten Individuen geläutert werden (vgl. Cremer-Schäfer 1993, Cremer-Schäfer/Steinert 1998), solle der Versuch unternommen werden, ‚problematischen Situationen’ zu ‚managen’ oder im besten Fall ex ante zu verhindern.

Zwar gibt es auch in der Bundesrepublik einige ökonomietheoretische Versuche, die explizit oder implizit kriminogene Situationen als Situationen von Angebot und Nachfrageentscheidungen in den Blick nahmen (vgl. Pilgram 1993) aber in gewisser Weise waren es Vertreter einer kritischen Kriminologie, die zur Vermeidung selektiver Stigmatisierungen, individueller Zurichtungen und Kriminalisierungen Vorschläge unterbreiteten, die in der Legitimation von neuen, ‚postmodernen’ (Kunz 1998) Präventionskonzepten durchaus Anklang finden.

Allerdings folgt eine faktische Abschwächung der ‚moralisch-autoritären’ Kontrolle zugunsten einer Konzentration auf kriminogene Situation, ‚gefährlicher Orte’ und räumlich-zeitlich Gefahrenzonen in den neuen Präventionsstrategie weniger jenen herrschaftskritischen Überlegungen, sondern ist vor allem Ausdruck einer pragmatischen, ‚täterabgewandten’ (vgl. Schmidt-Semisch 2002) bzw. ‚ursachenneutralen’ Kriminologie und Kriminalpolitik, die ihrerseits mit der Schwächung des keynesianischen Sozialstaates in Verbindung steht. Sie kann als eine Kontrollstrategie verstanden werden, die darauf reagiert, dass im Kontext gesellschaftlicher Pluralisierungen und Fragmentierung und der relativen Rücknahme sozialpolitischer Versuche der Erzeugung einer verallgemeinerten Form sozialer Kohäsion auch quasi-universelle Normen und Werte, und ein feldübergreifender sozialer Konsens abgeschwächt werden (vgl. Karstedt 1999a) und ihre gesellschaftliche Integrationsfunktion verlieren, so dass eine generalisierte konsensfähige Wertordnung nicht mehr ohne weiteres als garantiert vorausgesetzt werden kann. Vor diesem Hintergrund besteht ein funktionaler Bedarf an einem neuen Modus der Kontrolle, der sich weder ausschließlich disziplinierender Kontrollverfahren und moralischer Argumentationsfiguren (vgl. Lindenberg/Schmidt- Semisch 1996: 303) noch alleine des personalisierenden auf individuelle Normalisierung gerichteten Zugriffs durch Experten und Professionelle im Auftrag des Staates bedient.

Während die gesellschaftlichen Wandlungsprozesse und die strukturellen Verschiebungen im Feld des Sozialen demnach eine Veränderung vor allem der ‚expertokratischen’ Kontrollformen und -strategien als einen ersten systematischen Bruch mit der fordistischen Logik der Kontrolle implizieren, besteht eine zweite zentrale Veränderung in der Verschiebung des Gegenstandes, auf den sich die Kontrollbemühungen richten.

wirklich mehr Situationskontrolle, wie Lindenberg und Schmidt-Semisch meinen, wäre das durchaus ein Fortschritt weg vom strafenden und ausschließenden Staat, der nun leider nicht stattfindet“.

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IV.1.2 ‚POLITISIERUNG’ DES ‚SICHERHEITSDISPOSITIVS’ UND DIE ‚STRUCTURE OF FEELING’

Fasst man mit Foucault (1978: 119 f) ein ‚Dispositiv’ als ein ‚Netz’, das zwischen einem ‚heterogenen Ensemble’ von Elementen geknüpft ist, das „Diskurse Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische und philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebenso wohl wie Ungesagtes umfasst“ und das darauf gerichtet ist „zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt […] auf einen Notstand zu antworten“, so lässt sich als das zentrale ‚Dispositiv’ des fortgeschritten liberalen Präventionsdiskurses weniger eine strafjustizielle fassbare Bestimmung Kriminalität, als ein ebenso manageriell wie normativ gefasstes Dispositiv der Sicherheit identifizieren (vgl. Frehsee 1998, Lindenberg/Schmidt-Semisch 1996).

Dabei ist der Rekurs auf Sicherheit selbst jedoch zunächst kein Spezifikum eines fortgeschritten liberalen Präventionsdiskurses. Karl Marx (1956) bezeichnet Sicherheit als den zentralen Begriff des bürgerlichen Staates, und in historischer Betrachtung kann in der Tat angenommen werden, dass vom „Ursprung der Herrschaft bis in unsere Tage war es die vornehmste Aufgabe des Feudalherren, Landesfürsten und schließlich der demokratischen Regierungen, die zentrale Aufgabe jeder staatlichen Gewalt, den Vasallen, Untertanen oder Staatsbürgern Schutz zu bieten vor inneren und äußeren Feinden. Das war […] überhaupt die entscheidende Legitimation für Abgaben und Steuererhebungen, für die Konzentration der Waffengewalt beim Herrn und schließlich für das Gewaltmonopol des Staates. Eine genuin politische, ganz und gar ‚hoheitliche’ Aufgabe“ (Scheerer 1997: 13f).

