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Jorge Molist DAS ZWEITE TESTAMENT. Roman. Aus dem Spanischen von Sabine Giersberg WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN

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Academic year: 2022

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ORIGINAL

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Das Buch

Die in New York lebende Anwältin Cristina Wilson erhält zu ihrem siebenundzwanzigsten Geburtstag einen geheimnisvollen Rubin- ring. Wie sich herausstellt, handelt es sich dabei um ein Geschenk ihres vor dreizehn Jahren verstorbenen Taufpaten Enric Bonapla- ta aus Barcelona. Unerklärlicherweise wird sie plötzlich von selt- samen Albträumen heimgesucht, ihre heile Welt gerät aus den Fugen. Die schrecklichen Ereignisse des 11. Septembers verbin- den sich mit anderen Furcht erregenden Katastrophen aus frühe- ren Zeiten, deren Augenzeuge sie wird. Als von Enric ein zweites Testament auftaucht, reist Christina entgegen der Warnungen ih- rer Mutter nach Barcelona, um den Familiengeheimnissen nach- zuspüren, die vor Jahren zu der plötzlichen Auswanderung ihrer Eltern führten. Sie kehrt zurück in ihre Vergangenheit, in die Stadt ihrer Kindheit, zu ihren Cousins Luis und Oriol, mit denen sie eine unbeschwerte Kindheit zusammen mit ihrem Patenonkel ver- brachte. Cristina erfährt von Enrics Selbstmord sowie von einem ominösen Verbrechen in dubiosen Kunstkreisen. Im Testament hinterlässt Enric den drei alten Freunden die Aufgabe, nach ei- nem alten Templerschatz zu suchen – ein beliebtes Spiel während ihrer Kindheit. Ausgehend von einem mysteriösen Triptychon ma- chen sich die drei auf die Suche. Doch auch andere, finstere Mäch- te versuchen den Ring in ihre Gewalt zu bekommen.

Der Autor

Jorge Molist wurde 1951 in Barcelona geboren. Durch seine Ar- beit als Ingenieur lebte er viele Jahre in den Vereinigten Staaten und verschiedenen europäischen Ländern. Seine Begeisterung und Kenntnis der Geschichte brachte ihn zum Schreiben histori- scher Romane. Für Das zweite Testament, alleine in Spanien über 150.000 Mal verkauft, wurde er 2004 für den Premio de Novela Histórica Alfonso X el Sabio nominiert. Heute lebt Jorge Molist als Unternehmensleiter in Madrid

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Jorge Molist

DAS ZWEITE

T ESTAMENT

Roman

Aus dem Spanischen von Sabine Giersberg

WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN

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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel EL ANILLO bei Mr Ediciones, Madrid

Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100

Das für dieses Buch verwendete FSC-zertifizierte Papier München Super liefert Mochenwangen.

Vollständige Deutsche Taschenbucherstausgabe 05/2006 Copyright © 2004 by Jorge Molist

Copyright © 2004 by Ediciones Martinesz Roca, S. A.

Copyright © 2006 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Printed in Germany 2006

Umschlagillustration: © Darama/ CORBIS Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München Satz: Greiner & Reichel, Köln

Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN-10: 3-453-35108-8

ISBN-13: 978-3-453-35108-0

http: // www. heyne.de

SGS-COC-1940

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Für Georg, David und Gloria In memoriam Enric Caum

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Verborgen in seinem päpstlichen Ring wohnt ein Teufel Beschuldigung Philipps IV. von Frankreich, dem Henker der Templer, gegen Papst Bonifatius VIII.

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Eins

E

s kommt nicht oft vor, dass eine Frau zwei Verlobungs- ringe am selben Tag erhält. Insofern war mein sieben- undzwanzigster Geburtstag etwas Besonderes.

Auf dem ersten Ring funkelte ein wunderschöner Solitär, und er war von Mike, mit dem ich seit mehr als einem Jahr zu- sammen war. Ein echter Schatz.

Mike ist der ideale Mann, einer, von dem jedes heiratswilli- ge Mädchen nur träumen kann. Oder träumen sollte, und den jede Mutter gern zum Schwiegersohn hätte. Als Börsenmakler oder besser gesagt, als Sohn des Agenturchefs, war ihm eine goldene Zukunft bereits in die Wiege gelegt.

