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FÜR EINEN NEUEN EUROPÄISCHEN SOZIALVERTRAG

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1 Die Vorsitzenden und Generalsekretäre der Europäischen Gewerkschaftsdachverbände CCOO, l’UGT, DGB, CGIL, CGT, CFDT, FGTB CSC haben am 8. Dezember 2011 folgende gemeinsame Erklärung veröffentlicht:

FÜR EINEN NEUEN EUROPÄISCHEN SOZIALVERTRAG

Die Europäische Union erlebt die tiefste Krise ihrer Geschichte. Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat zu massiven sozialen Problemen geführt und ist mittlerweile zu einer politischen Krise der EU insgesamt geworden. Was mit Finanzierungsproblemen einiger Staaten begann, hat sich immer weiter

ausgebreitet. Jetzt droht sogar eine neue Rezession. Vor knapp zwei Jahren war es undenkbar, dass einmal ernsthaft über die Spaltung der Eurozone diskutiert werden würde. Eine solche Aufspaltung der Eurozone würde den Sinn der Gemeinschaftswährung ad absurdum führen. Sie könnte sogar das europäische Projekt selbst zerstören, das zweifellos eines der wichtigsten des 20. Jahrhunderts ist.

Wie konnte es dazu kommen? Die Verantwortung liegt vor allem bei den führenden Politikern der europäischen Institutionen und der einflussreichsten Mitgliedsstaaten. Nach zwei Jahren der Unentschlossenheit, ständiger Widersprüche und falscher politischer Ansätze ist das ursprüngliche Problem – die finanzielle Krise Griechenlands, dessen Bruttoinlandsprodukt (BIP) nur zwei Prozent des BIP der EU ausmacht – immer noch nicht gelöst. Stattdessen hat die Krise zahlreiche weitere Länder erfasst.

Der radikale politische Kurswechsel des Rates am 9. Mai 2010 wurde als notwendig erachtet, um das Vertrauen der Finanzmärkte wieder zu gewinnen, damit deren Vertreter die europäischen Staaten wieder mit vernünftigen Zinssätzen finanzieren. Seit diesem Zeitpunkt haben der Rat, die Kommission und die EZB eine rigorose Sparpolitik vorgeschrieben und so genannte Strukturreformen vorangetrieben, die unter anderem in die Pläne für eine Wirtschaftsregierung und den Euro-Plus-Pakt Eingang gefunden haben.

Tatsache ist aber, dass diese Politik gescheitert ist. Die Krise der Staatsfinanzierung hat sich ausgedehnt und verschärft, das Wachstum ist in fast allen Staaten eingebrochen und die Arbeitslosigkeit ist

gestiegen, vor allem in den Staaten, in denen die Haushaltskürzungen am stärksten waren. Die sozialen Folgen der Senkung von Löhnen und Renten und der Kürzungen in den Bereichen soziale Sicherung, Bildung und Gesundheit sind offensichtlich: mehr Armut, neue Ungleichheiten, ein wachsendes

Prekariat und eine starke Aushöhlung des sozialen Zusammenhalts. Parallel dazu bröckelt die Solidarität zwischen den Staaten, die das unerlässliche Bindemittel für das europäische Projekt ist. Immer größere Teile der Bevölkerung wenden sich ab und überkommene Vorurteile und negative Klischees zwischen den europäischen Völkern treten wieder an die Oberfläche.

Die europäischen Institutionen und die führenden Politiker Europas sind sich einer sehr wichtigen Tatsache nicht bewusst: sie sind im Begriff, mit dem Sozialmodell zu brechen, das den europäischen Wohlfahrtsstaat nach dem Zweiten Weltkrieg ermöglicht hat. Die Werte und Prinzipien dieses

Sozialmodells sind das Markenzeichen und das Rückrat der Europäischen Union. Und sie sind auch im Vertrag von Lissabon festgeschrieben.

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2 Die europäische Gewerkschaftsbewegung, die im Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB) vereinigt ist, hat diese Politik entschlossen zurückgewiesen und dagegen mobil gemacht auf europäischer Ebene und in vielen Mitgliedsstaaten. Sie ist bisher nicht gehört worden, dabei zeigt die Entwicklung der Krise, dass die Analysen und Vorschläge der Gewerkschaften richtig und wichtig sind. Trotz der Ernüchterung, die sich bei vielen Arbeitnehmern breit gemacht hat, gibt es keine andere Lösung als die Fortsetzung des europäischen Projektes. Aber die aktuelle Politik ist falsch und ungerecht und wir brauchen andere Ansätze, als sie uns von den gegenwärtig Verantwortlichen für Europa aufgezwungen werden.

Was schlagen wir vor, um aus dieser wirtschaftlichen und politischen Krise der EU heraus zu kommen?

Zuerst müssen wir den Spekulationen ein Ende bereiten und die Finanzkraft aller Mitgliedsstaaten garantieren. Allein die glaubwürdige Ankündigung einer absoluten Garantie, alle Staatsschulden zu bedienen, würde die Spekulation der Märkte bremsen. Diese Sicherheit könnte durch die Ausgabe von Eurobonds und die Umgestaltung der EZB in einen Kreditgeber der letzten Instanz geschaffen werden.