Allerdings haben sich die mit dem Staat verknüpften Sicherheitsbegriffe gegenüber den Bestimmungen von Friedensraum (‚pax’) im Römischen Imperium und der ‚securitas’ der Karolinger und Franken deutlich erweitert. So kennt z.B. die Bundesrepublik als verallgemeinerte Staatsziele, die rechtliche Sicherheit (Rechtsstaatspostulat) und die soziale Sicherheit (Sozialstaatspostulat), sowie im einzelnen grundgesetzlich definierte Staatsaufgaben Formen der Sicherheit wie die äußere Sicherheit (Art. 87a I), die polizeilich-innere Sicherheit (Art 35, II, III), die ökonomisch monetäre Sicherheit (Art. 88) und die wirtschaftliche Sicherheit (Art. 104a, 109).

Ein auf das Innere des Staatswesens bezogener Begriff der ‚öffentlichen Sicherheit’ wird vor allem seit dem 17. Jahrhundert etabliert. Öffentliche Sicherheit markiert dabei die Notwendigkeit eines staatlich induzierten Regelungsbedarfs menschlichen Zusammenlebens (vgl. Kaufmann 1973), bei dem der Staat den legitimen Gebrauch der physischen und symbolischen Zwangsgewalt über ein bestimmtes Territorium (vgl. Bourdieu 1998: 99) zum Schutz des Einzelnen und zur Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung monopolisiert und verallgemeinert. In einem modernen rechtsstaatlichen Verständnis stellt ‚öffentliche Sicherheit’ als Rechtsbegriff zwar nach wie vor das Gewaltmonopol des Staates sicher, aber er dient auch der Begrenzung staatlicher Willkür, nämlich dadurch, dass er als Sicherheit von Rechten gleichzeitig den Freiheitsschutz der Bürger und die Grenzen des staatlichen Zugriffs markiert (vgl. Hansen 1998). Er lässt sich damit als „unbedingte Voraussetzung für das Funktionieren einer sozialen und rechtsstaatlichen Demokratie“ (Kapmeyer/Neumeyer 1993: 5) thematisieren. Demgegenüber ist der Begriff der ‚inneren Sicherheit’, als ein reflexive Pendant der staatlichen Gewährleistung von öffentlicher Sicherheit und Rechtsfrieden konzipiert, aber kein

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bestimmter Rechts-, sondern ein politischer und damit politisch disponibler Begriff, der auf der Vorstellung beruht, dass der Schutz des Versorgers ‚öffentlicher Sicherheit’, eine zentrale Voraussetzung Sicherheit der Bürger sei (vgl. Lehne 1993).

Der Begriff ‚soziale Sicherheit’ stellt demgegenüber die historisch jüngste Komponente des Sicherheitsbegriffs dar (dazu Kaufmann 1973). Als Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise wird er Mitte der 1930er Jahre zunächst in den USA Mitte geprägt (vgl. Dinges/Sack 2000) und rückt schließlich im fordistischen Sozialstaat in den Mittelpunkt staatlicher Sicherheitsbestrebungen. Dabei kommt es dem sozialen Staat zu, zur gesellschaftlichen Bewältigung von Bedrohungen und Risiken in einer Weise für Sicherheit zu Sorgen, die eine verallgemeinerte Form staatlich erzeugter Normalität vor allem durch die Sicherung sozialer Integration, einen kompensatorischen Bezug auf den sozialen und ökonomischen Bedarf der Bürger und eine Form der Prävention an den tatsächlich oder vermeintlich sozialstrukturellen Wurzeln von Risiken sicherstellen soll (vgl. Young 1998: 66). Diese Form der Sicherheitserzeugung ist bis in die 1970er Jahre hinein weniger eine Strategie unter anderen, sondern das in der Gesamtschau hervorragende Merkmal eines „für den fordistischen Nachkriegskapitalismus typische[n] ‚Sicherheitsstaat[s]’, der sich durch eine komplexe Verbindung von relativ umfassender wohlfahrtsstaatlicher Fürsorge und politisch-bürokratischer Kontrolle, Disziplinierung und Überwachung ausgezeichnet hatte“ (Hirsch 1995: 23). In diesem Modell staatlicher Integrationspolitik findet das Spannungsverhältnis von Freiheit, Gleichheit und Sicherheit in der bürgerlichen Gesellschaft seinen materiellen und institutionalisierten Ausdruck (vgl. Sachße 1990, Sachße/Engelhard 1990). Das zugrunde gelegte Konzept sozialer Sicherung steht für die Vergesellschaftung, aber damit verbunden auch der gesellschaftlichen Kontrolle individueller Lebensrisiken.

Dieses ‚Sicherheitskonzept’ als Sicherheitserzeugung durch staatliche Integrationspolitik ist durch die Krise des Fordismus und den Wandel zu einer fortgeschritten liberalen Gesellschaftsformation grundlegend erschüttert worden (vgl. Beste 2000, 2000a, 2000b). In dem Maße wie die Erzeugung von Sicherheit durch ‚soziale Sicherheit’ nicht mehr möglich bzw. politisch nicht mehr erwünscht ist, scheint eine Form der ‚Sicherheitspolitik’ an dessen Stelle zu treten, „die Sicherheit von Menschen vor materiellen und physischen Schädigungen, vor Konflikten und sozialen Erniedrigungen mit der Sicherheit vor ‚Kriminalität’ gleich[setzt]“ (Cremer-Schäfer 1993: 13).