Dieser andere Ring erlegte mir ebenfalls eine Pflicht auf, wenn auch keine eheliche. Oder vielleicht doch? Er band mich nicht an einen Mann, sondern an ein Abenteuer. Und zwar ein ganz ungewöhnliches.

Als ich den Ring bekam, wusste ich das natürlich noch nicht, ich hatte nicht einmal den Hauch einer Vermutung, wer ihn mir geschickt haben konnte. Und wenn man mir den Namen des Absenders genannt hätte, hätte ich es nicht geglaubt. Der Ring war das Geschenk eines Toten.

Ich ahnte damals nicht, dass beide Ringe oder besser gesagt beide Verpflichtungen unvereinbar waren. Und so behielt ich beide Schmuckstücke und gewöhnte mich langsam an den Gedanken, dass ich heiraten und bald Harding heißen würde, 9

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auch wenn mich der andere seltsame Ring irritierte. Ich bin sehr neugierig, und Rätsel machen mich wahnsinnig … Aber am besten erzähle ich der Reihe nach …

Als es an der Tür klingelte, war das Fest auf seinem Höhepunkt.

Jennifer im langen Kleid mit tiefem Ausschnitt und Susan in engen Hüfthosen hatten angefangen zu tanzen und das männ- liche Balzverhalten herauszufordern. Die Jungs, von denen ei- nige schon ein paar Gläser zu viel getrunken hatten, verschlan- gen sie regelrecht mit ihren Blicken. Wie gern die beiden provozieren! Ein paar Idioten mit Drinks in der Hand gesellten sich dann zu ihnen, und so begann die allgemeine Tanzerei.

Mir machte es nichts aus, dass die Typen um Jennifer und Susan herumscharwenzelten. Ich war zu dem Zeitpunkt be- reits eine fast verheiratete Frau, und Mike, mein schmucker Verlobter, hatte den Arm um meine Taille gelegt, und wir lä- chelten und tranken, tranken und lächelten und küssten uns immer wieder. An meiner Hand funkelte ein schöner Ring mit einem hochkarätigen Solitär. Mike hatte ihn mir vor ein paar Stunden überreicht, in dem Nobelrestaurant in der Nähe mei- ner kleinen Wohnung in Manhattan, in das er mich zu meinem Geburtstag eingeladen hatte.

»Heute wähle ich den Nachtisch aus«, sagte er.

Man brachte mir ein fantastisches Schokoladensoufflé. Ich bin verrückt nach Schokolade, und nach dem dritten oder vierten Angriff auf die Leckerei stieß der Löffel auf etwas Har- tes.

»Das Leben ist wie ein Schokoladensoufflé.« Mike ahmte die Stimme von Tom Hanks in Forrest Gump nach. »Du weißt nie, was du bekommst.« Ich glaube, es sollte eine Warnung sein, vielleicht befürchtete er, ich könnte den Ring in meiner Gier herunterschlucken.

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Ich sah in der köstlichen schwarzen Masse etwas aufblitzen.

Ich war mir sicher gewesen, dass mein Börsengenie im Laufe dieser Tage mit einem kleinen Vermögen in Form eines Dia- mantringes und dem Versprechen ewiger Liebe an mich he- rantreten würde. Ewige Liebe und Reichtum, denn wenn ich Ja sagte, hätte ich mir eine Zukunft gesichert, in der Arbeiten nicht mehr relative Notwendigkeit, sondern absoluter Zeitver- treib war.

»Herzlichen Glückwunsch, Cristina«, meinte er sehr feier- lich.

»Aber das ist doch …!«, schrie ich auf und leckte die Scho- kolade von dem Ring ab.

»Willst du meine Frau werden?« Er kniete mit einem Bein auf dem Boden. Wie romantisch!, dachte ich.

Die Kellner und Gäste an den Nachbartischen schauten uns, alarmiert durch meinen Ausruf, neugierig an. Ich wurde ernst, genoss die Show und sah mich um: der Perserteppich, der prunkvolle Kronleuchter an der Decke, die Vorhänge … Ich tat so, als überlegte ich noch. Mike blickte mich unruhig an.

»Ja, natürlich!«, rief ich aus, als die Spannung ihren Höhe- punkt erreicht hatte. Ich sprang auf und küsste ihn. Er lächel- te glücklich, und die illustren Gäste feierten die Szene mit en- thusiastischem Applaus.