Die europäische Gewerkschaftsbewegung macht sich große Sorgen über die Stabilität der Staatsfinanzen. Aber man kann das Ziel des Schuldenabbaus nicht erreichen, indem man die Volkswirtschaften zu Grunde richtet. Die Herausforderung besteht darin, die Ziele in realistischen Zeiträumen zur erreichen, indem auf europäischer und nationaler Ebene Maßnahmen zur Schaffung von Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätzen ergriffen werden. Es ist beunruhigend zu sehen, wie die verantwortlichen Politiker in Europa, das vor der großen Gefahr einer erneuten Rezession steht,

weiterhin zu Wachstum und Beschäftigung schweigen und auch in ihren Vorschlägen zur Stärkung einer europäischen Wirtschaftsregierung dazu keine Aussagen machen. Der Aufschwung kann nicht durch Strukturreformen angekurbelt werden, die Einsparungen bei den Sozialausgaben und einen Begriff von Wettbewerbsfähigkeit beinhalten, der zu einer Deflation der Arbeitskosten führt und eine Schwächung der Tarifautonomie sowie der Verhandlungsposition der Gewerkschaften befördert.

Auf der Grundlage der Beschlüsse, die der letzte Kongress des Europäischen Gewerkschaftsbundes (Athen, Mai 2011) gefasst hat, sind wir heute stärker als je zuvor der Meinung, dass wir im Rahmen einer starken Wirtschaftsregierung eine neue Währungs-, Wirtschafts- und Sozialpolitik in der Eurozone brauchen, die mit der Politik der EU 27 koordiniert werden sollte. Aber diese koordinierte Politik muss in eine ganz andere Richtung gehen, als sie derzeit von den Regierungen eingeschlagen wird. Die Steuerpolitik, angefangen bei der Unternehmenssteuer und der Kapitalertragssteuer, muss in vieler Hinsicht innerhalb der Eurozone angeglichen und in der gesamten Europäischen Union harmonisiert werden. Wir müssen die wirtschaftliche, ökologische und soziale Dimension des Wachstums kohärent angehen. Neben der Industrie-, Energie- und Umweltpolitik muss die europäische Wirtschaftregierung vorrangig eine Politik zur Schaffung guter Arbeitsplätze betreiben. Wir brauchen eine europäische Bank für öffentliche Anleihen und nicht nur eine Zentralbank, die sich allein auf die Kontrolle der Inflation beschränkt.

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3 Es geht der europäischen Gewerkschaftsbewegung darum, das Allgemeinwohl zu verteidigen und zu Lösungen für die schwere politische Krise der EU beizutragen. Die politischen Entscheidungsträger in Europa müssen sich der Tatsache bewusst sein, dass sie nicht weiterhin die Meinungen und

konstruktiven Vorschläge jener ignorieren können, die den wichtigsten Faktor für die Schaffung von Reichtum repräsentieren: die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Europa.

Ein neuer Sozial- und Wirtschaftsvertrag muss mit aktiver Beteiligung der Sozialpartner erarbeitet werden. Wir brauchen einen innovativen europäischen Sozialvertrag, der sich den zentralen sozialen Fragen stellt. Dazu gehören unter anderem die Themen Beschäftigung, Renten, Arbeitslosengeld, Bildung, Gesundheit und Löhne, die von den Sozialpartnern autonom ausgehandelt werden müssen.

Eine gerechte Steuerpolitik, die Umverteilung des Reichtums, das Arbeitsrecht und die

Tarifverhandlungen waren das Bindemittel für die längste Periode von wirtschaftlichem Wohlstand und Demokratie in Europa. Nur wenn wir uns auf diese demokratischen Werte und Prinzipien stützen, die das europäische Sozialmodell geprägt haben, können wir am schnellsten mit mehr Gerechtigkeit aus der Krise herauskommen und damit das Überleben der Europäischen Union selbst sichern, das heute stark bedroht ist.

Wir fordern, dass eine zukünftige Überarbeitung der Verträge unter Einbeziehung der sozialen

Dimension stattfindet. Wir brauchen eine allgemeine Klausel über den sozialen Fortschritt, durch die ein

„sozialer Rettungsplan“ aufgestellt wird und die Europa auf den Weg des sozialen Fortschritts bringt.

Die sozialen Grundrechte müssen strikt eingehalten und in alle Antikrisenmaßnahmen einbezogen werden. Wer die Verträge aber ändert, um den Stabilitätspakt zu stärken, der will am Ende nur einen konstanten Druck auf die nationalen Haushalte ausüben und eine strengere Sparpolitik durchsetzen.

Das lehnen wir ab.

Der Fortschritt der Europäischen Union muss auf dem sozialen Zusammenhalt und der internen Solidarität innerhalb der Mitgliedsländer beruhen sowie auf der Solidarität und dem politischen

Zusammenhalt untereinander. Um dieses Ziel in den gegenwärtig schwierigen Zeiten zu erreichen, muss in einem gemeinsamen europäischen Rahmen gehandelt und dadurch auch der soziale Dialog gestärkt werden. Aus diesem Grund legen wir diese Vorschläge vor und fordern, dass die Arbeitnehmer bei der Suche nach Lösungen nicht ausgegrenzt werden. Und wir bringen den Willen zum Ausdruck, im europäischen Rahmen tätig zu werden, um dieses Ziel zu erreichen.

Ignacio Fernández Toxo, CCOO (Spanien)

Cándido Mendez, Generalsekretär der l’UGT (Spanien) Michael Sommer, Vorsitzender des DGB (Deutschland) Susanna Camusso, Generalsekretär der CGIL (Italien) Bernard Thibault, Generalsekretär der CGT (Frankreich) François Cherèque, Generalsekretär der CFDT (Frankreich) Anne Demelenne, Generalsekretär der FGTB (Belgien) Claude Rolin, Generalsekretär der CSC (Belgien)

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