„Zugespitzt formuliert: Je weniger es gelingt, die staatliche Aufgabe des Schutzes der BürgerInnen vor illegitimer Gewalt im Verhältnis zur strukturellen Gewalt der kapitalistischen Ökonomie zu realisieren […], um so bedeutsamer wird es im Interesse der Legitimationssicherung, dass staatliche Politik ihre Fähigkeit glaubhaft machen kann, Schutz vor personeller physischer Gewalt zu gewährleisten“ (Scherr 1997: 259).

Zugleich wird die Sicherheitsgewährleistung ‚dezentralisiert’. Die Aufgabe einer Aufrechterhaltung nicht nur der ‚öffentlichen’, sondern auch der ‚inneren Sicherheit’ wird vom Staat, seinen Institutionen den Professionellen und Experten zu einer - staatlich angeleiteten – Aufgabe der zivilen Gesellschaft erweitert und gleichzeitig in seiner Bedeutung entgrenzt. So betont etwa der baden-württembergische Innenminister Schäuble (1997), dass eine

„aus Gewaltmonopol abgeleitete Schutzpflicht des Staates […] nicht so ausgelegt werden [darf], dass es alleinige Aufgabe der Sicherheitsbehörden ist, für die Innere Sicherheit Sorge zu tragen. Die Sicherheitsorgane sind in ihrem Kampf gegen Kriminalität auch auf die Unterstützung der Bevölkerung angewiesen“

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Dafür komme aber, wie sein nordrhein-westfälischer Kollege Behrens ergänzt, jedem Bürger „auch unterhalb der Grenze zur Straftat“ ein „Anspruch auf Schutz und Sicherheit“ zu (Innenministerium NRW 1998: 4). Dies radikalisiert sich in einer tendenziellen Abkehr von einem klaren Konzept des „Problem[s] Kriminalität“ in der polizeilichen Arbeit und der Bestimmung ihrer Aufgaben, gestützt durch die Begründung „dass Störungen und Problem außerhalb des strafrechtlich relevanten Bereichs die Bürger subjektiv und objektiv oftmals mehr belasten als Straftaten selbst“ (Feltes 2001: 1390). Damit ist eine entgrenzte und juristisch unbestimmte Form ‚persönlicher’ Sicherheit skizziert, auf die der zwar Bürger prinzipiell, aber - vergleichbar mit dem Bereich der ‚sozialen’ Sicherheit im ‚aktivierenden’ Staat – zugleich auch nur dann einen Anspruch hat, er selbst in partnerschaftlicher Weise das seine zur Produktion dieser Sicherheit beiträgt.

Die Entgrenzung, Unbestimmtheit und die seiner partnerschaftlichen Erzeugung immanente Popularisierung des Sicherheitsbegriffs bedeutet aber nicht, dass seine konkreten Inhalte völlig zufällig sind. Vielmehr steht ihm komplementär zu der neuen Sicherheitserbringungslogik eine - in Bezug auf die ko-produktiven, zivilgesellschaftlichen Akteure - nachfrageorientierte Form der Er- und Bearbeitung dessen gegenüber, was als Gefahren und Risiken zu gelten hat, die ebenfalls zunehmend außerhalb und unterhalb der ‚öffentlichen Sicherheit’ und des rechts- und sozialstaatlichen Kontrakts verortet ist und die damit außerhalb bisheriger formaler staatlicher Zuständigkeits- und Zugriffsgrenzen liegen bzw. eher auf ‚moralischem’ als auf ‚legalem’ Kapital basieren.

Ein ‚Gerechtigkeitsproblem’ dieser Entwicklung besteht in den ungleich verteilten den Kontroll- und Steuerungschancen bezogen auf das aktivierbare Schutzpotential (vgl. Hope 2001). Aufgrund der je individuell, klassen- sowie feldspezifisch ungleichen Ressourcenausstattungen und Möglichkeiten der kooperativen Einflussnahme sowie unterschiedlicher inhaltlicher Schwerpunktsetzung entstehen unterschiedliche Sicherheitsniveaus und Sektoren mit einem unterschiedlichen Grad an zugestandener persönlicher Freizügigkeit. Dabei droht sich der Rechtsstaat sowohl bezogen auf sein gegenüber jedem einzelnen ‚Rechtssubjekt’ gleichermaßen ausgesprochenen Freiheitsversprechen (vgl. Frehsee 1999), als auf sein garantiertes und staatlich verallgemeinert durchgesetztes Sicherheitsversprechen unglaubwürdig machen (vgl. von Trotha 1995). In so fern impliziert die Relativierung der zentralen Legitimationsgrundlage staatlicher Herrschaft weder ein Mehr an ‚Freiheit‘ noch unkontrolliertes Chaos, sondern verweist, wie Murck (1994: 76), der Direktor der Polizei-Führungsakademie befürchtet, auf eine „Refeudalisierung der öffentlichen Sicherheit“ (zit. nach Hitzler/Göschl 1997: 143).