Kommen wir jedoch auf das Fest zurück.

Bei dem Lärm der Musik und der dagegen anschreienden Stimmen hatte ich es nicht klingeln gehört, dafür John und Linda. Aber anstatt mich zu rufen, befanden sie, der interes- sante Gast sollte den Anwesenden nicht vorenthalten bleiben.

Sie ließen ihn hereinkommen, und ich stand vor einem großen Mann in schwarzer Motorradkleidung, der sich nicht einmal 11

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die Mühe gemacht hatte, beim Betreten des Apartments den Helm abzunehmen.

»Miss Cristina Wilson?«, fragte er. Mir lief es eiskalt den Rü- cken herunter, denn der Kerl sah unheimlich aus, als hätte er die stockfinstere Nacht mit hereingebracht. Jemand hatte die Musik leiser gedreht, und wir warteten gespannt, was der Mann zu sagen hatte.

»Das bin ich«, entgegnete ich und musste plötzlich schmun- zeln. Klar, er würde mir gleich ein Geburtstagsständchen vor- tragen! Und dann würde er einen Striptease machen und uns seine unter dem schwarzen Leder verborgenen strammen Muskeln präsentieren! Eine nette kleine Überraschung von ei- ner Freundin, vielleicht Linda oder Jennifer. Er hielt inne, öff- nete den Reißverschluss seiner Lederjacke, und als ich schon dachte, jetzt zieht er sie aus, holte er ein kleines Päckchen aus einer Innentasche. Die Gäste standen mit andachtsvollen Ge- sichtern und glasigen Augen um uns herum.

»Das ist für Sie«, sagte er und überreichte es mir. Ich schau- te ihn erwartungsvoll an. Wann ging die Show denn los? Aber er fing nicht etwa an zu singen, sondern öffnete einen weite- ren Reißverschluss. Anstatt sich der Hose zu entledigen, holte er Papier und Kugelschreiber hervor.

»Kann ich bitte Ihren Ausweis sehen?«, fragte er kühl.

Das war wirklich übertrieben, doch ich musste gute Miene zum bösen Spiel machen. Und so holte ich meinen Führer- schein, damit er sich vergewissern konnte. Seelenruhig notier- te er die Daten. Er war ein perfekter Schauspieler. Wir warte- ten gespannt, was er als Nächstes tun und sagen würde.

»Unterschreiben Sie hier.«

»Schön, kann es nun endlich losgehen?«, wollte ich wissen, nachdem ich unterschrieben hatte. Dieses Vorgeplänkel war wirklich übertrieben.

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Er sah mich seltsam an, riss die Kopie ab, gab sie mir und ging mit einem »Tschüss« zur Tür.

Das hatte ich nicht erwartet. Ich blickte Mike fragend an, aber der zuckte nur die Achseln. Ich schaute auf den Zettel, den der Typ mir dagelassen hatte. Die Kopie war kaum lesbar, und ich konnte lediglich meinen Namen erkennen. Einen Ab- sender gab es nicht.

»Warte«, rief ich und rannte hinter ihm her. Auf dem Trep- penabsatz war er nicht mehr. Er war schon in den Aufzug ge- stiegen.

Nachdenklich kehrte ich zu Mike zurück. Es war also kein Überraschungsauftritt zum Geburtstag gewesen, er war echt.

Ich war verwirrt. Was für ein geheimnisvoller Kerl! Wer hatte mir das Päckchen geschickt?

»Machst du das Geschenk nun auf oder nicht?«, fragte Ruth.

»Wir wollen wissen, was es ist!«, bettelte eine männliche Stimme.

Und da merkte ich, dass ich das Päckchen immer noch in den Händen hielt. Ich hatte es wegen des seltsamen schwarz gekleideten Mannes völlig vergessen.

Ich setzte mich aufs Sofa, legte das Päckchen auf dem Glas- tisch ab und versuchte, die Kordel zu lösen, mit der es zu- geschnürt war, vergeblich. Alle standen um mich herum und fragten sich, was wohl darin sei, und wer es geschickt habe. Je- mand reichte mir das Kuchenmesser, und als ich das Ge- schenk aufmachte, war dort eine kleine Holzschachtel mit ei- nem einfachen Metallschloss. Man sah ihr an, dass sie alt war.