Während kritische Sozialwissenschaftler und Kriminologen darauf aufmerksam machen, dass die staatliche Zuschreibung und Feststellung normwidrigen Handelns Interessen reflektiert, die definitionsmächtige Gruppen in asynchronen Aushandlungs- bzw. Skandalisierungsprozessen durchgesetzt haben (vgl. Groenemeyer 1999, Karstedt 1999), wird nunmehr auch auf die formaldemokratische Prozedur verzichtet, die den ebenso prinzipiellen wie allgemeinen Charakter dessen feststellt, was durch das – mehr oder weniger - enge Nadelöhr des Rechts gelangen kann. Was als ordnungsgemäßes oder ordnungswidriges Verhalten gilt, wird, wie Hitzler und Göschl (1997: 144) nachzeichnen,

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„in den Ermessensspielraum der Schutzgemeinschaft bzw. einzelner ihrer Mitglieder gestellt [, und zielt zunehmend auf …] Verhaltensweisen, die als Verstöße gegen die (sozusagen lokalidiosynkratisch) von der jeweiligen Schutzgemeinschaft (willkürlich) definierten Ordnung interpretiert werden“.

In diesem Kontext weiten sich die öffentlichen Verhaltenskontrollen, in dem Maße wie sich die Sicherheits- und Ordnungsangebote nicht mehr

„nach einer amtlichen, demokratisch legitimierten Einschätzung der Bedürfnisse des Gemeinwohls [… sondern] nach Partikularinteressen durchsetzungsfähiger und nachfragemächtiger Teilgruppen der Bevölkerung [… bestimmen] von der Kriminalitätsabwehr über die Ordnungssicherung in die Bereiche von Rücksichtnahme, Höflichkeit und Anstand aus“ (Frehsee 1999: 17).

Gleichzeitig wird auch der Nachweis der Verletzung eines bestimmbaren, bzw. individuell zuzuordnenden Rechtsguts als formal demokratisch legitimer Anlass der Interventionen der Kontrollinstanzen hinfällig. Auch für den Fall dass, „no one particular is harmed by the conduct in question, this does not prevent the invocation of a collective victim – ‚the community’ and its ‚quality of life’ – that deemed to suffer the ill effects” (Garland 2001: 181), die aus ‚Disorder’- Phänomenen als „Formen der ‚Un-Ordnung’, wie z.B. Straßenprostitution, Trinken in der Öffentlichkeit, aggressive Bettelei, Graffiti oder Abfall in den Straßen“ oder ‚Incivilities’7 wie „rücksichtsloses, aggressives,

ungehöriges Benehmen […und] Verstöße gegen die gegenseitige Achtung und Verpflichtung zum Anstand“ (BKA 1997) folgen. Die Konzentration auf Verstöße gegen einer eher durch moralisches als durch legales Kapital konstituierte Ordnung wird dadurch legitimiert, dass „den Bürger“, wie der Deutsche Städte- und Gemeindebund (1998) ausführt, „nicht so sehr das spektakuläre Verbrechen [schreckt], sondern vielmehr das tägliche Erlebnis von Verwahrlosung, Vandalismus und Zerstörung. Mehr als jeder [Z]weite […fühlt] sich dadurch mehr beeinträchtigt als durch ‚richtige Kriminalität’“. In dem Maße aber wie sich die formellen Kontrollinstanzen vor allem aber die Polizei nicht nur an juristischen, sondern zugleich am moralischen Kapital eines Feldes orientieren und dabei Maßnahmen etablieren, die nicht auf Verstöße gegen Strafrechtsnomen, sondern gegen Phänomene räumlicher, sozialer und moralischer Verlotterung gerichtet sind, erklären sie sich zuständig für alle Probleme, die den Bürger belasten und dabei im allerweitesten Sinne dem Bereich der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zugeordnet werden können (vgl. BKA 1997).

Zugleich sind – bereits vor dem 11. September 2001 - durch zahlreiche neue polizeirechtliche Ermächtigungsnormen wie etwa der Einführung verdeckter Ermittler, dem ‚großen Lauschangriff’, der Schleier- und Rasterfahndungen, eigenmächtig aussprechbaren Aufenthaltsverbote (vgl. Kutscha 1998), technischen Raumüberwachungen, verdachtunabhängigen Personenkontrollen usw. auch die formalen Kompetenzen der Polizei enorm erweitert worden. In der Gesamtschau kann dies als ein

7 Wörtlich übersetzt bedeutet der Begriff ‚Incivility’ nichts anderes als ‚Unhöflichkeit’. Dabei ist nicht zu Bezweifeln, dass sich

‚Unhöflichkeiten’ nicht gerade förderlich auf die ‚Lebensqualität’ jener Akteure auswirken, die sie erfahren. Es lässt sich auch noch für einen legitimen politischen Standpunkt halten, wenn sich die Präsenz von Unhöflichkeiten im öffentlichen Raum für konservative Neo-Hegelianer oder Neo-Aristoteliker als Politikum bzw. als erzieherisches Problem darstellt. Wenn es aber in sich als liberal demokratisch verstehenden Gesellschaften eine Institution gibt, die das Unhöflichkeitsproblem – jenseits der Formen die sich in ihren eigenen Reihen befinden – nun nichts, aber auch absolut überhaupt gar nichts anzugehen hat, dann ist dies die Polizei. Die Polizei oder andere strafjustizielle Institutionen für Unhöflichkeiten und andere Bereiche der Moral und Tugend zuständig zu erklären ist geht in so fern weit über den konservativen Kommunitarismus der im ‚aktivierenden Staat’ zum Ausdruck kommt hinaus, sondern verweist schlicht auf vor-aufklärerisches Verständnis von der politischen Regulation des öffentlichen Raums.

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Ausdruck einer paradoxen Form der Verrechtlichung des staatlichen Eingriffshandelns verstanden werden (vgl. Kutscha 2001). Das Paradox dieser Verrechtlichung besteht darin, dass sie zu einer Entgrenzung staatlicher Zugriffsmöglichkeiten statt einer Ausweitung der Rechtssicherheit bzw. der ‚Zähmung’ und Kontrolle des Gewaltmonopolisten führt: „Die Polizei entwickelt sich zu einer ‚Superbehörde’ […] und erhält jene ausgedehnten Zuständigkeitsbereiche zurück, die sie im 19. Jahrhundert schon einmal hatte“ (Karstedt 2000: 41).

Die Ausweitung der bestimmbaren polizeilichen Ermächtigungsnormen ist durch eine Vielzahl neuer und wiederentdeckter Schachteltatbestände ergänzt worden, wie etwa die Erweiterung der seit den 1980er Jahren eingeführten Aufgabe einer ‚vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten’ durch die an rechtlicher Unbestimmtheit der Aufgabenzuweisung an die Polizei kaum zu überbietende Aufgabe einer allgemein formulierten ‚Verhütung’ von Straftaten (vgl. Gusy 1996: 103). Damit wird letztlich auch auf der formalen Ebene eine Abkehr von einem die Polizei legalistisch begrenzenden, abwehrrechtlich konzipierten ‚due process of law’ zum Ausdruck gebracht (vgl. Narr 1999: 32).

Vielleicht noch gravierender als Kompetenzerweiterungen der Kontrollinstanzen und die Verschiebungen von der Illegalität zur Immoralität bei den als kontrollrelevant fokussierten Handlungsweisen ist jedoch eine Umorientierung von ‚objektiven’, d.h. bobachtbaren oder rekonstruierbaren Handlungsereignissen, zu ‚subjektiven’ Eindrücken und dem ‚Gefühl’ relevanter aber nichtsdestoweniger partikularer Bevölkerungsgruppen, die sich als kriminalpolitische Wende von einem ‚War on Crime’ zu einem ‚War on Fear of Crime’ seit den 1970er und 1980er Jahren zunächst in den USA dann auch in Westeuropa vollzogen hat (vgl. Boers 1991).

Dabei stehen zwei Argumente im Mittelpunkt: Zum einen wird betont, dass ein Krieg gegen die Kriminalität, zumal von den formalen Kontrollinstanzen, nicht gewonnen werden kann (vgl. Gramckow/Feltes 1994: 17). Zum anderen wird aus der epistemologischen Banalität einer Differenz zwischen den unterschiedlichen Elaborierungen der ‚subjektiv’ - auf der Basis je individuell angenommener Wahrscheinlichkeiten - wahrgenommenen kriminellen Bedrohungen (vgl. Lianos/Douglas 2000: 112) und der - in Form der polizeilichen Kriminalstatistik auf der Basis statistischer Aggregation ermittelten - nominalen Häufigkeit formal registrierter Verdächtigter (vgl. Kreissl 1997: 537), die handlungsrelevante Erkenntnis konstruiert, das ‚Kriminalitätsfurcht‘ eine von der ‚Kriminalitätsentwicklung‘ losgelöste soziale Tatsache (vgl. IM Baden-Württemberg 1996: 17) und nicht nur als eigenständiges, sondern als das primär durch präventive Maßnahmen zu bekämpfende soziale Problem zu verstehen sei (vgl. Gramckow/Feltes 1994: 17): „Vor allem geht es […in einer ‚bürgernahen’ Form der Kriminalprävention] darum, sich mit der subjektiven Kriminalitätsfurcht und dem individuellen Sicherheitsgefühl zu beschäftigen und die Ursachen dieser Furcht zu beseitigen“ (Feltes/Dreher 1996: 137).

Ein solcher „Gefühlsansatz in der Kriminalpolitik“ (Walter 1995: 72) trägt unter anderem dazu bei, die Grenzen des ‚Kriminellen‘ und ‚Konformen‘ bis zur Unkenntlichkeit zu verwischen und zugleich die Notwendigkeit für weitreichende ‚kriminalpräventive‘ Maßnahmen zu begründen und zu legitimieren (vgl. Boers 2001), die sich vor allem dadurch auszeichnen, dass sie sich viel stärker auf die Bekämpfung der Konsequenzen von Risiken, Kriminalität, Verwahrlosung etc. als auf die Verhinderung

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von Kriminalität selbst oder auf die Bearbeitung ihrer - zumal ‚tieferliegenden‘ - ‚Ursachen’ konzentrieren (vgl. Garland 2001: 121). Damit können sich die kriminalitätsfurchtorientierten Präventionsstrategien in dem Maße, wie sie den Charakter eines nachfrageorientierten „Management[s] von empfundenen und erlebten Risiken und Unsicherheiten“ (Nogala 1998: 146) annehmen, massiv ausweiten und gleichzeitig den Versuch aufgeben, ein verallgemeinertes und umfassendes sozialgestalterisches bzw. gesellschaftssanitäres Projekt staatlich zu exekutierten. Eng mit einer Orientierung an der ‚subjektiv empfundenen’ Kriminalitätsfurcht ist eine verstärkte Orientierung an dem einstigen „Aschenputtel der Strafjustiz und der kriminologischen Forschung“ (Weigend 1994: 45) verbunden, nämlich dem (potentiellen) Opfer. Blankenburg (1996: 173) spricht sogar von einem umfassenden Wandlungsprozess von einem ätiologischen zu einem ‚vikimologischen Paradigma’. Das Ergebnis dieses ‚Paradigmenwechsel’ ist in bezug auf das gesamte Feld der Kriminalitätskontrolle überaus folgenreich:

„Im Mittelpunkt stehen heute weniger die Täter und die sozialen Umstände der Täterwerdung, sondern eher das Opfer und die Vikimisierung; es ist weniger die sozialpolitische Prävention der Täterwerdung, sondern die Prävention der Vikimisierung ist gefragt. Mit anderen Worten: weniger die Ursachen der Kriminalität, sondern vor allem das pragmatische Verhindern und Bekämpfen ihrer Symptome und Folgen stehen im Mittelpunkt“ (Boers 1991: 23 f).

Gegenüber dieser Form der aktuellen Kriminalpolitik in fortgeschritten liberalen Gesellschaften waren die ersten Versuche das Opfer in den Mittelpunkt des Interesses zu stellen, ziemlich genau das Gegenteil einer pragmatischen Symptombekämpfung. Der Bezug auf die potentielle Opfer und ihre Ängste findet sich seit sechziger Jahre vor allem bei US-amerikanischen Bürger- bzw. Minderheitenrechtsgruppen. Dabei war eine Verbindung zwischen einer besonderen Vulnerabilität Opfer zu werden und sozialer Marginalisierung und Machtlosigkeit angesichts relativ klar bestimmbaren, sichtbar durch Kriminalität belasteten Viertel und sozialen Gruppen verhältnismäßig einfach und anschaulich herzustellen (vgl. Garland 2001). Da der Begriff des Opfers in diesem Zusammenhang in einer Weise mobilisiert werden konnte, durch die vor allem die Ergebnisse struktureller sozialer Benachteiligungen medien- und öffentlichkeitswirksam zum Ausdruck zu bringen waren, fungierte er primär für ‚linke’ politischen Gruppen als ein Vehikel um politisch missachtete Ungerechtigkeiten anzuprangern und die Verwirklichung sozialer Bürgerrechte einzufordern (vgl. Stanko 2000). In dieser Tradition führt etwa der 1967 veröffentlichte US-amerikanische Bericht der ‚President’s Commission on Law Enforcement and the Administration of Justice’ über Kriminalität und ihre Wirkung aus, dass „many Negroes believe that if only the white community realised what the ghetto was like and how its residents felt the ghetto would not be permitted to exist” (1967: 122, zit. nach Stanko 2000: 14).

Entgegen den Kriminalitätsstatistiken der Kontrollbürokratien werden Opferstudien von den Interessenvertretern subdominanter Gruppen - etwa von ethischen Minoritäten, feministischen Bewegungen, Behinderten, sexuellen Minoritäten etc. - zur Skandalisierung der in ungleiche Sozial-, Herrschafts- und patriarchale Strukturen eingebetteten und im juristischen Sinne keinesfalls immer illegalen Handlungsweisen der herrschenden Majorität ebenso verwendet, wie zur Skandalisierung

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ihrer eigenen - insbesondere im Vergleich zu den herrschenden Gruppen - unzureichenden Teilhabe am Schutz- und Sicherheitsversprechen der Gesellschaft (vgl. Stanko/Curry 1997).

Ein Rekurs auf Kriminalitätsfurcht und auf viktiomologische Erkenntnisse zur Artikulation der prekären und sozial ungerechten Lage etwa von Frauen, Kindern, Migranten und Homosexuellen findet zwar vereinzelt immer noch statt (vgl. 6. Deutscher Präventionstag 2000), wird jedoch zunehmend von einem Diskurs verdrängt, in dem die Forderungen nach einem verbesserten Opferschutz, die nicht mit der Forderung nach Abbau ungerechter gesellschaftlicher Strukturen verbunden sind, sondern mit der Forderung nach einer konsequenten Bestrafung der Täter (vgl. Kant/Pütter 1998), wobei ‚für das Opfer’ und ‚gegen den Täter’ zu sein, zunehmend synonym verwendet wird. Mit einer Verlagerung der kulturellen Hegemonie und damit verbunden der symbolischen Macht der legitimen Benennungs-, Wahrnehmungs- und Bewertungsweisen im Kontext der Krisen des fordistisch-keynesanischen Sozialstaats seit den 1970er Jahren, hat sich demnach auch die Repräsentation und die politische Funktion des Opfers verschoben.