Und in dem Kästchen lag auf einem Kissen aus grünem Samt ein Goldring mit einem eingelassenen granatroten Stein, der antik aussah.

»Ein Ring!«, rief ich aus. Und als ich ihn anprobierte, stellte ich fest, dass er, wenn auch etwas locker, auf meinen Mittelfin- 13

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ger passte. Und dort ließ ich ihn, direkt neben dem Verlo- bungsring.

Alle wollten ihn sehen und bewunderten noch einmal die Größe des Diamanten von Mikes Ring.

»Es ist ein Rubin«, sagte Ruth. Sie ist Expertin für antike Edelsteine und arbeitet bei Sotheby’s.

»Sieht komisch aus«, bemerkte Mike.

»Vor Jahrhunderten wurden die Steine nicht so verarbeitet wie heute«, erwiderte Ruth. »Der Schliff war sehr rudimentär, und die Steine wurden rund poliert, so wie bei diesem Rubin.«

»Komische Sache!«, meinte Jennifer, und damit war das Thema für sie abgehakt. Sie stellte die Musik lauter und fing an zu tanzen. Und im Rhythmus ihres wackelnden Hinterteils kam das Fest wieder in Gang.

Während Mike ein paar Cocktails aus Wermut und Gin mix- te, betrachtete ich das Holzkästchen und den Ring genauer.

Mein Blick fiel auf den Empfangsbeleg, der auf dem Tisch lag.

Die Schrift hatte sich nur schwach durchgedrückt, aber mit Mühe und Not konnte ich »Barcelona, Spain« erkennen.

Mein Herz überschlug sich.

»Barcelona!«, rief ich aus. Dieser Name weckte so viele Er- innerungen!

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Zwei

M

it einem Furcht erregenden Donner fielen die Stein- massen des von Flammen zerfressenen Turmes auf die Unglücklichen herab. Die Leute rannten weg. Eine Wolke aus Staub und Asche zog wie sandiger Wüstenwind durch die Straßen und bedeckte alles mit einer weißgrauen Schicht.

Ich drehte mich auf die andere Seite. Gott, welche Angst!

Da war wieder die Erinnerung an jenen unheilvollen Morgen, an dem die höchsten Türme der Stadt einstürzten …

Es ist alles in Ordnung, sagte ich zu mir, das ist Monate her.

Ich bin in meinem Bett. Ganz ruhig, ganz ruhig. Nach der Geburtstagsparty war Mike bei mir geblieben, und ich spürte seine angenehme Wärme neben mir. Er atmete gleichmäßig, zufrieden, entspannt. Unsere Körper lagen nackt unter der Decke; trotz intensiver Leidenschaft hatte er noch die Kraft gehabt, mir zu sagen, dass er mich immer lieben würde. Dann hatte er mir ein paar Zärtlichkeiten ins Ohr gehaucht und war wie ein Murmeltier eingeschlafen. Und auch ich war nach die- sem so ereignisreichen Tag in einen sanften Schlaf gefallen, zumindest bis diese schrecklichen Bilder auftauchten.

Ich schaute auf den Wecker. Es war Sonntagmorgen halb fünf; ich hatte noch viel Zeit zum Schlafen.

Ich schloss die Augen und war wieder ruhiger, aber sofort hatte ich die tragischen Bilder des Einsturzes, die Trümmer, die Panik der Menschen vor Augen.

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Der Traum hatte sich verändert. Er spielte jetzt nicht mehr in New York. Es war nicht der Einsturz der Twin Towers. Es war etwas anderes, und die Bilder und Geräusche kamen zu mir, ohne dass ich es hätte vermeiden können.

Die Leute schrien. Der Einsturz der Türme hatte eine Bre- sche geschlagen, und die Männer mit ihren Schwertern, Lan- zen und Armbrüsten, geschützt durch Eisenhelme, Ketten- hemden und Wappenschilder, eilten durch den Staub zu dem Durchbruch in der Mauer und feuerten sich gegenseitig an.