Zunächst ist die bis in die 1980er Jahre hinein typische, tendenziell sympathisierende Haltung oder gar symbolische Identifikation der Professionellen in personenbezogenen sozialen Diensten mit dem Täter als Opfer der Gesellschaft, der mit dem Opfer des Täters gewichen (vgl. Hess 2001: 334). Zugleich hat aber auch die Betonung, dass prinzipiell jeder - insbesondere dann, wenn er oder sie sich nicht risikobewusst verhält - Opfer werden kann, die Frage nach dem Risiko der Opferwerdung aufgrund gesellschaftlicher Herrschafts- und Ungleichheitsstrukturen abgelöst. Vor allem mit Rekurs auf ‚Kriminalitätsängste’ und Unsicherheitsgefühle wird ein neuer Blick auf die Schicksale und Leidenswege der Opfer induziert, der sich vor allem „auf die Belange und Interessen des ‚normalen und ordentlichen Bürgers’ [konzentriert]“ (Rüther 2001: 60). Eine solche Politik der Kriminalitätsfurcht bezieht sich weniger auf die Selektivität und soziale Irregularität des Kriminellen, sondern rekurriert auf seine Massenhaftigkeit und (potentielle) Allgegenwart und personalisiert es zugleich in der Person des (potentiellen) Täters und des (potentiellen) Opfers. Dies stellt die Basis für eine politische Figuration dar, die Jonathan Simon (1997, 2002) als ‚Regierung durch Kriminalität’ beschreibt. „We govern through crime”, so Simon (2002: 8),

„when ,crime’ and its analogs becomes the occasion, the context, or the justification for efforts to shape the conduct of others. We govern through crime when ,crime’ becomes the problem through which we seek to know and act on the conduct of others. We govern through crime when ,crime’ supplies the narratives and metaphors for people who seek to make claims on those who govern”.

Diese Form des Regierens durch Kriminalität perpetuiert sich auf einer legitimatorischen Ebene alleine dadurch selbst, dass Kriminalität auch als eine politische Artikulation einer „kognitiven Ressource“ interpretieren werden kann, auf die „im öffentliche Diskurs über Sicherheit bezug genommen“ wird (Reuband 2002: 10). Diese ‚Ressource’ in Form eines ‚sozialen’ Problembewusstseins ist unabhängig von dem Maße des persönlichen Bedrohungsgefühls. In Hamburg etwa ist das individuelle Bedrohungsgefühl von 1997 auf 2000 von 60 % der Bevölkerung auf 43 % gesunken. Die Einschätzung, das Kriminalität ein wichtiges, bzw. das wichtigste Problem der Stadt sei, bleibt von diesem ‚Rückgang der Kriminalitätsfurcht’ aber unberührt. Zu beiden Zeitpunkten teilen konstant etwa 52 % der Bevölkerung diese Einschätzung (vgl. Reuband 2002). Offensichtlich ist das ‚soziale

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Sicherheitsempfinden’ sowohl relativ unabhängig von der ‚objektiven Sicherheitslage’ als auch vom persönlichen Bedrohungsgefühl. Wenn eine ‚stärkere Bekämpfung der Kriminalität’ von einem ‚Marginalproblem’, das noch im Jahr 1990 von lediglich einem Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung als ‚dringlichstes Problem’ betrachtet wird, im Jahr 2002 aber – zwar weit hinter der Frage der Arbeitslosigkeit aber deutlich vor Fragen wie etwa der Sicherung von Sozialleistungen, Bildung, Gesundheitswesen und Umweltschutz - die insgesamt zweithöchste Priorität eingeräumt wird (vgl. GFK Pressedienst 2002) und wenn in bezug auf die Frage, was der Bevölkerung ‚große Sorgen’ mache, ‚die Entwicklung der Kriminalität’ zumindest zwischenzeitlich noch vor der Arbeitslosigkeit rangiert (etwa im SOEP von 1999 und 2000, vgl. auch BAT 2002), so wird ein weiterer zentraler Aspekt der Möglichkeit einer ‚Regierung durch Kriminalität’, bzw. der ‚Nützlichkeit’ der ‚Ressource’ Kriminalität für die Governance fortgeschritten liberaler Gesellschaften deutlich: Es stellt eine zentrale gesellschaftliche Sorge dar, die sich zumindest symbolisch auch dort bearbeiten lässt, wo andere politische Probleme nicht bzw. nicht mehr effektiv oder – wie etwa im Falle von Arbeitslosigkeit, sozialer Sicherung und Umweltschutz - nicht zur einvernehmlichen Zufriedenheit möglichst aller ‚relevanten’ Gruppen und ‚Stakeholder’ bearbeitet werden können. Weatherburn und Devery (1991: 23f) erläutern den ‚self-serving cycle’, der sich aus dem politischen Vorteil einer ‚symbolischen Ersatzpolitik’ (vgl. Casper/Brereton 1984, Frehsee 1998, Peters 1998) um das Thema Kriminalität bzw. ‚law and order’ ergibt, folgendermaßen:

„Governments which can be said to be unable to control important social and economic processes are always electorally vulnerable. This is true whether the government can reasonably be expected to be in control or not. No one is likely to forgive a government for rising crime rates even if they can be shown to result from rapid population growth, poor urban development or an increase in households with portable electrical goods. Influential people, with less than honourable motives, can always be found to respond to rising crime rates by saying that the government has lost control of the streets. The effect of such comments, made at the right time, can be electric. Governments of every colour can be driven to pour millions of dollars into law enforcement just to defeat a growing perception that crime is, in some sense, out of control”.

Da ‚Kriminalität’ jedoch gerade in diesem Kontext als ‚politisches Phänomen’ nicht nur eine ‚objektive Realität’ ist sondern, wie Sarre (1992: 102) zusammenfasst, „determined more by issues of politics, knowledge and power, and the struggle by various political and social forces to gain and support order, to resist order and to guarantee order than by settled and revered notions of what ,crime’ is”, kann die empirische Parallelität, logische Unabhängigkeit und teilweise auch faktische Gegenläufigkeit der Verlauskurven des registrierten Kriminalitätsaufkommens, von dem demoskopisch ermittelten Maß an Kriminalitätsfurcht, der Aufmerksamkeit, der diesem Phänomen massenmedial entgegengebracht wird sowie der Intensität und Form in der es politisch thematisiert und instrumentalisiert wird kaum verwundern (vgl. Beckett 1997).