Sie tauchten in den schmutzigen Nebel, den Donner ein und kehrten nie zurück. Kurz darauf spuckte der Nebel eine Hor- de heulender Krieger aus. Es waren Muselmanen, und sie schwangen blutige Krummsäbel. Obwohl ich ein Schwert am Gürtel hatte, war ich unfähig zu kämpfen; ich spürte, wie mei- ne Kräfte mit dem Blut aus meinen klaffenden Wunden schwanden. Ich konnte keine Waffe ziehen, ich konnte nicht einmal meinen Arm heben, und ich suchte verzweifelt Schutz.

Ich sah meine Hand, und da blitzte, in diesem Traum, tiefrot der Rubinring auf.

Frauen, Kinder und Greise hatten ihre Habseligkeiten auf Pferde und Ziegen geladen und flohen Richtung Meer. Die Kleinkinder weinten vor Angst, und die Tränen bildeten Ka- näle in ihren staubverdreckten Gesichtern. Die älteren Ge- schwister folgten ihren Müttern, die die ganz Kleinen an der Hand hielten oder auf dem Arm trugen. Als die Angreifer auf die Flüchtenden mit Schwertern losgingen, brach Panik aus.

Die Menge schrie, ließ ihre Habe stehen und liegen, einige Frauen vergaßen sogar ihre Kinder. Sie wollten einfach nur weg. Ohne zu wissen wohin. Es war schrecklich. Sie taten mir unendlich Leid, aber ich konnte ihnen nicht helfen. Was wür- de aus den Kindern ohne ihren Müttern werden? Vielleicht 16

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würde man sie am Leben lassen und sie zu Sklaven machen.

Große metallverstärkte hölzerne Torflügel schlossen sich. Da- hinter gab es Schutz, aber die Wachen hielten die Menge mit gezogener Waffe in Schach; sie ließen nur einige wenige hinein.

Die sich draußen drängenden Menschen begannen, laut zu betteln. Es war ein einziges Schubsen, Klagen, Flehen, Flu- chen. Die Wachposten schrien, sie sollen sich entfernen, Rich- tung Hafen fliehen. Und als die Menge sich mit Gewalt Zutritt verschaffen wollte, hagelten Schwerthiebe auf diejenigen, die sich in der Nähe des Eingangs befanden. Die armen Unglück- lichen, wie sie vor Schmerz und Angst brüllten! Es entstand eine Bresche, und ich sah, dass das Tor fast geschlossen war.

Ich verblutete und hatte Angst, dort mitten in der verzweifel- ten Masse zu sterben. Ich stolperte auf die Schwerter der Sol- daten zu. Ich musste durch dieses Tor.

Ich fuhr auf. Ich keuchte, und meine Augen waren voller Trä- nen. Was für eine Angst! Sie war noch größer als bei dem At- tentat auf die Twin Towers. Der Traum war für mich wirkli- cher als die Ereignisse vom 11. September. Ich erwarte nicht, dass jemand mich versteht, denn ich selbst verstehe es bis heu- te nicht ganz.

Ein letztes Bild blieb mir im Gedächtnis. Der Mann, der die Wachen am Tor befehligt hatte, war weiß gekleidet gewesen und hatte auf seiner Brust dasselbe rote Kreuz getragen, das auf die Festungsmauer gemalt war. Dieses Kreuz … erinnerte mich an etwas.

Ich drehte mich zu Mike, um bei ihm Schutz zu finden. Er lag auf dem Rücken und schlief friedlich wie ein Engel mit einem leichten Lächeln auf dem Gesicht. Ich konnte seinen Frieden nicht teilen; dieser Ring ließ mir keine Ruhe.

Ich habe gesagt, ich sei nackt gewesen. Das stimmt nicht 17

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ganz. Ich trug immer noch die beiden Ringe an der Hand. Ich war es nicht gewohnt, mit Schmuck zu schlafen, aber als ich zu Bett ging, hatte ich den Diamantring, das Symbol unserer Lie- be, meines Versprechens, meines neuen Lebens nicht ablegen wollen. Ich weiß nicht warum, doch ich trug ebenfalls den an- deren. Den aus dem Albtraum. Beschäftigte mich dieser Ring so sehr, dass er sogar in diesem tragischen Traum auftauchte?

Ich wollte den Ring genauer ansehen, also zog ich ihn vom Finger und hielt ihn unter die Nachttischlampe. Was dann ge- schah, machte mich sprachlos. Das Licht, das auf den nur an den Seiten von dem Metall gehaltenen Stein fiel, projizierte ein rotes Kreuz auf die weißen Laken.