Insbesondere die in der ‚Regierung durch Kriminalität’ angelegte hegemoniale Repräsentation des Opfers - dem Adressaten des ‚Kriminalitätsproblems’ - als potenziell ‚jede Bürgerin und jeder Bürger’ (Behrens 1999: 41), hat dazu beigetragen, die zumindest in manchen Varianten der Kriminalpolitik vorhandene Potenz eines sozialreformerisch intendierten Verweises auf ‚die Gesellschaft’, ‚das Soziale’ etc. zu unterminieren (vgl. Garland 2001: 11). Das Ziel einer systematischen Veränderung der Gesellschaft durch eine ‚Kriminalpolitik als Gesellschaftspolitik’ (vgl. Hoffmann-Riem 2000), ist in so

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fern auf eine Fokussierung der je individuell Betroffenen reduziert worden: „The ultimate effect is […] to distract attention from the basic causes and to leave the primary social injustice untouched“ (Rayan 1976: 24). Diese Form der Politik der Kriminalitätsfurcht wird entsprechend weniger von im weitesten Sinne ‚staatskritischen’ sozial progressiven Gruppen getragen, sondern vom Staat und dem ihm nahestehenden Institutionen selbst. Vor allem aber ist die Politik der Kriminalitätsfurcht nicht mehr mit der Forderung nach der Verwirklichung gleicher Rechte verbunden, sondern mit einer Erweiterung der Kompetenzen der Kontrollinstanzen und mit Anweisungen zu einem individuell vorsichtigen und risikobewussten Verhalten auf Seiten der potentiellen Opfer (vgl. Stanko 2000: 25 f, O´Malley 1992, Schmidt-Semisch 2002), die eher darauf gerichtet sind, bestehende gesellschaftliche Verhältnisse zu konservieren, als zu überwinden.

Die Gleichzeitigkeit einer Verallgemeinerung der potentiell von Kriminalität Betoffenen und eine Individualisierung der daraus folgenden Strategien hat sich auch deshalb durchsetzen können, weil Kriminalität auch jenseits subdominanter Bevölkerungsgruppen ein gewöhnlicher Bestandteil des alltäglichen Lebens geworden ist (vgl. Garland 1996). Dies liegt nicht zuletzt an der Verbreitung der Einsicht begründet, dass Normbrüche ein massenhaftes, allgemeines statistisch normales Phänomen sind (vgl. Schmidt-Semisch 2002) und einen Teil eines generelleren ‚Risikoklimas’ moderner Gesellschaften darstellen, dem, wie es (Giddens 1991: 125) formuliert, niemand entkommen kann. Im Kontext einer Steigerung der polizeilich registrierten Kriminalität von 1950 bis 1990 um jährlich etwa 4 % in westeuropäischen Gesellschaften (vgl. H. J. Albrecht 2001b) ist die Wahrnehmung einer Bedrohung durch Kriminalität als alltägliche Erfahrung zunehmend auch zu einem Teil des Alltagsdenkens und -verhaltens jener Angehörigen der mittleren Klassen geworden, die noch vor wenigen Jahrzehnten in beruhigender Distanz hierzu gelebt hatte: „What was once regarded as localized, situational anxiety, afflicting the worst-off individuals and neighbourhoods, has come to be regarded as major social problem and characteristic of contemporary culture“ (Garland 2001: 10). Gleichzeitig ist ein solches, persönliche Unsicherheit erzeugendes, ‚Risikoklima‘ aber mehr als ein substanzhaft gegebenes Nebenprodukt gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse (vgl. Blinkert 1988). Es ist zugleich eine Art politisch erzeugtes und verwendetes Deutungsmuster in dem Kriminalität bzw. der Kriminelle eine Figur darstellt, die die Unübersichtlichkeiten und ‚Orientierungsprobleme’ gesellschaftlichen Wandelns zu verdinglichen und zu konkretisieren in der Lage ist (vgl. Hennig/Lohde-Reiff 2002). US-amerikanische Untersuchungen weisen darauf hin, dass unabhängig von den gemessenen Trends der Kriminalitätsraten, die Art und Weise, in der Kriminalitätsthemen aufgegriffen und politischen Reaktionen vorgeschlagen und gefordert werden, ein entscheidender Faktor für Entwicklung von Kriminalitätsfurcht - im Sinne der von Boers (1991) vorgeschlagenen Kategorie der ‚sozialen Kriminalitätsfurcht’ - sind (vgl. Tonry 1998) und diese selbst nicht einfach eine Reaktion auf eine gegebene gesellschaftliche Tatsache mangelnden persönlichen Schutzes ist, sondern zugleich Ausdruck von Unsicherheits-, Hilflosigkeits- und Verletzlichkeitsgefühlen aber auch von Einstellungen die politische und moralische Vorstellungen – inklusive dem Grad an Strafmentalität bzw. Punitivität – zum Ausdruck bringen (vgl. Sparks 1992, Boers/Kurz 2001, Walter et

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