Es war wunderschön, jedoch gleichzeitig beunruhigend. Es war ein besonderes Kreuz: Die Arme waren gleich lang, aber an ihren Enden öffneten sie sich zu zwei kleinen Bögen, die sich verbanden.

In dem Moment fiel es mir wie Schuppen von den Augen.

Es war das Kreuz aus dem Traum! Das Kreuz, das die Solda- ten trugen, die auf die Menge losgingen, und das auf die Fes- tungsmauer gemalt war.

Ich schloss die Augen und atmete tief ein. Das konnte nicht sein. Träumte ich etwa noch? Ich wollte zur Ruhe kommen und löschte das Licht. Ich suchte Schutz bei Mike, der mir jetzt den Rücken zuwandte, und kuschelte mich an ihn. Das gab mir etwas Sicherheit, aber die Gedanken kreisten immer noch wild in meinem Kopf.

Alles an diesem Ring war geheimnisvoll: die Art, wie ich ihn erhalten habe, sein Auftauchen im Traum, das Kreuz, das ich dann in ihm wiederfand …

Dieser Ring hatte eine Geschichte zu erzählen. Es war nicht einfach ein Geschenk, etwas war dahinter verborgen … 18

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Dieser Gedanke steigerte meine Neugier. Und meine Angst.

Etwas sagte mir, dass dieses Geschenk nicht zufällig zu mir ge- kommen war, dass es eine Herausforderung des Schicksals war, ein paralleles Leben, das sich plötzlich wie eine Geheimtür öffnete und mich lockte, eine dunkle Schwelle zu übertreten.

Ich spürte, dass dieser Ring das angenehme, vorhersehbare, Glück verheißende Leben durcheinander bringen würde, das gerade erst angefangen hatte. Er war eine Bedrohung, eine Versuchung. Dieser verfluchte Ring! Kaum war er aufgetaucht, ließ er mich schon nicht mehr schlafen. Und das in der Nacht, die eigentlich eine glückliche hätte sein sollen.

Ich machte das Licht wieder an und betrachtete den roten Stein. Da war ein eigenartiges Funkeln in seinem Inneren.

Wie ein sechszackiger Stern, der sich unter der Oberfläche zu bewegen schien, je nachdem wie ich den Stein drehte.

Ich sah mir das Innere genauer an. In den Rubin war eine Verzierung aus Elfenbein eingelegt, die so geschliffen war, dass das Licht, wenn es durch den Stein fiel, dieses wunderschöne blutrote Kreuz erzeugte.

Nun gut, jetzt hatte ich verstanden, wie das kleine Wunder physikalisch funktionierte, aber das stachelte meine Neugier nur umso mehr an. Wo kam der Ring her? Warum hatte man ihn mir gebracht?

Der Gedanke traf mich wie der Blitz.

Ich hatte diesen Ring schon einmal gesehen!

Es war, als stiege ein Bild aus dem Nebel der Kindheitserin- nerungen auf; ich war mir vollkommen sicher. Irgendwo in meiner Vergangenheit konnte ich ihn sehen, jemand trug ihn an seiner Hand.

Unruhig wälzte ich mich im Bett hin und her. Es war in Bar- celona gewesen, ich war noch klein. Kein Zweifel. Aber wer trug ihn?

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Ich strengte mein Gedächtnis an, doch es wollte mir nicht einfallen.

Der Ring führte in meine Kindheit zurück, vielleicht sogar in eine noch fernere Vergangenheit, aber wer hatte ihn ge- schickt? Wenn man jemandem etwas zum Geburtstag schen- ken will, dann gibt man sich zu erkennen und tut nicht derart geheimnisvoll!

Und da fiel mir die Frage wieder ein, die ich meiner Mutter immer hatte stellen wollen, die ich allerdings nie ausgespro- chen hatte. Es war ein kleines Rätsel, eine von diesen Merk- würdigkeiten, denen man keine Bedeutung beimisst und die irgendwo in deinem Geist herumschwirren und eines Tages zu einem großen Fragezeichen werden.

Warum sind wir nie in die Stadt zurückgekehrt, in der ich geboren wurde?

Wir sind von Barcelona nach New York gezogen, als ich drei- zehn war. Mein Vater stammt aus Michigan und leitete viele Jahre lang die spanische Niederlassung einer amerikanischen Firma. Meine Mutter entsprang einer »guten« Familie, alt- eingesessenes katalanisches Bürgertum. Meine Großeltern mütterlicherseits sind gestorben, und mit den Verwandten in Spanien, die weit weg sind, haben wir keinen Kontakt.

Meine Eltern haben sich in Barcelona kennen gelernt, inei- nander verliebt, haben geheiratet, und dann wurde ich, die Er- zählerin, geboren.

Mein Vater hat immer Englisch mit mir gesprochen, ich nen- ne ihn Daddy und meine Mutter, María del Mar, Mary. Also, ich wollte Mary immer fragen, warum wir nie zurückgekehrt sind, doch sie ist dem Thema stets ausgewichen.

Daddy hatte sich ziemlich gut in den Freundeskreis meiner Mutter integriert. Er mag Spanien, aber anscheinend hat Mary 20

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darauf bestanden, in die Vereinigten Staaten überzusiedeln.

Am Ende hat sie ihr Ziel erreicht. Sie gaben meinem Vater ei- nen Job in der Hauptniederlassung in Long Island, New York.

Anschließend zogen wir um. María del Mar ließ die Familie, Freunde, ihre Heimatstadt zurück und ging zufrieden nach Amerika. Wir sind nie mehr zurückgekehrt, nicht einmal zu Besuch. Ist doch merkwürdig, nicht wahr?

Ich drehte mich auf die andere Seite und schaute wieder auf den Wecker. Es war früher Morgen, und an diesem Sonntag wollten wir meine Eltern in ihrem Haus in Long Island besu- chen, um meinen Geburtstag zu feiern. Es gab viel zu bereden zwischen meiner Mutter und mir. Natürlich nur, wenn sie es zuließ.

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Drei

I

ch liebe dich«, sagte Mike und wandte einen Moment den Blick von der Straße ab, während er mein Knie streichelte.

»Ich liebe dich, Darling«, erwiderte ich und führte seine Hand zu meinem Mund, um sie zu küssen.

Es war ein wunderschöner Wintermorgen, und Mike fuhr entspannt und glücklich. Die Stämme und nackten Äste der alten Bäume glänzten im Sonnenlicht, das sich im Grün der Tannen verlor. Die Klarheit und Leuchtkraft des Tages waren trügerisch; durch die wohlige Wärme der Sonne ahnte nie- mand im Inneren des Wagens etwas von der Kälte draußen.

»Wir müssen ein Datum festlegen«, sagte er.

»Ein Datum?«

»Ja, sicher. Ein Datum für die Hochzeit.« Er sah mich über- rascht an, da ich so zerstreut war.

»Ach ja, natürlich«, antwortete ich geistesabwesend. Wo hatte ich nur meinen Kopf? Nach der Verlobung kommt die Hochzeit, dachte ich. Und Mike hat mir den Ring geschenkt, weil er heiraten will. Und ich habe Ja gesagt, weil ich es auch will.

Eigentlich dürfte ich an nichts anderes mehr denken kön- nen als die Hochzeit. Aber anstatt meine Neuronen damit zu beschäftigen, in Träumen zu schwelgen, wie mein weißes Kleid aussehen sollte, das der Brautjungfern, die Hochzeitstorte und alles Notwendige für den glücklichsten Tag in meinem Leben, 22

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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Jorge Molist

Das zweite Testament Roman

DEUTSCHE ERSTAUSGABE

Taschenbuch, Broschur, 448 Seiten, 12,0 x 18,7 cm ISBN: 978-3-453-35108-0

Heyne

Erscheinungstermin: April 2006

Der große Sensationsbestseller aus Spanien in deutscher Sprache

Ein geheimnisvoller Ring, dessen ursprünglicher Besitzer unter mysteriösen Umständen ums Leben kam, führt die amerikanische Anwältin Christina Wilson nach Barcelona. Dort taucht sie in die Welt des Mittelalters und eines einst mächtigen Templerordens ein.

Monatelang stand Jorge Molists Templerroman neben Julia Navarros „Die stumme Bruderschaft“

an der Spitze der spanischen Bestsellerliste.

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